Johann Hari
Drogen
Die Geschichte eines langen Krieges
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
FISCHER E-Books
Johann Hari, geboren 1979, gilt als einer der besten Nachwuchsjournalisten, u.a. hat er für die »New York Times«, »LA Times«, »Guardian« und »Le Monde« geschrieben und wurde vielfach ausgezeichnet. Von Amnesty International UK wurde er zweimal zum Journalisten des Jahres ernannt, 2010 bekam er den Martha Gellhorn Prize for Journalism. Nach einer privaten und beruflichen Krise begab er sich 2011 auf eine drei Jahre dauernde Reise um die ganze Welt, um die Ausmaße und Langzeitfolgen vom Krieg gegen Drogen zu ergründen. Hari lebt und schreibt heute in London.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Der Krieg gegen die Drogen gilt inzwischen als gescheitert, der Handel mit Drogen ist ein blühendes Geschäft, alle Maßnahmen gegen den Konsum sind weitgehend erfolglos. Woran liegt das? Der britische Journalist Johann Hari begibt sich auf eine einzigartige Reise - von Brooklyn über Mexiko bis nach Deutschland - und erzählt die Geschichten derjenigen, deren Leben vom immerwährenden Kampf gegen Drogen geprägt ist: von Dealern, Süchtigen, Kartellmitgliedern, den Verlierern und Profiteuren. Mit seiner grandiosen literarischen Reportage schreibt Hari sowohl eine Geschichte des Krieges gegen Drogen als auch ein mitreißendes und streitbares Plädoyer zum Umdenken.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Chasing the Scream. The First and Last Days of the War on Drugs«
im Verlag Bloomsbury Circus, London
© 2015 by Johann Hari
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Christian Reister / ullsteinbild
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403568-0
Für Josh, Aaron, Ben und Erin
Hinweis: Alle als Zitate gekennzeichneten Beiträge können, sofern sie direkt dem Autor gegenüber geäußert wurden, in Audioform und ganzer Länge auf www.chasingthescream.com gehört werden. So können Sie während der Lektüre die Stimmen aller Menschen hören, die in diesem Buch vorkommen.
Fast hundert Jahre nach Beginn des Drogenkrieges war ich auf einem seiner unbedeutenderen Schlachtfelder gestrandet. Kokain trieb im Norden Londons eine meiner nahen Verwandten erneut in eine tiefe Krise, während mein Exfreund gerade mit seiner Ostlondoner Heroinromanze Schluss machte und stattdessen zur Crackpfeife griff. Ich verfolgte beides mit einer gewissen Distanz, nicht zuletzt, weil ich seit Jahren Händevoll dicker weißer Narkolepsie-Pillen schluckte. Dabei bin ich kein Narkoleptiker. Vor Jahren hatte ich nur irgendwo gelesen, man könne mit diesen Pillen wochenlang ohne Pause oder Schlaf schreiben; und es funktionierte – ich stand wie unter Strom.
All das war mir vertraut. In früher Kindheit hatte ich versucht, einen Verwandten aus drogenvernebeltem Schlaf zu wecken, was mir nicht gelang. Seither finde ich Süchtige oder Süchtige auf Entzug seltsam faszinierend – mir ist, als gehörten sie zu meinem Clan, meinem Stamm, meinem Volk. Irgendwann fragte ich mich dann, ob ich nicht selbst zum Junkie geworden war. Meine langen, von Drogen gepuschten Schreibexzesse fanden nur ein Ende, wenn ich vor Erschöpfung zusammenbrach und tagelang nicht wieder wach wurde. Eines Morgens begriff ich, dass ich wie mein Verwandter wirken musste, den ich vor all den Jahren vergebens aufzuwecken versucht hatte.
Von meiner Regierung, meiner Gesellschaft war mir beigebracht worden, wie ich in einer solchen Lage zu reagieren hatte. Nämlich mit einem Krieg. Wir alle kennen das Drehbuch: Es wurde uns so eingeschärft wie die richtige Richtung, in die man zu blicken hat, wenn man die Straße überquert. Behandle Drogenkonsumenten und Süchtige wie Verbrecher! Unterdrücke sie! Mache ihnen ein schlechtes Gewissen! Zwinge sie, mit den Drogen aufzuhören! Das ist die herrschende Meinung in nahezu allen Ländern der Erde. Jahrelang habe ich mich öffentlich dagegen ausgesprochen. Ich schrieb Zeitungsartikel und bemühte mich, bei Fernsehauftritten deutlich zu machen, dass es nur noch schlimmer wird, wenn man Süchtige bestraft und ihnen ein schlechtes Gewissen macht – was zudem eine Menge neuer Probleme für die Gesellschaft nach sich zieht. Ich setzte mich für eine andere Strategie ein: Legalisiert die Drogen schrittweise und verwendet das Geld, das für die Bestrafung von Süchtigen ausgegeben wird, lieber für eine vernünftige, einfühlsame Pflege!
Doch während ich mit drogenvernebeltem Blick die Menschen ansah, die ich liebte, zweifelte etwas in mir daran, dass ich tatsächlich meinte, was ich sagte. Eine autoritäre Stimme in meinem Kopf blaffte: Du bist ein Idiot. Eine Schande. Du bist dumm, wenn du nicht damit aufhörst. Man sollte dich daran hindern, dich bestrafen.
Selbst wenn ich also den Drogenkrieg mit Worten kritisierte, tobte er weiterhin in meinem Kopf. Ich kann nicht behaupten, ich hätte in meiner Entscheidung gewankt – mein Verstand ist immer für die Reform gewesen –, aber der innere Konflikt wollte einfach nicht aufhören.
Jahrelang hatte ich nach einem Ausweg aus diesem Patt gesucht – bis mir eines Morgens ein Gedanke kam: Du und die Menschen, die du liebst, ihr seid nur winzige Farbtupfer auf einer großen Leinwand. Wenn du weitermachst wie bislang – dich allein auf deine eigenen kleinen Tupfer konzentrierst, dieses Jahr wie letztes Jahr und das Jahr zuvor –, wirst du nie mehr als jetzt verstehen. Warum versuchst du nicht, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf das ganze Bild zu werfen?
Ich notierte mir ein paar Fragen, die mich seit Jahren beschäftigten. Warum hatte der Drogenkrieg angefangen? Und wieso dauerte er noch an? Warum können manche Menschen ohne Probleme Drogen nehmen, andere nicht? Was genau verursacht eigentlich Sucht? Was würde passieren, wenn man sich für eine radikal andere Politik entschiede? Um Antworten darauf zu finden, beschloss ich, mich auf eine Reise an die Fronten des Drogenkrieges zu begeben.
Also warf ich meine letzten Pillen in die Toilette, schloss die Wohnung ab und brach auf. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nur, dass der Drogenkrieg in den Vereinigten Staaten begonnen hatte, bloß hatte ich damals noch keine Ahnung, wann und wo. Für meine Reise nach New York steckte ich mir eine Liste mit den Namen von Experten auf diesem Gebiet ein. Heute weiß ich, wie gut es war, dass ich kein Rückflugticket buchte, konnte ich doch nicht ahnen, dass mich diese Reise 30000 Meilen weit durch neun Länder führen würde und dass sie drei Jahre dauern sollte.
Unterwegs hörte ich Geschichten, wie ich sie mir zu Beginn kaum hätte ausmalen können, Geschichten von Menschen, die Antworten auf jene Fragen gaben, die mich so lange gequält hatten. Geschichten von einem transsexuellen Crackdealer in Brooklyn, der wissen wollte, wer seine Mutter umgebracht hatte. Von einer Krankenschwester in Ciudad Juárez, die auf der Suche nach ihrer Tochter durch die Wüste lief. Von jemandem, der als Kind während des Holocaust aus dem Ghetto von Budapest geschmuggelt worden war und der die wahren Ursachen für Abhängigkeit und Sucht entdeckte. Von einem Junkie, der in Vancouver eine Revolte anführte. Von einem Serienkiller in einem Käfig in Texas. Von einem portugiesischen Arzt, der sein Land dazu brachte, das Verbot aller Drogen aufzuheben, von Cannabis bis Crack. Von einem Wissenschaftler in Los Angeles, der einem Mungo Drogen gab, nur um zu sehen, was geschehen würde.
All diese Menschen – und viele mehr – waren meine Lehrer. Mich erstaunte, was sie mir beibrachten, denn wie sich zeigte, sind viele unserer grundlegenden Annahmen falsch. Drogen sind nicht, wofür wir sie halten. Abhängigkeit von Drogen bedeutet nicht, was man uns weismacht. Der Drogenkrieg ist nicht das, als was ihn uns die Politiker seit über hundert Jahren verkaufen. Uns erwartet dort draußen eine völlig andere Geschichte, wenn wir nur bereit sind, sie zu hören – eine, die uns große Hoffnung macht.