Roger Willemsen
Das Hohe Haus
Ein Jahr im Parlament
FISCHER E-Books
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller ›Der Knacks‹, ›Die Enden der Welt‹, ›Momentum‹ und ›Das Hohe Haus‹. Über sein umfangreiches Werk gibt Auskunft der Band ›Der leidenschaftliche Zeitgenosse‹, herausgegeben von Insa Wilke.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagabbildung: Stefanie Loos
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ISBN 978-3-10-402855-2
Da sitzen wir, einander gegenüber, nur wir beide, sie und ich, getrennt durch eine Glasscheibe. Wir sind so selten auf diese Weise für uns, unsere Blicke treffen sich nie, und manchmal, wenn ich sie irgendwo sehe, frage ich mich, ob sie von den Meinen weiß, ob wir eine Rolle spielen in ihren Überlegungen, wenn sie »Sorge« sagt oder »Verantwortung«.
Ich suche in ihrem Gesicht, in ihren Gesten, die sie so gern im Scharnier der Raute einrasten lässt. Wer wollte sie sein, als sie sich zum heutigen Anlass für diese futuristische Silberweste entschied? Steif und fern, wie sie da sitzt, wirkt sie nicht, als müsse sie mir dringend etwas sagen. Eine Mediengesellschaft sollen wir sein, wählen Menschen mit dem Privileg, zum Volk zu reden – und dann reden sie so? Vielleicht ist es umgekehrt: Wer an der Macht nicht auffällt und sich mit dem Volk auf Gemeinplätzen verabredet, kann immer weiter herrschen.
Herrschen? Sie spricht. Was für ein Redetyp ist dies? Eine Ansprache? Eine Gardinenpredigt? Ein Märchen? Warum nicht? In früheren Jahrhunderten hat man gepredigt: »Mensch, werde wesentlich.« Der Kanzlerin sagte man: »Wesen, werde menschlich«, und so darf sie mir heute persönlich kommen, matriarchalisch, die gute Hirtin, Trümmerfrau, Mutter, Lehrerin, Oberärztin, Hüterin des Schutzmantels.
Sie sitzt neben einem Gebinde, das an Begräbnisse erinnert, vor einem Tannenbaum, flankiert von einem Flaggen-Ensemble für Deutschland und Europa, also zwischen Emblemen und Mythen. Jetzt erzählt sie die Geschichte vom verhinderten Schulabbrecher, vom Zusammenhalt, von »Freunden und Nachbarn«, von »Familien, die sich Tag für Tag um ihre Kinder und Angehörigen kümmern«. Doch dies sind sämtlich Dinge, die sie aus freien Stücken tun, und nicht, weil die Regierung ihnen diese Freiheit schenkte. Sie erzählt von »Gewerkschaftern und Unternehmern, die gemeinsam für die Sicherheit der Arbeitsplätze arbeiten«, aber nicht dafür arbeiten sie, sondern für Geld, sie lobt, wie wir alle beitragen, »unsere Gesellschaft menschlich und erfolgreich« zu machen, aber das tun wir nicht, denn das »Erfolgreiche« und das »Menschliche« sind nur in Sonntagsreden und Neujahrsansprachen versöhnt.
Sie weiß, was wir hören wollen, spricht deshalb von der »sicheren Zukunft«, an die ich nicht glauben kann, von dem »kleinen medizinischen Wunder« der mitwachsenden Herzklappenprothese bei einer jungen Frau, woran ich durchaus glauben kann. Doch ist dies ein Beispiel mit Kalkül, und dies schmeckt vor. Zur Kultur außerhalb der Wissenschaft kein Wort, an ihrer Stelle prunkt »die Bereitschaft zur Leistung und soziale Sicherheit für alle«, und weil es der Bogen der Rede so verlangt, müssen schließlich die Begriffe »menschlich und erfolgreich« noch einmal zusammentreten, ehe mir die Kanzlerin »Gottes Segen« wünscht. Dann geht sie wieder ihren Geschäften nach, und ich bleibe zurück.
Was war das? Warum war das? Die Neujahrsansprache hat keine Funktion. Die Ausstellung der Funktionslosigkeit ist ihre Funktion. Also ist sie eine Manifestation ritueller Zwecklosigkeit im interesselosen Raum. Es wird zwar gesprochen, doch man kann nicht widersprechen, nicht eingreifen. Die Verwaltung des Landes hat die Lippen bewegt, und sie war nicht nur menschlich, sie hat auch alles Menschliche vereinnahmt als etwas, das mir die Regierung schenkt. Zugleich hat sie mehr Krise angekündigt, jetzt aber sicher. Denn nach neun Monaten einer Krise, die immer bloß von der Akropolis herunterdrohte, mussten neue Leidenshorizonte aufgerissen werden, weil die alten verblassten. In dieser Krise war nämlich das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands um drei Prozent gestiegen, das Staatsdefizit gesunken.
Die Krise aber festigt die Anhänglichkeit der Regierten an die Regierenden. Immer wieder habe ich sagen hören, »gemeinsam« könnten wir »es« schaffen. Aber was ist dieses »es«, wo ist der Schauplatz für dieses »gemeinsam«, und wie belastbar ist diese Rhetorik? Als im afghanischen Kundus nach einer von Deutschen verantworteten Bombardierung 142 Menschen, darunter viele Kinder, starben, die weitaus größte Opferzahl in der Geschichte der Bundeswehr, hatte die Kanzlerin gesagt: »Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.« Das konjunktivische Mitleid: Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann »zutiefst«, und wenn »zutiefst«, dann »natürlich«! Jetzt also stattdessen das Wunder von der mitwachsenden Herzklappenprothese.
Es ist ein ordinärer Impuls, sich von der Kanzlerin, ihrer Rhetorik, ihrer Erscheinung, ihrem Gefühlshaushalt, sich von der Volksvertretung insgesamt nicht vertreten zu fühlen. Es ist der billigst zu habende Dünkel, sich als das Individuum zu verstehen, das im Kollektiv nicht aufgeht. Was ich aber über meine Repräsentation im Parlament weiß, beziehe ich aus sekundären Quellen des Nachrichtenjournalismus. Ich unterstelle ihnen Absichten, eigene Interessen, unterstelle mich trotzdem ihrer Autorität. Welche Autorität aber besitzt das Entscheidungszentrum der Demokratie, wenn ich es mit eigenen Augen sehe?
Der Reichstag sieht immer noch aus wie ein Planungsrelikt auf der »Grünen Wiese«, ein Denkmal. Abseits vom Brandenburger Tor, unverbunden mit den großen Verkehrsadern ringsum, ist das Gebäude ein Solitär, umgeben vom »Cordon sanitaire« der Wachhäuschen, Pavillons, Käsekästchen der Absperrungsgitter.
In weit mehr als der Hälfte der Zeit seit seiner Vollendung stand der Bau ungenutzt, verlegen herum, hätte mehrfach zerstört werden sollen, erhob sich dreißig Jahre lang marginalisiert im Schatten der Mauer. Selbst nach der Vereinigung dachte zunächst kaum jemand daran, ihn zum Parlamentssitz zu erheben. Doch mit der künstlerischen »Verhüllung« von 1995 änderte sich der Blick auf den Bau, den man pathetisch, kolossal, überheblich, anmaßend gefunden hatte. Bald richtete man Tage der offenen Tür selbst im Rohbau ein, und das Brandenburger Tor fiel auf Platz 2 der symbolischen Attraktionen Berlins zurück. Das Äußere des Reichstags ist immer noch schwer wie ein Eichenmöbel, überwölbt von der luftigen Kuppel, dem Publikumsliebling. Vor dem alten Haupteingang ist noch der Kaiser vorgefahren. Die heutigen Abgeordneten nehmen den Osteingang.
Es hatte gerade geschneit, als ich ankam. Die meisten Besucher waren Touristen, asiatische vor allem, die Foto-Posen ausprobierten vom Hitlergruß bis zur Kommunistenfaust. Sie standen schelmisch vor der Repräsentationsarchitektur und ketzerten gegen die Monumentalität des Gebäudes.
Der Palast ist Direktor, Schutzmann, König. Die realen Polizisten dagegen haben gelernt, eine schläfrige Bereitschaft auszustrahlen, von der nach Jahren nur noch die Schläfrigkeit bleibt. Sie ächzen, wenn sie aufstehen, belastet von ihrer persönlichen Materialermüdung. Wenn man die Sicherheit des Landes an dem polizeilichen Aufwand rund um das Parlament ablesen will, dann war das Land nie so gefährdet.
Das Parlament steht den Bürgern nicht einfach offen. Sie kommen in Gruppen, Teil organisierter Busreisen, denen sich vor allem Senioren aus dem ganzen Land anschließen. Oder sie kommen zu Schulausflügen oder Klassenfahrten. Ein Mädchen erzählt mir, dass sie sich ehemals eine Fahrt nach Berlin nur leisten konnten, weil man für einen Parlamentsbesuch eine Kopfprämie erhielt. Heutzutage sitzen meist Senioren oder Halbwüchsige auf den Tribünen. Sie dürfen für eine Stunde bleiben. Danach werden sie wieder hinauskomplimentiert.
Ich selbst muss einen komplizierteren bürokratischen Weg gehen, meine Daten hinterlegen, meine Absichten erklären, in jeder neuen Sitzungswoche einen neuen Ausweis beantragen, denn, so wurde mir geflüstert, man müsse sehr auf den Ruf des Hohen Hauses achten. Fehler könnten Entlassungen nach sich ziehen. So oft bekam ich das zu hören, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dieses öffentlichste aller Gebäude habe etwas zu verbergen – etwas, das Kameras nicht zeigen, Stenographen nicht verzeichnen? Es ist mein Parlament, dachte ich, es verhandelt meine Sache, wird von mir bezahlt, warum sollte ich es nicht besuchen dürfen, so oft und so lang ich möchte? Glaubt man vielleicht, dass Bürger, wenn sie das Parlament besser kennten, es weniger schätzten?
Der Rest sind Sicherheitsvorkehrungen: Ich muss zwei Ausweise zeigen, wenn ich nur den Platz samt Fuhrpark am Ostflügel überqueren will. Es folgen eine Ausweiskontrolle am Nordeingang, dann die Schleuse für Gepäck und Person in jener Zone, in der sich Jenny Holzers Installation befindet: eine Säule, auf der in Leuchtschrift eine Auswahl großer Parlamentsreden in die hohe Decke läuft. Dann bin ich im Innern mit seinem prononcierten Gegensatz zwischen dem Sandsteinmantel über den alten Ziegelwänden des historischen Reichstags auf der einen, den skandinavisch leuchtenden Farben der Türen, Rahmen und Paneele auf der anderen Seite. Man passiert die steinernen Friese und Skulpturen im Gewölbe, lauter Relikte aus der Kaiserzeit mit musealer Anmutung. Die farbenfrohen Akzente bei Rahmen, Flächen und Türen dagegen verdankt der Bau dem dänischen Designer Per Arnoldi, der kontrastierend Blau und Rot, viel Orange, Grün und Ocker einsetzte. Frische Farben ohne Patina sind das, überraschend unfeierlich, ja profan.
Schon als Paul Wallot 1882 den Wettbewerb um das Reichstagsgebäude gewann, so schreibt der amerikanische Historiker Michael S. Cullen, stand das künstlerische Ausstattungsprogramm des Hauses und schloss Skulpturen, Wand- und Deckenbilder ein. Die renommiertesten deutschen Künstler sollten beitragen, in der Nordeingangshalle war außerdem eine Galerie mit Standbildern deutscher Geistesgrößen geplant. Da aber am Tag der Abstimmung zu viele Katholiken in der Kommission saßen, wurde eine Luther-Skulptur aus dem Programm herausverhandelt. Aus Protest ließ der Architekt die Reihe dann ganz fallen.
Das heutige Kunstkonzept ist mutiger: Im Eingangsbereich etwa finden sich neben den großen Malereien von Gerhard Richter und Georg Baselitz auch Sigmar Polkes ironische Arbeiten zur deutschen Parlamentsgeschichte – ein mit dem Spazierstock drohender Adenauer, eine spöttische Visualisierung des Hammelsprungs. Im ersten Obergeschoss liegen der Andachtsraum, der Plenarsaal, der Clubraum mit einer Bar; im zweiten Obergeschoss die Büros und Empfangsräume für Bundestagspräsidenten und Ältestenrat, dazu der Große Sitzungssaal, der Bundesratssaal und die Konferenzsäle; im dritten Obergeschoss die Fraktionssäle.
Mein Arbeitsplatz in diesem Jahr wird im zweiten Stock liegen, auf der Besucherebene. Hier passiert man die Sicherheitsbeamten und Garderobieren, läuft auf die große Glasscheibe zu, hinter der man den Bundesadler und die Rückenlehnen der obersten Tribünenplätze erkennt, und hört, wie im Entree-Bereich vor dem parlamentarischen Amphitheater die Saaldiener die Besuchergruppen auf den Verhaltenskodex einschwören: keine Fotos, kein unziemliches Verhalten, keine Zwischenrufe und kein Applaus, kein Nickerchen, keine Nahrungsaufnahme, auch keine Kaugummis, keine Handys. Dann öffnen sich die Türen, und man tritt ein.
Der verglaste Plenarsaal unter der Kuppel ist auf einer Fläche von 1200 Quadratmetern elliptisch angeordnet. Von den Tribünen blicken die Zuschauer entweder abwärts in den Saal, auf das Rednerpult, die Regierungsbank, den Bundestagspräsidenten, die Bundesratsbank, den Stenographentisch, das Plenum oder aufwärts in die Filigranstruktur der Kuppel, in der die Touristen auf- und abwärts krabbeln, während manchmal eine Bahn Sonnenlicht direkt in das Zwielicht des Plenarsaals fällt. Und Zwielicht ist immer.
Die Kuppel von unten: dreitausend Quadratmeter verbautes Glas, verteilt auf 408 Scheiben. Keine repräsentative Monstrosität sollte dies sein, sondern eine funktionale Einheit, die Licht und Luft in das Gebäude leitet. Zwei Wochen beansprucht die komplette Reinigung von innen und außen, und das Personal, das diese Arbeit leistet, schaut dabei denen auf die Köpfe, die tief unter ihnen um die Lebensbedingungen aller streiten. Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass die Leistungen am Deutschen Bundestag zu einem Teil von Schwarzarbeitern erbracht wurden, dürftig bezahlt: Vier Mark pro Tag war auch damals nahe am Mindestlohn. Streiks und Arbeitsniederlegungen verzögerten denn auch die Fertigstellung, und da die Arbeiter sozialdemokratisch organisiert waren, wandten sie sich vor allem gegen Arbeitsvermittler und deren Provisionen.
Zum Funktionstest des Plenarsaals ließ man im Februar 1999 1100 Bundeswehrsoldaten Platz nehmen und stellte fest: Auf der Regierungsbank war die Akustik dürftig, anders gesagt: Die Regierung hörte schlecht. Am 7. September 1999 schließlich fand im Reichstag – den »Bundestag« zu nennen vielen besser gefallen hätte – die erste Plenarsitzung statt.
Ich nähere mich dem Plenum von der obersten Stelle. Auf dem Grund des Trichters, zu dem sich die Tribünen senken, steht das Rednerpult. Also hört man, bevor man durch den Kranz der obersten Sitzreihen getreten ist, das Rauschen des Stimmgewirrs, das Schneiden der einzelnen Stimme am Pult: manchmal träge, das verstärkte Organ eines Monologikers, manchmal frisch und kämpferisch wie vor dem Chor der Jasager improvisierend. So weiß man immer gleich, wie die Erregungstemperatur im Saal ist. Willkommen, nie gesehener, altvertrauter Schauplatz unter der Kuppel!
Die sechs Besuchertribünen schweben wie Segmente einer Theatergalerie über dem Plenum. Das Innere des Saals enthält kaum noch Verweise auf das Äußere. Die massige historische Hülle öffnet sich zu einem mehrschichtigen, durchlässigen Innenraum. Auf der gläsernen Ostwand triumphiert der Bundesadler, ehemals heftig umstritten bei den Abgeordneten. Tausende von Skizzen machte Architekt Norman Foster, studierte alles Repräsentationsgeflügel der deutschen Geschichte, reichte allein 180 Entwürfe bei der Baukommission ein. War der Vogel den Abgeordneten zu dünn, so Cullen, dann fanden sie, er erinnere an die »mageren Jahre«. Waren seine Flügelspitzen zu spitz und hoben sie sich, so fanden sie ihn zu bedrohlich. Nein, man ließ den Architekten nicht machen. Genommen wurde am Ende die sogenannte »Fette Henne« aus dem Bonner Bundestag, und Foster zeigte sich tief enttäuscht: »Ein moderner Adler«, meinte er, »wäre ein Zeichen für den Aufbruch gewesen, für Veränderung und Erneuerung.« So liegt der Unterschied zwischen dem tierischen Adler und dem Bundesadler vor allem in der Schnabelpartie, der geraden Mundlinie bei Letzterem.
Über vier Monate arbeitete man an dem 6 Meter 80 hohen Aluminium-Vogel mit der Flügelspannweite von 8 Meter 50, einem Gewicht von 2,5 Tonnen und einer Grundfläche von 57,8 Quadratmetern. In drei Teilen zog er schließlich in den Plenarsaal ein. Und doch hat Foster auch hier seine Spur hinterlassen. Die Rückseite des Adlers nämlich, sichtbar von den rückwärtigen Gängen außerhalb des Plenarsaals, zeigt ein anderes Gesicht. Hier grient der Adler. Ja, es ist schon behauptet worden, er schaue spöttisch wie zur Kommentierung dieser ganzen Debatte. So hat im Parlament eben auch der Bundesadler seine zwei Seiten.
Die Besucher, die eben noch in großen Gruppen darauf warteten, hineingeführt zu werden, grimassieren jetzt, als träten sie ins Bild ein: Hier also! Sie drängen sich auf die graubezogenen Bänke, sitzen ein Weilchen, lassen den Saal auf sich wirken, legen die Köpfe in den Nacken, um die zu sehen, die sich in die Kuppel schrauben. Sie überfliegen das Plenum mit den vielen leeren Reihen in »Reichstagsblau«, wie Foster diese Farbe nannte. Ursprünglich hatte er auch einen Plenarsaal-Stuhl entworfen, der aber ebenfalls abgelehnt wurde. Die Abgeordneten beharrten auf ihren Bonner Stühlen, verlangten gleichzeitig, dichter zu sitzen. Das tun sie nun. Ja, in der Gestaltung der Innenarchitektur hat sich das demokratische Kollektiv immer wieder durchgesetzt.
Ich hatte mich darauf eingestellt, eine Institution im Verblassen ihrer Bedeutung zu erleben, und fand was vor? Die Raumwahrnehmung wird bestimmt von den Emblemen, die im Lande alle auf diesen Saal verweisen: die Flagge, der Adler, die Nationalfarben. Die Hoheit der Repräsentationsarchitektur verrät, dass hier eine große Idee beheimatet ist. Es ist der Ort, an welchem dem Grundgesetz, der Verfassung, der Legislative, der Moral des Staatswesens gehuldigt wird, und dieser Saal strahlt aus. Er repräsentiert die Demokratie und in dieser das Land. Was aber verrät der Zustand des Parlaments über den des Landes?
Die Demokratie hat etwas Chimärisches. Wo wäre sie fassbar, wo materialisiert sie sich? Und wenn sie es tut, warum so oft in Ritualen und Floskeln? Ich denke an die Unterwürfigkeit gegenüber dem Lokalpolitiker, die Anerkennung einer Hierarchie, die sich aus der Fiktion der Macht speist, an die Ohnmacht von Demonstrationen. Die Verfassung meint: Die Entscheidungsgewalt liegt bei der Regierung, das Parlament kontrolliert diese Regierung. Die Wahrheit ist: Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun repräsentativ, meist rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser.
Die Besucher schwenken den Raum ab, ordnen die Bänke und Blöcke den Fraktionen zu, ehe sie sich den Personen zuwenden. Den meisten geht es offenbar wie mir: Sie fühlen einen Bann, stellen rasch die Zwiegespräche ein, überlassen sich dem Augenschein. Der Deutsche Bundestag soll zwar das bestbesuchte Parlament Europas sein und besitzt mit etwa 25000 Kubikmetern umbauten Raums auch den größten Plenarsaal. Journalisten aber kommen nicht mehr oft hierher. Lieber verfolgen sie die Sitzungen in ihren Redaktionen auf dem Bundestagskanal, auf »Phoenix« oder in eigenen Schaltungen. Der Besuch des Parlaments »lohne sich nicht«, sagen sie oft, und für die tagesaktuelle Arbeit mag dies zutreffen.
Kein Wunder also, wenn die Pressetribünen oft mit Touristen aufgefüllt werden. Dann bleiben nur die ersten Reihen frei für die Fotografen. Die stürzen gern von hinten an die Rampe, um das Gesicht des Tages festzuhalten, dann noch eine Sequenz auf dem Kameradisplay durchlaufen zu lassen, und manchmal kann man das Resultat schon Minuten später bei einem der Online-Magazine finden. Es kommt sogar vor, dass Fotografen die Abgeordneten von oben bitten, mal eben … dann drehen die sich da unten ein und sehen eine Pose lang attraktiv parlamentarisch aus.
Der Gong füllt den Raum. Alle erheben sich. Bundestagspräsident Norbert Lammert, federnd und alert, die Personifizierung der Ehre des Hohen Hauses, nimmt auf seinem Sessel Platz. Parteiübergreifend geachtet, interpretiert Lammert seine Rolle auch als Hüter des parlamentarischen Gedankens, interessiert gleichermaßen an der Intaktheit der Institution, der Lebendigkeit der Debatte, der Würde, wo sie gefordert ist, und einer Verankerung im Gegenwärtigen, die er anspielungsreich und nicht ohne Humor beschreibt: »Die Sitzung ist eröffnet. (…) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich zur ersten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in diesem Jahr, verbunden noch einmal mit allen guten Wünschen für Sie persönlich und für unsere gemeinsame Arbeit.«
Der erste parlamentarische Akt des Jahres ist der Nachruf auf Peter Struck, zu dem sich alle erheben. Struck war kurz vor Weihnachten, Tage vor seinem siebzigsten Geburtstag, plötzlich verstorben. Am häufigsten wird er in den nächsten Monaten mit dem nach ihm benannten »Gesetz« zitiert: »Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingekommen ist.« Ehre und Mühsal der Legislative in einem Satz. Lammert bemerkt auch, »die meisten« hätten Struck »als einen feinen Kerl und einen verlässlichen Kollegen kennengelernt«.
Ich erinnere mich an seine trockene Art, seinen Haudegencharme, aber auch an die bizarre Behauptung, »die deutsche Sicherheit werde am Hindukusch verteidigt«, worüber ich vor nicht langer Zeit mit ihm in einer »Oxford Debate« öffentlich stritt. Damals schöpfte er seine Redezeit nicht aus, bot das Repertoire pragmatischer Argumente auf, mit denen der Krieg in Afghanistan als notwendig und als »Selbstverteidigung« der Deutschen deklariert worden war, und schob Einwände in den Bereich des »Gefühlskrams«. Das kam erschreckend sachlich daher, unangefochten von jedem Zweifel, und taugte letztlich zur Verteidigung jedes Kriegseinsatzes, wenn man ihn nur irgendwie auf eine »globale Bedrohung« beziehen konnte. Ich erinnere mich der Nikotinspuren im weißen Schnauzer, an Pfeife und Lederjacke und seine rumpelnde Diktion.
Lammert sagt gerade: »Er war über viele Jahre eine der Stützen der Fußballmannschaft des Deutschen Bundestages, deren Bedeutung für das kollegiale Klima über die Fraktionen hinweg nicht zu unterschätzen ist.« Man bedauert lächelnd. Dann aber verrät der Redner in einem einzigen Satz, dass oft ein wenig Selbstbeschreibung in dem liegt, was man an anderen lobt: »Peter Struck«, sagt er, »hatte eine klare Vorstellung von der Ordnung der Staatsgewalt, und er wusste zwischen der Bedeutung von Ämtern und ihrer Prominenz in der öffentlichen Wahrnehmung zu unterscheiden.« Man erinnert sich des parlamentarischen Urgesteins, des Mannes, für den es nach eigenen Worten »das Größte« war, Mitglied des Deutschen Bundestags zu sein, und der nun rhetorisch mit dem Satz zu Grabe getragen wird, auf den dieses Politikerleben wohl immer zustrebte: »Peter Struck hat sich um unser Land große Verdienste erworben.« Da scheint es wieder auf, dieses Ideal der politischen Wirkung der Einzelperson, selbstlos und heroisch.
Die parlamentarische Arbeit beginnt mit einer Aussprache über »Fünfzig Jahre Elysée-Vertrag«. Die Übung ist leicht, sie findet eine Woche vor der gemeinschaftlichen Sitzung des deutschen und des französischen Parlaments statt, und angesichts der einvernehmlichen Zufriedenheit über den Stand der Völkerfreundschaft darf man in der Aussprache nicht mehr erwarten als den ausdifferenzierten Konsens.
Michael Link, Staatsminister im Auswärtigen Amt, wendet sich an »die vielen Schülerinnen und Schüler«, die »uns heute zuhören oder diese Debatte nachlesen«. Ich schaue sie mir an, sie sitzen wie im Konzert. Dass sie zuhören, während sie zuhören, ist nicht erkennbar, dass sie die Debatte nachlesen, schwer vorstellbar. »Träum weiter, Staatsminister«, sagen ihre Gesichter, die nicht einmal aussehen, als ob sie sich gemeint fühlten – ein Grundproblem der parlamentarischen Rede. Sie erreicht ihre Adressaten nicht, denn sie kennt sie nicht.
Unterdessen verbeißt sich der Redner ins Jugendliche. Es müsse, sagt er, »einfach auch wieder cool werden, die Sprache des Nachbarn zu sprechen«. War es das je, und haben Erwachsene die Vokabel »cool« je anders verwendet als anbiederisch? Was aber wäre Völkerfreundschaft außerhalb solcher »Coolness«? Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) hatte eben noch das innige deutsch-französische Verhältnis mit den Worten bezeichnet, man müsse »mit Pooling und Sharing von militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten zu wirklich substantiellen Kooperationen kommen«. Fraglich, ob sich die Schüler von da an noch gemeint gefühlt hatten, fraglich sogar, ob sie die Freundschaft überhaupt erkennen können, die Staatsminister Michael Link jetzt in die Worte fasst: »Die deutsch-französische Freundschaft, sie ist keine Nostalgie und auch keine Rhetorik; sie ist eine hochaktuelle Strategie, um unsere Europäische Union Schritt für Schritt voranzubringen.«
Auf der Schulklassen-Tribüne senken sich ein paar Mundwinkel zum Flunsch. Eine Freundschaft in militärischen Begriffen, nützlich und hochgerüstet, ist allenfalls »strategische Partnerschaft« und Zweckgemeinschaft – nichts, was Freunde auf der Tribüne für »Freundschaft« oder für »cool« halten. Der Redner wünscht, von der jungen Generation gehört und sogar gelesen zu werden. Tut sie das, muss er hoffen, dass sie ihn nicht beim Wort nimmt.
Eher erkennt sie sich wohl, als Günter Gloser (SPD) auf eine Abiturprüfung des Jahres 1956 zu sprechen kommt. Ein deutscher Abiturient hatte eine Passage aus dem Roman »Jean-Christophe« von Romain Rolland zu übersetzen, in der es hieß: »Nous avons besoin de vous et vous avez besoin de nous.« Und der Schüler übersetzte: »Wir haben genug von euch, und ihr habt genug von uns.« Der Saal lacht, die Tribünen lachen und widersprechen der Übersetzung, nicht dem Gran ehrlicher Abwehr in ihr.
Doch während Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) gleich noch so verschrobene Namen wie Erich Maria Remarque, Ho Chi Minh und Karl Marx zitiert, um dann in eigenen Worten zu schmettern: »Ich möchte, dass von unserem Parlament eine deutliche Botschaft ausgeht: ›Nie wieder!‹«, hält sich Oliver Luksic (FDP) lieber an de Gaulle, der »richtig erkannt hat«, wir »brauchen gerade die jungen Generationen, um eine stabile Zukunft zu schaffen«. Der Satz ist auch ohne de Gaulle ein Gemeinplatz und stimmt trotzdem nicht. Dass man eine »stabile Zukunft« schaffen könne, widerspricht jeder Zukunft, die je war, und dass man die Jugendlichen dazu brauche, widerspricht offenkundig der Jugendarbeitslosigkeit, die in manchen europäischen Nachbarländern gerade bei über fünfzig Prozent liegt. Plötzlich fällt mir der Alte in Afghanistan ein, der zu mir sagte: »Gut, dass die Zukunft noch weit weg ist. Nicht schon in zehn Jahren. Ich will die Zukunft ja nicht für mich. Ich will sie für andere.«
Nähme man den Parlamentsredner aber ernst, dann klänge es wie Hohn, wenn er nun anschließt: »In diesen Generationen muss auch der europäische Patriotismusgedanke eine stärkere Rolle spielen; denn Europa hat seinen Preis.« Die Jugendlichen auf den Rängen verstehen: Sie sollen Gefühle investieren. Aber den Preis zahlen gerade jene, die, selbst schuldlos, von Europa zur Erwerbslosigkeit verdonnert wurden. Eine Art Europatriotismus wird ihnen abverlangt als die Währung, in der man dieses Europa bezahlt, denn gratis ist unter Ländern und Leistungsträgern nicht einmal die Freundschaft.
Die Jugend darf sich also in dieser ersten Debatte des Jahres adressiert und umworben fühlen, auch wenn sich die Köpfe der Redner zu den Tribünen nicht heben und ihre Jugendsprache allenfalls kokett wirkt. Es könnte ihnen passieren, dass der Subtext als der eigentliche Text verstanden wird und bei der beschworenen Freundschaft der ökonomische Nutzen durchscheint unter dem Pathos.
Das Publikum auf den Tribünen wird ausgetauscht, und ich schaue mich noch einmal um: Das »Parlament« – das Reden steckt schon im Wort. Wirklich war das Recht der öffentlichen Debatte eine Errungenschaft, erkämpft, mit Leiden bezahlt, mit Blut begossen. Es war das Recht, nicht die Erklärungen des Königs oder der Obrigkeit hinnehmen zu müssen, sondern auf dem Weg der offenen Auseinandersetzung zu einer Entscheidung kommen zu können. Das Parlament ist der Raum, in dem alles spricht. Der Parlamentarier ist einer, der Kommunikation herstellt und verwaltet. Der Plenarsaal ist der Ort, in dem ein Handeln durch Sprechen simuliert oder sogar vollzogen wird. Parlamente steuern, verdichten, prononcieren die politische Kommunikation. Sie waren die erste Adresse für die freie Rede. Im geschlossenen Raum nahm sie ihren Ausgang, verbreitete sich über die Gesellschaft, und selbst Zeiten der Zensur bekannten sich zu dem Grundsatz, dass die wahrheitsgemäße Berichterstattung über Parlamentsdebatten straffrei bleiben müsse.
Das Parlament ist heute der Veröffentlichung der Politik vorbehalten. Hier ist die Politik bei sich, hier existiert sie zu ihren Bedingungen – nicht wie im gedruckten Interview, das bearbeitet wurde, nicht wie im abgekarteten Spiel der Parteiinszenierung, nicht wie in der Talkshow, wo Politik massenkompatibel und »vermenschlicht« werden muss. Das Parlament ist der öffentlichste Raum und doch in manchem so undurchsichtig wie unverständlich.
Inzwischen konnten die meisten der Politiker, die sich mit dem deutsch-französischen Verhältnis befassen, den Raum verlassen, und solche mit einer Fachausrichtung im agrarischen Bereich haben ihre Plätze eingenommen. Der Bürger mag sich über leere Reihen im Parlament wundern und die »Faulheit« der Abgeordneten beklagen. Das Gegenteil ist richtig. Die Abgeordneten sind mit Verpflichtungen so befrachtet, dass sie oft bis an die Grenze der Belastbarkeit oder Aufnahmefähigkeit arbeiten, verteilt sich diese Arbeit doch auf mindestens vier Felder: Die Parlamentsarbeit schließt das Studium von manchmal tausend Seiten Akten pro Sitzung sowie die Ausschussarbeit ein. Die Wahlkreisarbeit ist ähnlich wie die Parteiarbeit Voraussetzung für die Wiederwahl. Die Öffentlichkeitsarbeit schließlich ist Mitvoraussetzung für die Anerkennung im Parlament, in der Partei und bei den Wählern.
Überschneidungen ergeben sich, wo Abgeordnete die Delegationen ihres Wahlkreises im Bundestag empfangen: also Schulklassen, Studierende, ehrenamtliche Organisationen, Ortsvereine, Firmenangehörige. Ebenso wenig zu unterschätzen ist inzwischen das soziale Netzwerken in elektronischer wie in persönlicher Form. Sie alle wollen bedient oder hofiert werden: die Partei und ihre Bündnispartner, die Koalitionäre und internen Flügel, die Vertreter von Subzentren und Verbänden. Von überall wird Einflussnahme gesucht, alles verlangt nach Symbiosen, nach Cliquen, Freundeskreisen und Komplizenschaften.
Da den Abgeordneten folglich die Zeit fehlt, über den Rand der eigenen Fachgruppe hinaus Interesse an parlamentarischen Themen und Fragen zu entwickeln, sitzen im Plenum vor allem die Ausschussmitglieder, und es ist die Aufgabe der Fraktionsvorsitzenden, auch in schwach besuchten Sitzungen die Abstimmungsmehrheit zu organisieren. Vollzählig ist das Plenum deshalb fast nur bei Gedenkstunden und Regierungserklärungen. Selbst zu namentlichen Abstimmungen oder beim Hammelsprung werden die Abgeordneten erst durch ein akustisches Signal aus ihren Büros in den Plenarsaal zitiert, werfen dort ihre markierten Abstimmungszettel in die Urnen und gehen wieder.
Inzwischen hat Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das Rednerpult herabgefahren und die Stimme herauf. Sie spricht mit der Autorität der Veteranin, die sich immer dann verjüngt, wenn sie keift, und die zugleich die Abläufe zu gut kennt, um die eigene Empörung frisch halten zu können.
Die Internationale Grüne Woche beginnt. Zum Auftakt sieht man die Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner im Fernsehen öffentlich essen. Minister müssen zum Beweis der Basisnähe immer wieder mit den Requisiten ihrer Ressorts abgebildet werden. Die Verbraucherschutzministerin schützt also die Verbraucher durch das Trinken von Bier und Wein, das Verzehren von Wurst, ja, es ist überhaupt gut, wenn die Ministerin wurstaffin aussieht. Der Verteidigungsminister sitzt im Panzer. Der Umweltminister sucht mit der Grubenlampe ein Endlager im Stollen, der Verkehrsminister schwenkt eine Eisenbahnerkelle. Nur der Wirtschafts- und der Finanzminister, sie haben nichts. Ein Außenminister kann sich wenigstens mit Afrikanern in bunten Hemden zeigen oder mit vorderasiatischen Glaubensführern im Kaftan. Ilse Aigner also wird in den nächsten Tagen wieder speisen und zechen müssen, und ihre Vorvorgängerin im Amt sieht man nun die lächelnde Esserin attackieren mit Hinweisen auf Dioxin-Eier, Antibiotika im Geflügelfleisch, Keime im Schweinemett.
Das muss ein Ritual sein, denn seit Künast 2005 aus dem Ministeramt schied, sind mit Horst Seehofer und Ilse Aigner acht Jahre CSU über den Verbraucherschutz gekommen und viele Papiere. Im letzten Jahr war es eine »Charta für die Landwirtschaft«, die weder die Lebensmittelskandale der jüngeren Zeit verhindern noch die Kontrollen wirksamer machen noch den Ausbau der Bio-Landwirtschaft stärken konnte. Stattdessen, so Künast, seien CDU und CSU »Erfüllungsgehilfen der Agrarindustrie, der Großmastanlagen und der Megaschlachthöfe«. Selbst für die Mitfinanzierung weißrussischer und ukrainischer »Hühnerknäste« seien sie verantwortlich, also für die Stärkung der ausländischen Konkurrenz mit deutschem Steuergeld. Man könnte dies angesichts der Fließeigenschaften internationaler Finanzströme als einen Teil der Globalisierung ansehen, den CDU-Abgeordneten Norbert Schindler aber inspiriert es zu dem Zwischenruf: »Sie haben doch die Globalisierung vorbereitet!«
So, wie sie da steht, klein, konzentriert und empört, traut man das Renate Künast gar nicht zu, und man erfährt auch nicht, wie sie es geschafft haben soll. Im Augenblick kommt sie gerade von den Keimen im Schweinemett über die Nitrat-Belastung niedersächsischer Böden zum Anbau von deutschem Tierfutter in Brasilien und Argentinien. Das macht Deutschland, sagt sie, »vor allen Dingen zum Nahrungsmittelkonkurrenten für arme Menschen, das heißt, wir produzieren Hunger in Brasilien und Argentinien. Das ist die Wahrheit!«
»Das ist vollkommener Blödsinn!«, ruft Erik Schweickert (FDP), und Künast erwidert vom Pult: »Herr Schweickert ruft: ›vollkommener Blödsinn‹. Herr Schindler winkt gleich ab. Ich weiß nicht, ob das Ihr Verständnis von Parlamentarismus ist.« Doch was bliebe vom Parlamentarismus, nähme man ihm den »Blödsinn« und das »Abwinken«? Ilse Aigner (CSU) steht schon am Rednerpult, als Volker Kauder (CDU/CSU) noch hineinruft: »Die miefige Politik der Grünen! Mief! Mief! Mief!« Doch die Ministerin versucht sich auf deeskalierende Weise staatsfraulich und stellt fest: »Wir regieren aber nicht nach dem Bauchgefühl.« Da braucht Renate Künast nicht lange nachzudenken und ruft: »Ich habe gar keinen Bauch!« Nein, der Parlamentarismus nimmt hier so wenig Schaden wie der Bauch. Er war schon immer so.
Aber dass man vom Menschen manchmal mehr sieht, als dem Abgeordneten lieb sein kann, stimmt auch. Dann erscheint hinter dem debattierten Anliegen die Höherrangigkeit des parlamentarischen Rituals und hinter dem Ritual der um sich selbst kämpfende Mensch am Rande seiner Geistesgegenwart. So versteigt sich Matthias Miersch (SPD) schließlich selbst zu dem Aphorismus: »Als Sozialdemokratie sagen wir, dass Ernährung ein elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge ist.« Wenn man es als Müttergenesungswerk sagte, wäre es genauso unsinnig, ist doch das Essen zunächst einmal »Daseinserhaltung«. »Vorsorge« ist es auch ohne SPD nur in dem Sinn, in dem selbst CDU-Abgeordnete sterben, wenn sie nicht essen.
Es gehören zum Parlament aber auch seine Selbstheilungskräfte, und so sind unter den Abgeordneten die Berufsstände der Lehrer, Juristen und Verwaltungsbeamten zwar dominierend – und insofern repräsentiert das Plenum die Vielfalt des Volkes nicht –, doch glücklicherweise gibt es auch jene, die nicht nur wissen, dass Deutschland der größte Schweinefleischproduzent in der EU ist und im Jahr 2011 ganze 2,3 Millionen Tonnen exportiert hat, gibt es nicht nur Abgeordnete, die über »Agrarstrukturwandel«, »Tierhaltungssysteme«, »Nutztierhaltungsverordnungen«, »keimabweisende Baumaterialien«, »Lichtmanipulationen« in Hühnerställen akademisch Auskunft geben können, und nicht nur solche Abgeordnete, die sich auf der Internetseite des Bauernverbandes Schleswig-Holstein alle zwanzig Sekunden ein neues Webcam-Bild aus dem Schweinestall ansehen und über den »reibungslosen Mastverlauf« referieren. Nein, es gibt auch echte Bauern und Veterinäre.
»Gehen Sie einmal in einen Kuhstall, und Sie werden feststellen: Die Kühe sind größer geworden«, ruft Christel Happach-Kasan (FDP), und Hans-Michael Goldmann (FDP) erzählt vom Landkreis Emsland, dem »wild-morastigen Fehn«, in dem er Kind war: »Liebe Freunde, ich bin mit meinem Vater, der Tierarzt war – ich bin ebenfalls Tierarzt –, zu Zeiten durchs Emsland gefahren, da die Kühe angekettet waren und deswegen eine große haarlose Stelle um den Hals hatten. Weil es dunkel war, hatte mein Vater eine Taschenlampe im Mund, um die Nummer auf der Ohrmarke abzulesen. Die Hinterbeine der Tiere standen im Dreck, und wenn man ihnen zu nahe kam, hauten sie einem mit einem vollgeschissenen Schwanz durchs Gesicht. So waren die Haltungsbedingungen.«
Auf der Höhe seiner Möglichkeiten ist der Bundestag immer dann, wenn eine Debatte den ganzen Bogen von der Globalisierungsstatistik über die Schweinemett-Belastung bis in die Realität der Ställe spannt. Rasant ist, wie die Kenntnis der Materie, die fast alle Debatten auszeichnet – und die nicht zuletzt der akribischen Arbeit des Parlamentarischen Informationsdienstes geschuldet ist –, mit der Anschauung so verknüpft wird, dass man plötzlich einen Stall, einen Betrieb, einen Bauern sieht und merkt: Das Parlament besucht sogar Ställe und versammelt zum Glück auch noch ein paar Bauern und Arbeiter in seinen Reihen.
So sieht man plötzlich die osteuropäischen Schlachter vor sich, die, »Eimermenschen« genannt, mit Werkverträgen ausgestattet, elend untergebracht, für einen Hungerlohn beschäftigt werden. Man hört vom katholischen Glaubensmann, dem wegen seines Protests gegen die Arbeitsbedingungen im Schlachtbetrieb »nach Mafiamethode als Drohung ein abgezogenes Kaninchen vor die Haustür gelegt« wurde, man erfährt, was eine Übernachtung im Vier-Bett-Zimmer den Aushilfsschlachter kostet, und freut sich nebenher an Epigrammen wie: »Jedes dritte Schwein in Deutschland verbringt sein Leben in Niedersachsen.«
Die Stimmung ist inzwischen von leichtherziger Gereiztheit, die Oberfläche bewegt von stark expressivem Verhalten, von Ausrufen, Schaulachen, Gesten des Abwinkens und Fäuste-Reckens, bitteren Beschuldigungen. Unterdessen verrät der Blick in den Saal die Routine, parallel ein Blättern, Krakeln, Umdrehen, gestreute Aufmerksamkeit mit reflexartigem Reinrufen. Dann schreitet Friedrich Ostendorff (B 90/DIE GRÜNEN) zum Pult wie unter einer existentiellen Bürde. Seine Körperhaltung verdankt sich, so scheint es, der Last seiner Erkenntnis: 35 Höfe am Tag machen dicht, schuld daran ist auch die Selbstauslieferung der »Volkspartei CDU« an den Bauernverband, so sagt er. Nur wenige Stunden im parlamentarischen Jahr, und schon ist das Reizthema Lobbyismus auf dem Tisch.
Nun ist die Erregung echt, geht es doch um Wesen und Funktion des Parlaments, geht es doch auch um die Freiheit des Parlamentariers. Man muss sich vorstellen, wie porös das Gebilde des Fraktionsstandpunkts wird, wenn die Emissäre aus dem »Haus der Wirtschaft«, dem »Haus des Handwerks«, dem »Haus des Handels«, die Vertreter großer Unternehmen und Verbände die Parlamentarier bestürmen oder besser noch die Referenten der Parlamentarier, denn sie sind es, die das Ohr des Abgeordneten haben. Konzerne und Verbände verfolgen ihre Initiativen, flankiert von ehemaligen Ministerialbeamten oder Ministern, die die Seiten gewechselt haben, jeden parlamentarischen Entscheidungsweg und Abweg kennen und erst die Ausschussarbeit, dann das Abstimmungsverhalten zu lenken wissen. Die Begegnung zwischen Parlamentariern und Lobbyisten ist auch eine zwischen Gewählten und Nichtgewählten. Nur die Letzteren haben keine Legitimationsprobleme.
Es gibt Gesetzesvorlagen, die zum großen Teil auf die Vorschläge der Lobby zurückgehen, es gibt solche, die von Kanzleien oder Agenturen vorformuliert werden, dann wieder solche, die sich auf firmeneigene Expertisen, Studien und Erhebungen stützen. Zum Austausch gibt es parlamentarische Abende, Kulturprogramme, Empfänge, Essen, organisiert von Event-Agenturen, entworfen, um die Stimmung zu erzeugen, in der der Parlamentarier durchlässig wird für die Interessen derer, die einladen. Wie soll er da gleichzeitig noch unabhängig sein?
Gewiss haben immer beide Seiten ihre Lobby, die Wirtschafts-, Industrie- und Arbeitgeberverbände auf der einen, die NGOs und die Gewerkschaften auf der anderen Seite. So spielt Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) den Ball auch gleich an die Opposition zurück: »Wir haben es satt, dass Sie jedes Jahr zur Internationalen Grünen Woche versuchen, gemeinsam mit Ihnen nahestehenden Lobbyorganisationen einen Skandal zu inszenieren, um daraus politisches Kapital zu schlagen.« »Da spricht doch der größte Lobbyist!«, schallt es von Christian Lange (SPD) zurück. Schon diese erste Debatte des Jahres wird also auch um die Unabhängigkeit des Parlaments geführt. Sie ist unverblümt im Verweis auf das eigentlich Heimliche, die Durchsetzung von Interessen, die nicht die des Volkes sind.
»Welches Gesellschaftsbild haben Sie?« Jetzt ist der CDU-Mann wirklich zornig: Sie legen »die Axt an die deutsche Landwirtschaft«.
Unter den vierzig Leuten, die in diesem Moment die Zuschauertribüne verlassen, ist ein Mann mit der T-Shirt-Aufschrift: »It was all a dream.« Die meisten lächeln, als habe man sie beim Verlassen eines Sexshops erwischt. »Sie haben offensichtlich kein Problem mit dem Ausverkauf der deutschen Landwirtschaft«, wettert der Redner gerade und lobt die Flatulenz der Hochleistungskuh, die, so sagt er, weniger Gas produziere und deshalb ökologisch unbedenklicher sei.
Der Außenstehende staunt, wie hier Morast aufgewirbelt wird. Dass neben Ilse Aigner an diesem Tag der Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes und der Vizepräsident des niedersächsischen Landesbauernverbandes gesprochen haben, mag parlamentarisch zulässig sein, denn sie sind Abgeordnete. Dass es sich dabei aber auch um Vertreter von Interessenverbänden handelt, das hat Hautgout. Deshalb spricht Wilhelm Priesmeier (SPD) diese Redner direkt an: »Können Sie als Kollege die Argumentation, die Sie im Präsidium Ihres Verbandes vortragen, von dem unterscheiden, was Sie hier im Bundestag vortragen?«
Es gibt Zwischenrufe, auch höhnische, doch das stimuliert den alten Sozialdemokraten nur. Ja, sein Typus existiert noch: Die Stimme orgelt, er redet handfest, zeigt sich entgegenkommend hier, robust dort und scheut keine Verschärfung: »Wenn die Debatte hier schon eskalieren soll, dann setze ich in der Beziehung noch einen drauf. (…) Ich achte natürlich Ihre Argumentation und auch Ihren Sachverstand. Aber ich glaube, dass man da zwei Dinge auseinanderhalten muss: Das eine ist die politische Aufgabe und Funktion, die man wahrnimmt, das andere ist die Interessensvertretung in Verbänden.«
Die Debatte verlagert nun endgültig den Schauplatz. Es gibt nur ein Thema von höherem Ernst als alle Sachfragen, das ist die Würde des Hohen Hauses selbst, so wie sie durch die verfassungsgemäße Unabhängigkeit der Abgeordneten gegeben ist. Doch diese haben sich schon verbissen und demontieren einander wechselseitig: »Heute Abend sitzen wieder alle beim Bundesverband Vieh und Fleisch«, spottet Priesmeier (SPD). Als Retourkutsche deklariert Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU) umgekehrt alle »eindrücklichen Bilder und Horrormeldungen« von Lebensmittelskandalen als PR der Öko-Lobby zum Auftakt der Grünen Woche. Der Zuschauer aber sieht sich plötzlich vom Blick in die Strukturen hinter der öffentlichen Politik düpiert und geht im Gefühl, dass das Abgekartete wenigstens keine Diskretion kennt. Über die Realität der »Lebensmittelskandale« aber sagt die Debatte jetzt nur noch wenig aus.
Ein Fotograf fixiert Peter Hintze (CDU/CSU), der gerade wie in der Schule die schützende Hand über das Papier führt, damit niemand abschreibe, während die Saaldiener im Frack Wassergläser reichen. Der Präsident schließt die Aussprache. Erst bei der Abstimmung wird es still, dabei votieren alle in der Geschlossenheit ihrer Fraktion, ohne Enthaltung.
Bei den neuen Haltungsrichtlinien für Puten war der Zulauf groß, bei der Befragung der Bundesregierung zum Sektor Luftfahrtstrategie verlassen die meisten den Saal. Die Forderung nach mehr Mitteln kontert Hintze mit dem ägyptischen Sprichwort: »Eine Palme wächst nicht schneller, wenn man an ihr zieht.« Für Wolfgang Tiefensee (SPD) heißt dies, dass Hintze »etwas von Palmen, aber nichts vom Luftverkehr versteht!«. Damit ist man beim Grundakkord wieder angekommen, der wechselseitigen Missbilligung und rhetorischen Ehrabschneidung.