Dieter Kühn
Schillers Schreibtisch in Buchenwald
Bericht
FISCHER E-Books
Dieter Kühn, 1935 geboren, verstorben 2015, lebte in Brühl bei Köln. Für seine Biographien, Romane, Erzählungen, Hörspiele und hochgerühmten Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen (das ›Mittelalter-Quartett‹) erhielt er den Hermann-Hesse-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und zuletzt die Carl-Zuckmayer-Medaille. Zu seinen Werken gehören große Biographien (über Clara Schumann, Maria Sibylla Merian, Gertrud Kolmar sowie sein berühmtes Buch über Oswald von Wolkenstein), Romane (›Geheimagent Marlowe‹), historisch-biographische Studien (›Schillers Schreibtisch in Buchenwald‹) und Erzählungsbände (›Ich war Hitlers Schutzengel‹). Zuletzt erschien seine Autobiographie ›Das Magische Auge‹, der mit ›Die siebte Woge‹ nun die Schreibbiographie folgt.
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Von Schillers berühmtem Schreibtisch stehen in Weimar zwei Exemplare: das Original im Museum, mit Globus, zwei Kerzenhaltern, Schreibfeder – und eine maßgetreue Kopie in einem Lagerraum. Die Nachbildung entstand zwischen 1942 und 1943 auf Anordnung der Nationalsozialisten im Konzentrationslager Buchenwald, in Werkstätten, die der SS unterstanden. Ein Häftling hat dort die Kopie angefertigt. Dieter Kühn hat die genauen Umstände des Nachbaus recherchiert und führt eindrucksvoll vor Augen, welch absonderliche Verbindung das Dritte Reich hier mit der Weimarer Klassik eingeht. Er zeichnet einerseits Schillers Weg zum Schriftsteller nach und beleuchtet andererseits den Schillerkult der Nationalsozialisten. Eindrucksvoll schildert er, wie der Tisch, an dem Schiller seine Ideen der Freiheit und Menschenwürde formulierte, dort kopiert wurde, wo diese nichts mehr galten.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2005 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Coverabbildung: Stiftung Weimarer Klassik, Goethe-Nationalmuseum
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403435-5
»Die Geschichte der Menschheit
macht zuweilen einen Eindruck auf mich,
als ob sie der Traum eines Raubtiers wäre.«
Hebbel, Tagebuch
»Die Geschichte, sagte Stephen, ist ein
Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche.«
Joyce, Ulysses
LESUNG IN WEIMAR, im neu gestalteten Goethe-Nationalmuseum, zwei Tage vor den Festlichkeiten zu Goethes 250. Geburtstag: Auszüge aus meiner biographischen Skizze eines Goethe, der (mit einem Pistolenhalfter am Sattelknauf) 1792 nach Frankreich in den Krieg gezogen war. Während des Vorgesprächs zuweilen ein Seitenblick zum Dach des Hinterhauses, in dem Goethe (auch) den Bericht über diesen Feldzug diktiert hatte: »Campagne in Frankreich«.
Im Anschluß an die Lesung eine Vernissage unter dem Titel »Verlagerung«. Im Haupttreppenhaus vier (von insgesamt 40) Kisten, die 1942 im Konzentrationslager Weimar-Buchenwald angefertigt wurden zur »Bergung von Gegenständen« aus dem Schillerhaus und dem »Museum für Urgeschichte«.
Zusätzlich, so lese ich in einem Begleitblatt, wurden im Konzentrationslager »Zweitstücke« von Möbeln des Schillerhauses hergestellt. Vorrang hatte dabei die Kopie von Schillers Schreibtisch.
ERNEUTER BESUCH DES SCHILLERHAUSES: gleich hinauf zur Mansarde, in das Arbeitszimmer. Im Eckwinkel links: der »Schreibtisch, Apfelbaumholz, furniert. Klassizismus.«
Dieser Schreibtisch hat seine Geschichte, aber die kann ich nicht lückenlos erzählen. Hatte Schiller an diesem Schreibtisch bereits in Jena gearbeitet? Oder war dies der Schreibtisch, den er in Weimar gekauft hatte, kurz nach dem Umzug in das Haus an der Esplanade? Jedenfalls hat Schiller dort an Neuerwerbungen notiert: »1 Spiegel, 1 Schreibtisch, 1 Kommode.« Da kam nur weniges hinzu. »Mein notwendiger Hausrat besteht aus guter Kommode, dem Schreibtisch, dem Bett und dem Sopha, dann dem Tisch und einigen Sesseln. Hab ich dieses, so brauche ich zu meiner Bequemlichkeit nichts mehr.«
Nun hinterließ er allerdings zwei Schreibtische. Welcher war zusätzlich gekauft (oder eher: bei einem Tischler in Auftrag gegeben) worden? Ein Schreibtisch befindet sich heute im Schiller-Nationalmuseum zu Marbach. Für den zweiten Schreibtisch, heute wieder im Weimarer Wohnhaus, gibt es ein Zertifikat, ausgestellt von Schillers Enkel Friedrich, dem Kürassiermajor a.D.: »Bestätige ich, daß der im Schillerhaus zu Weimar aufgestellte Schreibtisch derselbe ist, welcher beim Tode des Dichters in seinem Wohn- und Sterbezimmer stand.«
Das »Wohn- und Sterbezimmer«: es wird heute als »Arbeits- und Sterbezimmer« bezeichnet. Dort steht auch das »Bett. Fichte. Um 1780.« Dieses Bett war allerdings erst wenige Tage vor Schillers Tod ins Zimmer gestellt worden. Geschlafen hat Schiller sonst im winzigen Schlafzimmer nebenan – eher das stumpfe Ende eines Flurs mit Schrägdach. Ein (weiteres) Zitat aus dem Katalog zu Schillers Wohnhaus: »Hier soll er zeitweise ein flaches Lager – eine Bettstatt ohne Beine – benutzt haben.« Eine Kammer Richtung Norden. Zum Fenster hinaufwachsend: Efeu, wilder Wein. Und: »Im Garten stand ein weißer Fliederbaum, der bis zum Fenster des Schlafzimmers hinaufreichte. Der Duft der Fliederblüten soll Schillers Nerven gestärkt haben.« Eine der zahlreich überlieferten Erinnerungen.
Das Bett im Arbeitszimmer: hier also ist Schiller gestorben. Nach dem Tod der Witwe ließ es Großherzog Carl Alexander ins Schloß überführen, gab es 1847 jedoch zurück. »Mit wahrer Freude habe ich vernommen, daß der wohllöbliche Rat dieser Stadt das Schillerhaus gekauft hat und seines ehemaligen Besitzers würdig einzurichten gedenkt. Da ich mich im Besitz der Bettstelle Schillers, in welcher er gestorben ist, befinde, so gereicht es mir zum besonderen Vergnügen, dieselbe dem hiesigen wohllöblichen Stadtrate mit der Bitte zu übergeben, ihr in dem ehemaligen Wohnhause des Besitzers einen würdigen Platz einzuräumen.« Was denn auch geschehen ist. Von diesem Bett wurde im Konzentrationslager Weimar-Buchenwald ebenfalls ein »Zweitstück« angefertigt.
Doch primär geht es um den Schreibtisch. Acht Jahre nach Schillers Tod berichtet Charlotte ihrem Sohn Ernst, dem jüngeren Bruder von Karl: Der Schreibtisch »ist neu gebeizt und steht unter Karls Bild. Gebraucht soll er nicht werden, nur von Euch, wenn Ihr wollt. Es ist mir jetzt tröstlich, diesen Schreibtisch zu sehen, sonst war es mir schmerzlich.«
Heute sind auf den Schreibtisch einige Objekte gestellt und gelegt, die sich hier meist schon zu Schillers Zeit befanden. Sich durch Größe und Eleganz der Form betonend die »Tischuhr. Zylinderförmiges Gehäuse in lyraförmigem Gestell. Um 1800.« Sodann zwei Kerzenleuchter: »Holz, mit vergoldeten Verzierungen.« Es sind freilich Kopien – die Originale sind ausgestellt im Goethe-Nationalmuseum. Vom Arbeitsgerät des Schriftstellers blieben Papierschere, Tintenfaß und Briefbeschwerer erhalten; sie liegen scheinbar griffbereit. Gleichsam in Reichweite auch eine »Tabakdose. Holz, auf dem Deckel Perlmuttscheibe in vergoldetem Ring.« Tabak zum Schnupfen und Tabak zum Rauchen – Schiller mit langstieliger Pfeife. Bei der Arbeit hat er wohl geschnupft. Goethe, notorischer Nichtraucher, fand Tabakschnupfen und Pfeiferauchen abscheulich, ließ es beim hochgeschätzten Freund aber (kommentarlos?) durchgehen.
Schiller über seinen Schreibtisch: »Mein wichtigstes Meuble.« Der Schreibtisch diente – gelegentlich – auch einem Nebenzweck: Trat Erschöpfung ein bei der intensiven und extensiven Arbeit, so verschränkte Schiller die Arme auf der Tischfläche, legte den Kopf auf einen Unterarm, machte ein Nickerchen. Nach dem Aufwachen ein Kaffee und gleich weiter im Text!
AUCH GOETHE hat einmal an Schillers Schreibtisch gesessen. 1827 berichtet er Eckermann: »Ich besuchte ihn eines Tages, und da ich ihn nicht zu Hause fand und seine Frau mir sagte, daß er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Schreibtisch, um mir dieses und jenes zu notieren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, so daß ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wußte anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden, mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, daß aus einer Schublade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, daß sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, daß die Schublade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohltue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.«
Dies dürfte der Schreibtisch gewesen sein, der in das Konzentrationslager Weimar-Buchenwald transportiert wurde und dort lange Zeit deponiert blieb als Vorlage für die Herstellung einer Kopie.
MEINE TISCHPLATTE, AUFGEBOCKT. Fotokopien von Dokumenten zurechtgelegt. Vornean ein Schreiben des Weimarer Polizeipräsidenten Hennicke (zugleich »örtlicher Luftschutzleiter« und SS-Gruppenführer) an den »Herrn Reichsstatthalter in Thüringen«, ebenfalls in Weimar. »Betr.: Schutz der Kulturgüter, Kulturstätten usw.« Am 18. Dezember 1941 wurde hier eine Besprechung protokolliert, die im Anschluß an eine »nochmalige Überprüfung der Weimarer Kulturgüter und Kulturstätten in luftschutzmäßiger Hinsicht« stattfand.
Unter den sieben Punkten der Tagesordnung interessiert mich vorrangig der vierte: »Schillerhaus«. Als (vorläufiges) Ergebnis des Lokaltermins: »Die im Schillerhaus befindlichen Originalmöbel Schillers können nicht von Ort und Stelle entfernt werden, da sie sonst zerfallen würden. Sie stehen im I. und II. Geschoß. Die Fenster sind gegen Splitterwirkung durch behelfsmäßige Holzläden gesichert. Die Brandwache übernimmt die Witwe des gefallenen Hausmeisters. Bei Fliegeralarm wird zusätzlich ein aktiver Feuerwehrmann nach dort entsandt.«
Aufschlußreich auch, was zum nächsten Punkt protokolliert wurde: »Goethe-National-Museum«. Hier wird begründet, weshalb Schillerhaus wie Goethehaus trotz eventueller Bombenangriffe geöffnet bleiben sollten. »Die unersetzlichen Werte dieses Hauses, bis auf die Möbel des Arbeits- und Sterbezimmers Goethes, sind in den Kellerräumen des Landesmuseums und des Neubaues des Goethe-National-Museums untergebracht. Vom luftschutzmäßigen Standpunkt gesehen, müßten auch die Möbel aus Goethes Arbeits- und Sterbezimmer sorgfältig verpackt und anderweitig untergebracht werden. Dies widerspricht aber einer Anordnung des Reichspropaganda-Ministeriums, die vorschreibt, daß diese und andere unersetzliche Werte an Ort und Stelle stehen bleiben und auch während des Krieges der Bevölkerung zugänglich sein sollen.«
Die Bürger von Weimar sollten also nicht alarmiert werden durch frühzeitige Auslagerung von Unikaten aus dem Arbeitszimmer und der Sterbekammer des Goethehauses. Geschlossen werden sollte es schon gar nicht! Vielmehr wurde suggeriert: Solange die Häuser der Dichter geöffnet bleiben, ist noch nicht alles verloren, ja der »Endsieg« könnte noch möglich sein. Ein Propagandasignal: der »Durchhaltewille« sollte gestärkt werden.
So setzte man (auch) die Original-Möbel aus Goethes Arbeitszimmer und Schlafkammer aufs Spiel. Schon einer der häufigen Brandbomben-Angriffe hätte all dies vernichten können … Selbst in Friedenszeiten sind die vielfach zundertrockenen historischen Objekte von Feuer bedroht – während ich diesen Text noch einmal überarbeite, brennt in Weimar die Mansarde der Herzogin Anna Amalia Bibliothek ab! Alles nah ans Feuer gebaut.
WAR DIE STADT WEIMAR ENDE 1941 schon bedroht? Lag sie bereits im Aktionsbereich des »Bomber Command«? Kurzer Blick zurück.
Schon wenige Wochen nach der »Machtergreifung« erfolgte ein Aufruf zur Gründung des Reichsluftschutzbundes. In der Begründung hieß es lapidar: »Jede deutsche Stadt ist für Bombenflieger erreichbar.« Ein Statement schon im April 1933! Zwei Jahre später wurde vom Reichsluftfahrtministerium ein erster »Schutzraum« gebaut, für mehrere hundert Mitarbeiter. Ebenfalls 1935: Bau eines Bunkers für die Reichskanzlei – der spätere Vorbunker zum tiefer und stärker angelegten »Führerbunker«. Ab 1937 war, per Gesetz, für jeden Neubau ein Luftschutzraum verpflichtend. Und bereits einen Monat vor dem Überfall auf Polen wurde die neunte Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz rechtsgültig, die Hausbesitzer dazu verpflichtete, ihre Keller »luftschutzgemäß« auszubauen. Zur gleichen Zeit begannen schon Evakuierungen in der Hamburger Kunsthalle!
DIE GESCHICHTE DIESES LUFTKRIEGS: hier muß ich mich erst einmal, noch einmal kundig machen. (Direkt und indirekt habe ich den Luftkrieg miterlebt: zwischen dem Einschlag der Brandbombe im Kölner Einfamilienhaus meiner Kindheit und der Beobachtung von Bomberformationen, die trotz Flakbeschuß unbeirrbar parallele Kondensstreifen hinter sich herzogen, Richtung München).
Mich einlesend, wird mir erst richtig bewußt, wie massiv bereits ab Herbst 1940 die Offensiven der deutschen Luftwaffe waren. Das wird mir auch klargemacht durch den Text eines englischen Flugblatts, das Herbst 1942 in Millionen Exemplaren über Deutschland abgeworfen wurde. Die »Botschaft des Oberbefehlshabers der britischen Kampfflugzeuge an das deutsche Volk« ist gut drei Druckseiten lang. Ich zitiere zwei Abschnitte.
»Wir in England haben zur Genüge erfahren, was Luftangriffe bedeuten. Zehn Monate hindurch hat uns eure Luftwaffe mit Bomben belegt. Zuerst bei Tage. Als wir das abgestellt hatten, kamen sie bei Nacht. Ihr hattet damals eine starke Luftwaffe. Eure Flieger schlugen sich gut. Zweiundneunzig Nächte hintereinander haben sie London gebombt; Coventry, Plymouth, Liverpool und andere britische Städte haben sie schwer angegriffen. Der Schaden, den sie anrichteten, war beträchtlich; 43000 britische Männer, Frauen und Kinder sind dabei ums Leben gekommen; viele historische Bauten, die uns lieb und teuer waren, sind zerstört.
Damals glaubtet ihr – denn Göring hatte es euch versprochen – daß ihr selber vor Bomben sicher seid. Und tatsächlich konnten wir nur mit wenigen Flugzeugen antworten. Jetzt sind die Rollen vertauscht. Jetzt kommen nur ab und zu ein paar deutsche Maschinen zu uns; und wir bomben Deutschland nach Noten.«
Hier ist kaum stilisiert worden. Nach Aufzeichnungen des OKW, des Oberkommandos der Wehrmacht, flogen deutsche Bomber nach England in Formationen von hundert, von zweihundert, von dreihundert, von vierhundert, von beinah fünfhundert Flugzeugen! Und dies bis in den Norden Englands.
Ich hebe vier der Luftoffensiven hervor. In der Nacht zum 16. November 1940 wurden weite Gebiete der Innenstadt von Coventry durch systematisch kombinierten Einsatz von Brand- und Sprengbomben vernichtet. In der Nacht vor Heiligabend: Angriff von 331 Flugzeugen auf Manchester; es wurden beinah 200 Tonnen Sprengbomben, 30 Tonnen Brandbomben, zwei Dutzend »Brandschüttkästen«, 77 Luftminen abgeworfen. Ende März 41 flogen 479 (fast ein halbes Tausend!) Flugzeuge die englische Hauptstadt an. Und am 11. Mai ein weiterer Großangriff auf London: mehr als 1200 Tote, fast 3000 Verletzte.
Zu dieser Zeit hatten britische Bomberverbände bereits Berlin angeflogen. Das war in den ersten Kriegsmonaten undenkbar erschienen. Denn es war sehr schwierig, über große Distanz hinweg einen »Zielort« zu finden – im ganzen Land herrschte das strenge Gesetz der Verdunkelung; Lenksysteme über Leitstrahl waren noch unzureichend; Navigatoren mußten Sterne anpeilen, Piloten mußten nach Sicht fliegen. Dabei waren Küstenstädte und Städte an Flüssen relativ leicht zu orten: der Hauptgrund, weshalb meine Kindheitsstadt Köln so früh und so häufig angegriffen wurde. Hinzukam: je länger der Anflug der Bomberstaffeln, desto größer wurden, statistisch, die Verluste – die Nachtjäger, die Flak-Batterien.
Und doch, kurz nach Mitternacht des 26. August 1940: erste »Feindtätigkeit über Berlin«. 29 Flugzeuge der Royal Air Force warfen im Norden und Nordosten der Stadt 22 Tonnen Bomben und zahlreiche Flugblätter ab. Der amerikanische Journalist William L. Shirer, als Auslandskorrespondent in der Hauptstadt, er notierte: »Die Berliner sind wie vor den Kopf geschlagen. Sie haben nicht damit gerechnet, daß so etwas je passieren könnte. Zu Beginn des Krieges hat Göring ihnen versichert, es werde nie geschehen. Sie haben ihm geglaubt. Umso größer ist jetzt ihre Desillusionierung.«
Von diesem Zeitpunkt an gab es – bis weit in den Oktober hinein – fast jede Nacht Fliegeralarm. Die Schäden waren oft nur gering, doch die Beunruhigung wuchs. Beim 17. Fliegeralarm, am elften September, schlugen Bomben ein am Potsdamer Platz, beim Reichstag, Unter den Linden. Beim 22. Fliegeralarm, am 23. September, flogen 84 Flugzeuge ein, und Bomben fielen auf Moabit, Tempelhof, Charlottenburg. Die Angriffe setzten sich fort. Mehrfach war es nur etwa ein Dutzend Flugzeuge, die Berlin erreichten, aber auch solche Attacken hatten Signalcharakter: Was in Berlin Wirklichkeit wurde, war für andere Städten des Ostens drohende Möglichkeit.
Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941, und einem ersten Luftangriff auf Moskau, mit etwa zweihundert Maschinen, tauchten gelegentlich russische Flugzeuge auf über Berlin. Das erste Mal am 7. August: Flugblätter mit einer Rede Stalins in der Umgebung des Stettiner Bahnhofs sowie Unter den Linden. Es folgten zwei, drei kleine »Störangriffe«. Insgesamt wurden Luftangriffe auf Berlin nun seltener und schwächer. Im Jahr 1942 schließlich gab es in Berlin nur achtmal Fliegeralarm, doch es fanden nur drei Bombenangriffe statt mit kleineren Verbänden. Da hätte man sich in Weimar also recht sicher fühlen können.
Doch Anfang 1943 begannen Luftangriffe auf Berlin durch Bomberverbände in der Größe der Bomberflotten, die zwei Jahre zuvor die englische Hauptstadt angegriffen hatten: mal 145 Flugzeuge der RAF, mal 111, mal 151, schließlich 329. Die Beunruhigung in Weimar wuchs: Was sich in Berlin wiederholte, konnte das nicht auch in Thüringen geschehen? Andererseits: Wie viele andere Ziele konnten angeflogen werden zwischen Rhein und Oder? Konnte Weimar als Angriffspunkt überhaupt relevant sein? Ausgerechnet dieses Städtchen, das geweiht und gefeit schien durch das Erbe von Dichtern wie Goethe und Schiller, von Komponisten wie Bach und Liszt? Wiederum: wie viele Verwaltungszentralen, Kasernen und Rüstungsbetriebe in Weimar?!
IM GEBÄUDE DES POLIZEIPRÄSIDIUMS DRESDEN fand am 26. Januar 1942 eine Besprechung statt, an der auch Vertreter des Reichsluftfahrtministeriums und des Luftgaukommandos teilnahmen. Als erstes eine »eingehende Aussprache über die luftschutzmäßige Unterbringung der Kunstschätze« in Dresden. »Nach dem Willen des Führers sollen die einmaligen Kunstschätze und auch Kulturgüter so sicher wie möglich untergebracht werden, mindestens splitter- und trümmersicher.« (Man unterschied damals zwischen splitter-, trümmer- und bombensicher.)
Der Protokollführer, ein Oberbaurat, berichtete anschließend über die Situation in Weimar. Bombensicher waren »Kulturgüter« Weimars noch nicht untergebracht. Ja, es waren »die Einrichtungsgegenstände im Goethehaus, so insbesondere die des Arbeits- und Sterbezimmers Goethes noch an der Stelle, wo sie stets gestanden hätten. Es seien zwar vor den Fenstern dieser beiden Räume, deren Außenwände aus Fachwerk bestünden, doppelte Bohlenläden angebracht und die Holzdecken abgesteift. Würden diese Einrichtungsgegenstände in den beiden Räumen herausgenommen und splitter- und trümmersicher untergebracht, so müsse das Goethe-Nationalmuseum geschlossen werden. Da aber der Besuch außerordentlich hoch sei und gerade während des Krieges ungezählten Soldaten und Verwundeten diese Kulturstätten nach bisherigen Anordnungen offen stehen sollen, können diese Dinge nicht anders untergebracht werden. Das Gleiche treffe für das städt. Schillerhaus zu. Würden auch hier die Einrichtungsgegenstände herausgenommen und splitter- und trümmersicher untergebracht, so müsse es geschlossen werden. Nach Auskunft des Herrn Oberbürgermeisters weise das Schillerhaus zweieinhalb mal so starken Besuch auf wie im letzten Jahr vor diesem Kriege.«
Wie man weiter verfahren sollte, darüber traf man noch keine Entscheidung. Sie sollte herbeigeführt werden in Abstimmung mit dem Reichspropaganda-Ministerium und dem Reichsluftfahrtministerium. Vom Vertreter dieser Behörde wurden aber schon mal zwei »Sofortmaßnahmen« angeordnet: »1.) das Goethe- und Schillerdenkmal ist mit einem Splitterschutz zu versehen, 2.) die Fürstengruft ist splitter- und trümmersicher zu schützen.« Zusatz in einem weiteren Protokoll: »Ferner müssen die Särge Goethes und Schillers in den Nordteil der Fürstengruft gebracht werden.«
Übrigens wurde als Luftschutzmaßnahme eine Zeitlang sogar geplant, Goethes Gartenhaus mit einem Tarnanstrich zu versehen!
KLEINER SITZUNGSSAAL des Rathauses zu Weimar, 17. Februar 1942: »Luftschutz-Besprechung«, an der vierzehn Vertreter verschiedener Behörden teilnahmen (die hier nicht aufgezählt werden müssen). Erneute Erörterung der Schutzmaßnahmen für das Goethe-Schiller-Doppeldenkmal vor dem Theater: »Entweder eine Ummantelung mit 51 cm starkem Mauerwerk mit Eisenbetondecke oder eine Holzeinrüstung mit Sandsackfüllung zur Splittersicherung.«
Und die »Möbel, Gegenstände usw. aus dem Schillerhaus«? Unter diesem Punkt der Tagesordnung »entspann sich eine eingehende Aussprache. Gruppenführer Hennicke empfahl von den einmaligen Einrichtungsgegenständen, insbesondere von Goethes Arbeitszimmer, von seinem Schlafzimmer, sowie von Schillers Bett, Schreibtisch und Stuhl Zweitstücke sofort anfertigen zu lassen. Er wies Wege wie dies möglich sei und sagte seine persönlich(!) Mithilfe zu.«
Diese Amtshilfe muß darin bestanden haben, daß der Polizeipräsident und SS-Gruppenführer die Verbindung herstellte zur SS-Kommandantur des Konzentrationslagers Weimar-Buchenwald.
DER NEUE LAGERKOMMANDANT, SS-Obersturmbannführer Pister, war zugleich Betriebsleiter der Zweigstelle Weimar-Buchenwald der Deutschen Ausrüstungswerke, war außerdem Direktor der Deutschen Erd- und Steinwerke sowie der Wilhelm-Gustloff-Werke, einer Rüstungsfirma.
Für die Ausführung empfahlen sich damit die Deutschen Ausrüstungswerke G.m.b.H. (DAW), von der SS zwei Jahre zuvor gegründet; Hauptverwaltung in Berlin. Offiziell waren die DAW ein »Kriegsbetrieb«, produzierten aber vorwiegend für Eigenbedarf der SS.
Die Ausrüstungswerke waren, so würde man heute sagen: diversifiziert. Im KL Buchenwald gab es eine Zimmerei, eingesetzt vor allem bei Bauten der SS: Dächer, Blockhäuser, Gebäude des »Falkenhofs« (eines Wildgeheges). Die Elektrowerkstatt war zuständig für Installationen, für die Produktion und Reparatur von Geräten. In der Schlosserei wurde am ehesten für die Rüstung gearbeitet: hier wurden, beispielsweise, 2 - cm - Patronenhülsen (sicherlich von Vierlings-Schnellfeuerkanonen der Flugabwehr) in Massen angeliefert und zur Wiederverwertung sortiert und aufbereitet. Und es wurden Beschläge für Messerschmitt-Flugzeuge zurechtgeschnitten, wurden Aufbauten für Lastwagen hergestellt. Auf Wunsch, auf Befehl von SS-Offizieren wurden freilich auch »eiserne Kronleuchter, kunstgeschmiedete Kamingeräte, kunstvolle Fenstergitter, Truhenbeschläge und große Schreibzeuge, Aschenbecher, Brieföffner und Briefkästen« angefertigt.
Und damit zur Tischlerei der DAW! Auch dieser Fachbetrieb wurde geführt von einem SS-Werkstättenleiter. Der Betrieb war mit modernsten Geräten ausgestattet. Inhaftierte Facharbeiter stellten vor allem Büromöbel und Munitionskisten her – aber auch Stühle, Tische, Truhen, Schränke für Villen der Lagerleitung. Das Produktionsspektrum für private Bestellungen der SS wurde auch hier ständig erweitert.
Von Anfang an waren bei den DAW in Buchenwald mehrere hundert Häftlinge beschäftigt. Sämtliche DAW-Werkstätten lagen innerhalb des KL-Sperrbereichs. Näheres später.
EIN MODELLTISCHLER und Beamter des Stadtbauamts, Fritz Eckardt, erhielt den Auftrag, die Maße der benötigten Inventarkisten zu berechnen und: die Möbel zu vermessen, die nachgebaut werden sollten. Der Auftrag über die Lieferung von Auslagerungskisten (in vier verschiedenen Größen) wurde von der Tischlerei der DAW zügig ausgeführt. Sie wurden bereits Anfang Mai zum Schillerhaus transportiert.
Eduard Scheidemantel, Kustos, begann sofort mit dem Einpacken von Bildern und von historischen Exponaten der Vitrinen. (Scheidemantel war Lehrer, war Schulrat, war seit drei Jahrzehnten auch Vorsitzender des »Deutschen Schillerbundes«, den ich noch vorstellen werde.) Unterstützt wurde der ›Hausherr‹ von städtischen Angestellten. Insgesamt fünfzehn Kisten wurden gefüllt, standen bereit zum Abtransport.
Wohin sollten sie gebracht werden? Zuerst hatte man den Keller von Schloß Belvedere in Erwägung gezogen. Aber der war feucht, dort ließen sich nur »Porzellanstücke« einlagern. Der SS-Gruppenführer hielt das Belvedere aber auch »luftschutzhinsichtlich nicht für so sicher, wie man annähme, denn auf englischen Karten, die man bei abgeschossenen Fliegern fand, lag Belvedere mitten in der Fluglinie Flugplatz Nohra – Flugplatz Webicht.«
Ein großer Teil der »Möbel, Gegenstände usw. aus dem Schillerhaus zu Weimar« wurde denn im Schloß Rohrbach sichergestellt. Es waren dies Möbel des Empfangs- und des Gesellschaftszimmers, also: Polsterbank und Polsterstühle, Spiegel und Spieltisch und so weiter, auch eine Tischdecke, »gelbseiden« und zwei Häkeldeckchen. Dazu: »1 Kiste mit Bildern« – meist Kupferstiche mit Szenen aus Schillers Dramen.
Ein weiterer Teil der Kisten sollte im Keller des Neubaus der Nietzsche-Gedächtnishalle sichergestellt werden. Das verzögerte sich jedoch. Aktennotiz: »Der Abtransport der Kisten im Schillerhaus kann noch immer nicht erfolgen, da die Türen zum Kellergeschoß Nietzscheged. Halle nicht fertig gestellt sind.«
DIE KISTEN, die im Schillerhaus nicht mehr benötigt wurden, brachte man zum »Museum für Urgeschichte«. Und keine Kisten zum Goethehaus gefahren …! Auch keine Kisten nachbestellt für das Goethehaus …! Und keine »Zweitstücke« in Auftrag gegeben von Möbeln aus Goethes Arbeitszimmer und Sterbekammer …!
Merkwürdig: bei den ersten Besprechungen war das Goethehaus selbstverständlich mit einbezogen worden, danach aber fiel dieses Stichwort nicht mehr. Feststeht: es sind keine Kopien hergestellt worden von Möbeln aus dem Goethehaus. Das Schillerhaus hatte eindeutig Priorität.
Ein Beleg: schon im Schreiben des Stadtbauamts vom 13. April 42 an den »sehr geehrten Gruppenführer« wurden »Zweitstücke von Gegenständen« aus dem Goethehaus nicht mehr erwähnt, es ging nur noch um Möbel aus dem Schillerhaus! »Es kommen zunächst in Frage: Schreibtisch, Bett und Spinett aus dem Arbeits- und Sterbezimmer Schillers, kleiner Nähtisch aus dem Empfangszimmer, sowie je ein Stuhl aus je einem der drei Zimmer im zweiten Geschoß. Ich würde auch hier zu Danke(!) verpflichtet sein, wenn das Erforderliche von dort aus veranlaßt werden könnte.« Von dort aus? Dies konnte nur heißen: vom Konzentrationslager aus.
Am 14. Mai 1942 wurden Schillers Schreibtisch, sein Sterbebett, das ›Spinett‹, ein Lehnstuhl und ein Stuhl mit »Lederbezug« in das Konzentrationslager transportiert. Möbel und Tasteninstrument wurden in einer der Werkstattbaracken abgestellt, das heißt also, erneut betont: innerhalb des Lagerzauns, innerhalb der Kette von 23 Wachtürmen.
ANMERKUNG zum »Spinett«. Dieses Tasteninstrument, heute im »Gesellschaftszimmer«, es hatte (zumindest zeitweise) in Schillers Arbeitszimmer gestanden – ein alter Stich dokumentiert das. Schiller selbst hatte auf diesem Instrument nicht gespielt, ihm war aber gelegentlich vorgespielt worden – und seine Kinder haben hier geübt.
Die Katalogbeschreibung: »Hammerklavier. Tafelförmig, vier Füße, Resonanzkasten extra breit mit zwei stoffbezogenen Schutzrahmen. Zweiteiliger klappbarer Holzdeckel mit Notenpult. Birnbaum. Um 1785.«
ZWEIEINHALB MONATE nach der Überführung der Möbel, am 31. Juli, fuhren Stadtbaurat Holz und Modelltischler Eckardt in das Konzentrationslager, um sich über den Fortgang der Arbeiten zu informieren. Die Beamten wurden enttäuscht. Aktenvermerk: »Es wurde mir eröffnet, daß man an die Arbeit noch nicht hätte herangehen können, da aufgrund eines Beschlußes aus Berlin zur Zeit nur für Rüstungszwecke in den Ausrüstungslager(!) gearbeitet werden darf. Man hoffe aber, daß vielleicht in 1–2 Monaten an die Ausbesserung und Neuanfertigungsarbeiten der Schillerhausmöbel gegangen werden könnte. Ich besichtigte die aus dem Schillerhaus stammenden Gegenstände. Sie sind gut untergestellt. Ich machte den zuständigen Beamten darauf aufmerksam, daß es sich hier um unersetzbare Gegenstände handle. Er erwidert, das sei ihm bekannt. Die Stadt brauche sich nicht weiter zu sorgen. Jede Nacht seien Brandwachen aufgestellt. Menschlichen Ermessens nach kann an den Gegenständen nichts passieren.«
ES WIRD NACH DIESER ZWISCHENINSPEKTION noch mehr als ein Jahr dauern, bis die wichtigsten »Zweitstücke« fertig sind.
Der Luftkrieg hatte mittlerweile eine neue Dimension erreicht. Ein Zeichen als Menetekel: der Angriff auf Lübeck in der Nacht zum 29. März 1942. Luftmarschall Harris leitete damit das »area bombing« ein, die Flächenbombardierung von Innenstädten, vorzugsweise von Altstädten mit leicht brennbarer Bausubstanz. Zweihundertvierunddreißig Bomber allein für die kleine Stadt an der Trave!
Noch im selben Monat wurde Rostock viermal nacheinander angegriffen – fast zwei Drittel der Altstadt brannten ab.
Ende Mai der »Tausend-Bomber-Angriff« auf Köln: 1455 Tonnen »Bombenlast« auf die Innenstadt. 460 Tote, 45000 »Ausgebombte«.
Bereits Anfang Juni ein Angriff ähnlicher Größenordnung auf Essen, Ende des Monats auf Bremen. Weitere »Großangriffe«. Geschwader von Lancaster-Bombern begannen schon tagsüber einzufliegen. Im Kriegstagebuch des OKW hieß es bald, stereotyp: »Kampfhandlungen über eigenem Gebiet.«
Bilanz des Luftkriegs allein im Jahre 1942: etwa tausend Angriffe auf das »Reichsgebiet«, darunter siebzehn Großangriffe, bei denen jeweils mehr als 500 Tonnen Spreng- und Brandbomben abgeworfen wurden. Zu welch frühem Zeitpunkt (zumindest) im Luftkrieg die Niederlage erkennbar wurde, zeigen die Gesamtzahlen der jeweiligen »Bombenlast«: die Luftwaffe warf im Verlauf des Jahres 3200 Tonnen über England ab, die RAF hingegen fast 54000 Tonnen über dem »Reichsgebiet«.
EIN RÜCKBLICK – vergleichend, nicht gleichsetzend. Schiller in seiner »Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs« zum Feuertod der Stadt Magdeburg. »Jetzt erhob sich ein Sturmwind, der die Flammen mit reißender Schnelligkeit durch die ganze Stadt verbreitete und den Brand allgemein machte. Fürchterlich war das Gedränge durch Qualm und Leichen, (…) durch stürzende Trümmer. Die Atmosphäre kochte.«
MITTE 1942 ist das Doppeldenkmal von Goethe und Schiller vor dem Nationaltheater bereits »eingehaust«: Dicke Ziegelwände (mit Belüftungsschlitzen) errichtet um die konservatorisch eingefetteten Schiller- und Goethestatuen; obendrauf die Eisenbetondecke, darüber ein Dächlein.
Der Ziegelkubus wird gleich nach der Fertigstellung schwarz drapiert; auf der Frontfläche das Reichsadler-Emblem und ein Hinweis auf ein deutsch-italienisches Jugendtreffen zu Weimar. Doch danach: Ziegelwände, kahl.
BLICK INS VIERTE KRIEGSJAHR: am 27. Mai 43 ein erster Luftangriff auf Weimar! Die Schäden blieben vergleichsweise gering, die Zeichen aber waren deutlich: auch eine so kleine Stadt wie Weimar in Thüringen konnte zielsicher angeflogen werden.
Im Stadtbauamt wurde man nervös: waren die Originalmöbel im Untergeschoß der Tischlereibaracke des Konzentrationslagers sicher genug deponiert? Mehrfach rief der Stadtoberbaurat bei der Kommandantur an. Am 12. Juni 43 konnte in der Akte notiert werden: »Nachmittag(!) ruft der Vertreter der Werkstätten Buchenwald an und teilt auf die wiederholte Anfrage mit, daß die Möbel des Schillerhauses gut erhalten und stets im Keller gesichert sind. Inzwischen seien auch die Kopien nahezu fertig. Sie seien gut gelungen und kaum von den Originalen zu unterscheiden. Im Laufe der nächsten Woche kann Ablieferung erfolgen.«
Die im Konzentrationslager hergestellten »Zweitstücke« wurden sukzessive nach Weimar transportiert. Auf die Kopien des Schreibtischs und des Tasteninstruments mußte man freilich noch weitere Monate warten. Ließ sich der zuständige Tischler oder Kunsttischler Zeit, weil er solange (einigermaßen) sicher war vor der Abschiebung in eins der Vernichtungslager? Oder mußte er vorrangig Aufträge von SS-Offizieren ausführen, die sich und andere beschenken wollten mit kunstgewerblichen Artikeln aus Holz? Oder stimmt tatsächlich, daß viel gearbeitet werden mußte für die Rüstungsindustrie? Also doch Munitionskisten oder ›kriegswichtige‹ Büromöbel?
Eugen Kogon berichtet, daß vor allem in den Wochen vor Weihnachten oder vor SS-Festen die Lagerwerkstätten der DAW fast komplett ausgebucht waren: Aufträge der SS-Führung. »Bis zur Hälfte der Arbeitszeit der Häftlinge dieser Werkstätten« war in Beschlag genommen »durch illegale Tätigkeit für Privatzwecke. (…) Ganze Wohnzimmereinrichtungen, Intarsienmöbel, kostbare Einzelstücke, metallgetriebene Gegenstände, Büsten und Plastiken wanderten nicht nur in die Standortbereiche, sondern weit darüber hinaus zu allen möglichen Freunden und Bekannten im Lande, ja sogar in das europäische Ausland.« Kein Wunder also, daß man sich mit der Erfüllung des Auftrags (den ja bloß eine Behörde erteilt hatte …) reichlich Zeit ließ: Wehrwirtschaft und Selbstversorgung der SS-Lagerführung hatten Vorrang.
ENDLICH, am 18. Oktober 43, wird der »neue Schreibtisch« geliefert. Aktenvermerk, handschriftlich: »Gleichzeitig wurde auch das Original zurück gegeben und ist im Keller des Nietzsche-Archivs untergebracht.«
Maschinenschriftliche Notiz vom nächsten Tag: »Die Nachbildung des Schreibtisches von Schiller ist gestern eingetroffen. Herr Oberbürgermeister hat nach Rücksprache mit Herrn Professor Dr. Scheidemantel angeordnet, daß Schillers Sterbezimmer nunmehr mit den nachgebildeten Möbeln ausgestattet wird.« Stadtamtmann Knabe mußte eine Tafel beschriften und an einem Türpfosten des Mansardenzimmers anbringen: »Die Möbel in Schillers Arbeits- und Sterbezimmer sind getreue Nachbildungen der in Sicherheit gebrachten Originale.«
Anderthalb Monate später wiederum wurde »das letzte Originalstück (Spinett) des Schillerhauses samt der hergestellten Kopie« geliefert. Ein offenbar besonders sorgfältiger Nachbau, wie sich später erweisen wird.
Stadtoberbaurat Lehrmann am ersten Dezember 1943 an die Deutschen Ausrüstungswerke G.m.b.H Weimar-Buchenwald: »Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, Ihnen für die gediegenen Arbeiten und die Kopien der Möbel aus dem Sterbezimmer von Schiller bestens zu danken. Gleichzeitig möchte ich darüber hinaus den Leistungen der Deutschen Ausrüstungswerke erste Anerkennung aussprechen.«
BISHER GALT die »Goethe-Eiche« im Konzentrationslager Buchenwald als symbolischer Schnittpunkt von Perspektivlinien zweier (Kontrast)Welten. Zur Zeit der Deutschen Demokratischen Republik wurde dies so formuliert: Die Eiche als »wirkliches Denkmal der Humanität« im Konzentrationslager der Faschisten.
Von jener »Goethe-Eiche« müssen wir uns freilich verabschieden, sie hatte nichts mit Goethe zu tun, sie war Lager-Legende. Die verband sich mit der (erfundenen) Anekdote, Goethe und Frau von Stein hätten bei einem Spaziergang Rast gemacht unter diesem Baum.
Es gab allerdings eine Eiche, die sich nachweislich mit Goethe in Verbindung bringen ließ. Die stand in der Nähe des Schlosses Ettersburg und wurde von Goethe zu einem ›Schandpfahl‹ gemacht: einen Briefroman, der ihm mißfiel (Jacobi: »Woldemar, eine Seltenheit aus der Naturgeschichte«), persiflierte, parodierte er, nagelte ihn schließlich – aufgespreizt – an den Stamm, unter dem Beifall seiner Gruppe.
Das wurde Gesprächsthema in der kleinen, großen Welt von Weimar. Wer konnte als Augenzeuge berichten? Auch Wieland, Senior unter den Weimarer Dichtern, wurde befragt. »Ich weiß nicht was hieran wahr ist, denn ich war nicht zu Ettersburg, als diese Büberei vorgegangen sein soll. (…) Etliche Tage hernach kam ich wieder nach Ettersburg und wurde beim Spaziergang in den Wald erinnert, mich überall umzusehen. Ich erblickte eine in blau geheftete Brochure, die an eine Eiche genagelt war, ungefähr wie man die Raubvögel an das große Tor an einem Pachthof oder eine gentilhommie anzunageln pflegt. Was für eine Brochure es sei, wollte mir niemand sagen, man überließ es der Schärfe meines Fernglases oder meines Verstandes, es selbst herauszubringen. Wenn ich nun sagte, ich vermutete, daß es Woldemars Briefe gewesen, so würde ich soviel als nichts damit sagen, denn Vermutung in solchen Dingen ist nichts.«
Wieland ließ also höflich offen, wies die Adressatin seines Briefs abschließend jedoch darauf hin, daß sie Goethe ja schon seit langem kenne, demnach wissen müsse, wozu »er fähig ist oder nicht«. Er war dazu fähig …
Der zweite Baum, der sich mit Goethe in Verbindung bringen läßt, war keine Eiche, sondern eine Buche. Auch sie in der Nähe der Ettersburg, wenige Kilometer vom Lager entfernt. »›Ich will Ihnen doch auch die Buche zeigen‹, sagte Goethe, ›worin wir vor fünfzig Jahren unsere Namen geschnitten. – Aber wie hat sich das alles verändert, und wie ist das alles herangewachsen! – Dies wäre denn der Baum. Sie sehen, er ist noch in der vollsten Pracht. Auch unsere Namen sind noch zu spüren, doch so verquollen und verwachsen, daß sie kaum noch herauszubringen. Damals stand die Buche auf einem freien trockenen Platz. Es war durchaus sonnig und anmutig umher, und wir spielten hier an Sommertagen unsere improvisierten Possen. Jetzt ist es hier feucht und unfreundlich. Was sonst nur niederes Gebüsch war, ist indes zu schattigen Bäumen herangewachsen, so daß man die prächtige Buche unserer Jugend kaum noch aus dem Dickicht herausfindet.‹«
Dieser Bericht Eckermanns wird ergänzt durch die Auskunft, die 1954 Helmut Holtzhauer, damaliger Direktor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten, auf eine schriftliche Anfrage erteilte. »Betr: Bild der Goethebuche im Schloßpark von Ettersburg. Ein Bild von der Goethebuche (nicht Eiche!) von Ettersburg ist uns nicht bekannt, weder ein zeitgenössischer Stich noch ein später angefertigtes Bild. Die Buche stand gegen Ende von Goethes Lebenszeit in tiefem Waldesdickicht. Nach der Jahrhundertmitte wurde sie wegen Überalterung gefällt, und das Stammstück, in das die Namen Goethes und seiner Gefährten eingeschnitten waren, wurde noch lange aufbewahrt, schließlich aber verfeuert. Der Platz, wo die Buche gestanden hat, ist auf dem heute fast waldentblößten Talhang kaum noch genau zu bestimmen.«