Peter Prange
Der Traumpalast
Im Bann der Bilder
Roman
FISCHER E-Books
Bestsellerautor Peter Prange ist der große Erzähler der deutschen Geschichte. Als Autor aus Leidenschaft gelingt es ihm, die eigene Begeisterung für seine Themen auf Leser und Zuhörer zu übertragen. Die Gesamtauflage seiner Werke beträgt weit über drei Millionen. ›Der Traumpalast‹ ist sein vierter großer Deutschland-Roman. Die Vorläufer sind Bestseller, etwa sein Roman in zwei Bänden, ›Eine Familie in Deutschland‹. ›Das Bernstein-Amulett‹ wurde erfolgreich verfilmt, der TV-Mehrteiler zu ›Unsere wunderbaren Jahre‹ begeisterte ein Millionenpublikum. Der Autor lebt mit seiner Frau in Tübingen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Die Ufa ist ein Mythos, Deutschlands Antwort auf Hollywood, die legendäre Traumfabrik, die im Berlin der zwanziger Jahre einen neuen Menschen hervorbringt: den Filmstar. Am Tag ihrer Gründung begegnen sich Tino und Rahel. Beginnt damit der Film ihres Lebens? Während Tino als Finanzdirektor den kometenhaften Aufstieg der Ufa vorantreibt, bietet sich Rahel – unabhängig von ihm – die unverhoffte Chance auf eine Karriere als Filmschauspielerin. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Erich Pommer, dem Produzenten von Filmen wie »Dr. Caligari«, »Metropolis« oder »Der Blaue Engel«, wirken sie mit an der Entwicklung der bedeutendsten Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts. Die »Flimmeritis« wird zur Droge für Millionen von Menschen, die täglich in die Kinos strömen. Für Rahel und Tino scheint nur noch der Himmel die Grenze zu sein. Aber in einer Welt, die geprägt ist von Umsturz und Inflation, müssen sie erfahren, dass das Leben kein Kinofilm ist und nicht nach vorgegebenen Regieanweisungen verläuft. Um einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden, müssen sie ihr eigenes Drehbuch schreiben ...
Der Auftakt des großen Zweiteilers »Der Traumpalast«. Auf »Im Bann der Bilder« folgt im Herbst 2022 der zweite und abschließende Band, »Bilder von Liebe und Macht«.
Weitere Titel von Peter Prange:
»Unsere wunderbaren Jahre«, »Eine Familie in Deutschland. Zeit zu hoffen, Zeit zu leben«, »Eine Familie in Deutschland. Am Ende die Hoffnung«, »Das Bernstein-Amulett«, »Himmelsdiebe«, »Die Rose der Welt«, »Ich, Maximilian, Kaiser der Welt«, »Die Philosophin«, »Die Principessa«, »Die Gärten der Frauen«, »Die Götter der Dona Gracia«, »Werte: Von Plato bis Pop – alles, was uns verbindet«;
Die Website des Autors: www.peterprange.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a. M.
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildungen: Mauritius Images und Ullstein Bild"
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491007-9
Für Dich
sowie namentlich
Benjamin Benedict
Make the best of it!
»Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.«
Exodus 20,4
»Der Film lebt so lange, wie es im Kino dunkel ist.«
Samuel Goldwyn
Die nachfolgende Geschichte ist, obwohl angelehnt an historische Ereignisse, frei erfunden. Rückschlüsse auf die tatsächliche Lebenswirklichkeit der geschilderten Personen sollen in keiner Weise nahegelegt oder ermöglicht werden. Die einzelnen Handlungsstränge sind ebenso wie die Lebenswege der Protagonisten Erfindungen des Autors. Dies gilt insbesondere für deren Verstrickungen in die Geschichte des Nationalsozialismus und die Schilderung ihrer Privatsphäre. Alle intimen Szenen sowie die Dialoge und die Darstellung der Gefühlswelt des gesamten Romanpersonals sind reine Fiktion.
1917–1924
»Und ist ein Wunder vor unseren Augen …«
Psalm 118,23
1917
Ach, was war das Leben doch für eine großartige Erfindung!
Bester Laune verließ Konstantin Reichenbach, dreiunddreißig Jahre jung und von Freunden wie Verwandten nur Tino genannt, seine Sieben-Zimmer-Junggesellen-Wohnung am Gendarmenmarkt und trat hinaus auf die Straße, wo ihn heller Sonnenschein empfing. Mit dem Elfenbeingriff seines Spazierstocks rückte er seinen Strohhut in die Stirn, damit das Feuermal am Haaransatz, ein unschönes Erbe seiner Vorfahren, unter der Krempe verschwand, und nachdem er die champagnerhafte Frühsommerluft mehrere Male in seine Lungen hatte strömen lassen, tauchte er in das Gewusel der hin- und hereilenden Menschen ein, um eins zu werden mit dem pulsierenden Wogen im Herzen Berlins, wo an diesem herrlichen Maienmorgen im Jahre 1917 von dem in Europa wütenden Krieg nicht das Geringste zu spüren war. Das neueste Operettencouplet vor sich hin pfeifend – »Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht« –, zwinkerte er einem hübschen Dienstmädchen zu, warf zwei auf dem Trottoir spielenden Kindern ihren Ball zurück und kläffte aus lauter Übermut eine Katze an, die tatsächlich darauf hereinfiel und sich erschrocken in die Laubkrone eines frisch erblühten Lindenbaums rettete.
Heute, so seine Hoffnung, würde sein Leben endlich wieder in jene erfreulichen Bahnen zurückkehren, die der liebe Gott oder wer auch immer sein Schicksal leitete, seit Anbeginn der Schöpfung für ihn vorgesehen hatte. Zwei Jahre war er an der Front gewesen, zwei Jahre hatte er in Schlamm und Dreck gewühlt und kaum eine Nacht in einem richtigen Bett geschlafen, zusammengepfercht mit wildfremden Menschen in kalten, feuchten Unterständen oder übelriechenden Notquartieren, während der Tod ihm bedrohlich nah auf die Pelle gerückt war. Seine halbe Kompanie war bei einem Giftgasangriff der Engländer verreckt, und bei einem Sturmtrupp auf einen Hügel, auf dem es nichts als eine leerstehende Scheune zu erobern gegeben hatte, waren Dutzende seiner Kameraden von französischen Granaten in Stücke gerissen worden. Und wenn er nachts keinen Schlaf fand, weil er die Erinnerung nicht loswerden konnte, starb sein Freund Leo Hengstenberg, mit dem er schon zur Schule gegangen war, wieder und wieder in seinen Armen, blutend wie ein abgestochenes Schwein.
Nein, im Gegensatz zu den Abertausenden Idioten, die immer noch wie im Sommer 1914 hurrabrüllend in ihr Verderben zogen, war er von diesem Wahn kuriert und hatte eingesehen, dass das Kriegshandwerk nicht sein Handwerk war – er war für dieses Leben nicht geschaffen. Doch zum Glück würde der Irrsinn für ihn jetzt ein Ende haben, er selbst hatte es an diesem Vormittag in der Hand, vom Dienst an der Front befreit zu werden. Ein für alle Mal!
Obwohl die in einer Stunde beginnende Konferenz, an deren Zustandekommen er maßgeblich beteiligt war, im Kriegsministerium stattfand, trug er Zivil. Er war heute nicht in seiner Eigenschaft als Oberleutnant des Kaiser-Alexander-Garderegiments No. 1 im III. Garde-Armee-Korps gefragt, sondern als Vertreter der familieneigenen Handels- und Kreditbank Reichenbach, die sein Großvater vor einem halben Jahrhundert in Dresden gegründet hatte. Und dank seines Talents, sich überall Freunde zu machen, sowie unter kluger Nutzung der Beziehungen, die seine Eltern bis in die höchsten Kreise von Wirtschaft, Politik und Militär unterhielten, war es ihm gelungen, eine Reihe höchst einflussreicher Herren an einem Tisch zu vereinen, die ihm hervorragend geeignet schienen, sein privates und berufliches Wohl in der von ihm erwünschten Weise zu befördern. Doch da er wusste, dass Tüchtigkeit allein niemals reicht, um ans Ziel zu gelangen, verließ er sich auch heute nicht nur auf diese, sondern suchte wie fast jeden Morgen den kleinen Blumenladen an der Ecke des Gendarmenmarkts auf, um eine Nelke zu kaufen – sein persönlicher Glücksbringer, den er sich täglich ans Revers steckte. Denn eine ordentliche Portion Glück würde er heute gewiss brauchen, damit die Dinge sich für ihn zum Guten wandten, egal, wie gründlich er alles vorbereitet hatte. Außerdem bedeutete in England, wo er vor dem Krieg bei der Londoner Baring’s Bank in die Lehre gegangen war, das Tragen einer Nelke im Knopfloch »mein Herz ist frei«. Und sein Herz war immer frei, auch wenn er drei Freundinnen auf einmal hatte.
Jedes Mal, wenn Rahel Rosenberg das Verlagsgebäude der »Vossischen Zeitung« in der Charlottenstraße betrat, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Dies war für sie der aufregendste Ort in ganz Berlin, ein Umschlagplatz von Nachrichten und Sensationen, die hier gehandelt wurden wie Aktien an der Börse. Schon in der Eingangshalle herrschte ein Lärm wie auf einem Jahrmarkt. Telefone klingelten, Schreibmaschinen klapperten, Stimmen riefen, und aus dem Untergrund dröhnte das Stampfen der Druckerpressen im Kellergeschoss herauf und ließ den Boden beben, während Journalisten an ihren Schreibtischen mit aufgeknöpften Kragen und hochgekrempelten Ärmeln ihre Artikel in die Tasten hämmerten. Im Minutentakt trafen hier Tatsachen und Gerüchte ein, Stimmungen und Meinungen aus aller Herren Länder und wurden in Windeseile zu Schlagzeilen verdichtet, um nur wenige Stunden später von den Zeitungsjungen auf den Straßen wieder in alle Welt hinausgerufen zu werden.
Hier wollte Rahel einmal arbeiten, als Reporterin oder Redakteurin, ja, wenn es sein musste, für den Anfang sogar als Sekretärin – Hauptsache, sie wurde Teil dieser aufregenden Welt! Seit sie zu Ostern am Wilmersdorfer Lyzeum das Abitur abgelegt hatte, hatte sie einen Kurs in Stenographie und Schreibmaschine belegt, und ausgestattet mit diesen Fertigkeiten, verfasste sie mindestens ein bis zwei Beiträge pro Woche über alle Fragen des Lebens, die ihr selbst auf den Nägeln brannten. Und wann immer ihr Vater, der am Fehrbelliner Platz eine Uniform- und Modeschneiderei betrieb, sie mit einem Botengang in die Stadt schickte, nutzte sie die Gelegenheit, um ihre Artikel in der Redaktion zu präsentieren, in der Hoffnung, eines Tages Gnade vor den Augen Arno Sumskis zu finden, damit ihr Traumberuf kein bloßer Wunschtraum blieb.
Arno Sumski, ein untersetzter Mittfünfziger mit auffallend buschigen Brauen und Bartkoteletten, war der Chef vom Dienst der »Vossischen Zeitung« und residierte, abgetrennt von den übrigen Journalisten wie ein Herrscher von seinem Volk, in einem erhöhten, gläsernen Büro inmitten der Eingangshalle. Um Eindruck auf ihn zu machen, hatte Rahel extra das braun-beige gestreifte Kostüm angezogen, das sie eigentlich gar nicht mochte, weil sie sich darin wie eine schlechte Männerkopie vorkam, und trug dazu passend sogar braune Schnürschuhe, wie die Wandervögel sie trugen. Doch die Kleidung verfehlte leider die erhoffte Wirkung. Auch heute schüttelte Sumski wieder den Kopf, als er ihre neueste Arbeitsprobe überflog: ein in mühsamer Recherche zusammengetragener Artikel über das Schicksal von Frauen, deren Männer im Krieg waren und die sich mit ihren Kindern allein und ohne Hilfe durchschlagen mussten.
»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie über andere Dinge schreiben sollen, Fräulein Rosenberg?«
»Was denn für andere Dinge?«, fragte Rahel, obwohl sie die Antwort schon im Voraus wusste.
»Das Neueste aus der Mode zum Beispiel, dazu sind Sie ja von Hause aus geradezu prädestiniert. Und natürlich alles rund um die Küche. Beiträge für die Frauenseite – Kochrezepte, Schnittmuster, das Übliche eben.«
»Aber die Frauen von heute leben doch nicht hinter dem Mond! Sie wollen kein Heimchen am Herd mehr sein.«
»Ach Kindchen, ich fürchte, da ist der Wunsch der Vater des Gedankens.« Er beugte sich über seinen Schreibtisch und reichte ihr den Artikel zurück.
Rahel schaute auf die maschinengetippte Seite in seiner Hand. Wie viel Arbeit, wie viel Mühe steckte darin. Doch es war immer dasselbe.
»Das heißt also wieder – abgelehnt?«
»Hatten Sie etwas anderes erwartet?« Mit seinen wässrigen Augen erwiderte er ihren Blick.
Rahel musste schlucken. Wie oft hatten sie dieses Gespräch schon geführt.
»Bitte, Herr Sumski. Geben Sie mir eine Chance.«
Eine Weile schaute er sie ohne eine Regung in seinem roten Gesicht an. Doch als sie seinem Blick beharrlich standhielt, holte er einmal tief Luft, dann stieß er einen Seufzer aus und legte ihren Artikel zuoberst auf einen Stapel.
»Na, gut. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«
»Wirklich?« Rahels Herz machte vor Freude einen Sprung. »Dann werden Sie meinen Beitrag also bringen?«
Das Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch enthob ihn der Antwort. So eilig, als hätte er nur darauf gewartet, nahm er den Hörer ab. »›Vossische Zeitung‹, Sumski am Apparat.« Mit der Hand gab er ihr ein Zeichen, seinen Glaskäfig zu verlassen.
Rahel wandte sich zur Tür. Doch bevor sie den Raum verließ, schaute sie noch einmal zurück. Ihr Artikel lag wirklich ganz zuoberst – so weit hatte sie es bisher noch nie geschafft!
Im Geiste spuckte sie dreimal über die Schulter auf die Seite, so wie Schauspieler es vor einer Premiere taten. Das würde ihr Glück bringen.
Als Tino die Tür des Blumenladens öffnete, schlug ein Strauß weißer Porzellanmaiglöckchen über dem Türrahmen an und meldete mit hellem Klingeln sein Kommen. Das Blumenmädchen, das hinter der Theke gerade ein paar Fliederzweige schnitt, blickte von ihrer Arbeit auf. Als sie ihren Kunden erkannte, lächelte sie, wie nur ein Blumenmädchen lächeln kann.
»Guten Morgen, Herr Reichenbach. Welche Farbe soll’s denn heute sein?«
»Eine gelbe, bitte, Fräulein Anna.«
»Das heißt, Sie brauchen heute eine Extraportion Glück?« Sie legte die Fliederzweige auf die Theke und trat an den Kübel mit den Nelken. Plötzlich stutzte sie. »Oh, die gelben sind leider aus.«
Tino zog scharf die Luft ein. »Wie ärgerlich! Ausgerechnet heute!«
»Es tut mir wirklich leid. Aber wenn Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit haben? Die Lieferung vom Großmarkt muss jeden Moment kommen.«
Er überlegte kurz, ob er warten sollte, doch ein Blick auf seine Rolex-Armbanduhr sagte ihm, dass dafür keine Zeit war. »Ich fürchte, das ist nicht möglich. Was haben Sie sonst im Angebot?«
Mit geübtem Griff fischte Fräulein Anna eine weiße Nelke aus dem Kübel. »Wie wär’s mit dieser? Ein wirkliches Prachtexemplar!«
Tino nickte. »Wenn schon keine gelbe, dann besser die als keine.« Er nahm den Stängel und brach ihn zwei Fingerbreit unter dem Fruchtknoten ab. Während er sich die Blüte ins Knopfloch steckte, wandte er sich zur Tür. »Setzen Sie’s wie immer auf die Rechnung, Fräulein Anna. Bis morgen.«
»Gern, Herr Reichenbach. Ihnen noch einen schönen Tag. Viel Glück!«
Wieder klingelten die Porzellanmaiglöckchen, doch ihr leises Geläut war noch nicht verklungen, da schien sich Fräulein Annas Wunsch bereits zu erfüllen. Kaum war Tino zur Tür hinaus, stieß er auf dem Trottoir mit einer jungen Frau zusammen, bei deren Anblick ihm der Atem stockte: kastanienbraune Locken, blaugrüne Augen, Sommersprossen, voller, großer Mund – und die süßeste Stupsnase der Welt.
Unwillkürlich nahm er die Nelke von seinem Revers, um sie mit gezücktem Hut und einer angedeuteten Verbeugung der fremden Schönheit zu verehren.
Doch die runzelte nur die Brauen.
»Eine Friedhofsblume – wie charmant!« Lachend schüttelte sie den Kopf. »Besten Dank, der Herr! Aber die können Sie sich für Ihre Beerdigung aufsparen!«
Überrascht von ihrer Schlagfertigkeit blickte Tino sie an. »Oh, Sie kennen sich in der Sprache der Blumen aus? Ich bin beeindruckt.« Das war er in der Tat, und nicht nur das – er war begeistert! Endlich ein weibliches Wesen, das seine Marotte verstand. Fieberhaft dachte er nach, wie er sie in ein Gespräch verwickeln könnte. »Und was, wenn ich sie gelb für Sie färbe?«
Verwundert hob sie die Brauen. »Ihre Friedhofsblume?«
»Ja, das heißt natürlich nur die Blüte, den Rest lassen wir grün.«
»Natürlich. Doch darf ich fragen, wozu die Naturverschandelung dienen soll?«
»Gelbe Nelken bringen Glück – so zuverlässig wie die Post! Wissen Sie das nicht?«
»Was für eine reizende Idee, ich bin gerührt. Nur …«, spöttisch schaute sie sich um, »… leider sehe ich hier nirgendwo ein Malergeschäft.«
Er beschloss, ihren Einwand zu ignorieren, und als hätte sie gar nichts gesagt, fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Oder wie wär’s mit rosa? Als Zeichen der Gefühle, die Sie in mir auslösen?«
Den immer noch gelüfteten Hut in der Hand, schaute er ihr so tief in die Augen, dass es ihm selbst davon heiß den Rücken runterlief. Doch statt seinen Blick zu erwidern, lachte sie nur ein zweites Mal, und auch noch doppelt so laut wie zuvor.
»Warum nicht gleich rot? Sie wissen doch – die Farbe der Liebe …« Und wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein, mein Herr, nicht um diese Tageszeit.«
Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn stehen. Es kam nur selten vor, dass es Tino die Sprache verschlug, doch jetzt war es geschehen. Mit einer Mischung aus Verblüffung und Bezauberung schaute er der Fremden nach. Was für eine Frau – tipptopp! Er durfte sie unmöglich laufen lassen, ohne ihren Namen in Erfahrung zu bringen. Ihren Namen und ihre Adresse …
Aber zu spät! Kaum setzte er sich in Bewegung, da schlug vom Turm des Französischen Doms die Glocke zur halben Stunde. Die strenge Mahnung brachte ihn wieder zu Verstand.
Warum zum Teufel hatte der liebe Gott nur die Arbeit erfunden?
Mit einem Seufzer fügte er sich, und während er sich den Hut wieder aufsetzte, eilte er zu seinem Auto, ein brandneues Audi-Cabriolet, das einen Steinwurf entfernt am Straßenrand parkte. Der Mann, auf den es bei der heutigen Konferenz mehr als auf jeden anderen ankam, hasste Unpünktlichkeit, und Tino konnte ihn nicht warten lassen, ohne seine eigenen Pläne zu gefährden. Also nahm er Anlauf und flankte über den Wagenschlag in sein Auto. Wenn er ordentlich Gas gab, würde er es gerade noch schaffen.
Rahel zögerte. Sollte sie sich umdrehen oder nicht? Wie immer, wenn sie sich nicht entscheiden konnte, beschloss sie, das Schicksal für sich entscheiden zu lassen. Falls in den nächsten zehn Sekunden jemand die Fleischerei gegenüber betrat, würde sie sich umdrehen. Wenn nicht, dann nicht …
Eins, zwei, drei, vier …
Ein Arbeiter mit Schirmmütze und Pfeife im Mund steuerte auf das Schlachtergeschäft zu. Rahel hielt den Atem an. Tatsächlich, der Arbeiter steckte die Pfeife in seine Lederschürze und öffnete die Tür. In derselben Sekunde drehte sie sich um – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihr Nelkenkavalier in einem offenen Auto davonbrauste. Gegen ihren Willen musste sie sich eingestehen, dass er ihr gefiel. Ein Mann, der sein Glück einer Blume anvertraute – wo hatte man so was schon mal gesehen? Außerdem schien er Humor zu haben, Humor und Selbstbewusstsein, zwei Eigenschaften, ohne die nicht mal die Gebrüder Ullstein bei ihr landen könnten, die Besitzer der »Vossischen Zeitung«. Und mit seiner blonden Tolle, die ihm etwas Verwegenes gab, den himmelblauen Augen und dem kleinen Schnäuzer auf der Oberlippe konnte man ihn unmöglich hässlich nennen, im Gegenteil – hätte er nicht dieses Feuermal auf der Stirn gehabt, wäre er ihr sogar eine Spur zu perfekt gewesen.
Als würde er wissen, dass sie ihm nachschaute, zog er im Davonfahren seinen Strohhut, um sie noch einmal zu grüßen. Doch ohne sich nach ihr umzudrehen.
Rahel schnappte nach Luft. Was bildete der Kerl sich ein? Bei allem Sinn für Humor: Das war ihr dann doch ein bisschen zu viel Selbstbewusstsein!
Auf dem Absatz machte sie kehrt. Die Eltern hatten sie ermahnt, pünktlich zu sein, zu Hause warte eine Überraschung auf sie, und bis Wilmersdorf dauerte es mit dem Pferdebus eine Ewigkeit, weil auf der Strecke Schienen für eine elektrische Straßenbahn verlegt wurden. Doch eilig hatte sie es darum nicht. Sie konnte sich denken, was für eine Überraschung das war: Der Vater wollte, dass sie sich freiwillig als Krankenschwester meldete. Sie sollte verwundete Soldaten pflegen, das war sein größter Wunsch, als patriotisches Zeichen der Familie Rosenberg, die leider ein bisschen zu jüdisch war, um als ganz und gar deutsche Familie zu gelten. Er hatte sogar schon seine Kontakte spielen lassen – Stabsarzt Dr. Recknagel war einer seiner besten Kunden. Vielleicht saß der jetzt schon mit den Eltern am Wohnzimmertisch und trank Kaffee.
An der Haltestelle traf der Pferdebus ein. Keine Zeit mehr zum Trödeln! Im Laufschritt überquerte Rahel den Platz und schaffte es gerade noch, auf die Plattform zu springen, als der Bus losfuhr. Die Kundin, der sie im Auftrag des Vaters ein Nachmittagskleid gebracht hatte, wohnte im Grunewald, und der Umweg, den sie für ihren Besuch bei der »Vossischen« genommen hatte, hatte sie fast eine Stunde gekostet. Wenn sie zu spät kam, würde es peinliche Fragen geben. Die Eltern hatten ja keine Ahnung, was sie bei ihren Botengängen in der Stadt trieb. Und das sollte nach Möglichkeit auch so bleiben.
Das Kriegsministerium war ein langgezogener, dreigeschossiger, finsterer Kasten am unteren Ende der Leipziger Straße, der mit seinen gleichförmigen Fensterreihen Tino stets an eine Kompanie strammstehender Soldaten erinnerte – steingewordenes Sinnbild des preußischen Kommisswesens. Von hier aus ergingen die Befehle, die erwachsene Männer zwangen, wie Kinder auf einem Spielplatz im Schlamm und Dreck zu wühlen, nur mit dem Unterschied, dass ihr Spielplatz kein Spielplatz war, sondern der Krieg, wo einem Kugeln und Granaten um die Ohren flogen – mit den bekannten Folgen. Die Aussicht, dass ausgerechnet hier seine militärische Laufbahn ein Ende nehmen würde, bereitete ihm ein geradezu diebisches Vergnügen.
Als er die Eingangshalle betrat, erwartete ihn dort bereits mit gezückter Taschenuhr der Mann, auf den es heute mehr als auf jeden anderen ankam: Emil Georg von Stauß. Mit seinen vierzig Jahren, der hohen Stirnglatze, auf der die wenigen verbliebenen Haupthaare sprossen, sah er in seinem schlichten, ganz und gar unmodernen Anzug und dem schlecht gebügelten Stehkragen aus wie ein Dorfschullehrer aus der Mark Brandenburg. Tatsächlich aber war er der Generaldirektor der Deutschen Bank und bekleidete darüber hinaus Aufsichtsratsposten in den bedeutendsten deutschen Unternehmen. Dieser Mann, für den arbeiten zu dürfen Tino einer Empfehlung seines Freundes und Regimentskameraden Erich Pommer verdankte, hatte die Macht, Schicksale zu wenden.
Jetzt klappte er den Deckel der Taschenuhr zu und steckte sie in die Westentasche.
»Mal wieder auf den letzten Drücker, Reichenbach?« Mit gerunzelter Stirn musterte er seinen Aufzug. »Sind Sie auf dem Weg in die Sommerfrische?«
Tino drückte der Garderobiere Hut und Stock in die Hand. »Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Herr Generaldirektor, aber …«
»Und was ist mit der Nelke? Wollen Sie die etwa während der Sitzung tragen?«
»Nur mit Ihrer Erlaubnis«, erwiderte Georg. »Aber glauben Sie mir«, fügte er eilig hinzu, als er die unwillige Miene seines Gegenübers sah, »die bringt uns Glück.«
Stauß schüttelte den Kopf. »Ganz wie Sie meinen, Sie sind ein erwachsener Mann. Doch apropos – hat Seine Exzellenz zugesagt?«
»Ich habe getan, was ich konnte«, antwortete Tino ausweichend. »Aber Sie wissen ja, wie eigensinnig die Herren vom Militär manchmal sind.«
»Da haben Sie ausnahmsweise recht.« Stauß rückte den Knoten seines Binders zurecht. »Dann wird es das Beste sein, wir schauen gleich nach.«
Der Konferenzraum befand sich im ersten Stock. Ein junger Leutnant führte sie die Treppe hinauf. Tino schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte. Mit Hilfe seiner Mutter, in deren Salon die einflussreichsten Leute verkehrten, hatte er den Kontakt zu General Ludendorff hergestellt, dem Ersten Generalquartiermeister und engstem Berater des Chefs der Obersten Heeresleitung Paul von Hindenburg. Dessen Adjutant hatte die Anfrage huldvoll entgegengenommen, doch eine verbindliche Zusage war nie erfolgt.
Umso größer war Tinos Erleichterung, als der Leutnant die Flügeltür zum Konferenzsaal aufstieß und Tino Seine Exzellenz erblickte. So aufrecht, als hätte er einen Stock verschluckt, saß Erich von Ludendorff – mit dem kahlen Schädel, dem Knebelbart und dem freudlosen Gesicht ein preußischer Offizier wie aus dem »Simplicissimus« – am Kopfende eines Tisches, um den herum ein Dutzend Ministerialbeamte und Militärs versammelt war, darunter an Ludendorffs Seite Major Grau, der Pressechef des Kriegsministeriums und Vertrauter des allmächtigen Ersten Generalquartiermeisters – Tinos und Stauß’ heimlicher Verbündeter, der sie mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken begrüßte.
»Gut gemacht, Reichenbach«, raunte Stauß.
Während Tino grinsend auf seine Nelke deutete, ergriff Ludendorff das Wort. In militärischer Knappheit begrüßte er die Anwesenden, dann nannte er den ersten und einzigen Tagesordnungspunkt:
»Die moralische Mobilmachung Deutschlands im großen Völkerringen mittels bewegter Bilder.« Mit erhobenen Brauen schaute er in die Runde. »Kann mir einer der Herren erklären, was ich darunter zu verstehen habe?«
Um in die Privatwohnung der Familie Rosenberg zu gelangen, musste man die Schneiderwerkstatt passieren, die sich auf derselben Etage des gutbürgerlichen Mietshauses am Fehrbelliner Platz befand. Das Atelier in einem so angesehenen Stadtquartier, wo lauter bessere Leute wohnten, war der ganze Stolz des Familienoberhaupts Simon Rosenberg, der, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, sich mühsam emporgearbeitet und sein Handwerk noch bei einem jüdischen Flickschneider in Breslau erlernt hatte, für einen Lohn von zwölf Pfennigen die Stunde. Mit siebzehn Jahren war er nach Berlin gezogen und hatte sich selbständig gemacht, in einem Hinterhof im Wedding. Zwei Jahrzehnte und vier Umzüge, vor allem aber unermüdlicher Fleiß sowie die tatkräftige Unterstützung seiner Frau waren nötig gewesen, um es so weit zu bringen, und noch immer arbeitete Simon Rosenberg zehn, zwölf oder gar vierzehn Stunden am Tag, um sich und seiner Familie den mühsam geschaffenen Wohlstand zu sichern und zu wahren. Doch als Rahel nun den Etagenflur entlangeilte, sah sie durch die offene Werkstatttür nur die zwei Gesellen und den Lehrling ihres Vaters, die mit untergeschlagenen Beinen nebeneinander auf dem Nähtisch hockten, als wären sie dort festgewachsen.
»Wenn du den Meister suchst …« Ohne von der Arbeit aufzuschauen, deutete Altgeselle Anton, ein kleiner, freundlicher Mann von fast siebzig Jahren mit einer Nickelbrille im runzligen Gesicht, der seit den Weddinger Zeiten schon zum Inventar der Werkstatt gehörte, mit seinem zerstochenen Daumen in Richtung Wohnung. »Der wartet im Salong auf dich. Hoher Besuch!«
Rahel schloss kurz die Augen. Der »Salong« war ein Raum voller Plüsch und Nippes, der nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder Jom Kippur geöffnet wurde, die übrigen Tage im Jahr aber in seiner kalten Pracht abgeschlossen sich selbst überlassen blieb. Wenn der Vater hier jemanden empfing, dann konnte der Grund dafür nur die angedrohte Überraschung sein. Und wenn Dr. Recknagel, von dem die Eltern vor lauter Ehrfurcht stets nur im Flüsterton sprachen, sich herbemüht hatte, würde es kaum möglich sein, sich in seiner Gegenwart dem Willen des Vaters zu widersetzen.
Was um Himmels willen konnte sie also tun, um ihrem Schicksal zu entgehen? Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis, fremden Männern Bettpfannen unterzuschieben – sie hatte andere Pläne für ihr Leben!
Durch die Tür drangen schon freudig erregte Stimmen.
Rahel zählte bis dreizehn, in der unsinnigen Hoffnung, dass ihre Lieblingszahl das Unglück noch abwenden könnte, dann schlug sie die Augen auf und öffnete die Tür.
»Na, endlich, da bist du ja!«
Der Vater trug seinen besten Anzug, und die Mutter richtete einen Strauß Rosen in einer Vase. Doch wer war der Gast? Rahel musste zweimal hinschauen, um ihn zu erkennen. Nein, das war nicht Stabsarzt Dr. Recknagel, sondern Edgar Weißpfennig, seines Zeichens Rayonleiter im Kaufhaus Wertheim an der Leipziger Straße.
»Sind die nicht herrlich?«, fragte die Mutter und zeigte auf die Rosen. »Die hat unser Gast dir mitgebracht.«
Bevor Rahel begriff, was geschah, trat Edgar Weißpfennig auf sie zu und ergriff mit beiden Händen ihre Rechte.
»Mein liebes, hochverehrtes Fräulein Rosenberg. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Sie so ohne jede Vorbereitung überfalle, aber Ihr Herr Vater, nein, Ihr Herr Vater und Ihre Frau Mutter, sie beide haben mich zu meiner Kühnheit ermutigt, nämlich Sie, mein liebes, hochverehrtes Fräulein Rosenberg …« Er hielt für einen Moment inne, wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat, und blinzelte mit den Augen, als hätte er einen nervösen Tick, bevor er endlich seinen Satz zu Ende sprach. »… Sie um Ihre Hand anzuhalten.«
Rahel war so entgeistert, dass sie erstarrte. Was hatte dieser Mann gesagt? Während sie seine feuchten Hände, mit denen er ihre Rechte umklammert hielt, auf der Haut spürte, wusste sie nicht, was sie erwidern sollte. Grundgütiger – die Überraschung war gelungen! Eher hätte sie damit gerechnet, dass Kaiser Wilhelm abdanken würde, als dass dieser Mann ihr einen Antrag machte … Sie kannte Edgar Weißpfennig, seit sie ein Kind war, der Vater schneiderte in seinem Auftrag gelegentlich für das Kaufhaus Wertheim. Doch bisher war der Rayonleiter für sie stets nur ein netter Onkel gewesen, er war ja mehr als doppelt so alt wie sie, ein Mann, dessen weißblondes Haar schon so stark gelichtet war, dass er es von den Rändern her in langen, albernen Strähnen quer über den Schädel kämmte, um die Glatze darunter zu verbergen.
Rahel räusperte sich, ihr Hals war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte. »Habe … habe ich richtig verstanden? Sie wollen mich – heiraten?«
Edgar Weißpfennig neigte den Kopf zur Seite, und wieder setzte das nervöse Blinzeln ein. »Ich weiß«, sagte er, »ich bin Ihrer nicht würdig – aber wollen Sie die Meine sein?«
Mit jedem Wort, das er sprach, wurde es schlimmer. Fassungslos starrte Rahel auf das elegante, seidige Einstecktuch, das seine Rockbrust zierte. War das, was sie gerade erlebte, tatsächlich wahr? Oder war dies nur ein fürchterlicher Albtraum?
Edgar Weißpfennig schien ihre Not zu ahnen, blinzelnd schaute er sie an, wobei inzwischen nicht nur seine Augen, sondern sein ganzes Gesicht in merkwürdigen Kontraktionen zu zucken begann. Fast konnte man meinen, er würde Zahnschmerzen leiden.
Mit einem Seufzer drückte er noch einmal ihre Hand, dann ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.
»Sie wissen nun, was Sie wissen müssen«, sagte er leise. »Ihr Jawort würde mich zum glücklichsten Mann der Welt machen. Aber was zählt mein Glück, wenn ich es nur um den Preis Ihres Unglücks erlangen könnte? Ich bin mir bewusst, es sind Welten, die uns trennen, und dabei meine ich nicht nur das Alter, sondern auch Anmut, Liebreiz, Witz – all die wunderbaren Gaben, die Sie in solcher Fülle besitzen und deren ich vollkommen entrate. Ich habe darum größtes Verständnis für Ihr Zögern, auch nimmt es mich nicht wunder, wenn mein Überfall Sie in Verlegenheit bringt und Sie das von mir so sehr ersehnte Wort nicht hier und jetzt über die Lippen zu bringen vermögen. – Nur bitte«, fügte er, fast flehentlich, hinzu, »weisen Sie mich nicht schlankerhand zurück, lassen Sie mir die Hoffnung, und sei es nur ein winzig kleiner Funke, die Hoffnung, dass Sie bereit sind, über meinen Antrag nachzudenken, das Für und Wider einer gemeinsamen Zukunft immerhin zu erwägen – mehr erwarte ich nicht für heute.« Er nickte einmal ihr, einmal den Eltern zu, dann wandte er sich zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Lassen Sie sich Zeit für Ihre Entscheidung, Fräulein Rosenberg, so viel Zeit, wie immer Sie brauchen. Doch eines verspreche ich Ihnen. Sollten Sie mich erhören, werde ich Ihnen meine ganze kleine Welt zu Füßen legen und mit allem, was ich bin und habe, danach trachten, Sie glücklich zu machen.«
Major Alexander Grau, ein gertenschlanker Mann um die vierzig, dessen feine, fast feminin wirkenden Gesichtszüge unter dem symmetrisch aus der Stirn gekämmten Mittelscheitel in auffallendem Kontrast zu seinem stechenden Blick und seinem martialischen Kaiser-Wilhelm-Bart standen, übernahm, wie mit Tino und Stauß besprochen, die Aufgabe, das in Frage stehende Unternehmen zu erläutern. Unter der moralischen Mobilmachung mittels bewegter Bilder, so führte er aus, sei eine völlig neue Form der Propaganda zu verstehen, eine Propaganda mit Hilfe der noch jungen Filmkunst, die sich hervorragend eigne, die nach fast drei Jahren Kampf erlahmende Kriegsbegeisterung des Volkes aufs Neue zu entfachen. Dies sei vor allem angesichts der anstehenden Rationierungsmaßnahmen in der Lebensmittelversorgung erforderlich, die die Kriegsmüdigkeit der Zivilbevölkerung nur noch verstärke, um so allen Widrigkeiten zum Trotz an der Heimatfront für den nötigen Rückhalt der im Felde liegenden Soldaten zu sorgen sowie die Bereitschaft der Untertanen zu fördern, durch Zeichnung von Kriegsanleihen ihren unverzichtbaren Beitrag zum Sieg im großen Völkerringen zu leisten.
»Die Regierungen der Entente-Mächte, insbesondere England und Frankreich, setzen diese Form der Propaganda bereits im großen Stil ein. Sie produzieren mehrere kinematographische Streifen pro Monat, in denen sie gegen die angeblichen Mörderhaufen der deutschen ›Hunnen‹ hetzen und die Unbesiegbarkeit der eigenen Truppen preisen. Mit überragendem Erfolg. Der deutsche Landser ist bei ihnen so verhasst wie nie, während englische und französische Soldaten, wo immer sie sich in der Heimat zeigen, bejubelt werden wie Schauspieler auf der Bühne. Es ist darum höchste Zeit, dass wir unseren Feinden auch auf diesem Schlachtfeld so entschlossen wie nur irgend möglich entgegentreten.« Mit sich und seinem Vortrag sichtlich zufrieden, strich Major Grau sich über den Bart. »Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, meine Herren.«
Während er Platz nahm, richteten sich alle Blicke auf General Ludendorff. Doch der ließ keine Reaktion erkennen, mit ernster Miene saß er da, die Mundwinkel wie immer freudlos heruntergezogen, und schwieg eine lange Weile. Tino spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Ludendorff war der starke Mann der Obersten Heeresleitung, nur wenn er das Unternehmen unterstützte, konnten seine Pläne aufgehen.
Plötzlich kam Leben in Ludendorffs Rechte, und während er mit den knochigen Fingern einen Marsch auf der Tischplatte zu trommeln begann, hellte sich seine Miene auf.
»Kriegsreklame im Kintopp? Da ist Musike drin! Zivilisten sind Kinder und wollen wie Kinder behandelt werden. Brot und Spiele, das wussten schon die alten Römer.« Er lachte einmal kurz und so trocken auf, dass es wie ein Bellen klang, dann wurde er wieder ernst. »Die Frage ist nur, wie lässt sich ein solches Unternehmen möglichst schnell und effektiv bewerkstelligen?«
Tino atmete auf. Der Damm war gebrochen! Eilig tauschte er einen Blick mit Stauß. Der hob die Hand.
»Wenn ich mich dazu äußern darf?«
Ludendorff nickte.
»Als erste Maßnahme schlage ich vor, eine Denkschrift zu verfassen, adressiert an Seine Majestät den Kaiser sowie an Reichskanzler Bethmann Hollweg und den Kriegsminister, damit die nötigen Geldmittel bereitgestellt werden. Um die Dringlichkeit der Sache zu dokumentieren, sollte ein solches Memorandum idealerweise Ihre Unterschrift tragen, Exzellenz.«
»Einverstanden. Wer ist als Verfasser vorgesehen?«
Stauß deutete auf Tino. »Oberleutnant Reichenbach.«
Ludendorff nahm das Monokel, das an einer Kordel vor seiner Ordensbrust baumelte, und klemmte es sich ins Auge. »Reichenbach von der Handels- und Kreditbank?« Er fixierte Tino mit einem kurzen, scharfen Blick. Als Tino mit einer angedeuteten Verbeugung bejahte, nickte er. »Sehr gut.« Dann wandte er sich wieder an den Chef der Deutschen Bank. »Was wird geschehen, wenn die Finanzmittel bereitstehen? Wollen Sie eine eigene Firma zur Filmfabrikation gründen?«
»Eine Firmengründung bräuchte zu viel Zeit«, erwiderte Stauß. »Um möglichst schnell handeln zu können, würde ich empfehlen, aus bereits bestehenden Firmen ein Konglomerat zu schaffen. Dabei sind Größe und Schlagkraft entscheidend!«
»Größe und Schlagkraft – ausgezeichnet!« Abermals nickte der General, um seine Zustimmung zu bekunden. »Dann wird wohl Hugenberg der erste Mann an der Spitze sein? Habe gehört, dass er bereits ein Lichtspielunternehmen betreibt.«
»Allerdings, die Deutsche Lichtspielgesellschaft, kurz Deulig genannt.«
»Außerdem ist er ein Mann von einwandfreier nationaler Gesinnung«, fuhr Ludendorff fort. »Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
Tino biss sich auf die Lippe. Hugenberg war als Vorstandsvorsitzender der Friedrich Krupp AG in Essen einer der einflussreichsten Industriellen im Land. Doch gerade deshalb war die Beteiligung des Ruhrbarons, der neuerdings auch in anderen Gefilden als Kohle und Stahl wilderte, für Tino ein fast unlösbares Problem. Nur wenn Stauß und die Deutsche Bank in dem neu zu gründenden Unternehmen das Sagen hatten, konnte er sein Ziel erreichen, vom Kriegsdienst befreit zu werden. Wenn Hugenberg hingegen mit von der Partie war, würde alles nach seiner Pfeife tanzen. Andererseits durfte man Hugenberg nicht vor den Kopf stoßen. Die Reichenbach Bank war eine der Hausbanken des Magnaten. Im Falle seiner Ausbootung würde Tino gegen deren eigene Interessen handeln und damit Gefahr laufen, sich mit seiner Familie zu überwerfen.
Jetzt kam alles auf Stauß’ Antwort an.
»Verzeihen Sie, Exzellenz, wenn ich widerspreche«, erklärte der Chef der Deutschen Bank. »Aber eine Mitwirkung Hugenbergs halte ich nicht für opportun.«
Ludendorff riss die Augen so weit auf, dass sein Monokel aus der Augenhöhle sprang. »Aus welchem Grund? Hugenberg steht im Ruf, ein Finanzgenie zu sein!«
Tino biss sich auf die Lippe, und während sein Puls immer schneller raste, trocknete ihm der Mund aus. Doch Stauß bewahrte unerschütterlich die Ruhe.
»Ich bitte, mich nicht misszuverstehen, Exzellenz. Selbstredend ist Hugenberg ein äußerst erfolgreicher Unternehmer, und seine nationale Gesinnung steht außer Frage. Doch mit seiner kürzlich geäußerten Kritik am Reichskanzler wäre er für uns untragbar.«
»Drücken Sie sich bitte klarer aus!«
Stauß straffte sich. »Hugenberg hat Bethmann Hollweg vorgeworfen, sich bei der Sozialdemokratie lieb Kind zu machen. Aber noch schlimmer wiegt seine öffentlich getätigte Behauptung, der Reichskanzler würde nicht mehr an Deutschlands Sieg glauben. Eine solche Äußerung grenzt an Hochverrat. Deshalb bin ich der Meinung …«
»Genug«, fiel Ludendorff ihm ins Wort.
Mit einem Schlag war es so still im Raum, dass nur noch der schnaubende Atem des Generals zu hören war. Kein Zweifel, Stauß hatte Seine Exzellenz verärgert. Wie konnte ein solcher Fehler unterlaufen? Es war doch allgemein bekannt, dass Ludendorff den Kanzler nicht ausstehen konnte, er hielt Bethmann Hollweg für einen Schwächling, für einen verkappten Pazifisten.
Tino rann der Schweiß an den Achselhöhlen herunter. War damit sein schöner Plan geplatzt?
»Die Sache ist entschieden«, erklärte Ludendorff. Und nach einem Blick in die Runde fügte er hinzu: »Dann eben ohne Hugenberg!« Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Der Herr ist mir in letzter Zeit sowieso ein bisschen zu üppig geworden, da kann ein Denkzettel nicht schaden.«
Die Herren am Tisch quittierten die Bemerkung mit einem pflichtschuldigen Lachen. Tino hätte am liebsten seine Nelke geküsst, und es gelang ihm nur mit Mühe, seinen Jubel zu unterdrücken, während Ludendorff den Punkt abhakte und Stauß beauftragte, eine Liste von Unternehmen zusammenzustellen, die für das angestrebte Konglomerat in Frage kamen.
»Dann nur noch eins, meine Herren«, schloss er die Sitzung. »Die Operation unterliegt absoluter Geheimhaltung! Die Öffentlichkeit darf nicht erfahren, welche Rolle das Militär in der Sache spielt. Das Ganze muss nach außen hin rein zivilen Charakter haben. Sonst geht der Schuss nach hinten los. Also strengste Vertraulichkeit! Haben wir uns verstanden?«
Nachdem jedermann sein Einverständnis erklärt hatte, löste die Versammlung sich auf. Zusammen mit Stauß verließ Tino den Konferenzraum.
Auf der sonnenbeschienenen Straße wartete Major Grau auf sie.
»Ich hoffe, mit meinem Referat der Sache dienlich gewesen zu sein!«
»Ausgezeichnete Arbeit«, erwiderte Stauß. »Man wird Ihre Verdienste zu gegebener Zeit angemessen zu würdigen wissen.«
Die Augen des Majors blitzten kurz auf, dann nahm er Haltung an. »Habe nur meine Pflicht getan.« Er salutierte und stieg in einen Wagen, der vor dem Eingang des Kriegsministeriums wartete.
Während der Wagen sich die Leipziger Straße hinauf entfernte, drehte Stauß sich zu Tino herum.
»Ich werde noch heute mit Ihrem Regimentskommandeur sprechen und Ihre Freistellung beantragen. Es gibt viel zu tun.«
Tino schlug die Hacken so zackig zusammen, dass selbst Major Grau sich davon eine Scheibe hätte abschneiden können, und salutierte. »Ich werde meine Pflicht tun, an welche Front auch immer Sie mich stellen.«
Stauß lachte laut auf. »Hören Sie auf, den Soldaten zu spielen, Reichenbach, Sie machen sich nur lächerlich. Selbst als Offizier taugen Sie höchstens fürs Casino.« Dann wurde er wieder ernst. »Umso mehr zähle ich jetzt auf Sie. Als geborener Zivilist sind Sie der perfekte Mann für unser Unternehmen. Sie wissen, was auf dem Spiel steht.«
»Gewiss, Herr Generaldirektor. Der Sieg im großen Völkerringen.«
Stauß hob die Brauen. »Höre ich da einen ironischen Unterton?«
Tino zögerte. Dann sagte er: »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr Generaldirektor? Ganz unter uns?«
»Nur zu!«
»Glauben Sie, dass es wirklich noch möglich ist, eine Wende herbeizuführen? Oder hat vielleicht Bethmann Hollweg recht? Ich meine – kann Deutschland diesen Krieg überhaupt noch gewinnen?«
Stauß runzelte die Stirn. »Es ist in unser beider Interesse, wenn ich diese Frage nicht gehört habe.« Er machte eine kurze Pause. »Aber ganz unter uns«, fuhr er mit gesenkter Stimme fort, »was auch immer in diesem Krieg noch passieren mag – ich glaube, wir tun gut daran, bereits jetzt über den Tag hinaus zu denken.«
Tino brauchte eine Weile, um zu begreifen. »Sie meinen – über das Kriegsende hinaus?«
Stauß nickte. »Und deshalb können wir Hugenberg nicht gebrauchen, unsere Interessen sind nicht dieselben. Ich hoffe, darin stimmt Ihr Herr Vater mit mir überein.«
Bei der Erinnerung an seine Familie holte Tino tief Luft. »Das hoffe ich auch.«
Rahel konnte sich nicht erinnern, dass es im Salon der Familie Rosenberg je Streit gegeben hatte. Wann immer man das Paradezimmer nutzte, wurde darin etwas gefeiert oder Besuch empfangen. Doch jetzt sprach der Vater hier in solcher Lautstärke auf sie ein, dass die Mutter eilig die Tür schloss, damit die Gesellen und der Lehrling in der Werkstatt nichts hörten.
»Du willst zu hoch hinaus! Kein Mann ist dir gut genug!«
»Dein Vater hat recht«, pflichtete die Mutter ihm bei. »Du bist zu eigensinnig. Immer nur deiner eigenen Nase nach. Das war schon in der Schule so. Du hattest nicht mal richtige Freundinnen.«
»Und ich weiß auch, woher sie das hat!«, fügte der Vater mit hochrotem Kopf hinzu. »Das ist das Jüdische an ihr!«
»Ach was, Simon, das sind die Bücher! Die waren ihr immer wichtiger als ihre Schulkameradinnen.«
»Das meine ich ja mit dem Jüdischen – die Bücher!«
»Seit wann hast ausgerechnet du was gegen Bücher?«, rief Rahel. »Du selbst hast mir doch das Lesen beigebracht. Da war ich noch keine fünf Jahre alt.«
»Aber nicht dafür, dass du Propagandaschriften von Flintenweibern wie dieser Rosa Luxemburg liest!«
»Rosa Luxemburg ist kein Flintenweib, sondern Jüdin wie du und ich.«
»Und wenn sie die Thora geschrieben hätte! Rosa Luxemburg ist Kommunistin! Und ich dulde nicht, dass sie meine Tochter zur Kommunistin macht! Dafür habe ich nicht mein Leben lang gearbeitet!«
In seiner Erregung versuchte der Vater, den Kragenknopf zu öffnen, doch seine Hände zitterten so sehr, dass die Mutter ihm zu Hilfe eilen musste. Trotz ihrer Rage rührte Rahel der Anblick. Die Eltern waren in allem, was sie dachten oder sagten oder taten, stets so sehr eins, dass sie im Laufe der Zeit förmlich zu einem Leib und einer Seele geworden waren. Beide klein von Wuchs, hatten sie dasselbe schlohweiße Haar, dieselben Stirnfalten, dieselben Altersflecken im Gesicht und dieselben gichtigen Hände, an denen sie einander noch immer wie ein junges Liebespaar hielten, wenn sie zusammen das Haus verließen oder einfach nur nebeneinander auf dem Sofa saßen. So wie ihre Eltern hatte Rahel sich Philemon und Baucis vorgestellt, als sie im Lateinunterricht Ovids »Metamorphosen« durchgenommen hatten: die zwei Alten, die, als Zeus sie nach ihrem größten Wunsch fragte, nur darum baten, zur selben Stunde sterben zu dürfen, damit keiner von ihnen das Grab des anderen schauen musste.
»Dein Vater hat ja nur Angst, dass du eines Tages, wenn wir nicht mehr da sind, allein zurückbleibst«, sagte die Mutter. »Ohne Mann und ohne Kinder.«
»Richtig«, pflichtete der Vater ihr bei. »Eine Frau braucht schließlich einen Ernährer. Wer soll sonst für sie sorgen?«
Die eine Bemerkung reichte, um Rahel wieder in Harnisch zu bringen. »Ich kann selber für mich sorgen! Dazu brauche ich keinen Mann! Lieber ende ich als alte Jungfer, als jemanden zu heiraten, den ihr mir aufzwingt!«
»Aber Herr Weißpfennig ist doch so ein herzensguter Mensch«, sagte die Mutter. »Und außerdem eine glänzende Partie. Du bräuchtest dein Lebtag nicht zu arbeiten!«
»Und wer weiß«, fügte der Vater hinzu, »vielleicht fällt er noch weiter die Treppe hinauf und wird eines Tages Filialleiter. Dann bekämst du sogar eigenes Personal.«
»Ich will aber kein Personal«, sagte Rahel. »Ich will arbeiten und mein eigenes Geld verdienen!«
Der Vater schüttelte den Kopf. »Arbeit schickt sich nicht für eine Tochter aus gutem Hause!«
»Was sollen sonst die Leute denken?«, ergänzte die Mutter.
»Als hätte man das nötig!«