Aufruf zum Mißtrauen

Ilse Aichinger

Aufruf zum Mißtrauen

Verstreute Publikationen 1946–2005
Herausgegeben von Andreas Dittrich

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Ilse Aichinger

Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, »Die größere Hoffnung«, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.

 

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Über dieses Buch

Heiter und ohne Trost, zornig und zärtlich zugleich: Ilse Aichingers Schreiben bewegt sich von Anfang an in solchen Spannungsfeldern. »Aufruf zum Mißtrauen« versammelt über 100 Texte Ilse Aichingers, die zwischen 1946 und 2005 in diversen Anthologien, Zeitschriften oder Tageszeitungen erschienen sind. Die Publikationen, die zu Lebzeiten Aichingers keinen Eingang in ihre Bücher gefunden haben, lassen eine Autorin sichtbar werden, die vom Essay bis zum Gedicht, von der Rezension bis zum Dialog ganz unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung erprobt und deren entscheidendes Motiv über Jahrzehnte hinweg das Misstrauen geblieben ist: Misstrauen gegenüber der Welt, gegenüber der Sprache und vor allem gegenüber sich selbst. Zu entdecken ist dabei eine den Menschen zugewandte, erstaunlich politische Autorin, die immer auf der Seite der Leidenden steht: der »Sieger im Schatten«.

Impressum

Eigenlizenz

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 20XX S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491408-4

Eine kleine Geschichte von der Treue

Es steckt am Rollkragen eines himmelblauen Pullovers und glitzert rund und rätselhaft in der Sonne. Fremde meinen, das wäre ein Name: Susi Unger zum Beispiel, und mitten im Krieg dachte ein Schupo einmal, es hieße »Sowjet-Union«. Es dauerte lang, bis er begriff, daß man es in diesem Fall vor den Spitzeln der Gestapo besser verbergen würde, und es dauerte noch länger, bis er begriff, was es wirklich hieß. Denn wie soll auch ein giftgrüner Berliner verstehen, was St. Ursula für ein Wiener Kind bedeutet!

Viel mehr, als den Namen einer fremden Heiligen, die von alten, dunklen Stichen auf Schlimme und Brave herunterlächelt, viel mehr, als die Verpflichtung und den Ernst der Schule, viel mehr, als die Gedanken vorübergehender Menschen, wenn sie flüchtig sagen: »Kloster!«

Wie gesagt: – für Fremde ist das schwer verständlich!

Noch schwerer hatten es die Professoren der Oberschulen, in die man die Kinder aus dem Ursulinenkloster nach der Sperrung der Schule verwies, denn sie stießen mit ihren Lehren unentwegt auf Kritik und Widerstand. Sie haben sich oft den Kopf zerbrochen, welche Macht denn da stärker sei als alle großen Worte, bis sie eines Tages bei der Schlußkonferenz erklärten: »Diese Mädchen sind durch den Geist des Klosters verdorben. Man wird sie niemals zu richtigen Deutschen machen können.« Als wir das hörten, waren wir ungemein stolz darauf, durch »den Geist« verdorben zu sein.

Und der dicke Schupo hätte sich sicher gewundert, uns jede Woche leise und schnell durch das Klostertor schlüpfen zu sehen, denn aus seiner bisherigen Praxis war ihm wohl bekannt, daß Kinder heimlich Äpfel stehlen, doch daß man heimlich zur Religionsstunde geht, wäre ihm jedenfalls neu gewesen.

Wenn wir dann im Dämmern um den bunten Adventskranz

Ja, vielleicht war uns die Wirklichkeit dieses Heimatgefühls nie so klar und wunderbar zu Bewußtsein gekommen wie damals mitten in der Unwirklichkeit der Verfolgung! Niemals vorher, im sonnigen kleinen Hof, in den hellen, gewölbten Klassen, auf den langen, ernsten Gängen in der Selbstverständlichkeit der Kindheit waren wir so grenzenlos dankbar gewesen.

Denn es ist mit dem alten, schönen Haus in der Johannesgasse wie mit allen geliebten und unentbehrlichen Dingen in dieser Welt: ihr wirklicher Wert wird uns erst offenbar, wenn wir sie verloren haben.

So kam es manchmal vor, daß wir in die neue fremde Schule einfach deshalb um eine halbe Stunde zu spät kamen, weil uns unser Herz fraglos und unaufhaltsam zu dem kleinen verstummten Glockenturm trieb, der gelassen und verlassen hoch oben im durchscheinenden Herbsthimmel stand wie einer, der seiner Sache viel sicherer ist, als die Schreier und Wichtigtuer tief unten in den Gassen. Dann standen wir, starrten gebannt hinauf, trommelten mit den Knöcheln den Radetzkymarsch an das ernste, verschlossene, geliebte Schultor, und die Wildesten und Schlimmsten von uns läuteten wohl auch an der Klosterpforte Sturm und rannten davon, vielleicht um ihren Schmerz und ihre Enttäuschung zu verbergen, vielleicht aus Liebe. Im Kloster war man uns nie sehr böse deshalb, denn das Kloster kennt seine Kinder besser als eine Mutter.

Wie eine Mutter hat es auch die Verfolgten, Geächteten, die aus irgendeinem Grunde nicht würdig waren, eine deutsche Schule zu besuchen, in seinen tiefen, weiten Gängen und in den wenigen

»Warum kommt ihr so spät?«

»– – weil –weil – –wir können es nicht erklären, Sie können es nicht verstehen!«

Und wir schwiegen beharrlich. Der kleine Glockenturm hatte uns etwas von seiner leichten, lächelnden Sicherheit mitgegeben. Wir bewahrten unser Geheimnis. Auch wußten diese Professoren nicht, daß die verschwiegensten Dinge die mächtigsten sind. Es wuchs dies Verschwiegene in unsren Herzen, und dieses Verschwiegene war die Treue zum kleinen Turm, die Treue zur alten Schule, die Treue zu Österreich …

Früher, da hatten wir in Geographie Geographie gelernt, in Geschichte Geschichte und in Deutsch Deutsch. Nun lernten wir in Geographie Deutschland, in Geschichte Politik und in Deutsch Hochmut.

Manchmal wurde es uns zu bunt, manchmal durchbrachen wir das Schweigen. Als wir eines Tages hörten, daß die Jugend in den Klöstern »dumpf, unfrei und gezwungen« aufgewachsen war, stand ein blondes Mädchen auf und sagte leise, mit verträumten Augen: »Im Kloster durften wir im Sommer nach Rom fahren«, eine zweite, schon etwas lauter: »und im Frühjahr nach Salzburg!«, eine dritte zornig: »und im Winter auf Skikurs nach Mariazell!« Nun ging es los. Die Argumente wurden immer schärfer: »Im Kloster, da hatten wir lichte, hohe Klassen mit tiefen Fensternischen! Im Kloster, da hatten wir eine hellere Glocke und größere

Es ist später niemals offenbar geworden, welche das gesagt hat, aber es war jedenfalls sehr, sehr merkwürdig gewesen, dieses entweihte, tausendfach geschändete und als Propagandamittel verwendete Wort plötzlich so leise und scheu zu vernehmen!

Nachher meinte eine: »Gerade so, als ob ich die Haydn-Hymne gehört hätte, aber statt »Deutschland über alles!« »Gott mit dir, mein Österreich!«

Von da ab wurde es uns zur Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit statt des neuen, erzwungenen Textes leise den alten, geliebten mitzusummen. Niemand ahnte damals, daß dieses leise Summen eines Tages wieder anschwellen würde zu einem großen Lied! Niemand ahnte, daß auch die Glocken vom Klosterturm, die man zuerst zum Schweigen gebracht hatte, zuletzt dann ganz abnahm, in unsren Herzen klar und laut weiter läuteten bis heute!

Vor kurzem bin ich wieder durch die Johannesgasse gegangen. Die Schulen der Ursulinen sind wieder eröffnet. Leider sind wir nun schon zu groß geworden, um uns noch einmal einschreiben zu lassen. Aber die Glocken wollen wir dem Turm zurückgeben, die wir bisher in unsren Herzen verwahrt haben. Sie dürfen nun wieder läuten für die Kinder von Wien.

[1946]

Wir sind befangen vor diesem Namen, werden meist verlegen, wenn man uns so nennt und wenden uns ab. Fast als hätte man uns eine Verpflichtung auferlegt, die wir nicht einhalten können, als hätte man etwas ausgesprochen, was eigentlich unaussprechlich ist, und wir verschließen uns. Denn das haben wir in sieben tödlichen Jahren vollendet gelernt, zu leiden und die Frucht des Erlittenen zu verbergen wie etwas sehr Kostbares. Zu schweigen und wieder zu schweigen, so lange, bis die Tiefe schmerzhaft und unaufhaltsam hervorbricht und zum Wort wird, zeugend, daß hinter allem Gesagten mächtig das Ungesagte ruht.

Nun erschrecken wir, da man uns ruft, und fragen zweifelnd: Was wollt ihr von uns?

Ältere, Reifere, Stärkere als wir sind irre geworden, sind zugrunde gegangen oder haben ihren Genius unter die Währung des Dritten Reiches gestellt und entwertet. Wie habt ihr da den Mut, uns zu vertrauen, die wir Kinder waren, als der Krieg begann, die wir am Zerrbild der Verwirrung die Wahrheit erkennen mußten, an der Maßlosigkeit das Maß, an der Kritiklosigkeit die Kritik, an dem hochmütigen Haß des Nationalismus die Liebe zu allen Menschen! Wir mußten an allem verzweifeln, ehe wir glauben durften, und alles, was wir schreiben, ist gezeugt worden im Dunkel der Verfolgung und der Verlassenheit.

Dürft ihr uns vertrauen?

Überlegt es gut!

Ja, läßt sich denn unsere große Jugend mit dem Wort Dichtung, mit diesem reifen, tiefen, erfüllten Wort auch nur vereinen, ohne lächerlich zu werden? Sind wir nicht selbst erschrocken damals, als wir es mit einem leisen Anflug von Hochmut unserem besten Freunde anvertrauten: »Ich … schreibe nämlich«, und haben uns gleich nachher verachtet und erkannt, wie sehr wir am Anfang

So sind wir gewachsen aus dem Zweifel an uns selbst, aus der Kritik und aus der Stille um unser Werk. So hat uns die ungeheure Gedankenlosigkeit dieser letzten Jahre gerufen, zu denken, so hat uns die Unmenschlichkeit, unter der wir litten wie gequälte Tiere, gerufen, alles Menschliche zu suchen und zu verdichten, so haben wir zu allererst gelernt, Menschen zu sein, bevor wir Dichter wurden.

Ihr ruft uns ans Licht!

Versteht unser Zögern!

Wird das Wort bestehen, das aus dem Dunkel gewachsen ist? Werden wir selbst bestehen als reifende Menschen? Sehnen wir uns nicht manchmal auch nach dem großen Erfolg, nach hohen Auflagen, nach Auto und Haus und Wohlleben wie die Kinder? Und haben doch im Tiefsten die große, erlittene Erkenntnis: Unsere einzige Möglichkeit liegt im Verströmen, liegt in der restlosen Hingabe, liegt im Glauben an die Menschheit!

Versteht unser Erschrecken!

Denn, was wir heute sagen, war gestern noch unsagbar!

[1946]

Es ist möglich, daß guter Wille wahr macht, wie es an irgendeiner Stelle dieses Shakespeare zugeschriebenen Dramas heißt, aber der gute Wille der Stephansspieler genügt in diesem Fall nicht, um auch warm zu machen. Denn nicht nur die erstarrten Hände und Füße der Menschen, auch das erstarrende Herz dieser Zeit verlangt nach Wärme und Berührung. Es verlangt die persönliche Auseinandersetzung, gleichgültig, ob diese Auseinandersetzung prophetisch oder aktuell, angedeutet oder offen ist. Gerade ein junges Theater hat die Verpflichtung, dieses Verlangen zu erlauschen und, soweit es in seiner Macht steht, durch das Notwendige die Not wenden zu helfen. Schweigen und horchen sollte man, bevor man spricht, und alle Schmerzen der Zeit erlitten haben, bevor man auswählt.

Das alte Thema des verlorenen Sohnes, gestaltet aus der Mentalität des englischen Mittelalters, tanzt in vielen Bildern bunt, laut und verlockend vorbei. Verlockend, schnell zu lachen und schnell zu weinen und beides sofort zu vergessen. Sicher sind da Stimmen aus der Zeit Shakespeares, die er in seinem Werk beispielgebend wie kein anderer erlauscht und verewigt hat – aber Shakespeare selbst ist das nicht.

Das Spiel ist geschlossen und sehr kindlich, das Groteske wird stark hervorgehoben. Einzelne der Spielenden wachsen durch den Versuch, sich zu vergessen, über die andern hinaus. Die übrigen genießen sich in ihren Rollen und die Gefahr des Dilettierens liegt nahe.

Inszenierung, Bühnenbilder und Kostüme werden aller Märchenhaftigkeit gerecht.

[1946]

Es bleibt ungewiß, ob Sie diese Antwort wünschten. Diese Antwort aus Nebel und Wehen und zitternder Morgenröte, der Sie entflohen sind in ein besseres Licht, diese Antwort von uns, die wir nichts anderes waren als verzweifelte Kinder, als uns damals Ihr erstes Buch in die Hand fiel. Um ehrlich zu sein – wir nahmen es nur deshalb, weil es verboten war, wir nahmen es wie »Die seltsame Gräfin« von Edgar Wallace und »Die Brüder Raskolnikow« von Dostojewskij. Alles aus demselben Grund. Weil es verboten war. Wir wünschten, Sie würden uns diesen Beweggrund unserer Auswahl verzeihen. Aber es blieb uns damals zu Beginn des Krieges, herausgestoßen aus der begrenzten Sicherheit des Bürgerlichen, aus den Schwarzweißillustrationen unserer Jungmädchenbücher, ausgeliefert an die Macht der Gleichschaltung und den brennenden, undefinierbaren Widerstand unserer Herzen, keine andere Wahl und kein Gesichtspunkt, der reifer gewesen wäre. So wurde uns das Verbotene zum Gebotenen: »Bitte – Stefan Zweig!« Wir haben lange um Sie gebettelt damals, in der kleinen alten Leihbibliothek. »Ich hätte ihn längst verbrennen sollen«, murmelte der Bibliothekar. »Aber Sie haben es doch nicht getan?« Und dann trugen wir unseren heimlichen, vorerst nur als Verbotenes geliebten Besitz, vorsorglich in den Schultaschen versteckt, nach Hause! So wurden Sie Brennmaterial für unsere Herzen. Wir legten die abgegriffenen Bücher unter unsere Kopfpölster und schliefen darauf, schliefen in eine schwer erkämpfte Reife hinein. Dann lasen wir »Maria Stuart«. Wir lasen es im Schatten der Gestapo, die schwer und drohend den Kai beherrschte. Wir lasen »Joseph Fouché«. Und wir lasen »Maria Antoinette«! Unsere Beine baumelten über die steinerne Kaimauer in das schmutziggrüne Wasser, unsere Augen bohrten sich in die Zeilen und sahen nur flüchtig auf, um eine schwimmende Orangenschale zu

Wir wollten Ihnen sagen, wie sehr Sie in der Selbstvernichtung Europas geistige Heimat geblieben sind, wie sehr Ihr Verantwortungsgefühl wiederum Verantwortung gezeugt hat, ja, wie sehr Sie gerade damals, als Ihr Heimweh und Ihre Erschöpfung den Höhepunkt erreicht hatten, Kraft und Heimat wurden in unseren Herzen!

Wir wollten Ihnen danken.

Dafür, daß Sie unseren suchenden Sinn geschärft und uns gelehrt haben, mitten im Taumel des Todes noch die Feinheiten und Chancen des Menschlichen zu beobachten, die vom Göttlichen zeugen. Dafür, daß Sie unseren brennenden Augen etwas von dem gütigen Leuchten der Ihren geschenkt haben. Dafür – für alles! Wir wollten einen dicken Brief schreiben, aber Sie haben

[1946]

Gibt’s das auch?

Ein windverwehter, sonniger Frühlingsmorgen, ein Jeep, darauf sitzt Du und schreist »Hallo!«, eben weil es Frühling ist, weil Du an zu Hause denkst und weil der Wind rund um die Votivkirche heute fast genau so singt wie der Wind am Atlantik und weil –

Ja, und dann ein Mädel, irgend so ein kleines Mädel mit langem Haar und langen Beinen. Sie starrt Dich finster an, forschend, ernst – wendet den Kopf ab und geht vorbei! Verblüfft siehst Du ihr nach:

»Hallo! Gibt’s das auch?«

Eine Sekunde lang bist Du traurig, aber es gibt ja so viele, die Dich trösten! Zu viele. Nur die eine nicht. Die eine, die vorbeigegangen ist.

Außer den vielen, vielen, die Dein Jeep umlagern, gibt es immer wieder eine, die vorbeigeht. Sie geht nach Hause, wirft sich auf die Couch und gräbt den Kopf in die Arme. Weint sie? Warum?

Sie ist zornig. Sie findet, Du hättest es nicht notwendig, so leichte Siege zu feiern! Soll ich’s Dir genauer erklären?

Es war einmal. Mitten im Krieg. Damals, als Du in Deinem Jeep auf nebligen Straßen gegen die Front rolltest. Damals wußten die vielen von heute nicht, daß Du ein großer, eleganter junger Mann bist in einer tadellosen Uniform. Sie wußten nur, daß Du der Feind bist, von dem man verächtlich spricht. Damals, als Du in einer viel weniger tadellosen Uniform staubbedeckt und blutend für ihre Freiheit kämpftest, umlagerten sie Dich nicht! Wie sollten sie auch, da Du doch auf der anderen Seite der Front Dich befandest und auch nicht alle sicher wußten, daß Du siegen würdest. Damals waren nur die wenigen bei Dir!

Diese wenigen, die nicht wußten, ob Du ein Lied bist, eine Flamme oder eine Stimme im Dunkel, diese wenigen, die Dich

Heute hören sie es, aber sie glauben es nicht. Sie wissen, daß hinter Deinen lachenden Augen ein großes, helles Tor ist – das Tor in die Demokratie, sie wissen, daß über Deiner hübschen Tanzmusik das große Lied singt, das Lied der Freiheit, und daß zutiefst in Deinem »Hallo!« die tiefe, warme Stimme ist, die Stimme der Menschlichkeit.

Verstehst Du jetzt, daß sie Dir nicht antworten dürfen, diese wenigen? Du könntest sonst glauben, sie wollten statt Erlösung Schokolade von Dir. Du könntest sonst glauben, sie wollten Dir eine unterhaltende Nacht schenken statt des Willens, gemeinsam mit Dir an der neuen Welt mitzubauen.

Sie bitten Dich hier öffentlich, diese wenigen:

Nimm ihre finsteren, abgewandten Gesichter als das, was sie sind – als Bitte um Deine Achtung und um Dein Verständnis für eine tiefere Treue. Nimm Ihren Willen zum gemeinsamen großen Werk! Und verzeih, bitte, den allzu vielen – sie haben schon so lange keine Schokolade gegessen.

[1946]

Ein Druckfehler? Lassen Ihre Augen schon nach? Nein! Sie haben ganz richtig gelesen – obwohl Sie diese Überschrift unverantwortlich finden, obwohl – –Sie finden keine Worte. Ist es nicht gerade die schwerste und unheilbarste Krankheit dieser tastenden, verwundeten, von Wehen geschüttelten Welt? Ist es nicht die Sprengladung, welche die Brücken zwischen den Völkern in die Luft wirft, dieses furchtbare Mißtrauen, ist es nicht die grausame Hand, welche die Güter der Welt ins Meer streut, die den Blick der Menschheit überschattet und lauernd verwirrt? Ist es notwendig, diese Ursache aller Qualen neuerlich zu rufen und aus ihrer Höhle zu locken? Haben wir nicht lange genug aneinander vorbeigeschaut, haben geflüstert anstatt zu sprechen, sind geschlichen anstatt zu gehen? Sind wir nicht lange genug, von Furcht gelähmt, einander ausgewichen? Und wo sind wir heute? Bespötteln wir nicht jede Instanz über uns, jede Behörde, jede Maßnahme, die wir nicht ergriffen, jedes Wort, das wir nicht gesagt haben? Wir sind erfüllt von Mißtrauen gegen Gott, gegen den Schleichhändler, bei dem wir kaufen, gegen die Zukunft, gegen die Atomforschung und gegen das wachsende Gras. Und nun? Nein, es ist kein Irrtum, hier steht es klar und deutlich: Aufruf zum Mißtrauen! Aufruf zur Vergiftung also? Aufruf zum Untergang?

Beruhigen Sie sich, armer, bleicher Bürger des XX. Jahrhunderts! Weinen Sie nicht! Sie sollen ja nur geimpft werden. Sie sollen ein Serum bekommen, damit Sie das nächste Mal um so widerstandsfähiger sind! Sie sollen im kleinsten Maß die Krankheit an sich erfahren, damit sie sich im größten nicht wiederhole. Verstehen Sie richtig. An sich sollen Sie die Krankheit erfahren! Sie sollen nicht Ihrem Bruder mißtrauen, nicht Amerika, nicht Rußland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie mißtrauen! Ja? Haben Sie richtig verstanden? Uns selbst müssen wir mißtrauen. Der

Sagten Sie nicht, Sie hätten lieber im vorigen Jahrhundert gelebt? Es war ein sehr elegantes und vernünftiges Jahrhundert. Jeder, der einen vollen Magen und ein weißes Hemd hatte, traute sich selbst. Man pries seine Vernunft, seine Güte, seine Menschlichkeit. Und man bot tausend Sicherungen auf, um sich gegen die Schmutzigen, Zerrissenen und Verhungerten zu schützen. Aber keiner sicherte sich gegen sich selbst. So wuchs die Bestie unbewacht und unbeobachtet durch die Generationen. Wir haben sie erfahren! Wir haben sie erlitten, um uns, an uns und vielleicht auch in uns! Und sind doch schon wieder bereit, selbstsicher und überlegen zu werden, zu liebäugeln mit unseren Tugenden! Kaum haben wir gelernt, den Blick zu heben, haben wir auch schon wieder gelernt, zu verachten und zu verneinen. Kaum haben wir stammelnd versucht, wieder »ich« zu sagen, haben wir auch schon wieder versucht, es zu betonen. Kaum haben wir gewagt, wieder »du« zu sagen, haben wir es schon mißbraucht! Und wir beruhigen uns wieder. Aber wir sollen uns nicht beruhigen!

Trauen wir dem Gott in allen, die uns begegnen, und mißtrauen wir der Schlange in unserem Herzen! Werden wir mißtrauisch gegen uns selbst, um vertrauenswürdiger zu sein!

[1946]

Wenn man Kindern das Märchen einer Insel erzählt, so sagt man: »Sie hebt sich aus dem Meer«. Damit ist alles gesagt. Denn wenn es viele Möglichkeiten der Entstehung einer Insel gibt, so gibt es doch nur eine Ursache aller dieser Möglichkeiten. Wie immer kommt das Märchen dieser Ursache am nächsten. Sie hebt sich aus dem Meer. Das ist der Versuch der Formgebung, der Wille des Unbegrenzten sich zu begrenzen.

Viel mehr, als der abgegriffene Begriff »Nation« es deutlich macht, ist ja England eine Form des Lebens. Und vielleicht ist die Loslösung vom Kontinent nichts anderes, als ein Sichheben aus dem Meer, aus diesem Meer von Veränderlichkeit, aus dem scheinbaren Widerspruch fließender Übergänge, aus der Verwirrung verschiebbarer Grenzen. Die Klippen von Dover sind deutlich genug, viel deutlicher als der Strand von Calais, der dem Kontinent angehört, einem Kontinent, der zeitweise vergißt, daß auch er eine Insel ist. Das ist die Gefahr des Kontinents. Die Gefahr der Insel ist es, sich selbst zu genügen, die Gefahr der Form, sich als Sicherung anzusehen. Diese Gefahr wird abgewendet durch die Gefährdung. Der Form wird eine neue Chance gegeben.

Mehr als hier allgemein bekannt ist, ist England der Gefährdung während des Krieges begegnet und ist ihr in der Form begegnet, die von Anfang an gemeint war: Jenseits der Sicherungen. Viele wissen hier nicht, daß in London während der deutschen Luftangriffe Autobusse und Untergrundbahnen weitergefahren sind. Das ist deutlicher als vieles andere.

Vieles andere ist auf den ersten Blick undeutlich, auf diesen ersten Blick, der offen ist, aber befangen und erstaunt, weil es jenseits der österreichischen Grenze auch regnet und auch finster wird, wenn der Abend kommt, weil Paris auch große, graue und trostlose Bahnhöfe hat und weil die Bauern auf den französischen

Das Meer wird wie die Liebe von jedem Menschen neu entdeckt, auch wenn es nur der Kanal unter einem finsteren Himmel ist. Die Möwen schreien und landen, als wären sie aus Zelluloid und von Kindern ins Wasser geworfen, und das Schiff ist weiß und trägt Wimpeln, als wäre das Meer ein kleiner See und diese Zeit der Friede.

Die Straßen zwischen Dover und London haben grelle, fremde Lichter, und der Zug heißt Goldener Pfeil. Von der Küste an hat man die Empfindung, in London einzufahren, und auch mitten in London vergißt man die Küste nicht. Sie bleibt gegenwärtig und diese Gegenwart ist wesentlich. Denn so wie angesichts des Todes die Dinge eine neue Perspektive bekommen, viel wichtiger und zugleich viel unwichtiger werden, so werden sie es auch angesichts der Küste. Es erklärt sich das Weiterfahren der Autobusse unter den Bomben, das Wahren der Form.

Es wird nicht alles auf einen Punkt in der Zukunft bezogen. Es ist nicht so wichtig, zurechtzukommen. Es ist wichtiger, in der Schlange stehenzubleiben. Und gerade deshalb kommt man zurecht. Der Punkt, auf den es ankommt, ist immer der Augenblick. Und innerhalb des Raumes gibt die Insel den Standpunkt. Das beruhigt, auch innerhalb von Krisen, und wenn man es falsch macht, macht man es richtig falsch. Wieder liegt die Gefahr nur in einem Erstarren der Form, in einem an sich, in einer zu großen Beruhigung. Aber dazu ist jetzt gerade kein Anlaß.

London ist nicht nur zur Zeit der Olympiade von Fremden überschwemmt. Es waren grausamere Spiele, die sie vor zehn und mehr Jahren hierhergetrieben haben. Diese Fremden sind der Kontinent, der herüberreicht, das Verfließen der Grenzen auch hier.

Man beginnt zu entdecken. Alles ist alt und ruhig, aber die Entdeckung macht es neu und unruhig. Diese Mischung ist die beste. Muß nicht alles immer wieder neu entdeckt werden, um zu bleiben?

Dazu sind die Fremden gut. Sie stehen am Tor von Buckingham-Palace und bemerken, daß die abgelöste Wache nach einer Melodie von Mozart abzieht, zu der man im Grund nicht marschieren kann. Fast tänzelt die königliche Wache. Alle Wachen der Welt sollten davon lernen. Es ist möglich zu spielen innerhalb von Staatsaktionen. Und es ist die beste Möglichkeit!

Auf einer weiten, leicht hügeligen Wiese nahe der Themse sind im sinkenden Abend fünf große, starke, zum Teil mit schweren Schlägern beladene Männer hinter einem winzigen, weißen Ball her. Sie stehen nachdenklich, beraten ernsthaft, ziehen die Stirnen in Falten, solange, bis einer von ihnen weit ausholt und den Ball ein kleines Stück weiterschlägt. Sie schließen die Augen halb, sehen sich erstaunt an und beginnen plötzlich zu laufen. Wieder bleiben sie stehen und wieder geschieht dasselbe. Von dem Ball ist längst nichts mehr zu sehen. Auch die fünf Männer mit dem großen Gepäck werden kleiner und kleiner und verschwinden schließlich auf der Jagd nach dem kleinen, weißen Ball im Dunst, der aus dem Fluß steigt, bis sie von einer Gruppe schwankender Bäume in der Ferne nicht mehr zu unterscheiden sind.

Wenn auch da und dort verborgen unter Geschäftigkeit, überwiegt das Spielerische. Fast das ganze Land wettet jede Woche auf

Aber die Straßenphotographen haben scharfe Augen. Sie erkennen den Fremden. An allen Ecken lauern sie mit ihren Apparaten und versuchen festzuhalten, was nicht festzuhalten ist. Überall werden Ansichtskarten verkauft. Aber das ist es nicht. Auch so hält man’s nicht fest. Was im Album klebt, verstaubt. Man soll sich nicht führen lassen. Immerhin ist es schwierig, den Tower neu zu entdecken. Aber dann entdeckt man ihn doch und dann ist er da: Rot und mitten im Nordwind unter einem eisgrünen Himmel und ganz anders, als man’s in der Schule gelernt hat! Die Brücke ist nicht offen, aber offen war sie ja auf allen Ansichtskarten, und so ist es schön, sie geschlossen zu sehen und nur ein leises Beben unter den Sohlen zu spüren, das beweist, wie sie sich öffnen könnte. Und es ist gut, in einer kleinen Snackbar zwischen Dockarbeitern und chinesischen und malaischen Matrosen Tee zu trinken, denn die großen Restaurants mit Musik sind in allen Ländern die gleichen. Und vielleicht ist es auch gut, am Ostermontag nicht in den Hydepark zu gehen und auch nicht nach Kensington Gardens, wo die gelben Narzissen blühen, sondern lieber auf einem der vielen großen Autobusse ins Eastend zu fahren, das man noch nie in der Wochenschau gesehen hat! Und vor den Kohlenbergen zu erschrecken, die so hoch sind, daß man ihnen Namen geben müßte, wenn nicht das Unbekannte das Stärkere wäre. Und plötzlich auf einem ganz stillen Friedhof zu stehen, über den die Krane ragen, als wollten sie die Gräber verladen, und die Masten der Schiffe, als

Sie blühen wild in diesem Land. Und sie sind gleichmäßig darüber ausgestreut wie das Geheimnis gleichmäßig darüber verteilt ist, viel gleichmäßiger als anderswo, aber darum nicht weniger dicht. Wie mit allen Dingen, wird auch damit in England viel weniger Schwarzhandel getrieben, als auf dem Kontinent. Aber es trägt – dieses Geheimnis, wie einen Rolltreppen, Lifts und Untergrundbahnen tragen, und wenn man einen Polizisten fragt: »Wie soll ich gehen?«, so sagt er: »Take a bus!«, das heißt: »Laß dich tragen!« Und das heißt zugleich: »Trag auch mit!« Denn man spricht hier nicht alles zu Ende. Und man spricht viel lieber vom Wetter, als von allen anderen Dingen.

Es wäre ein Unglück, wenn es das Wetter nicht gäbe, aber das Wetter ist einsichtig genug, strahlt und wirft sich gleich darauf mit Wind und Regen über das Land, wechselt fast alle halben Stunden und gibt sich gelassen zum Gesprächsstoff her.

Alle sagen: »Warte, bis der Nebel kommt!« – aber der Nebel kommt nicht, es sind schon zu viele Gedichte darüber geschrieben worden, und erst, als man gar nicht mehr darauf wartet, ist er plötzlich da, gelb und dicht, und nimmt einem bei geschlossenen Fenstern den Atem und läßt keinen mehr auf die andere Seite finden. Er beweist, daß nichts so nahe ist, wie es aussieht. Und was die Bomben nicht fertiggebracht haben, bringt der Nebel fertig: er hält die Autobusse auf.

Das Meer bringt den Frühling, wie es alles bringt. Es ist ein anderer Frühling, herb und weniger sentimental als der unsere. Und mitten darin ist der Teich in Kensington Gardens plötzlich wieder zugefroren und die Schwäne liegen ruhig auf dem Eis, wie das Schloß in der Mitte des Gartens liegt. Nach dem Brot, das man

Die Teiche, die dunstigen Wiesen und die Kränze von Baumkronen scheinen plötzlich wie auf altes, kostbares Porzellan gemalt, und man geht schnell nach Hause, um sich zu versichern, daß man nicht selbst eine Figur auf einer großen Teekanne ist.

Man geht nach Hause, durch Gassen, in denen ein Haus wie das andere ist, mit denselben Märzenbechern in jedem Fenster, so daß man schwindlig wird und an dem Geheimnis zu zweifeln beginnt, bis man bemerkt, daß die Hausnummern nicht stimmen und daß hinter Nr. 3 ruhig und freundlich Nr. 65 kommt. Kein Mensch weiß, weshalb. Das ist sehr versöhnlich.

Ähnlich ist es mit den Stadtteilen, die einander gleichen wie ein Tag dem andern und im Räumlichen den Rhythmus der Zeit wiedergeben. Raum und Zeit überkreuzen sich dem Fremden und was bleibt, ist die Form.

Das Wort: »Time is money!« ist hier lange nicht so zutreffend, wie man auf dem Kontinent annimmt.

Aber vielleicht ist es auch einfacher, mit dem Empire und einer großen Tradition im Rücken, Raum und Zeit als Gegebenheiten zu betrachten, als eine von den vielen Gegebenheiten, in welchen man sich bewegt. Und vielleicht muß das Selbstverständliche erst wieder unverständlich werden, um selbstverständlich zu bleiben.