Anastasia Umrik
Du bist in einer Krise. Herzlichen Glückwunsch
Jetzt wird alles gut!
FISCHER E-Books
Anastasia Umrik (geb. 1987) ist »Expertin für Neuanfänge« (taz): mit sieben Jahren kommt sie mit ihren Eltern aus Kasachstan nach Deutschland, dort erhält sie die niederschmetternde Diagnose: Muskelatrophie. Sie wird auf eine Sonderschule geschickt, kämpft sich bis an die Uni, gründet das inklusive Designlabel »inkluWAS« und das Fotoprojekt »anderStark - Stärke braucht keine Muskeln«. Mit 29 Jahren hat sie eine Nahtoderfahrung. Daraufhin hinterfragt sie ihr bis dato gelebtes Leben und räumt mit den »Altlasten« auf. Ihre Erfahrungen in Sachen Krisen und Neubeginn gibt sie als Coach, Rednerin (u.a. TEDx) und Autorin weiter.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Es muss nicht immer der »freie Fall« sein, es müssen nicht immer alle Gebäude einstürzen, um sich einzugestehen: »Irgendwie habe ich mich verrannt. Ich glaube, so wie bisher möchte ich gar nicht weitermachen!« Doch wo anfangen? Mit dem Job, der Wohnung, der Beziehung oder doch lieber erstmal nur Yoga und Meditation? Vielleicht wird es dann von allein alles besser - so etwas wie Magie soll es ja geben. Und überhaupt, dem einen Kollegen geht es auch nicht gut und er stellt sich ja auch nicht so an! Chaka - weitermachen! Einmal Badewanne, einmal in die Natur, einmal ausschlafen. Bitte, dann muss das jetzt aber auch laufen. Doch es will einfach nicht besser werden. Im Gegenteil. Und so geht die Spirale abwärts. Langsam. So langsam, dass man genug Zeit hat sich daran zu gewöhnen. Irgendwann glaubt man selbst, dass es normal ist träge, unsicher, »im Nebel« zu sein. Wir glauben irgendwann selbst, dass es völlig okay ist, einen nicht präsenten, mürrischen Partner*in neben uns zu haben, einen Job, bei dem wir uns überwiegend fragen: »Fuck, was mache ich hier eigentlich?!«, oder wir gar nicht bemerken, wie wir uns täglich selbst einreden nicht »gut genug« zu sein. Weil es fast allen Menschen in unserer Umgebung so geht, verfestigt sich der Gedanke, dass es scheinbar zum Leben eines Erwachsenen gehört! Ich sage: Nein. Nochmal: NEIN! Das muss so alles nicht sein. Bitte glaube mir, ich hasse dieses übliche Coachinggelaber, diese Motivationssprüche, Pippo. Das alles hat sich nicht bewährt - sonst wären wir doch nicht hier, wo wir nun mal sind. Worum geht es also dann? Erstmal ein und ausatmen. Du lebst. Ich lebe. Und das, obwohl der Kosmos und jede Zelle gerade bebt. Der Wandel kommt - das ist der Grund für all das Fühlen, für all die Angst, nicht mehr und nicht weniger. Es geht um das Ankommen im Jetzt und den Mut für den Neubeginn. Geht’s los? Ich mein’ - worauf warten? Der Wandel kommt so oder so.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -foto: ZERO Werbeagentur, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491491-6
Dieses Buch ersetzt natürlich keine professionelle therapeutische und/oder ärztliche Hilfe. Ab Seite 235 findest du Adressen, an die du dich wenden kannst, wenn du dich in einer schweren akuten Krise befindest.
Nun, da meine Scheune heruntergebrannt ist, kann ich den Mond sehen.
(aus Tibet)
Wenn du dieses Buch in Händen hältst, dann spürst du höchstwahrscheinlich, dass du etwas in deinem Leben verändern musst. Es fühlt sich an, als würdest du aus deiner eigenen Haut hinauswachsen, und ein Teil von dir will das unbedingt, ein anderer Teil, ein viel stärkerer, will das um jeden Preis verhindert wissen, denn er hat keine große Lust auf Veränderung. Gerade lief doch endlich alles so gut, so entspannt. Das kann ich so gut nachempfinden!
Aber du ahnst, dass es keinen Weg zurück gibt, auch wenn eine ganz leise Stimme in dir noch immer die Hoffnung hat: Vielleicht geht das alles doch noch glimpflich an mir vorbei.
Denn bislang streifte die kleine Krise dich nur sanft mit den Fingerspitzen, ließ dich aber ansonsten weitestgehend in Ruhe.
»Bitte lass es dabei bleiben!«, flehst du alles an, was sich anflehen lässt, und erhältst lediglich ein müdes Lächeln als Antwort. Vielleicht musst du nur genügend schlafen, gesund essen, Sport treiben, dich einmal so richtig erholen. Na gut, denkst du, ich werde ein, zwei Monate lang jeden Tag meditieren, aber dann soll es auch gut gewesen sein! Dann muss »es« wieder laufen.
Mit »es« meine ich das Leben. Das Leben, so wie das Leben zu sein hat. Ein unkompliziertes Leben ohne große Hindernisse. Natürlich nimmst du dein Inneres wahr – dein Bauch, dein Herz und dein Hirn sind im Einklang –, und weil das so ist und du keine Widersprüche vernommen hast, musstest du auch nichts verändern. Bis jetzt.
Noch eben, so scheint es, war alles gut, und heute – so plötzlich, so aus dem Nichts heraus – steht dein Leben unter dem unbekannten Stern des Chaos. Gestern hast du deinen Kopf in den Nacken gelegt und mit einem schallenden Lachen den großen Raum gefüllt, andere Menschen in deinen Bann gerissen, sie dazu animiert, mitzulachen. Gestern noch dachtest du, was für ein Vollidiot dein Arbeitskollege ist, der schon mit der Salatbar in der Firmenkantine überfordert ist und sich nicht entscheiden kann, worauf er Appetit hat.
»Wie kann man bloß beim Anblick von Tomaten so ein Heckmeck veranstalten?!«, hast du dich kopfschüttelnd gefragt. Du hast über all diejenigen geschmunzelt, die morgens Probleme haben aufzustehen, die sich nicht entscheiden können. Die herumeiern und aus jeder Mücke einen Elefanten machen. In allem ein Problem sehen, immer am Zweifeln und überhaupt dem Drama vollkommen verfallen sind.
Du bist anders. Eigentlich. Bis heute gewesen. Denn jetzt stehst du selbst mit leerem Blick im Raum und weißt weder, was du willst, noch, wer du bist.
Natürlich lief auch bei dir nicht immer alles vollkommen nach Plan, doch damit konntest du umgehen. Hier und da eine mehr oder minder schmerzvolle Trennung, der Umzug in die neue Stadt, die beste Freundin, die sich stark verändert hat. Ja, all das kommt dir bekannt vor. Du kennst die tiefe Traurigkeit in dir und den starken Abschiedsschmerz, wenn Menschen oder Dinge dich ohne Vorwarnung verlassen haben. Und bisher warst du auch stark genug, um das alles ohne sichtbare Spuren hinter dich zu bringen. Bisher ging alles gut.
Doch das, was du jetzt fühlst, das hattest du noch nicht in dieser Intensität. Du spürst es körperlich, die Schwere liegt mit einem unsichtbaren Gewicht auf deinen Schultern und wirft Schatten unter deine Augen. Du bist müde. So unendlich erschöpft!
Auf nur wenige Fragen hast du aktuell eine Antwort, doch eins siehst du jetzt glasklar: Eine riesige Welle rast auf dich zu, und du weißt nicht, wie du – wenn sie dich erreicht – wieder an die Wasseroberfläche kommen sollst. Das hast du nicht gelernt. Und das macht dir riesige Angst.
Plötzlich fühlst du dich wie dein Kollege an der Salatbar und hast eine Menge Mitgefühl mit ihm und allen anderen, die du so oft für ihre Dramen belächelt hast. Du verstehst auf einmal so vieles, und gleichzeitig verstehst du – nichts.
Bislang war es dir fremd, keine adäquaten Entscheidungen treffen zu können, hin- und hergerissen zu sein und dich über Nichtigkeiten aufzuregen. Du bist der Typ Mensch, der schnell, geradlinig, unauffällig und verbindlich ist. Auf den alle sich verlassen können. Auch du selbst. Du fragst dich, wie das alles so schnell kippen konnte und warum du nun um Fassung ringen musst. An welchem Punkt in deinem Leben du vergessen hast, dem Drama eine klare Absage zu erteilen. Warum bloß passiert dir der ganze Mist gerade?!
Wahrscheinlich möchtest du von mir Antworten und Theorien hören, wie du dahin gelangen konntest. Du möchtest, dass ich dir sage, dass es ein leichtes Spiel ist, dein Leben wieder in Ordnung zu bringen, und dass es für jedes deiner verwirrenden Gefühle eine sinnvolle Erklärung gibt. Die Wahrheit ist jedoch: Ich weiß es nicht.
Und, ob du es glaubst oder nicht, so wie dir (und deinem Arbeitskollegen an der Salatbar) geht es sehr, sehr vielen Menschen. Sie sind unterschiedlich alt, haben verschiedene Jobs, sind arm oder reich, dick oder dünn, weiß oder schwarz, sie lassen sich nicht in eine Schublade stecken. Es gibt so viele Menschen, denen es in genau diesem Moment nicht gut geht, die in eine Krise geraten sind und die sich nichts sehnlicher wünschen, als endlich wieder aufatmen zu können. Sie fühlen es nicht immer. Sie wollen es sich nicht immer eingestehen. Sie glauben, dass der Zustand normal ist. Dass ein produktives, ereignisreiches Leben nun mal erschöpft und dazu führt, dass sich Leere im Brustkorb ausbreitet. Sie denken, das muss so sein, wenn man erwachsen ist und Lebenserfahrung sammelt.
Wir sprechen nicht darüber. Weil es uns peinlich ist. Weil wir nicht gelernt haben, adäquat mit Krisen umzugehen, und weil wir Krisen als etwas erfahren, das nur andere betrifft und das es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Eine Krise ist eine Katastrophe. Und wie man mit Katastrophen umgeht? Das weiß keiner so richtig. Also warten wir erst mal ab. Vielleicht ist es nur der Herbstblues, die Winterdepression, die Frühjahrsmüdigkeit – oder womöglich doch ein Burnout?
Aber ich kann dich etwas beruhigen: So schlimm, wie sich deine Situation gerade für dich anfühlt, ist sie gar nicht. Eine Krise muss keine Katastrophe werden. [1]
Lass uns zunächst das Drama aus dem Wort »Krise« nehmen.
Denn eine Krise kann eine Entscheidung für den Frieden in dir sein.
Das weißt du heute noch nicht, aber schon bald.
Aus diesem Grund möchte ich dir sagen: Herzlichen Glückwunsch, du bist in einer Krise. Mittendrin!
Ab jetzt wird alles gut.
Ich vermute fast, dass es uns wegen dem, was wir denken, oft schlechter geht, als wegen dem, was tatsächlich ist.
(unbekannt)
Wir können so viel: Berge besteigen, Gedichte analysieren, Kurven berechnen, Torten backen. Wir können Ironie zwischen den Zeilen lesen, Erregung im Beben der Stimmbänder heraushören und Zustimmung an den Gesten unseres Gegenübers erkennen. Was nur wenige von uns können: auf sich selbst achtgeben und Grenzen ziehen, so dass es uns möglichst lange gut geht und wir rechtzeitig die notwendigen Entscheidungen treffen können, damit uns der Sog in die Dunkelheit – die sogenannte Krise – nicht mitreißt. Und was die wenigsten wissen: Was tun, wenn uns plötzlich alles überfordert und sich die Gedanken und Gefühle in der Brust zu einem unentwirrbaren Wollknäuel ineinander verheddern?
Wie man damit umzugehen hat, ob man dem überhaupt Beachtung schenken sollte, hat uns keiner gesagt. »Weitermachen, weitermachen!«, ruft jemand, und wir hinterfragen es nicht, machen weiter, ohne Halt, ohne Pause. Weil alle es halt so machen. Weil Schwäche zeigen nicht angesagt ist, weil wir ad hoc keine Lösungen kennen und weil das Schweben im Nichtwissen uns unerträglich erscheint. Da bleiben wir lieber im Sumpf der Traurigkeit, der Krise. Und ein Blick in die Gesichter in unserem Umfeld bestätigt uns: Ja, das ist scheinbar normal, wenn man erwachsen ist und Job, Kinder, Verantwortung hat.
Was wir interessanterweise jedoch wissen, ist, was wir tun und lassen müssen, um klein zu werden oder es zu bleiben. Wenn ich mich mit Menschen zu diesem Thema unterhalte, scheint es mir so, als gäbe es einen geheimen Code, der besagt: »Du darfst nicht größer, erfolgreicher, glücklicher werden als dein Umfeld. Bleib dort, wo du hineingeboren wurdest, füge dich dem, was für dich vorgesehen war – von wem auch immer, warum auch immer!«
Die meisten Menschen halten sich daran. Sie schweigen, sie arbeiten still vor sich hin, sie ertragen toxische Beziehungen, sie beschweren sich häufig, lächeln selten. Doch sie handeln einfach nicht. Sie sagen das eine und machen das Gegenteil davon. Sie sagen, dass sie Sehnsucht nach einer erfüllten Beziehung haben, aber bleiben in einer Verbindung, in der sie sich einsam fühlen. Sie sagen, dass sie unbedingt ihre Arbeitsstelle wechseln wollen, haben aber an jedem Jobangebot etwas auszusetzen.
Kein Wunder, dass am Ende so viel Verwirrung in ihnen steckt und sie selbst nicht mehr wissen, wer sie sind, was sie wollen, in welcher Phase des Lebens sie sich befinden und wovon sie eigentlich – damals, als Kind, als Jugendliche – träumten.
Das stumme Ertragen kann lange funktionieren. Je nachdem, welcher Charaktertyp du bist, welche Themen dich beschäftigen, wie leidensfähig du bist und/oder wie gut du dich abgelenkt bekommst. Doch irgendwann, das ist unvermeidbar, spricht die Seele Klartext, so dass du nicht mehr so tun kannst, als sei alles in Ordnung. Sie kommuniziert über Überforderung, über Schmerzen, über Konflikte, über die unendliche Traurigkeit in uns. Irgendwann zwingt sie uns dazu, nicht mehr wegzuschauen und deutlich ihre Botschaft zu hören: »Ich kann nicht mehr!«
Bestimmt kennst du das Gefühl, das dann kommt. Es breitet sich von der Bauchmitte aus. Wie ein etwas unverschämter Besucher macht es sich gemütlich und nimmt immer mehr Raum ein. Wir sind dauermüde und schlafen schlecht. Wir kämpfen mit uns selbst. Wir schieben es auf das Wetter, die Hormone, das fettige Essen am Abend, zu wenig Sport, zu viel Arbeit.
Es ist nicht außergewöhnlich, dass in dieser Zeit des Wandels besonders bescheuerte Dinge passieren, die wir elegant als »Fauxpas« abtun. Der kleine Zeh wird besonders oft angestoßen (oder schlimmere Unfälle), die vereinbarten Termine werden vergessen, die Autotür beim Aussteigen eingedellt. Der innere Kampf trägt sich immer mehr nach außen.
Doch wir erkennen diese Zeichen nicht. Stattdessen kämpfen wir weiter dagegen an. Das geht unterschiedlich lange gut, die Energie sinkt weiter, obwohl wir all das tun, was uns diverse Lebensratgeber, Ärzte und das gesamte Internet raten: genug trinken, genug schlafen, grüne Smoothies, Yoga, Sauna, schwimmen, joggen, wenig Medien, Pause, spazieren gehen, beten, Me-Time, masturbieren, meditieren …
Halleluja, was haben wir nicht alles schon probiert, damit es besser wird! Aber nichts hilft. Und die Gedanken kreisen. Immer weiter. Sie kreisen um eine Situation, für die es noch keine Lösung gibt, die aber immer unerträglicher wird.
Jede vielversprechende Methode braucht Zeit, versuchen wir uns zu beruhigen. Natürlich fallen die meisten durch. Warum? Weil dein Herz sich nicht von der Wahrheit abbringen lässt, der Bauch ebenfalls nicht. Das Einzige, das sich kurzzeitig ablenken lässt, ist der Kopf, denn der ist limitiert und konditioniert.
Und so stürzen wir uns weiter in Ablenkung, arbeiten bis in die Puppen, buchen eine Fernreise, räumen die Bude um, machen einen Tanzkurs, schmeißen weg, kaufen ein, essen über den Appetit, treiben exzessiv Sport, streiten und versöhnen uns in einer Geschwindigkeit, die kein Innehalten zulässt. Es scheint, als wäre es egal, WAS uns ablenkt, Hauptsache, es muss nicht das gefühlt werden, was schon längst im gesamten Organismus angekommen ist. Die Gedanken kreisen, weil der Abschied begonnen hat. Der Abschied von dem Leben, das nicht mehr zu dir passt. Das anzuerkennen tut vielleicht kurz weh, bringt aber auch eine große Erleichterung.
Wie wäre es, wenn wir uns erlauben würden, eine Krise als eine Art Erkältung der Seele zu betrachten? Und ihr ein paar Tage, Wochen, von mir aus sogar Monate Zeit geben, damit sie wieder Kraft schöpfen kann?
Dieses Buch wurde von einer echten Expertin für Krisen, für die »Übergänge« und Neubeginne, geschrieben. Ich kenne mich mit dem Wandel, oder eher der Verwandlung, sehr gut aus. Das Leben hat es mich höchstpersönlich gelehrt, so dass ich inzwischen mit einem selbstbewussten Lächeln sagen kann, dass ich mein Sein mit all den dazugehörigen Tiefs immer mehr spielerisch betrachte: Ich bin neugierig auf mich, wie ich auf Situationen, Menschen und Herausforderungen reagiere.
Mir machen wenige Dinge Angst – abgesehen vom Tod eines meiner Familienmitglieder –, und dennoch möchte ich an dieser Stelle ehrlich zugeben, dass diese Phasen des Umbruchs auch einfach scheiße anstrengend sind!
Obwohl ich die unterschiedlichen Stufen, die Wiederholungen, meine Muster und die Tipps und Tricks kenne, bin auch ich in Krisenzeiten immer sehr erschöpft, traurig, wütend, obwohl ich weiß: Wenn das erst mal durchgestanden ist, dann kommen das Licht und die Freude mit einer noch größeren Kraft als jemals zuvor zurück. Trotzdem, alter Schwede, muss das denn wirklich sein?!
Mir ist es wichtig, zu erwähnen, dass meine Sichtweise nicht deine werden muss und dass das, was ich für richtig erachte, mitnichten die ultimative Wahrheit ist. Alles, was ich hier mit dir teile, ist lediglich meine persönliche Meinung. Es sind die Ergebnisse meiner jahrelangen Beobachtungen an mir selbst und an Menschen, die sich von mir in der Zeit des Umbruchs begleiten lassen. Meine Worte werden mit Sicherheit in keiner wissenschaftlichen Studie festgehalten, sie dienen lediglich der Inspiration, wie man durch eine Krise gelangen kann. Alles, was ich dir an Hilfestellung gebe, habe ich selbst als erfolgreiche Methode an mir erprobt, und dennoch gibt es noch immer Situationen, in denen auch ich nicht weiß, was richtig ist.
Was ich inzwischen ziemlich sicher weiß: Das geht den meisten so. Wir hängen verschiedenen Theorien an, glauben an unterschiedliche Götter, folgen diversen Gurus, verbinden uns mit dem »höheren Ich«, gehen in die Untiefen des Seins und wissen am Ende trotzdem nicht so recht, wie es funktioniert.
Viele Menschen schämen sich dafür, nicht zu wissen, wie Leben »geht«, und verhalten sich so, wie sie meinen, dass es für Erwachsene richtig ist. Vielleicht wolltest du, so wie ich auch, schon immer irgendwie in der Masse auffallen, aber nur ein bisschen. So viel, dass man dich cool findet, aber nicht für dein Tun oder Sein kritisiert. Du wolltest nie die Person sein, über die man sagt: »Wow, die ist echt ein Freak!« Deshalb hast du dich für den möglichst unkomplizierten Weg entschieden, hast dich angepasst und das getan, was man von dir erwartet. Dich so verhalten, wie deine Eltern und deine Lehrer es dir beigebracht haben, wie es sich dein Freundeskreis wünscht, wie es die Nachbarn oder »die Leute« erwarten. Schule – möglichst gut und unauffällig. Studium oder Ausbildung – vielseitig, zielgerichtet und erfolgreich. Im Job – kreativ, belastbar und teamfähig. Und jetzt? Tja, da sitzt du nun und weißt gar nicht, wie du an diesen Punkt in deinem Leben, in dieser Krise landen konntest. Das war nicht so geplant, und du hast auch keinen Plan dafür.
Lass mich dir ein paar persönliche Geschichten erzählen, von Abschieden und Neubeginnen, von Situationen, in denen ich dachte: »Fuck, hier kommst du niemals raus!« Es gab Krisen in meiner Jugend, in denen ich sogar an Selbstmord gedacht habe, weil ich nicht mehr konnte, weil ich keinen Sinn in meiner Existenz gesehen habe. Es gab Zeiten, in denen ich kein Auge zubekam, weil meine Unruhe, meine Angst, meine Panik nicht abfließen konnten, weil ich aufgrund meiner Muskelerkrankung nichts an meinem Körper bewegen kann außer den Fingern und meinen Gesichtsmuskeln. Also kniff ich die Augen so doll zu und riss sie wieder weit auf, bis ich müde wurde und meine inneren Kämpfe im Schlaf fortführen konnte.
Die erste Krise in meinem Leben, an die ich mich bewusst erinnern kann, war, als ich mit sieben Jahren nach Deutschland kam. In der Hoffnung, dass die deutschen Ärzte aus mir ein möglichst »normales« Kind machen können, kam ich in ein Krankenhaus. Ich verstand kein Wort Deutsch, wurde an der Wirbelsäule operiert, hatte wochenlang höllische Schmerzen und brüllte das ganze Krankenhaus auf Russisch zusammen: »Mama, warum hast du mich nicht vorher umgebracht?!«
Es war eine besonders schlimme Krise, nicht nur weil es die erste war, sondern weil sie mir so klar offenbarte, wie wenig ich in der Hand hatte und wie wenig es genügte, nur da zu sein. Egal, was ich tun würde, niemals würde mein Vater sagen: »Du bist ein gutes Kind, du bist gesund, auch wenn du nicht laufen kannst, du bist richtig und wichtig, mein Mädchen!«
Viele Jahre gab ich ihm die Schuld, dass ich mich selbst nicht annehmen konnte, wie ich bin. Meine inneren Vorwürfe hielten so lange an, bis ich begriff: Ich war die Krise meiner Eltern. Wir alle haben uns ein anderes Leben vorgestellt. Sie wollten ein normales, gesundes, fröhliches Kind, und ich wollte Eltern, die mich akzeptieren und unabhängig von allem stolz auf mich sind.
Die Krise meiner Eltern konnte ich nicht auflösen, das war ihr Ding. Aber es gab einen Weg, mich von ihren Ansprüchen zu befreien, die Macht über mein Leben und die Selbstbestimmung zurückzugewinnen.
Als wir auf die Welt kamen, ahnten wir noch nicht, dass wir vielleicht gar nicht unseretwegen hier willkommen sind, sondern weil wir in erster Linie lernen sollen, eine Rolle zu spielen, die entweder in das Theaterstück unserer Eltern oder in das der Gesellschaft passt. Dazu fällt mir eine kleine Anekdote ein: Bei einem Spaziergang trifft ein junges, attraktives Ehepaar eine langjährige Bekannte der Familie. Sie freuen sich über die Begegnung und halten höflich Smalltalk über dies und das. Plötzlich fällt der Blick der Bekannten auf die beiden Kinder des Paares. Sie lächelt sie an und staunt: »Wie groß ihr geworden seid! Ich kannte euch schon, da wart ihr beide noch ganz klein! Wie alt seid ihr inzwischen?« Noch bevor die Kinder reagieren können, antwortet die Mutter stolz: »Der Anwalt ist fünf und die Ärztin sieben.«
Die Visionen zur Zukunft der Kinder können schon sehr früh beginnen. Eltern stellen sich schon während der Schwangerschaft vor, wie schön, schlau und erfolgreich ihr kleines Wesen später sein wird. (Es wird natürlich kein hässliches oder gar dummes Kind sein!) Sie haben ein bestimmtes Bild von ihrem Nachwuchs und tun alles dafür, um dieses in die Realität umzusetzen. Entsprechend werden die Schulen ausgesucht, bestimmte Fähigkeiten und Hobbys gefördert, und ja, sogar die Freundeskreise des Kindes werden danach ausgerichtet. Noch ahnt das kleine Wesen nicht, dass es vor allem dafür geboren wurde, die Eltern glücklicher zu machen, aber auch, um die unerfüllten Sehnsüchte seiner Vorfahren zu leben. Oder, besser gesagt, sich ein Leben lang abzumühen, den Erwartungen der Familie gerecht zu werden.
Und das kann ein Katapult in eine heftige Krise sein.
Die erste Lebenszeit verläuft bei den meisten von uns relativ entspannt. Wir dürfen schlafen, wann wir wollen, bekommen zu essen, wenn wir Hunger haben, dürfen gähnen, pupsen, rülpsen – herrlich! Doch irgendwann, wenn wir einen eigenen Willen entwickelt haben und unsere Bedürfnisse sich verändern, werden wir von den Eltern mit den Schubladen der Gesellschaft vertraut gemacht und somit systematisch (unbewusst!) auf mehrere Lebenskrisen vorbereitet. Wobei ich mit »vorbereiten« nicht etwa meine, dass uns Stärke, Selbstbewusstsein und der gesunde Umgang mit herausfordernden Situationen im Leben beigebracht werden. Nein, leider nicht. Stattdessen legt sich ein unsichtbares Netz aus Erwartungen, unerfüllten Lebensträumen, Ängsten und Projektionen über uns. Anfangs merken wir es noch nicht, denken, es gehört so, doch irgendwann wird uns bewusst: Wir wissen gar nicht, wer wir sind und welche Potenziale in uns verborgen liegen. Wie man sich daraus wieder befreien könnte, hat uns natürlich auch keiner gezeigt – weil es so wenige Menschen gibt, die es selbst wissen und können. So erzählen uns unsere Eltern, wie das Leben funktioniert, wie es zu laufen hat. Sie erklären uns den Unterschied von »Das macht man!« und »Das macht man nicht!«.
Es werden Käfige gebaut, für die die Seele viel zu groß ist.
Wenn man nur so lebt, dass man von anderen Menschen gemocht und vielleicht sogar geliebt wird, weil man »keine Probleme« macht, weil man »unkompliziert« ist, weil man »keine hohen Ansprüche« hat, bewegt man sich geradewegs auf Situationen zu, die einen unglücklich machen. Uns allen ist das Gefühl nicht unbekannt, wie etwas in uns »stirbt« und wir für einige Zeit erstarren, wenn wir das Leben für die anderen leben.
Wir fühlen wenig, nehmen nur noch Nebel in uns wahr. Früher oder später taucht die Frage auf: »Bin das wirklich noch ich? Führe ich ein Leben, das andere oder mich selbst glücklich macht?« – und dann beginnen wir aufzuräumen, uns wirklich zu »entwickeln«. Das geht oft nicht ohne Widerstände. Denn manchmal ist der Weg zu sich selbst für andere unbequem. Manchmal führt dieser Weg leider an der eigenen Familie vorbei.
Nun lesen sich diese Zeilen so, als würde ich Eltern-Bashing betreiben. Dem ist nicht so. Auch unsere Eltern haben lediglich das übernommen, was man ihnen in die Venen des Herzens spritzte. Sie waren einst auch Kinder und taten alles, um von ihren Eltern geliebt zu werden. So wie wir auch, versuchten sie, so zu leben, wie »man es halt macht«, waren möglichst gut in der Schule, möglichst besonders und gleichzeitig möglichst unauffällig. Unsere Geburt war ein Highlight für unsere Eltern. Sie nahmen sich vielleicht vor, die Fehler ihrer Eltern nicht an uns zu wiederholen. Doch das Gegenteil war meistens der Fall – sie machten die gleichen Fehler und gruben manchmal noch tiefere Gräben in unsere Herzen, als sie es selbst erfahren hatten. Es werden nun mal nicht nur Schmuckschatullen vererbt, sondern auch Traumata und Wunden.