Cover

Nicole Stranzl

Memorex

Thriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Nicole Stranzl

Nicole Stranzl erfindet, schon seit sie der Schrift mächtig geworden ist, liebend gern Geschichten und spielt mit der Sprache. Ab Herbst 2013 studiert die junge Autorin in ihrer Heimatstadt Graz Journalismus und Public Relations.

Impressum

© 2013 der eBook-Ausgabe by Knaur eBook

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Franz Leipold

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic®, München

ISBN 978-3-426-43185-6

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Kevin Jordan war nie der Typ Mensch gewesen, der an Geister oder dergleichen geglaubt hatte …

… bis er selbst einer wurde.

Prolog

Leere, das Gesicht eine ausdruckslose Maske.

Stille, die Schmerzensschreie sind längst verstummt.

Kälte, die Gänsehaut zieht sich über die Arme.

Nässe, die Tränen laufen seine Wangen hinab.

All das bemerkt er kaum. Fühlt es kaum. Spürt es kaum. Und das ist auch gut so … oder etwa nicht?

Sein Vater meint, es ist gut, wenn er nicht heult.

Sein Vater meint, dass nur Weicheier heulen.

Echte Männer heulen nicht.

Starke Männer heulen nicht.

Es ist schwach, zu heulen.

Und er darf nicht schwach sein. Auch wenn er sich schwach fühlt … doch halt! Er fühlt ja eigentlich nichts mehr. Oder doch?

Ekel, wenn er die verschmutzten Bettlaken berührt.

Ekel, wenn er an die Berührungen denkt.

Ekel, vor den Männern.

Ekel … und Schmerz. Höllischer Schmerz. Ein Blick auf die Bettlaken. Sperma … und Blut. Sein Blut. Das Blut aus seinem After. Wie betäubt greift er nach seiner Hose. Sie liegt neben dem Bett am Boden. Er zieht sie über. Sie wird nass. Hat er sich etwa wieder angepisst? Hoffentlich nicht. Sonst wird sein Vater wieder wütend. Nein. Gott sei Dank. Es ist nur das Blut. Nur das Blut ist okay. Da kann er nichts dafür. Das passiert nun mal.

Verschleierter Blick. Diese verdammten Tränen. Sie müssen verschwinden. Verschwinden sie nicht, wird sein Vater wütend.

Zittern. Eisige, innerliche Kälte. Innerlicher Tod. Wie es wohl ist, tot zu sein? Seine Mutter hat immer gesagt, dann ist man ein Engel. Wenn das stimmt, dann ist sie jetzt auch ein Engel. Mit wunderschönen Flügeln.

Sehnsucht. Mama, wo bist du? Mama, warum kann ich nicht bei dir sein? Mama, warum lässt du mich allein?

Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, tot zu sein. Dann wäre er ein Engel. Dann wäre er wie Mama. Dann wäre er bei Mama. Dann würde er keine Schmerzen mehr spüren …

Doch er spürt keine Schmerzen. Jetzt nicht. Nicht mehr. Gleichgültigkeit. Diese Gleichgültigkeit heißt er erleichtert willkommen. Sie ist besser als die Angst, die Scham, die Schmerzen, der Ekel … Sie lässt ihn einfach kalt. Kalt wie Stein. Kein Ausweg in Sicht. Nur Leere.

Kapitel 1

Wie fühlen Sie sich heute?«

Schulterzucken.

»Geht es Ihnen schon besser?«

Keine Antwort.

»Sehen Sie, ich will Ihnen doch nur helfen …«

»Leck mich doch!«

Ein Seufzen. »Na schön.« Eine Hand im weißen Arztkittel griff zum Aufnahmegerät und drückte auf Pause. »Scheinbar lässt die Wirkung der Medikamente nach, was? Kannst du dich erinnern?«

»Nicht an alles … aber das war doch auch Sinn und Zweck der Übung, oder etwa nicht, Doc?« Das letzte Wort wurde verächtlich ausgespuckt.

Der »Doc« schenkte seinem Gegenüber nur ein mildes Lächeln und meinte dann: »Aber nein, wo denkst du hin? Wir wollen doch alle nur das Beste für dich.« Erneut hob er die Hand und berührte sanft die Schulter des anderen. Dieser zuckte kurz zusammen und zog sich noch weiter in die Ecke seines Bettes zurück. »Verdammt, was wollen Sie eigentlich noch von mir?«

»Nichts. Nur, dass es dir wieder besser geht. Und dass du nachts nicht in der Klinik umherstreifst und Dinge liest, die dich nichts angehen.« Mit diesen Worten holte der Doktor eine Spritze hervor, füllte sie mit einer Flüssigkeit, von der die Person im Bett bereits wusste, dass sie Lorazepam enthielt, und verabreichte sie schließlich. Keine zwei Minuten später fiel der Patient in einen tiefen Schlaf, aus dem er in den nächsten Stunden nicht erwachen würde.

 

Nachdem der Patient eingeschlafen war, beobachtete der Arzt ihn noch eine Weile, dann erhob er sich mit einem schweren Seufzer. Bevor er die weiße Krankenhaustür hinter sich schloss, warf er noch einen letzten Blick zurück auf das Bett und den darin schlummernden Patienten, dessen Gesichtszüge sich, vermutlich aufgrund eines Albtraumes, leicht verkrampft hatten.

Der Arzt trat hinaus auf den Gang und streifte gerade seinen Mantel glatt, als ihn eine tiefe, raue Stimme erschaudern ließ.

»Und? Schon Ergebnisse?«

Augenblicklich fuhr der Arzt herum und starrte in ein ihm gut bekanntes Gesicht. Die Züge wirkten verrucht, und ein kaltes Lächeln zuckte um die schmalen, grauen Lippen des Mannes, der ihn nun aufmerksam musterte, so wie er es normalerweise selbst mit seinen Patienten machte.

»Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie nicht nachts hier im Krankenhaus umherschleichen können?«, zischte der Arzt wütend.

»Nur die Ruhe, Doc«, meinte der mysteriöse Typ gelassen. »Der Chef kann alles. Das habe ich dir doch schon mehrmals klargemacht, oder etwa nicht?«

Keine Antwort.

»Du hast Glück, dass ich heute besonders geduldig bin«, fuhr der Mann fort, der etwa um die 50 Jahre auf dem Buckel haben musste und sich selbst als »Chef« bezeichnete. »Gibt es etwas Neues?«

»Nicht direkt«, versuchte sich der Arzt herauszureden.

»Das ist nicht gut.«

»Ich bin kein D-Zug«, zischte der Arzt nun wütend zurück. »Was denken Sie denn, wie lange es dauert, ein Medikament zu erforschen? Noch dazu bei dem Chaos, das dieser Amateur hinterlassen hat?!«

Der Chef lachte rau auf. Verängstigt blickte sich der Doktor um. Was, wenn irgendjemand seinen nächtlichen Besuch mitbekam? Ein Patient als Zeuge wäre weiter nicht schlimm. Immerhin befanden sie sich in einer Psychiatrie; hier war es an der Tagesordnung, dass die Kranken Dinge sahen, die nicht existierten. Kreuzte allerdings ein Pfleger ihren Weg … Der Doktor wollte gar nicht darüber nachdenken. Worauf hatte er sich da bloß eingelassen?

Noch immer lachte der Mann. Allmählich ging es dem Arzt auf die Nerven, aber er wagte nicht, etwas zu sagen. Kurz blickte er zurück zur Tür, hinter der sich sein Patient verbarg, dann schnappte er plötzlich verzweifelt nach Luft.

Der Eindringling presste mit seinem Unterarm die Kehle des Mediziners zu und drückte ihn gegen die Wand.

»Damit eines klar ist«, zischte der zwielichtige Typ in sein Ohr, »ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Aber irgendwann hat auch meine Geduld ihre Grenzen. Und meine Großzügigkeit. Ich bezahle dich gut. Sehr gut. Und das nicht nur mit Geld.« Er grinste schmierig über seine Anspielung. Leider wusste der Arzt nur zu gut, was der nächtliche Besucher damit meinte. Die beiden hatten einen Pakt geschlossen. Ein Pakt mit dem Teufel, dachte der Arzt.

»Also verlange ich von dir Ergebnisse«, fuhr der mysteriöse Kerl fort. »Und zwar bald. Bis du Ergebnisse vorlegen kannst, will ich jeden Tag einen detaillierten Bericht von dir. Ist das klar? Jede noch so kleine Veränderung.« Endlich ließ er vom Doktor ab. »Also? Fangen wir doch am besten gleich heute an! Was gibt es zu berichten?«

»Ich teste das Medikament im Moment nur an einem Patienten«, begann der Doktor hastig zu reden. »Es wäre viel zu auffällig und zu verdächtig, mehrere mit hineinzuziehen. Immerhin ist die Polizei schon hier gewesen.«

Genervt seufzte der Chef auf. »Dieser Polizist gehört zu uns, du Vollidiot.«

»Wirklich?!« Der Arzt war nun ehrlich überrascht.

»Ich habe alles unter Kontrolle. Du brauchst dir um nichts Sorgen zu machen. Abgesehen von der Entwicklung dieses Medikaments. Also?«

»Der Patient hat Flashbacks, er kann sich wieder erinnern.«

»Woran?«

»An … ziemlich viel. Erst gestern hat er von Monicá gesprochen.« Bei jedem Wort war der Arzt leiser geworden, bis seine Stimme am Ende des Satzes nur noch ein Flüstern war.

»Ja, wirklich bedauerlich. Hübsches Mädchen«, sagte der Chef in einem Tonfall, als spreche er über einen Liter verschüttete Milch. »Ich wäre sowieso dafür, dass wir diese Versuchsperson eliminieren und das Medikament an jemand anderem testen.«

»Ich kriege das schon hin«, warf der Arzt schnell ein, fast schon zu schnell. Vielsagend zog der Chef eine Augenbraue hoch.

»Was liegt dir bloß an diesem Kerl? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen?«

»Nein«, sagte der Doktor mit leicht zittriger Stimme, was dem Chef keinesfalls entging.

»Wie auch immer«, lenkte der Chef ein, den das Gespräch bereits langweilte. »Ich erwarte von dir, dass du dich beeilst. Ich erwarte Ergebnisse. Ich erwarte Qualität. Und ich erwarte bedingungslosen Einsatz. Natürlich auch Verschwiegenheit. Aber das mit der Verschwiegenheit haben wir ja bereits geklärt, nicht wahr, Doc?«

Der Arzt erwiderte nichts.

»Ach komm, sei nicht beleidigt. Übrigens …« Der Chef seufzte theatralisch auf. »Ich habe eine neue Lieferung für dich. Morgen, 23:00 Uhr. Gleicher Ort wie immer.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ lautlos wie eine Katze das Krankenhaus.

 

Geschlagene fünf Minuten blieb der Arzt wie angewurzelt stehen. Er erwog ernsthaft, nicht zum morgigen Treffpunkt zu gehen. Irgendwann musste damit Schluss sein. Er würde aufhören. Heute.

Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass das eine Lüge war. Er würde morgen zu diesem Treffpunkt gehen, genau wie die vielen Male zuvor. Er würde dem Drang nicht widerstehen. So wie er ihm schon seit vielen Jahren nicht widerstand.

Und wieder würde es Opfer geben. Leidtragende. Wie den Patienten, der nun hinter der verschlossenen Tür schlummerte, vor der der Doktor noch immer wie angewurzelt stand.

Kapitel 2

3 Jahre später

Eins, zwei … Freddy kommt vorbei.

Drei, vier … Er steht vor deiner Tür.

Fünf, sechs … Hol dein Kruzifix.

Sieben, acht … Es ist gleich Mitternacht.

Neun, zehn … Wir wollen nicht

 

»… schlafen gehen.«

 

Erschrocken blickte der kleine Junge auf zu dem Mann, der soeben seinen Singsang unterbrochen hatte.

»Meinst du nicht, dass du noch ein bisschen zu klein für solche Filme bist?«

»Ich bin schon groß.«

»Ach ja?!« Der Mann schmunzelte in sich hinein. »Ja, du bist wirklich schon groß. Aber auch wenn man groß ist, kann man noch für manche Dinge zu klein sein, weißt du?«

Angestrengt versuchte der Junge, dem Mann zu folgen, dessen scharfer Blick unverhohlen auf ihm ruhte. Noch kein einziges Mal hatte der Riese geblinzelt, was ihn in der untergehenden Sonne unheimlich wirken ließ.

»Meine Mama sagt, ich soll nicht mit Fremden reden.«

»Ach? Da ist deine Mama aber klug.« Der Mann lächelte. »Sagt dir deine Mama nicht auch, dass du keine Horrorfilme ansehen sollst?«

»Das weiß sie nicht. Und das mach ich normal auch nicht.«

»Siehst du? Das ist mit unserem Gespräch hier das Gleiche. Sie weiß es nicht.«

Zweifelnd musterte der kleine Junge sein Gegenüber. Gedankenverloren blickte der Mann der Sonne entgegen, dann seufzte er.

»Ich muss jetzt nach Hause.«

Kaum hatte der Junge den Satz beendet, ruhten die Augen des Mannes wieder auf dem Kind, wachsam wie ein Adler. »Das ist sehr schade … ich könnte dir noch etwas zeigen.«

»Nein, lieber nicht.«

»Es ist etwas sehr Spannendes.«

Neugierig, aber auch ein wenig verunsichert musterte der Junge den Mann abschätzend. Nach einigen Sekunden meinte er: »Nein, ich denke nicht.«

»Oje, dann muss ich mir wohl einen anderen Glückspilz suchen.«

»Was ist es denn?«, platzte es aus dem Kleinen heraus.

Gewinnend lächelte der Mann. »Das kann man in Worten schwer beschreiben. Es ist etwas Unglaubliches; man kann das wahre Ausmaß erst erfassen, wenn man es selbst miterlebt.«

Obwohl der Junge die Worte des Mannes nicht ganz glauben konnte, war ihm doch klar, dass es etwas Fantastisches sein musste. Ansonsten würde der Mann gewiss nicht so übertreiben. Abgesehen davon wäre es ein Abenteuer. Seine Freunde würden später seinen Mut bewundern und ihn um seine tolle Erfahrung mit dem wunderbaren Ding beneiden, das der Mann ihm zeigen wollte. Doch trotz dieser Aussichten war da noch ein leiser Zweifel, der im Hinterkopf des Kindes brannte. »Ich muss bald zu Hause sein. Meine Mama macht Abendessen.«

»Ach, so lange wird das nicht dauern. Du wirst pünktlich zu Hause sein. Es ist gleich dahinten.« Der Mann deutete in den Wald hinein.

»Und was ist da?«

»Das siehst du, wenn du mitkommst.«

»Okay.«

»Sehr schön.« Der Mann lächelte. »Ich wusste, du bist ein kluger kleiner Kerl.«

»Ich bin schon groß.«

»Natürlich, natürlich. Komm mit. Ich zeige dir den Weg.«

Aufgeregt und von Adrenalin durchflutet, folgte der Junge dem Mann in den Wald. Die hohen Bäume überragten ihre Köpfe um ein Vielfaches. Langsam wurde es kühl, und eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus. Obwohl ihn ein Gefühl der Unsicherheit überkam, wollte der Junge jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Zum Abendessen würde er ohnehin nicht mehr pünktlich erscheinen, also was machte es für einen Unterschied?

Nach einem ordentlichen Fußmarsch wurde der Junge langsam ungeduldig. »Wie weit ist es denn noch? Ich glaube, ich darf nicht so weit in den Wald hinein.«

»So weit ist es gar nicht. Und wir sind gleich da. Sieh mal.« Der Mann deutete mit seinem Finger in eine Richtung. Angestrengt versuchte der Junge, zu erkennen, was es so Besonderes zu sehen gab. Kaum hatte er sich gedreht und in die Ferne geblinzelt, spürte er einen dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf. Benommen sackte er auf dem kalten Waldboden zusammen. Das matte Grün der Gräser und Bäume verschwand vor seinen Augen und wurde durch eine kalte Dunkelheit ersetzt, als der Junge das Bewusstsein verlor.

Kapitel 3

Das Telefon des Arztes klingelte. Er schrak aus seinen Träumen hoch, und es dauerte eine Weile, bis er sich vollends in der Wirklichkeit wiederfand. Wo war er? Was war das für ein Bett? Ach ja, das Bereitschaftsbett. Richtig, er hatte Bereitschaftsdienst.

Dann fiel ihm das Klingeln wieder ein, und er nahm ab. »Ja?«

»Hallo!«

Einen Moment überlegte der Arzt, wem die Stimme gehörte, aber als der Anrufer weitersprach, fiel es ihm gleich wieder ein. Der Polizist. Die beiden Männer waren sich das erste Mal vor drei Jahren im Krankenhaus begegnet, als der Arzt noch dachte, der Polizist würde nicht auf ihrer Seite sein.

»Ich habe meinen Auftrag erledigt«, sagte der Polizist, und der Arzt konnte hören, dass der Anrufer angewidert klang. »Der Junge gehört jetzt dir, bis wir ihn weiterverkaufen. Halte dich dieses Mal allerdings zurück! Du sollst ihn nicht töten.«

Der Arzt erwiderte nichts. Seine Gedanken schweiften zum letzten Mal zurück. Er war zu weit gegangen. Es war ein Unfall gewesen. Trotzdem hatte er nicht die Reue verspürt, die er nach solch einer Tat hätte verspüren müssen. Die Reue, die er verspürte, wenn er an den Patienten dachte. An das erste Testobjekt.

»Bist du noch dran?« Der Polizist riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ja«, antwortete der Arzt eilig. »Klar.«

»Gut! Wie geht es unserem Patienten?«

»Ich denke, er ist so weit. Die drei Wochen sind um. Wir können beginnen. Habt ihr alles vorbereitet?«

»Natürlich.« Zögern in der Leitung. »Und du denkst wirklich, dass das funktioniert?«, fragte der Polizist zweifelnd.

»Ich denke, es ist einen Versuch wert. Und du warst doch auch begeistert von der Idee.«

»Ja, schon. Aber der Chef ist ganz und gar nicht begeistert. Er will immer noch den Patienten lieber tot sehen. Er findet, das Risiko ist zu groß.«

»Denkst du das auch?«, fauchte der Arzt ins Telefon.

»Nein, das tue ich nicht. Du weißt, dass ich ihn sehr gut leiden kann. Ich will nicht, dass er stirbt. Wenn er sich allerdings wieder erinnert … Ich mag meinen Job sehr gern und kann nicht riskieren, dass ich auffliege. Du weißt schon, die Sache mit den Drogen … Du kannst dich noch an das letzte Mal vor drei Jahren erinnern!«, fügte er düster hinzu.

»Das wird dieses Mal nicht passieren«, meinte der Arzt zuversichtlich. »Wir müssen nur zusehen, dass alles nach Plan läuft und er die Medikamente bekommt. Das war’s! Und wenn’s weiter nichts gibt, würde ich gerne noch ein paar Stunden schlafen. Ich habe morgen wieder den ganzen Tag Dienst. Gute Nacht!« Der Arzt beendete das Gespräch und legte sich zurück aufs Bett. Ganz so zuversichtlich, wie er sich soeben gegeben hatte, war er nicht.

Das alles drohte eine Nummer zu groß zu werden. Bei den vielen kriminellen Aktivitäten, deren Leitung der Chef innehatte, war es sehr schwierig, den Überblick zu bewahren. Obwohl er selbst nur für die Forschung zuständig war, wusste er, dass es weit mehr »Projekte« innerhalb der Verbrecherbande gab. Angefangen bei Menschen- und Drogenhandel bis hin zu anderen Dingen, von denen der Arzt nichts Näheres wusste. Jeder war nur in seinen eigenen Aufgabenbereich eingeweiht.

Das System funktionierte wie eine große Firma mit unterschiedlichen Abteilungen. Verglich man es mit einem Unternehmen, könnte man sagen, es gab Verkauf, Einkauf, Marketing, Rechnungswesen und so weiter. Und wie in einer großen Firma arbeiteten die Abteilungen teilweise zusammen und wussten über diverse Dinge Bescheid – allerdings nur über jene, die sie wissen mussten. So gewährten sie innerhalb der Organisation einander auch ein wenig Schutz. Meistens war es sogar besser, je weniger man wusste. Er selbst wusste schon zu viel. Manchmal wünschte er, er hätte sich nur auf sein Forschungsgebiet beschränkt und hätte das Angebot des Chefs angenommen. Dann hätte er nie von dem Menschenhandel erfahren, und dieser Unfall wäre nie passiert. Das redete er sich zumindest ein.

Außerdem wüsste er auch nicht so viel über die Drogengeschäfte, an denen er gar nicht beteiligt war. Einzig durch den ständigen Kontakt mit dem Polizisten hatte er zusehends mehr und mehr darüber erfahren. Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, ständig zu grübeln. Besser, er sah zu, dass er noch eine Mütze Schlaf abbekam, damit er morgen wieder fit war. Es galt schließlich, ein Medikament zu entwickeln. Fehler waren nicht mehr erlaubt.

Erneut hallten die Worte des Polizisten in seinem Geist wider. »Du kannst dich an das letzte Mal vor drei Jahren erinnern …«

Ja, das konnte er. Das durfte sich keinesfalls wiederholen. Diesmal musste einfach alles funktionieren. Tat es das nicht, würde nicht nur der Patient, sondern auch er selbst dran glauben müssen.

Kapitel 4

Ich bin müde. Hundemüde. Todmüde. Der letzte Ausdruck ist vermutlich passender, wenn auch ein wenig makaber. Makaber deshalb, weil ich gerade von einem Tatort komme. Eine Kinderleiche. Ein achtjähriger Junge. Gefunden in der Themse. Verstümmelt. Übelst zugerichtet.

Die Bilder tanzen noch immer vor meinen Augen. Vermutlich werde ich sie nie wieder in meinem ganzen Leben vergessen. Ich werde sie in mir tragen, und von Zeit zu Zeit werden sie vor meinem inneren Auge auftauchen, heraufbeschworen wie von Geisterhand, in Situationen, in denen ich sie wahrscheinlich nicht gebrauchen werde können. Oder sie kommen an die Oberfläche anhand von Albträumen. Schlimme Albträume. Schweißtreibende Albträume, die mich schreiend aus dem Schlaf reißen. Die Albträume sind stetige Begleiter, seit ich mich erinnern kann. Ich weiß nicht, woher sie stammen. Meine Freundin Evelyn rät mir schon lange, ich solle einen Therapeuten aufsuchen. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht sollte ich tatsächlich einmal nach einem Seelenklempner googeln, aber irgendeine Kraft in mir sträubt sich dagegen, das zu tun. Wahrscheinlich ist der Leidensdruck einfach noch nicht groß genug. Immerhin kommen die Albträume nicht ständig vor. Nur ab und zu. Wenn etwas Aufregendes, Schreckliches geschehen ist. So wie heute. Der entstellte Junge. Heute Nacht wird mein Unterbewusstsein die schändlichen Bilder mit Sicherheit wieder heraufbeschwören, wenn ich am schwächsten bin. Wenn ich schlafe.

Der Mensch braucht seinen Schlaf. Der Körper muss sich erholen, neue Kräfte tanken. Schliefe man nicht, würde man mit der Zeit verrückt werden, ja in späterer Folge sogar sterben. Erholt man sich nicht ausreichend, schläft man beinahe im Stehen ein. Ich kann mich noch gut an meinen letzten Amerika-Flug erinnern. 16 Stunden Flugzeit plus eine vierstündige Verspätung am New Yorker Flughafen. Als ich endlich nach Hause kam, total erschöpft vom Schlafentzug und vom Jetlag, war es bereits über 30 Stunden her, dass ich zuletzt geschlafen hatte. Sicherlich, man könnte sagen, ich bin selbst schuld. Warum habe ich nicht einfach im Flugzeug geschlafen? Tja, das ist eben auch so eine Sache bei mir. Ich schlafe nicht sonderlich gut in Flugzeugen. Eigentlich gar nicht. Einmal ist es mir passiert, dass ich eingeschlafen bin, es war eine lange Geschäftsreise, und dann sind die Albträume gekommen. Unerwartet. Sie sind damals schon seit drei Monaten nicht mehr aufgetreten und dann, peng, genau im Flieger, vor etlichen Mitmenschen. Es war fürchterlich. Ich habe geschrien und getobt; der arme Fluggast neben mir wäre beinahe von meinem Herumgefuchtle erschlagen worden. Keine Ahnung, ob er irgendwelche Rabatte von der Fluggesellschaft für unberechenbare Flugturbulenzen erhalten hat.

Jedenfalls … ich schweife schon wieder vom Thema ab. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Die Leiche des Jungen. Er ist offensichtlich das erste, bemitleidenswerte Opfer einer Mordserie, da bereits ein zweiter Junge verschwunden ist. Die Londoner Polizei hat den Kleinen tot aufgefunden – brutal gefoltert und vergewaltigt.

 

Kevin las sich noch einmal seine Notizen durch, die er vor einigen Wochen erfasst hatte. Sein Kopf schmerzte. Wann genau war das gewesen?

Er fügte handschriftlich einige Notizen hinzu:

Datum?

Woher kam der Tipp des Tatorts?

Wie ist der Name des Jungen?

Woher weiß ich, dass bereits ein zweiter Junge verschwunden ist?

Habe ich möglicherweise mit einem Polizisten gesprochen?

 

»Kevin, Schatz? Bist du endlich so weit?«

Evelyns Stimme ertönte vom Flur.

»Kev?«

»Sofort, mein Schatz. Ich komme gleich. Ich schreibe nur noch diesen Satz zu Ende.«

Kevins Freundin steckte ihren Kopf mit den langen, braunen Haaren zur Tür herein und seufzte. »Wieder beim Schreiben, was? Wie immer. Arbeitest du an dem Artikel?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nein, das sind mehr … private Aufzeichnungen.«

»Private Aufzeichnungen?« Fragend zog sie ihre Augenbrauen nach oben.

»Es … ist nur für mich. So als Denkhilfe. Siehst du … wenn sich in meinem Schädel mal wieder alle Gedanken im Kreis drehen, hilft es mir, sie aufzuschreiben. Ich schreibe sie quasi weg. Damit ist mein Kopf wieder frei, und ich vergesse sie nicht.«

»Wir beide wissen, dass das nicht der Wahrheit entspricht«, entgegnete Evelyn mit einem Lächeln. Jetzt war Kevin es, der sie fragend anblickte.

»Na, dein Kopf wird nie ganz frei sein.« Sie kam auf ihn zu, setzte sich auf seinen Schoß, da sich Kevin mittlerweile von seinem Schreibtisch weggedreht hatte und mit dem Schreibtischsessel nun in ihre Richtung blickte. Evelyn kam immer näher, und dann berührten ihre Lippen die seinen. »Aber das ist schon okay so«, hauchte sie ihm nach dem kurzen Kuss ins Ohr. »Dich umgibt etwas Geheimnisvolles, etwas Dunkles.«

»Etwas Dunkles?«

»Ja. Und ich stehe drauf!«, meinte sie mit einem verführerischen Unterton.

»Wie sehr stehst du drauf?«, wollte Kevin mit einem frechen Grinsen wissen.

»Nicht so sehr, als dass ich deine Überraschung um acht Uhr verpassen will«, antwortete sie lächelnd und erhob sich von seinem Schoß. Das war typisch Evelyn. Zuerst machte sie ihn an und spielte mit ihm, und dann in letzter Sekunde wendete sie das Blatt. Aber ihre Masche funktionierte. Hatte Evelyn gesagt, dass sie Kevin geheimnisvoll fand, so faszinierte sie ihn mindestens ebenso sehr. Evelyn war nicht nur bildhübsch mit ihren dunklen Augen und ihrer blassen Haut, ihren langen, dichten Haaren und ihrer zierlichen Figur. Nein, sie war mehr als nur ein Hingucker. Evelyn besaß ein warmes Herz, sie kümmerte sich liebevoll um ihre Mitmenschen. So ein Charakter wie der ihrige war heutzutage selten zu finden. Sie war gutherzig, großzügig und hilfsbereit, was auch von ihren Patienten im Krankenhaus immer wieder betont wurde. Evelyn war Krankenschwester mit Leib und Seele. Schon von klein auf hatte sie an ihren drei jüngeren Geschwistern geübt, sich liebevoll um andere zu kümmern, da ihr Vater früh gestorben war. Evelyn war damals gerade elf Jahre alt, als ihre Mutter sie und ihre jüngeren Geschwister allein großziehen musste.

»Was ist?«, fragte Evelyn. »Du bist so geistesabwesend.«

»Hm?«

»Kev?«

»Entschuldige. Ich habe gerade über etwas nachgedacht.«

»Worüber denn?«, fragte die junge Frau interessiert.

»Ach, diese Sache mit den Kindermorden …« Kevins Blick wanderte in die Ferne.

»Du solltest dich mal mit etwas anderem beschäftigen. Über etwas anderes schreiben. Über etwas Erfreuliches. Vielleicht hättest du lieber Sportreporter werden sollen!«, meinte sie mit einem Grinsen.

»Sehr lustig.«

»Wie kommst du bloß immer an all diese Informationen ran?«, wollte sie wissen.

»Durch meine zuverlässige Quelle«, meinte Kevin nur geheimnisvoll, wobei er innerlich verkrampfte. Genau dieselbe Frage hatte er sich eben selbst noch gestellt.

»Ach ja, die Quelle, die du nicht einmal mir verraten willst, richtig?!«, holte ihn Evelyn mit einem Grinsen zurück in die Realität.

»Ganz genau. Und jetzt komm! Wir sollten gehen. Sonst verfällt die Reservierung noch«, lenkte Kevin vom Thema ab.

»Ach, die Reservierung! Und dein Satz, den du noch zu Ende schreiben musst …?«

»Der kann warten. Wir bleiben ja schließlich nicht bis in die Ewigkeit aus und sind bald wieder zurück.«

»Willst du mir nicht verraten, wofür ich mich so herausgeputzt habe?« Evelyn strich über ihr wunderschönes, rotes Kleid und schenkte ihm ein Lächeln.

»Das wirst du gleich sehen. Ich muss nur noch schnell in meinen Anzug schlüpfen, und schon kann’s losgehen!«

Evelyn begann zu lachen. »Was ist, Eve?«

»Weißt du, dass wir wahrscheinlich so ziemlich das einzige Paar auf der Welt sind, bei dem die Frau ständig auf den Mann warten muss?«

Verwirrt blickte Kevin sie an.

»Na los, geh dich anziehen!«, trieb sie ihn lächelnd an.

Er folgte ihrer Aufforderung und verließ den kleinen Arbeitsraum, um ins Schlafzimmer zu eilen. Der Anzug lag bereits auf dem Bett und wartete nur noch auf ihn. Nachdem Kevin sich in Schale geworfen hatte, griff er in die linke Anzugtasche und fühlte die Schachtel mit dem goldenen Ring, mit dem er Eve heute einen Heiratsantrag machen wollte.

Da steckte sie erneut den Kopf durch die Tür herein. »Fertig?«, fragte sie.

»Sofort. Einen Augenblick noch.« Er zwängte sich an ihr vorbei, zurück in sein Arbeitszimmer und öffnete einen kleinen Schrank, der neben dem Schreibtisch stand. Daraus holte er einen Strauß roter Rosen hervor, den er vorhin darin versteckt hatte. Mit den Blumen trat er aus dem Zimmer.

»So, jetzt können wir los!«, sagte er und hielt ihr dabei die Rosen vors Gesicht.

»Ach, Kev! Die sind wunderschön!«

»Dann passen sie ausgezeichnet zu dir.«

»Danke.« Sie nahm die Rosen an sich und umarmte ihn. Dann holte sie eine Vase aus der Küche, füllte sie mit Wasser und gab die Blumen hinein. Einen kurzen Moment zögerte sie, fischte eine Rose wieder hervor und sagte: »Die eine nehme ich mit. Sie passt so gut zu meinem Kleid.«

»Wie du willst. Komm. Gehen wir«, sagte Kevin mit einem Blick auf die Uhr. Er hatte in einem noblen Restaurant für acht Uhr reserviert. Es war bereits zwanzig vor acht, und er bezweifelte, dass sie es noch rechtzeitig schaffen würden. Endlich verließen sie ihre kleine Wohnung in der Londoner Innenstadt und eilten zu ihrem Auto, das auf dem reservierten Parkplatz bereits auf sie wartete. Kevin öffnete die Beifahrertür.

»Wie galant«, bemerkte Eve.

»So bin ich eben.« Kevin zwinkerte ihr zu. Nachdem sie eingestiegen war, schlug er die Tür zu, umrundete das Auto und stieg auf der Fahrerseite ein.

»So, verrätst du mir jetzt endlich, wo es hingeht?«, fragte Evelyn, nachdem sie bereits zehn Minuten unterwegs waren.

»Lass dich überraschen«, meinte Kevin mit einem Grinsen. »Diesen Abend wirst du niemals vergessen.« Während er das sagte, drehte er den Kopf auf die Seite und sah in ihre wunderschönen, braunen Augen.

»Kev, pass auf!«, schrie sie auf einmal.

Ruckartig drehte Kevin seinen Kopf in Richtung Straße, um zu sehen, was seine Verlobte in spe so sehr aufregte. Ein schwarzer Aston Martin kam direkt auf sie zu. Verzweifelt versuchte Kevin, das Steuer herumzureißen. Das Auto raste jedoch mit so hoher Geschwindigkeit heran, dass Kevin nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Zuerst gab es nur einen gewaltigen Aufprall. Alles vibrierte. Kevin hörte, wie Evelyn schrie. Sie schrie und schrie und hörte nicht mehr auf. Ohrenbetäubender Lärm. Teile, die um ihn herumwirbelten. Alles drehte sich. Er hatte keine Ahnung, wo vorne und wo hinten war. Die Welt schien auf dem Kopf zu stehen.

Der junge Mann wusste nicht mehr, wo er war. Er wusste nur, dass sein ganzer Körper zitterte und bebte. Er spürte keine Schmerzen. Sein erster Gedanke war, dass alles gut gegangen und er noch einmal davongekommen war. Doch dann brach auf einmal Kälte herein. Er versuchte, die Augen zu öffnen, was ihm auch gelang. Rund um ihn war alles voll Blut. Mittlerweile hatte Evelyn aufgehört zu schreien. Die Kälte und die Dunkelheit wurden immer stärker und mächtiger. Sie drohten ihn vollständig einzusaugen. Es wäre so leicht, ihnen nachzugeben.

Doch dann hörte er plötzlich Evelyn. Sie weinte. »Baby, sieh mich an. Kev, Liebling. Bleib bei mir. Ich brauche dich. Sieh mich an.«

»Evelyn …«

»Ja, ja, Schatz. Ich bin hier. Ich bin da.«

»Ich … wollte …«

»Sch, sch!«, machte sie. Kevin spürte, dass sie jetzt fest seine Hand drückte.

»Ich … liebe … dich!«, brachte er schwach hervor.

»Ich dich auch. Halte durch, Baby, gleich ist der Arzt da. Halte durch, bitte halte durch!«

»Willst … du … du mich … heiraten?« Das letzte Wort war kaum verständlich, aber Evelyn schien es gehört zu haben, denn sie erlitt einen Heulkrampf und konnte kaum noch sprechen. Die Kälte kam wieder zurück, diesmal stärker, und Kevin konnte seine Augen kaum noch offen halten.

»Klar, Schatz. Natürlich will ich dich heiraten. Aber dazu musst du durchhalten.« Doch Kevin konnte nicht mehr. Es war einfach zu schwer. Und er war so müde. Das Letzte, was er hörte, bevor ihn pechschwarze Dunkelheit einhüllte, war Evelyn, die verzweifelt seinen Namen rief.

 

Im Schock bekam Evelyn nur am Rande mit, dass der Fahrer des Aston Martin ausgestiegen war und zu ihnen eilte. Er zerrte zuerst den regungslosen Kevin und anschließend Evelyn, die hysterisch um sich schlug und schrie, aus dem Wagen. Sie flehte den Mann an, ihrem Verlobten zu helfen, und erst allmählich breitete sich Verwunderung in ihr aus, als sie erkannte, dass der vermeintliche Helfer eine schwarze Maske über sein Gesicht gezogen hatte.

»Was …?«, flüsterte sie tränenerstickt, aber der Mann zog wortlos eine Spritze hervor, die er ihr verabreichte, sodass Evelyn nach wenigen Minuten selbst in die Bewusstlosigkeit versank.

Der Unfallverursacher blickte sich hektisch um. Die Zeit lief. Schnell rannte er zu seinem Kofferraum, zerrte die blutüberströmte Leiche, die er mitgenommen hatte, heraus und bugsierte sie in Kevins Wagen.

Erschöpft wischte er sich den Schweiß von der Stirn, eilte erneut zum Kofferraum des Aston Martin und holte ein Benzinfass hervor. Großzügig verteilte er die Flüssigkeit in Kevins Auto, zückte ein Streichholz und ließ es fallen. Sofort ging der Wagen in Flammen auf.

Besorgt sah die vermummte Gestalt sich um. Wie lange würde er unentdeckt bleiben? Mitten in London. Manchmal war es sogar besser, Verbrechen an überfüllten Orten zu begehen. Niemand fühlt sich dann verantwortlich, und es entsteht meist ein Chaos, in dem man leicht unbemerkt verschwinden kann. Allerdings war das hier etwas anderes. Es war bereits dunkel, Nacht. Und tatsächlich, in der Ferne konnte er schon die Sirenen der sich nähernden Einsatzfahrzeuge ausmachen. Irgendjemand hatte also die Rettung verständigt.

Er zog Evelyn noch ein Stück von dem brennenden Fahrzeug weg. Immerhin lautete sein Auftrag nicht, sie zu töten. Hektisch sah er auf die Uhr. Dass dieser Idiot auch nie pünktlich sein konnte!

Na endlich! Kaum war der Gedanke aufgekommen, fuhr sein Kollege auch schon mit dem grauen Fluchtfahrzeug vor. Der Unfalllenker warf sich Kevin mühelos über die Schulter, ging zum Fahrzeug, öffnete den Kofferraum und legte den reglosen Körper hinein. Anschließend eilte er zur Beifahrertür. Noch bevor die Tür richtig zugefallen war, trat der Fahrer das Gaspedal durch und fuhr mit lautem Quietschen los.

Die Reifen des Fluchtwagens überfuhren die Rose, die aus Evelyns Haar gefallen war und nun träge im Regen lag. Von ihrer Schönheit war nichts geblieben.

Kapitel 5

»… cause you had a bad day! You had a bad day!«

Na, das war ja ein guter Start in den Tag. Missmutig klopfte John auf seinen Wecker. Mit einem Seufzer stellte er fest, dass es halb sieben morgens war. Zeit zum Aufstehen. Er erhob sich, ging ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Ein müdes Gesicht blickte ihn an, die braunen Augen umringt von dunklen Rändern, die auf die Schlaflosigkeit zurückzuführen waren. In seinen 30 Lebensjahren hatte er bereits viel Gewalt und Schmerz erfahren, was Spuren hinterlassen hatte.

John putzte sich die Zähne und fuhr sich dann mit einem Kamm halbherzig durch sein dunkles Haar, das in wirren Strähnen von seinem Kopf stand. Als er seinen Haaransatz berührte, fühlte er ein dumpfes Brennen, das sich in seinem gesamten Schädel ausbreitete. Zähneknirschend schob John seine Haarsträhnen ein Stück zur Seite und sah angetrocknetes Blut auf seiner Stirn. Er wühlte durch seinen Haaransatz und bemerkte, dass sich auch hier verkrustetes Blut rund um eine Beule angesammelt hatte.

Er hielt seinen Kopf unter die Wasserleitung und versuchte, das Blut einigermaßen abzuwaschen, was ein erneutes Brennen auslöste, als das Wasser auf die Wunde traf. Vorsichtig rubbelte er seine nassen Haare mit einem Handtuch trocken, bedacht, die schmerzende Stelle so wenig wie möglich zu berühren. Anschließend wollte er seine Haare wieder in Ordnung bringen, ließ es aber bleiben, nachdem sie sich erneut in alle Richtungen wanden.

»Ach, scheißegal«, murmelte er. Was spielte es schon für eine Rolle, wie er aussah?

Er streckte sich ordentlich durch, wobei ihm bewusst wurde, dass nahezu jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Was war nur los? Nach den drei Wochen Urlaub, die hinter ihm lagen, müsste er sich doch eigentlich fit wie ein Turnschuh fühlen. Und nicht so, als hätte ihn gerade ein Lastwagen überfahren.

John ging zu seinem Kleiderschrank und kramte Jeans und ein Adidas-T-Shirt hervor. Nachdem er die Fenster kurz geöffnet und die Räume gelüftet hatte, verließ er die Wohnung, ging in die Tiefgarage und stieg in seinen schwarzen BMW, mit dem er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Der Nebel hing dick über der Stadt. Es war noch immer ziemlich kalt, obwohl der Frühling eigentlich schon vor der Tür stand. Zumindest auf dem Kalender.

Doch John machte die Kälte nichts aus. Ihm lagen die kalten Monate ohnehin mehr als der heiße Sommer. Im Herbst und im Winter schwitzte man wenigstens nicht so. Und die vielen Überstunden machten ihm dann auch weniger aus. Natürlich hätte er gegen ein paar Grad Celsius mehr auf dem Thermometer nichts einzuwenden gehabt, aber wozu sich über Dinge ärgern, die man nicht ändern konnte?

Mit einer Verzögerung von fast 25 Minuten – verdammter Großstadtverkehr – kam er endlich vor der Polizeistation an. Er kramte seinen Ausweis hervor, passierte das Tor und parkte auf dem für ihn reservierten Parkplatz.

 

Mit raschen Schritten betrat er das Gebäude und schritt auf das Büro im zweiten Stock zu, das er mit seinem Partner Tyler Taylor teilte. Für zwei Personen war der Raum ziemlich klein, aber die beiden Männer kamen gut miteinander klar. Tyler war ein lässiger Typ um die 40, der ständig wegen seines komischen Namens aufgezogen wurde. Seine Lippen umwucherte ein Bart, seine grauen Augen blickten intelligent durch eine schwarze Brille. Wenn man ihm auf der Straße begegnete, hielt man ihn für alles, aber ganz sicher nicht für einen Polizisten.

»Morgen«, murmelte John schlecht gelaunt, während er zu seinem äußerst penibel aufgeräumten Schreibtisch ging.

»Guten Morgen«, antwortete Tyler mit tiefer Bärenstimme. »Da hat wohl einer schlecht geschlafen.«

John zuckte nur mit den Schultern.

»Wie war der Urlaub?«, erkundigte sich Tyler.

»Erholsam«, antwortete John wie aus der Pistole geschossen.

Tyler warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Das sieht allerdings nicht so aus. Was hast du denn gemacht?«

Die Frage ließ John einen Moment lang stutzen, und er musste ernsthaft nachdenken, wie er die letzten drei Wochen verbracht hatte. »Ach, ich habe gesportelt, mal ausgeschlafen … Nichts Besonderes.« Er gähnte. »Wie war die Arbeit? Hab ich was verpasst?«

»Nein, du weißt schon: Same shit – different day«, antwortete Tyler mit einem Grinsen. »Willst du Kaffee?«, fragte er seinen jüngeren Kollegen.

»Ja, bitte! Danke!«, antwortete John in einem, als Tyler ihm bereits die Tasse reichte. John nippte an dem heißen Getränk. Anschließend trank er einen Schluck und spuckte fast auf sein T-Shirt. »Verdammt, Tyler! Willst du mich vergiften?«

»Was ist?«, fragte Tyler verwundert.

»Was hast du denn in diesen Kaffee gemischt?«

»Nichts. Das ist derselbe wie immer.« Tyler lachte los, als er Johns Gesichtsausdruck sah. »Mann, Ash, du kennst doch unseren Präsidiumskaffee. Warst du zu lange im Urlaub, um dich an den berauschenden Geschmack zu erinnern? Oder hat sich dein Gaumen inzwischen an Gourmet-Kaffee gewöhnt?«

John schmunzelte. »Ach, halt doch die Fresse, Tyler!«

»Na siehst du! So gefällst du mir schon besser!«, meinte Tyler mit einem Augenzwinkern.

»Diesen Kaffee werde ich trotzdem nicht trinken«, meinte John entschlossen und wollte das Getränk schon aus dem Fenster leeren, als Tyler ihn zurückhielt. »Mensch, Ash! Das kannst du doch nicht machen. Stell dir vor, das bekommt der Sullivan mit. Stell dir vor, da unten geht jemand! Und so schlecht ist der Kaffee nun auch wieder nicht. Warte, bis er nicht mehr ganz so heiß ist, und trink ihn dann.«

»Was ist bloß los mit dir?«, fragte John irritiert.

»Wieso?«

»Seit wann unterhalten wir uns so lange über Kaffee?«

Tyler seufzte, dann meinte er: »Weißt du was? Du hast recht! Wir benehmen uns gerade wie Sekretärinnen. Trink ihn oder lass es! Mir doch egal. War nur nett gemeint. Und vor allem wirst du ihn noch brauchen, denn deine ohnehin schon schlechte Stimmung wird sich auch nicht bessern, wenn ich dir gleich zeige, womit wir uns heute beschäftigen werden …« Tyler schmunzelte, dann holte er einen dicken Stapel Akten und Mappen hervor. »Papierkram steht an, mein Junge.«

»Du sollst mich nicht immer ›mein Junge‹ nennen«, erwiderte John gereizt. Er konnte es absolut nicht ausstehen, so angesprochen zu werden.

Beschwichtigend hob Tyler die Hände. »Schon gut. Schon gut. Ich werde jetzt einfach die Klappe halten, und wir beide arbeiten still nebeneinanderher, in Ordnung?«

»In Ordnung«, entgegnete John und zwang sich zu einem Lächeln, das eher wie eine Grimasse aussah. Papierkram, juhu!

»Auch auf die Gefahr hin, unseren gerade begonnenen Waffenstillstand wieder zu brechen … Was hast du denn mit deinem Kopf gemacht?«, fragte Tyler und deutete auf die Platzwunde auf Johns Stirn.

»Ach, das …« Geistesabwesend berührte John die Wunde und zuckte dann wieder zurück. »Das ist nichts.«

»Hast du es von einem Arzt ansehen lassen?«

»Tyler«, mahnte John seinen Kollegen.

»Schon gut«, beschwichtigte Tyler erneut. »Ich meine ja nur. Mit so was ist nicht zu spaßen. Du könntest eine Gehirnerschütterung haben. So etwas merkt man anfangs oft gar nicht …« Er wartete einen Augenblick, dann fragte er vorsichtig: »Woher hast du diese Verletzung überhaupt?«

»Ich …«, fing John an, setzte aber dann wieder ab. »Ist doch jetzt egal. Es ist nichts Schlimmes, und es geht mir gut, also lass uns jetzt einfach arbeiten, okay?«

»Ganz wie du meinst.«

Schwerfällig und mit einem tiefen Seufzer ließ sich der junge Polizist in den Schreibtischsessel fallen. Tyler maß ihn mit einem sonderbaren Blick, machte Anstalten, etwas zu sagen, überlegte es sich schließlich anders und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder den Akten vor sich.

Aus den Augenwinkeln beobachtete John, wie sich Tyler immer wieder mit der Hand über seinen Nacken fuhr und seine Schultern kreisen ließ.

»Stimmt was nicht?«, fragte er schließlich.

»Nein, es ist alles in Ordnung. Nur diese blöden Verspannungen, die machen mir zu schaffen«, antwortete Tyler.

Die beiden arbeiteten zwei Stunden ruhig nebeneinanderher, ohne viel zu sagen, bis das Telefon John aus seinen Gedanken riss. »Ashton«, meldete er sich. Am anderen Ende der Leitung sprach Olivia, die junge, rothaarige Sekretärin. »Guten Morgen, John. Ich … nun ja.«

»Was ist?«

»Nun, jemand, der Romeo Bariello zum Verwechseln ähnlich sieht, wurde gesehen. Im Krankenhaus. Er hatte eine Schussverletzung.«

Einen Augenblick lang blieb John beinahe die Luft weg. Er war hier …

»John?«

»Ähm, ja.« Hastig versuchte er, seine Fassung wiederzufinden.

»Im Nelson’s Hospital. Eigentlich wollte der Chef nicht, dass du den Auftrag kriegst, aber na ja, ich finde, irgendwie ist das nur richtig so. Und davon konnte ich ihn schließlich auch überzeugen. Vielleicht hast du ja recht. Dann kannst du endlich mal abschließen und dich vergewissern …«

»Danke«, sagte John mit belegter Stimme.

»Du sollst diese Person dort abholen. Es wird nicht schwierig werden.«

»In Ordnung. Danke, Livvie.« John legte auf. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet! Und jetzt war es endlich so weit. In dem Moment sagte Tyler: »Wer war denn dran?«

John überlegte kurz, ob er seinen Kollegen einfach anlügen und allein losfahren sollte, entschied sich aber doch dagegen, weil er vermutlich nicht einmal bis zum Krankenhaus kommen würde. Sein Chef wäre mit einem Alleingang bestimmt nicht einverstanden. Also wandte er sich zu seinem Partner um und sagte: »Komm, Tyler, es gibt Arbeit.«

Kapitel 6

Mit dröhnendem Schädel erwachte Kevin. Dunkelheit umgab ihn. Wo war er? Was war passiert? Was ging hier vor sich?

Verwirrt rappelte er sich hoch. Sein Körper fühlte sich leicht an wie eine Feder, während ihn noch immer Dunkelheit umhüllte. Warum konnte er nichts sehen? Endlich ging ihm im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht auf. Seine Augen waren geschlossen, die Lider klebten zu. Mit eiserner Willenskraft öffnete er schließlich die Augen. Wieso waren seine Lider so schwer, wenn sein restlicher Körper doch förmlich zu schweben schien?

Er blinzelte. Alles um ihn herum war verschwommen und drehte sich. Ganz so, als ob er zu viel getrunken hätte und nach einer durchzechten Nacht nach Hause torkelte. Eine leichte Übelkeit überkam ihn. Was passierte hier? Hatte es nicht einen Unfall gegeben?

Plötzlich ertönte neben ihm wütendes Hupen. Erschrocken fuhr Kevin herum und sah den Scheinwerfer eines Autos auf sich gerichtet. In letzter Sekunde sprang er zur Seite, nur um fast erneut von einem Wagen erfasst zu werden. Verdammt. Na, wenigstens wusste er nun, wo er sich befand – mitten auf einer Straße. Kevin taumelte auf den Gehsteig. Nach einem Orientierungspunkt suchend, blickte er sich um. Wo war er? Wo war Evelyn? Was war passiert? War das alles ein Traum? In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, und die Fragen purzelten umher wie beim Schleudergang in einer Waschmaschine.