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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2015

Copyright © 2015 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Karten Peter Palm

Fotos im Innenteil Agata Skowronek

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Umschlagabbildung Moritz Hoffmann/LOOK-foto/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63098-9 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-55251-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-55251-7

Vorweg

Dies ist die Geschichte einer Emigration auf Zeit. Viele Deutsche denken bei dem Wort «Migranten» an den Zuzug von Nichtdeutschen in ihr Land. Wir wollen von unserem Weg in die umgekehrte Richtung sprechen. Von unserem Umzug in ein Land, aus dem die meisten Zuwanderer in Deutschland stammen. Wir, Susanne Landwehr, Michael Thumann und unsere Kinder Nikolaus und Konstantin, lebten sechs Jahre lang in der Türkei, sechs Jahre in der Metropole Istanbul. Wir versuchten die Sprache, die Gebräuche und die Umgangsformen der Menschen zu erlernen. Die Türken begrüßen sich anders als die Deutschen, für sie bedeutet Familie etwas anderes als in Deutschland, sie feiern anders und lassen sich sogar auf andere Art und Weise die Haare schneiden. Wir versuchten uns einzugliedern in eine Gesellschaft, die uns freundlich, mit offenen Armen empfing und uns doch stets etwas auf Distanz hielt. Mit jeder neuen Annäherung merkten wir, dass wir am Ende außen vor blieben. Das hatte auch mit der Sprache zu tun, die wir erst in der Türkei mit einiger Mühe lernten.

Wir hatten, das sei vorweggeschickt, nicht die Absicht, für immer in Istanbul zu bleiben. Wir gingen als Korrespondenten für deutsche Zeitungen nach Istanbul. Michael war von der ZEIT für gut sechs Jahre entsandt worden, um über die Türkei und den Mittleren Osten zu berichten. Susanne schrieb für die Deutsche Verkehrs-Zeitung. Was für ein Geschenk: Mit der Redaktion im Rücken konnten wir uns in das Abenteuer Istanbul stürzen. Wir waren also nicht auf der Flucht, sondern gingen freiwillig und mit Vorfreude auf die neue Stadt zu. Das unterscheidet uns von den wirklichen Migranten, die in Deutschland nach Arbeit, Eheglück, einem freieren, besseren Leben, nach politischem Asyl oder Zuflucht vor Kriegen suchen. Aber wir lebten in einer sehr türkischen Umgebung, in einem Mehrfamilienhaus, in dem wir lange Zeit die einzigen Ausländer waren, in einer Nachbarschaft, in der es nur wenige Nichttürken gab, in einer Stadt, die jenseits der Hagia Sophia und der Barszene von Beyoğlu wenig von Ausländern geprägt wird – und in der wenige Bewohner Fremdsprachen beherrschen.

 

Wir wollten uns nicht in einem Ausländerghetto verstecken, sondern versuchten, uns in das ganz normale Istanbuler Alltagsleben einzufügen. Das jedoch führte uns fast täglich in einen kleinen Zusammenprall der Kulturen – beim Essen, Arbeiten und Autofahren. Dieser Zusammenprall konnte zu neuer Nähe führen, er war bisweilen ärgerlich, aber oft klärend, er zeigte uns Grenzen auf und stärkte zugleich unser Empfinden, dass wir eben verschieden sind. Meist war er einfach nur amüsant und ließ uns und die Türken herzlich lachen. Das erleichterte unser Leben. Zu unserer Migrationsgeschichte in der Türkei gehörten der Erfolg, uns in Istanbul gut eingerichtet zu haben, genauso wie das ständige kleine Scheitern im Alltag.

Eigentlich mussten wir vor allem lernen, uns durchzusetzen, um das zu bekommen, was wir wollten, und nicht das, wovon andere meinten, dass wir es brauchen könnten. Istanbul ist die Traumstadt der meisten Türken, mehr als ein Viertel der türkischen Gesamtbevölkerung lebt hier oder im weiteren Einzugsgebiet der Stadt. Und noch mal so viele würden gern hier leben, wenn sie nur könnten. Das bedeutet Konkurrenz. Wer in Istanbul nicht richtig fragt, nicht im richtigen Moment lächelt und im Verkehr nicht richtig hupt, kommt einfach nicht voran. Wir haben es am Ende gelernt. Geholfen haben uns Türken. Freunde, Nachbarn, Handwerker, Hausmeister, Beamte, die wollten, dass wir uns in ihrer Stadt wohl fühlen. Istanbul nahm uns auf – durch seine großartigen Menschen, das wunderbare Essen, die verführerischen Gerüche, die atemberaubenden Ausblicke, den mitreißenden Beat der Millionenstadt. Wir haben sechs beglückende und spannende Jahre in der Türkei verbracht – und verließen Istanbul am Ende doch mit dem Gefühl, dass es für uns Zeit war zu gehen.

Ankommen

Diese Stadt ist wie Lava. Sie weitet sich unaufhörlich, begräbt alles Grün unter sich, macht nur an natürlichen Grenzen halt. Im Norden findet sie ihr Ende am Schwarzen Meer. Im Süden stößt sie an eine unüberwindliche Küste – das Marmarameer. Nach Westen streut sie ihre Vororte bis nach Edirne nahe der bulgarischen Grenze. Im Osten aber franst sie aus, da ist noch viel Platz, die Vorstädte fressen sich weit nach Anatolien hinein. Diese Metropole hat auf den Höhepunkten des Baubooms so viel Beton wie keine andere Stadt der Welt verbraucht. Istanbul ist in den letzten sechzig Jahren um das Vierzehnfache auf weit mehr als vierzehn Millionen Einwohner gewachsen.

Die meisten Istanbuler brauchen Stunden, um ihre Stadt zu verlassen. Wir benötigten eine Ewigkeit, um im Stau vom Flughafen in die Stadt zu kommen. Von den Brücken schauten wir auf ein rotes Dächer-Meer. Kein Park, keine Freifläche, kein Wald in Sicht. Stattdessen: Häuser, Straßen, Menschen. Auf unserem Weg stieß Autobahn auf Autobahn, darüber lag eine Brücke, dazwischen ein von Autos umtostes grünes Dreieck. Neben Rasen und einem dürren Bäumchen wuchsen dort Tulpen und Rosen dicht nebeneinander. Ein Schild der Stadtverwaltung klärte über die eigenartige Idylle auf: «Für Sie angelegt, Ihr Bürgermeister.» Eine Parkbank lud zum Verweilen ein, daneben ein Mülleimer. Wem es im Stau zu langweilig wurde, stieg aus. Tatsächlich hatte ein Istanbuler seinen Wagen auf der Standspur geparkt, um mit der Familie auf dem Rasendreieck ein Picknick zu machen. Sie hatten den Grill herausgeholt, Geschirr und Teegläser auf einer Decke ausgebreitet. Während das Fleisch garte, lagen sie scheinbar entspannt auf dem Rasendreieck und schauten auf die tosende Stadt um sich herum. In diesem Moloch also sollten wir wohnen.

Uns schien es, als sei die einzige Gemeinsamkeit zwischen Istanbul und unserem letzten Wohnort Hamburg das Wasser. In Hamburg waren unsere Söhne Nikolaus und Konstantin zur Welt gekommen. Gegenüber unserem fünfstöckigen Wohnhaus in Hamburg-Ottensen lag ein öffentlicher Park, und dahinter ging es den Hügel hinunter zur Elbe. Ein leicht schlechtes Gewissen hatten wir schon, die Kinder aus dieser Idylle zu reißen. Nikolaus, der ältere, konnte Fußball spielen und Roller fahren, Konstantin immerhin schon aus seinem Kinderwagen hoch in die Bäume schauen. Hamburg ist eine sehr kinderfreundliche Stadt, aber bei Istanbul waren wir uns nicht so sicher, was uns erwartete. Wir wussten, dass die vollgepackte Metropole einfach viel weniger Parks und Spielplätze für Kinder hatte. Deshalb packten wir besonders viel Lego in die Umzugskisten. Dazu Spielzeugeisenbahnen, Massen von Plüschtieren und Büchern, auf dass es den Kindern in unseren neuen vier Wänden nicht langweilig werden würde. Das Umzugsgut füllte einen großen Lastzug, der über die Alpen, Italien, per Fähre über das Mittelmeer und durch Griechenland in die Türkei fuhr, während wir die Abkürzung durch die Luft in elftausend Meter Höhe nahmen.

Auf den ersten Blick wirkte Istanbul auf uns wie eine unendliche Anhäufung von Beton, Stahl, Glas und Asphalt. Selbst der Horizont schien zugebaut. Aber das war ein Irrtum, wie wir bald nach unserer Ankunft erfahren sollten. Viele leben in der türkischen Metropole überhaupt nicht mit dem Gefühl, eingeschlossen zu sein. Das hat mit der Lage zu tun. Istanbul breitet sich nicht in der Ebene aus, sondern zieht sich über viele Hügel hinweg. Im Anfang waren es die sieben Hügel des alten oströmischen Konstantinopels. Auf den Anhöhen stehen die großen Moscheen der osmanischen Zeit, auf einem Hügel am Rand der Altstadt das Edirne-Tor, durch das 1453 osmanische Soldaten nach Konstantinopel eingedrungen waren. Jenseits der Istanbuler Hausbucht, dem Goldenen Horn, folgen viele weitere Erhebungen, die erst im 20. Jahrhundert besiedelt wurden. Die Hügel trennen die Bewohner in oben und unten, reich und arm, offen und eingeschlossen. Die Täler sind stickig, winklig, mit Beton zugegossen. Oben wird es luftig, grün, und oft genießt man einen weiten Blick. Istanbul ist von zwei Meeren und einer Meerenge eingeschlossen. Und genau das öffnet seinen Bewohnern den Horizont.

Nur ganz Bescheidene suchen sich ihren Freiraum auf dem staatlich angelegten Straßenbegleitgrün. Freiheitshungrige fahren ans Meer und genießen, den Beton im Rücken und den Wind im Gesicht, die scheinbare Unendlichkeit der See. Nimmersatte nehmen ein Motorboot raus aufs Meer, kreuzen mit dem Fährschiff den Bosporus oder suchen Zuflucht auf einer der stadtnahen Inseln. Naturerlebnisse in Istanbul sind eine schöne Illusion, weil es an sonnigen Tagen nirgends so voll ist wie auf den Fähren, an den Kaimauern und den kurzen Strandabschnitten am Schwarzen Meer. Aber jeder fährt hin, schaut hoch in den weiten Himmel und meint, er sei für sich allein.

Im Stau begriffen wir, dass alles Glück in dieser Stadt von der Wohnlage abhängt: Nicht zu sehr im Gewühl des Zentrums darf die Wohnung liegen, da ist es zu stickig. Nicht zu weit weg darf sie sein, sonst verbringt man alle Zeit im Stau. Nicht zu weit weg vom Wasser, damit die Illusion der Freiheit nahe ist. Aber nicht direkt am Wasser, weil es dort zu voll ist, vor allem an den Wochenenden. Wir bezogen für ein paar Tage eine wunderbare Gastwohnung, die Gabi und Erdoğan vermieteten, zwei Architekten und Unternehmer mit innovativen Ideen, wie man in Istanbul gut wohnen, lernen und feiern kann. Sie wurden später zu unseren Freunden. Nach einer guten Woche intensiver Besichtigungen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer fanden wir den richtigen Ort: im Bosporus-Stadtteil Arnavutköy auf der europäischen Seite Istanbuls. Eine ehemalige Korrespondentin hatte uns Arnavutköy als kinderfreundlichen Ort empfohlen. Sie hatte recht. Wir zogen in eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, daneben lagen ein Garten und ein kleiner Park für die Kinder. Von hier ging es gute zehn Minuten zu Fuß bergab zum Büro der ZEIT, Michaels Ausgangspunkt für viele Reisen in der Türkei und im Nahen Osten. Es lag mitten im Gewühl von Arnavutköy, zwei Straßen vom Bosporus entfernt. Ein Taxistand davor, eine Galerie dahinter, ein Restaurant gegenüber. Auch ein Kindergarten war in der Nähe, ein Obstladen, ein kleiner Supermarkt. Vom Haus zum Büro konnte man zu Fuß laufen und musste sich nicht durch das Verkehrschaos quälen. Perfekt. Wir ahnten nicht, welche Hürden noch vor uns lagen, bis wir hier offiziell wohnen durften.

Wer Istanbuler werden möchte, muss sich registrieren. Und das ist schwieriger als gedacht. Aber vielleicht ist es auch nur gerecht. Denn normalerweise sind es die Türken, die gegenüber den Deutschen benachteiligt sind, wenn sie auf Reisen gehen. Die Deutschen winken in Istanbul nur mit dem Personalausweis – und schon sind sie im Land. Die Türken müssen bei deutschen Generalkonsulaten Termine vereinbaren, müssen kiloweise Papiere herbeischaffen und – wenn sie zu den Glücklichen gehören, die ein Visum bekommen – hohe Gebühren bezahlen. An deutschen Flughäfen werden sie noch auf der Gangway nach Pass und Visum gefragt, im Gebäude wird alles sorgfältig überprüft, erst dann dürfen sie das Land betreten. Für ein paar Tage oder Wochen, so, wie es der deutsche Konsul erlaubt hat. Da haben es deutsche Touristen in der Türkei besser.

Doch die türkische Bürokratie gleicht das alles aus, wenn es darum geht, in der Türkei zu leben. Ade, Personalausweis. 2007, als wir nach Istanbul zogen, mussten wir wie alle von fern Zugezogenen zur zentralen Ausländerpolizei im Istanbuler Stadtteil Aksaray pilgern. Einige Jahre später durften wir dann für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in eine lokale Polizeistation in unserer Nähe gehen. Aber diese Verbesserung gab es damals noch nicht.

Die zentrale Polizeibehörde ist ein riesiger Bau aus den achtziger Jahren, Beton, Stahl, Glas, der kein Ende zu nehmen scheint. Er liegt an einer sechsspurigen Straße, die vor sechzig Jahren in die Stadt gefräst wurde. Im gigantischen Innenhof könnten auch Panzer paradieren. Das große Gebäude hielt für seine Besucher die perfekteste aller Begrüßungen parat. Ein Spruchband an der Fassade zitierte den Urvater Atatürk mit den Worten: «Ne mutlu Türküm diyene» – «Glücklich ist jener, der von sich sagen kann, Türke zu sein.»

Der tiefere Sinn des Spruches erschloss sich uns erst im Innern des Gebäudes. Glücklich konnte sich in der Tat jeder schätzen, der hier niemals hineinmusste. Betontreppen, flackerndes Neonlicht, Menschentrauben, verwirrte, verirrte Blicke. Man zog sich wie in einer deutschen Behörde eine Nummer. Alle warteten. Deutsche, Kasachen, Franzosen, Turkmenen, Ukrainer. Saßen auf Korridorböden, dösten an Wänden, wechselten vom einen Bein aufs andere. Etwa auf Bauchnabelhöhe gab es auf den Fluren Fenster, dahinter saßen die Beamten. Um mit ihnen in Kontakt zu treten, musste sich der Besucher tief bücken. Doch was sprach man? Kein Englisch, Französisch, Deutsch. Natürlich sprachen alle Beamten der Ausländerpolizei ausschließlich Türkisch. Wir hatten schon in Deutschland zwei Jahre vor dem Umzug etwas Türkisch in Abendkursen gelernt: Begrüßung, Einkaufen, Moscheenbesuche, Wetterbericht. Aber das reichte alles nicht, um das genuschelte Bürokratentürkisch zu verstehen. Wenn Michael wieder nichts verstanden hatte, legte er einfach seine Akkreditierung als Korrespondent vor, die er vom türkischen Informationsministerium erhalten hatte. Nach dem ersten Austausch verstanden wir schnell, dass wir zu wenige, viel zu wenige Dokumente dabeihatten, obwohl wir die Listen der Ausländerpolizei im Internet ausführlich studiert hatten. Es fehlten Kopien, es fehlte der richtige farbige Ausdruck, vor allem aber Schriftstücke, die onay belgesi und vekaletname hießen. Das mussten wir uns erst von einem Übersetzer erklären lassen: «Beglaubigungen» und «Vollmachten». Wir fanden einen Übersetzer beim Notar, der solche Papiere ausstellte. Die Polizeibeamten wollten eine Übersetzung unserer Dokumente, eine Vollmacht für den Übersetzer und die Beglaubigung sämtlicher Amtspapiere. Dann zeigten sie auf unsere Kinder, die müde und erschöpft an unseren Händen hingen: Sie wollten eine notariell bestätigte Erklärung, dass wir für alle Kosten unserer Kinder aufkommen. Da wir das auch in Deutschland und überall tun, fiel uns das nicht schwer. Bis auf den Extragang zum Notar natürlich.

Aber zunächst setzten wir uns zum Verschnaufen in die Kantine der Ausländerpolizei, ins Café Vaterland. Die Kinder bekamen eine Fanta zum Aufwachen und einen Simit, den türkischen Sesamkringel. Bei einem Glas pechschwarzen Tees versuchten wir zu verstehen, was uns widerfuhr: Dieses Land hat eine starke Staatstradition. Erst das Osmanische Reich, dann die Türkische Republik. Ihre Beamten folgen in Jahrzehnten, wenn nicht in Jahrhunderten eingeübten Prozeduren, sie haben strenge Hierarchien. Von den Abteilungsleitern, die wie kleine Herrscher in ihren Eckbüros residieren, bis hinunter zu den Zettelabreißern und Aktenschiebern. Papier war ihr Lebenselixier. Nun war inzwischen der Computer hinzugekommen. Das führt zu einem eigenartigen Nebeneinander von digitaler Welt und Papyrusrolle. Wir sahen, wie Beamte unsere Daten, die wir auf der Website eingegeben hatten, nur auf dem Ausdruck entgegennahmen. Dann gaben sie vor unseren Augen Daten vom Ausdruck ins System ein, die wir längst eingegeben hatten, um davon einen neuen Ausdruck zu machen, ein Lineal daran anzulegen und den Bogen an der Linealkante in drei exakt gleiche Abschnitte zu reißen. Davon bekamen wir einen, die anderen beiden wurden in Zettelkästen neben den Computern archiviert. Dann waren wir für diesen Tag entlassen.

Wir brauchten dringend Beratung und Anleitung. Die Türkei hat Amtsschimmel wie jedes Land, sicher sind sie auch in deutschen Ausländerbehörden gut vertreten. Es sind Leute, die nicht verstehen, warum man ihre Abläufe nicht versteht. Die Türkei hat aber auch freundliche, zuvorkommende und effiziente Beamte, zum Beispiel den Vertreter des Informationsministeriums in Istanbul. Necmettin Altuntaş hatte Michael schon vor dem Besuch im Ausländeramt die Akkreditierung gegeben. Einen Tag nach unserem Besuch gingen wir wieder zu ihm. Er war stets gut aufgelegt und verlor inmitten der Zettelberge nie die Zuversicht. Als wir etwas verwirrt in seinem Büro saßen, ließ er uns einen Tee servieren und verriet uns dann die kleinen Kniffe. Einer davon war: Den Antrag für die Daueraufenthaltsberechtigung musste man unbedingt auf einem Farbdrucker ausdrucken. Dann würde nämlich die kleine türkische Flagge in der oberen rechten Ecke rot aufscheinen. Das freut die Beamten, denn so ist es Vorschrift. Und nur so bekommt man das Aufenthaltsrecht.

Noch am selben Tag klaubten wir alle unsere Papiere zusammen und gingen zu dem einzigen Notar in unserer Wohngegend, wo wir onay belgesi und vekaletname bekommen würden, die Beglaubigungen und Vollmachten. Dabei half uns ein auf juristische Problemfälle spezialisierter Übersetzer, den wir beim Notar kennenlernten. Er übersetzte jedes unserer Dokumente, ob Geburtsurkunden, Heiratsurkunde oder Reisepass, ins Türkische. Als die Notariatsangestellten das alles schön abgeschrieben, dreimal gestempelt und in einem Fall sogar mit Siegellack versehen hatten, übersetzte er uns unsere Reisepässe noch einmal mündlich zurück ins Deutsche. Wir nickten. Anschließend druckten wir uns den Antrag auf einem Farbdrucker aus: Die türkische Flagge war wunderschön rot. Nun konnte uns niemand mehr aufhalten.

 

Bei unserem zweiten Besuch im Ausländeramt waren wir schon Experten. Um uns herum die unsicheren Blicke derjenigen, die zum ersten Mal hier waren. Die Fragen, die genuschelten Antworten, die bürokratischen Fallen – nichts konnte uns überraschen, nichts war mehr ein Problem. Aus einem Aktenordner voll Klarsichthüllen zogen wir unsere gestempelten und beglaubigten Papiere. Und schon eine Woche später war sie fertig: unsere türkische Yabancı mahsus ikamet tezkeresi – ein Wortungetüm, das es mit dem komplizierten deutschen Amtskompositum mühelos aufnehmen kann – die «Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer». Blauer Plastikeinband wie ein türkischer Pass, vierundzwanzig Seiten, Lichtbild, viele Stempel und sogar die Namen der Vorfahren. Fast alles erfuhr man daraus über uns, nur Michaels korrektes Geburtsdatum nicht. Die freundliche Beamtin hatte sich während des Übertragens des Visumantrags in das Computersystem mit mindestens drei Kolleginnen unterhalten. Dabei hatte sie Michael in der Zeile Geburtsdatum versehentlich zehn Jahre älter gemacht, als er war. Wir wiesen sie darauf hin, konnten uns aber offenbar nicht verständlich machen. Der Fehler wurde sogar in alle anderen türkischen Dokumente übertragen und trug Michael auf Ämtern, in Banken und bei Polizeikontrollen viel unverhofftes Lob ein: «Sie sehen aber jung aus!»

Fortan lebten wir als komplett legale Nichttürken in der Türkei. Nach der Anmeldung durfte der Umzugswagen aus Deutschland das Zollgelände verlassen und zu uns nach Arnavutköy kommen. Wir durften auch unser aus Deutschland mitgebrachtes Auto beim Straßenverkehrsamt anmelden. Aber wir hatten noch kein Telefon, wir mussten unsere Strom- und Wasserzähler registrieren. Die Versorgungs-Gesellschaften von Istanbul arbeiten ganz ähnlich wie das Ausländeramt, mussten wir bald feststellen. Man sollte sich also ausreichend Zeit nehmen, eine Nummer ziehen und sich dann entspannt auf einem Schemel im Warteraum niederlassen – man wird dort den ganzen Tag verbringen.

Unser Festnetztelefon konnten wir problemlos anmelden, aber überraschenderweise nicht unsere Mobiltelefone. Dafür hätten wir entweder türkischer Staatsbürger sein oder einen türkischen Bürgen haben müssen. Einen echten Türken, der unsere Rechnung bezahlen würde, falls wir uns entscheiden würden, es nicht zu tun. Wir fragten Lamia um Rat. Unsere gute Freundin, eine zupackende, fröhliche, lebenstüchtige Istanbuler Unternehmerin, die uns stets aushalf, wenn wir in den Teufelskreis von vekaletname und onay belgesi gerieten. Michael hatte Lamia schon bei einem seiner früheren Besuche nach Istanbul kennengelernt, auf einer Konferenz über deutsch-türkische Beziehungen. Lamia beriet uns in vielen Fragen, die wir vor dem Umzug hatten: Wo lebt man in Istanbul? Welche Makler sind zuverlässig? Wer kann sich um die Kinder kümmern, wenn wir die Möbel und Kisten auspacken? Sie freute sich auf uns, und wir freuten uns, in ihrer Nähe leben zu können. Oft waren wir während unserer Istanbuler Zeit in ihrer schönen Wohnung zum Abendessen. Lamia half uns auch bei den Mobiltelefonen. Nur als man uns einmal völlig überraschend das Wasser abstellen wollte, war auch sie hilflos. Die Registrierung beim Wasseramt musste jeder Istanbuler höchstpersönlich vornehmen. Eine bürokratische Notwendigkeit, die nicht weniger wichtig zu sein schien als die Aufenthaltsgenehmigung.

Wasser war in Istanbul lange Zeit einfach da. Anders als wir es von Deutschland aus vermutet hatten, regnet es nämlich in Istanbul viel und reichlich. Die trüben Regentage dieser Stadt am Schwarzen Meer hat der Schriftsteller Orhan Pamuk eindringlich beschrieben. In seinen Erinnerungen zeichnet er ein schwermütiges Bild von der Stadt: «Das Istanbul meiner Kindheit habe ich wie ein Schwarzweißfoto erlebt, als zweifarbigen, halbdunklen, bleigrauen Ort», so leitet er ein Kapitel ein. Dann bekennt er seine Liebe zum Winter: «Ich genieße den Anblick des früh hereinbrechenden Abends, der kahlen Bäume, die im Nordostwind zittern.» Er besingt das Halblicht der Stadt: «Rauchige Nebelmorgen, auf Moscheekuppeln hockende Möwen, verschmutzte Luft, Ofenrohre, die aus Häusern herausragen wie Geschützläufe.» Pamuk beschreibt eine Gemütsverfassung, die zur Stadt gehöre wie der Bosporus: Hüzün heißt sie auf Türkisch. Pamuk selbst übersetzt das mit Melancholie. Der Regen gehörte dazu, an Wasser war kein Mangel. Entsprechend verhielten sich auch weniger melancholische Istanbuler. Sie hatten den Gartenschlauch im Sommer von Mai bis Oktober durchgehend geöffnet. Hektoliterweise floss Wasser über Asphaltpfade und Beton, übers Restgrün und vor allem das geliebte Automobil. Wasser war praktisch umsonst.

 

Diese verschwenderischen Zeiten waren aber bereits an ihr Ende gekommen, als wir nach Istanbul zogen. Der Klimawandel mit seinen Extremen suchte auch Istanbul heim, eine Dürre hatte die Stadt anderthalb Jahre lang geplagt, das gigantische Wasserreservoir im Belgrader Wald nahe dem Schwarzen Meer war fast erschöpft. Die Stadtverwaltung dekretierte Wassersparen und stellte fest, dass Einzel-Abrechnungen pro Haushalt dafür ein gutes Mittel sind. In unserem Haus in Arnavutköy bekam jede Wohnung einen Wasserzähler. Den aber musste man registrieren. Konnten wir anrufen, uns im Netz einloggen, per Fax anmelden? Nichts da. Unser ganzes Haus, Eigentümer und Nachbarn, musste gemeinsam bei Iski, dem Istanbuler Wasser-Monopolisten, antreten – Mietvertrag und Ausweispapiere, Beglaubigungen und Siegeldokumente unter die Arme geklemmt.

Also fuhren wir mit dem Taxi in einen fernen Außenbezirk von Istanbul, wo es keine Metro, keinen Bus, keine Parkplätze gab. Dafür warteten bei unserer Ankunft schon Dutzende Antragsteller in der großen Halle von Iski. Wir zogen wieder Wartenummern. Drei Iski-Mitarbeiter saßen hinter dem charakteristischen Sprechfenster auf Bauchnabelhöhe. Nadeldrucker kratzten, Durchschlagpapiere wurden gelocht. Nach einer Stunde fragte unsere Vermieterin als Chefin unserer Expeditionsgruppe, warum es so lange dauere. Keine Erklärung, nur ein gebrummtes: «Warten Sie bitte!» Nach zwei Stunden war es so weit: Mittagspause für die Iski-Leute. Sie schlossen die Schalter und verschwanden. Uns wurde immerhin Wasser aus dem Hahn gereicht, leichte Chlorblume, undefinierbares Sprudeln, aber durchsichtig. Nach der einstündigen Pause ging’s weiter. Endlich, endlich waren wir an der Reihe. Wir hätten eine Wasserschuld von umgerechnet eintausend Euro für das ganze Haus zu bezahlen, sagte ein Iski-Mann. Woher die kam, konnte er nicht erklären. Unsere Vermieterin, eine resolute Frau, lief stracks zum Chef. Wir beobachteten die Szene aus dem Korridor. Im Büro des Chefs standen zahlreiche Männer mit Teegläsern um den Schreibtisch. Sie sprengte die Versammlung und verlangte Erklärung. Der Chef gab zu, dass die Summe falsch sein musste, aber irgendeinen Rückstand hätten wir bestimmt. Den genauen Betrag sollte der Iski-Mitarbeiter klären. Der las ausgiebig unsere Mietverträge und Siegelpapiere, aber die ausstehende Summe fand er nicht. Am Ende des Arbeitstages fuhren wir wieder nach Haus. Ohne Registrierung, komplett frustriert, aber immerhin mit fließendem Wasser. Wir beließen es dabei.

Einen Monat später flatterte uns ein Brief von Iski ins Haus: unsere schriftliche Registrierung und eine lächerliche Nachzahlung von ein paar Lira. Wir lernten eine weitere türkische Lektion: Manche Probleme darf man nicht ernst nehmen, man muss sie einfach aussitzen.

Am Ende unserer Reise durch die Istanbuler Behörden durften wir uns mit vollem Recht zu den anderen vierzehn Millionen Bewohnern dieser Stadt zählen. Wir nutzten rechtmäßig Strom und Wasser, hatten eine fertig eingerichtete, angemeldete Wohnung. Wir kannten die Supermärkte in der Nähe, hatten ein Auto und einen Kindergartenplatz für unseren älteren Sohn Nikolaus. Und wir besaßen eine schöne Aufenthaltsberechtigung mit blauem Einband, die so etwas war wie ein türkischer Inlandspass.

Eines fehlte noch: das Postfach. Michael wollte eins haben, da die Austräger die Briefumschläge gern einfach auf dem Hausstein oder dem Treppenhausboden ablegten, wo jeder sah, von wem der Nachbar Briefe erhielt. Das fanden die Türken normal und durchaus interessant, aber für die geschäftliche Post bevorzugte Michael dann doch einen diskreteren Weg.

Also musste ich zur Post. Die Filiale in Arnavutköy liegt an einer Ecke, gegenüber arbeiten ein Schreiner, daneben ein Notar und ein Friseur. Das alte Haus hat eine neue Aluminium-Tür, durch die ich in das frisch renovierte Postamt ging. Helles Holz, Schalter mit satiniertem Glas und Stahl. Der ausländische Kunde wolle also ein Postfach eröffnen, wiederholte der Beamte Kemal Bey ungläubig meine Bitte. Er erklärte, was er dafür sehen wollte: Reisepass, polizeiliche Anmeldung und ein Passbild. Ich übergab ihm alles aus meinem wohlerprobten Aktenordner mit den Klarsichthüllen und den vielen Dokumenten. Daraufhin übergab er mir den Postfachschlüssel, der ziemlich verrostet war. «Lassen Sie ihn einfach nachmachen, dann passt er besser», empfahl Kemal Bey. Kurz darauf kehrte ich mit dem neuen Schlüssel zurück. Die Postfächer: total verrostet. Der Schlüssel: passt nicht. Was tun? Kemal Bey wusste Rat. «Ganz ehrlich», flüsterte er, «wer braucht heute noch die Post? Verschicken Sie Ihre Briefe besser per E-Mail, und schon ist das Schlüsselproblem gelöst.» Gute Idee. Den Schlüssel zum Postfach behielt ich trotzdem. Dann sah ich, dass Kemal Bey meinem Passfoto mit zwei Kuli-Strichen kurzerhand einen Schnauzer verpasst hatte. Ich fragte ihn, warum. Das sieht türkischer aus, antwortete er. Da hatte er recht.

Leben in Arnavutköy

Täglich fahren Dutzende großer Frachter, Kreuzfahrtschiffe und Öltanker an unserem Stadtteil Arnavutköy vorbei. Allein fünftausend Tanker sind es im Jahr, die auf dem Bosporus zwischen den Meeren pendeln. Wer hier länger lebt, beachtet die Stahlkolosse kaum, sie gehören zur Kulisse wie die grünen Hänge auf der asiatischen Seite des Bosporus. Keiner ahnte, dass Arnavutköy an einem sonnigen Frühlingstag im zweiten Jahr nach unserer Ankunft kurz vor seiner Zerstörung stand. Denn einer von diesen fünftausend Tankern hatte ein Problem. Unaufhörlich trompetete sein Schiffshorn. Wir gingen gerade mit den Kindern an der Uferpromenade spazieren und dachten, die Besatzung wollte uns grüßen. Also winkten wir dem Tanker vom Uferrand zu. Aber niemand winkte zurück. Die Mannschaft hatte zu tun, und wir merkten bald, warum. Der Tanker zog nicht den üblichen Halbkreis der Schiffe um die Akıntıburnu («Strömungsnase»), die Landzunge von Arnavutköy, herum. Und diese Strömungsnase hat es in sich: Sie fordert eine ebenso behutsame wie beherzte Navigation, weil der Bosporus voller Untiefen ist. Eine Strömung an seiner Oberfläche geht vom Schwarzen Meer zum Marmarameer und eine darunterliegende Strömung in umgekehrte Richtung. Der Kapitän hatte offensichtlich die Kontrolle über den riesigen Pott verloren. Das Schiff trieb in den Wellen und drehte seinen gewaltigen, schwarzgetünchten Bug Arnavutköy zu. Seine Bordwände ragten weit höher auf als alle Häuser unseres Stadtteils. Langsam, aber unaufhörlich bewegte sich der riesige Tanker auf uns zu.

Am Ufer begannen die Leute zu rufen, zu winken, zu schreien: «Stoppt das Schiff!» Der Tanker trieb geradewegs und unerbittlich auf das Herz von Arnavutköy zu, die Marina, den Anleger, die Holzhäuser am Ufer. Die Feuerwehr kam vorgefahren und sperrte die Küstenstraße ab. Die Fischer und Yachtbesitzer sprangen in ihre Boote und fuhren aus der Marina hinaus in die Mitte des Bosporus. Dort verharrten sie still in Erwartung der Katastrophe. Das gewaltige Schiff bewegte sich weiter in Richtung Dorf. Auf der nahen Bosporus-Brücke kam der Verkehr zum Erliegen, die Autofahrer starrten zu uns herüber. Die Glocken der griechisch-orthodoxen Kirche läuteten Sturm, der Muezzin der Moschee rief die Leute am Ufer auf, sich in Sicherheit zu bringen. Die Kellner der Restaurants ließen die Tabletts liegen. Wenige fingen an wegzulaufen, die meisten blieben in Schockstarre stehen. Auch wir blickten regungslos auf den Giganten voller Rohöl, dessen Stahlwände Arnavutköys hölzerne Pracht binnen Minuten zerschlagen würde. Plötzlich aber kam der Tanker wie durch Zauberhand und völlig geräuschlos zum Stehen. Er war auf eine Sandbank gelaufen. Wir sahen uns ungläubig an und schauten auf den gestrandeten Riesen vor der Promenade. Viele am Ufer fielen sich tief erleichtert in die Arme, auch wir schüttelten wildfremden Leuten die Hände. Das Leben in unserem Stadtteil nahm seinen gewohnten ruhigen Rhythmus wieder auf.

Arnavutköy am Bosporus steht in keinem der großen Reiseführer. Es liegt nicht in der Nähe der Hagia Sophia und hat keinen Anschluss an eine Stadtautobahn. Vom Zentrum ist der Stadtteil knapp zwanzig Minuten mit dem Auto entfernt. Wenn man vom Wasser hochschaut, wärmt es einem das Herz: ein Urlaubsort in der Megametropole. Arnavutköy wächst von der Küste in drei Schichten den Berg hoch. In Ufernähe steht die Altstadt mit ihren reich dekorierten Holzhäusern, darüber am Hang liegen die einfachen Holzhäuser und Ziegenhöfe, und oben am Berg stehen Mehrfamilienhäuser aus Stein und Beton mit kleinen Gärten. Dieser Unterschied in der Bauweise war wichtig, wir werden im Kapitel «Überleben» noch darauf zurückkommen. Wir wohnten oben und arbeiteten unten im Dorf. Die Straßen sind so eng, dass die großen Touristenbusse nicht in den Ortskern passen. Die durchkreuzen leider fast jeden älteren Stadtteil Istanbuls. Doch in Arnavutköy kann man noch auf der Straße gehen, ohne sich mit einem Hechtsprung vor dem herannahenden Bus an die Häuserwand retten zu müssen. In der Altstadt mit den wunderbaren Holzhäusern wohnen tatsächlich noch viele Menschen, sie sind keine historischen Attrappen für Großraumbüros wie in der Innenstadt. Für uns war das ein entscheidender Grund, in diesem Stadtteil Wohnung und Büro nicht weit voneinander entfernt zu mieten. Die Geschäfte sind noch Geschäfte und keine Ketten oder Teppichläden, in denen den Touristen Apfeltee gereicht wird, den die Türken selbst nie trinken. In Arnavutköy trinkt man Schwarztee vom Schwarzen Meer. Alles ist echt.

Das also war unsere Mahalle, unsere Nachbarschaft, unser Viertel oder wie man in Berlin sagt: unser Kiez. Eine Istanbuler Mahalle ist mehr als eine Ansammlung von Häusern und Läden. Es ist der Schnittpunkt von Wohnzimmer und öffentlichem Raum, von Familienleben und dem Leben der anderen. Manche haben sich auf der Straße mit Stühlen und Schemeln eingerichtet und redeten sich die Köpfe heiß: über höhere Mietpreise, die zu klein ausgefallenen Bosporus-Fische in dieser Saison oder das Familiendrama im Nachbarviertel, das in den Zeitungen Schlagzeilen machte. In der Mahalle mussten wir als Nichttürken unseren rechten Platz finden, in den schmalen Gassen zwischen Moschee, Kirche und Teehaus. Mit unserem ausbaufähigen Türkisch waren wir irgendwann in den Gesprächen dabei – oder manchmal eben auch nicht. Wir lernten die Dorfbewohner kennen, teilweise nur oberflächlich, teilweise näher, als uns lieb war. Hier war, wie sich schnell herausstellen sollte, die Bühne unserer Integration und des steten Lernens, ein Istanbuler zu werden.

 

Die Mitte von Arnavutköy liegt fast etwas versteckt: ein kleiner Platz. Anders als in Hamburg oder Berlin sehen auch zentraler gelegene Teile Istanbuls aus wie ein Dorf. Istanbul ist wie ein Teppich, gewebt aus vielen kleinen Mahalles. Deshalb wirkt alles etwas gemächlicher, obwohl man mitten in der Großstadt lebt. Am Dorfplatz steht die griechisch-orthodoxe Erzengel-Kirche, eine stolze Kathedrale aus Sandstein, Granit und Marmor, die viel zu groß wirkt für das kleine Arnavutköy. Um den Platz stehen alte Häuser mit Restaurants und Werkstätten, kleine Eukalyptusbäume und die Zypressen des Kirchhofs. Oben auf dem Kirchturm ist auf Altgriechisch zu lesen: «Deute pros me – kommet zu mir.» Wir folgten diesem Ruf beinahe täglich, zumindest, was den Platz anging: Schon bald hatten wir das Nachos, ein kleines Café gegenüber der Kirche, zu unserem Lieblingsort für türkischen Mokka gekürt. Es wurde von Füsun in Alleinregie geführt, was für eine Frau in Istanbul keine Selbstverständlichkeit ist. Füsun war Mitte vierzig, geschieden, kräftig gebaut, resolut, hatte zur Verstärkung einen großen Hund und wohnte in einer Zwischenetage direkt über dem Café. Aus ihrem Schlafzimmer konnte sie durch die zum Teil offene Decke direkt auf die Eingangstür schauen. Sie fragte uns immer: «Was gibt es Neues da draußen?» Sie zahlte eine saftige Miete und machte aus Geldgründen praktisch keinen Urlaub. Deshalb reiste sie gern mit ihren Gästen und hörte ihren Erzählungen aus fernen Ländern zu. Dafür revanchierte sie sich mit den neuesten Details aus der Nachbarschaft: Wer hat geheiratet, wer hat sich laut gezofft, wer ist beim Fischen in den Bosporus gefallen? Von ihren Tischchen auf dem Platz ließ sich das Wesentliche überblicken. Ein Gemüseverkäufer hatte sein Wägelchen vor der Fleischerei geparkt und machte dem Metzger mit Kartoffeln, Karotten und Spinat Konkurrenz. Der orthodoxe Priester fegte den Kirchhof für die Sonntagsmesse. Der Dorfnotar schloss sein Kontor für den verdienten Mittagsschlaf. Der Schuhsohlenverkäufer hatte seine ganze Ware an Bändern über den Schultern hängen und pries seine Filzsohlen für den Winter an. Der Schreiner gegenüber ließ seine frischlackierten Schränke auf dem Bürgersteig trocknen. Aus dem Elektroladen dudelte das Radio. Das Büro des Muhtars, des Ortsvorstehers der Mahalle, war häufig geschlossen. Arnavutköy regiert sich fast allein.

Wenn etwas aus dem Ruder läuft, helfen sich die Bewohner selbst. Wir als Neue waren zu Beginn etwas erschrocken, als wir zum ersten Mal Erhan, dem Dorfirren, begegneten. Er war um die dreißig Jahre alt, lief stets in einem gestreiften Sweatshirt und einer zu weiten Hose durch das Dorf und kündigte sich von weitem mit einem näselnd-knarrenden Ton an. Er redete laut vor sich hin und freute sich, wenn jemand antwortete. Die meisten taten es nicht, weil er kaum zu verstehen war. Erhan war ein echter Arnavutköyer und wurde von allen als ein solcher akzeptiert. Und behütet. Erhan hing sich gern an jüngere Frauen, um sie zu küssen. Saßen sie im Café, versuchte er, aus ihren Tassen zu trinken oder von ihren Honigkuchen zu essen. Oder er fragte: «Was schenkst du mir zum Geburtstag?», und nahm sich – zack! – eine Zigarettenschachtel vom