David Kraus
und die verschlungenen Wege zum Glück
Knaur eBooks
Rabbiner David Kraus, geboren 1982 in Jerusalem, wuchs in Regensburg auf und wanderte mit 24 nach Israel aus. Zusätzlich zu seiner Ausbildung und Einsetzung als Rabbiner ist er ausgebildeter Paar- und Familienberater. Rabbi David Kraus lebt mit seiner Familie in Jerusalem.
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: total italic, Thierry Wijnberg
Coverabbildung: Oliver Brauer
ISBN 978-3-426-46273-7
Du bist etwas ganz Besonderes.
Der Tag, an dem du geboren wurdest, ist der Tag, an dem Gott entschieden hat, dass die Welt ohne dich nicht mehr existieren kann.
Schön, dass du mein Buch für dich entdeckt hast. Es ist mir eine Ehre!
Jerusalem, im Juni 2021
Sei mir gegrüßt, liebe Leserin, lieber Leser!
Stellst du dir auch manchmal Fragen wie: »Was ist der Sinn meines Lebens?« Oder: »Wie kann ich glücklich werden?« Oder auch: »Wie komme ich bloß aus meinem seelischen Tief raus?« Wenn du offen dafür bist, dir von einem Rabbi etwas über Glück erzählen zu lassen, dann bist du hier richtig. Denn dies ist meine Geschichte – die Geschichte eines »Thoraglücklichen«. Mein Glücks-Weg, der durch viele Anstiege und Täler führte, soll dich inspirieren. Wenn du am Ende sagst: »Dieser David scheint echt ein glücklicher Mensch geworden zu sein, und vielleicht hilft mir seine Geschichte, meinen Weg zum Glück zu finden« – dann haben wir beide gewonnen. Und mich würde das … ja, was wohl? … glücklich machen.
Um in mein Buch hineinzufinden, brauchst du kein Vorwissen über das Judentum und die Thora, also unsere Schriften der göttlichen Lehren und Gesetze. Und du musst nichts über meinen ersten Rabbiner, Rabbi Mordechai Eliyahu, den Chassidismus und den Rabbi Nachman wissen, von dem ich so unendlich viel gelernt habe und jeden Tag weiter lerne, obwohl er im 18. Jahrhundert gelebt hat. Es genügt, wenn du offen bist für die Erkenntnis, dass im Judentum eine Menge psychologischer Weisheit steckt. Sie kann uns auch heute helfen, Antworten auf Lebensfragen zu geben. Ich habe es am eigenen Leib und der eigenen Seele erlebt.
Du bist skeptisch? Umso willkommener bist du mir! Denn dies ist kein Buch, das dich für meinen Glauben gewinnen soll. Ich will dir nicht erklären, welcher Weg der richtige ist, sondern dich einfach nur teilhaben lassen an dem, was mich glücklich macht. Mit einem Wort ist das: Lebensfreude. Hab auch du Freude am Leben – egal was es dir gerade bietet oder zumutet. Die Quelle dieser Freude ist bei mir: Emuna. So heißt auf Hebräisch die Kraft des Glaubens oder, wie manche es übersetzen: das Vertrauen in Gott.
Willst du mitkommen auf diese Reise? Dann steig ein! Aber schnall dich besser an – es wird eine schwungvolle Fahrt. Viel Spaß dabei!
Dein David
Ich komme wieder zu mir und blinzle. In was für einen schrägen Film bin ich hier geraten? Oder ist es ein Albtraum? Ich liege auf dem Rücken und sehe, dass drei Sneakers auf mich zeigen. Dann höre ich die sich überschlagende Stimme meines Angreifers. Ich kenne ihn – er ist Muslim. Er steht über mir wie ein Gangster und schreit auf mich ein: »Das war nicht ich, der dich hier runtergeschubst hat, du Scheißjude! Das war Gott!« Dann wird er von Security-Leuten weggezogen. Zwei der Sneakers verschwinden aus meinem Blickfeld. Aber einer ist immer noch da – so als stünde ein Einbeiniger vor mir. Ich hebe meinen Kopf und sehe: Es ist mein eigener Fuß, der da merkwürdig schief in meine Richtung zeigt, weil mein Unterschenkel völlig verdreht ist und wie ein Fremdkörper an mir hängt. Der Schock und eine Welle ungeheurer Schmerzen schießen gleichzeitig durch meinen Körper – und ich verliere erneut das Bewusstsein.
Als ich erwache, haben wir den 18. März 2005. Ich bin 24 Jahre alt und war gestern wie fast jedes Wochenende unterwegs. Zu später Stunde geriet ich in einen Streit mit dem Muslim. Das Ganze artete in eine kurze Rangelei aus. Und als diese eigentlich schon vorbei war und ich mich abgewandt hatte, griff er mich von hinten an und stieß mich eine Treppe hinunter.
Und nun liege ich in einem Klinikbett und bin bereits einmal operiert worden. Man hat mir schon angedeutet, dass es keineswegs die einzige OP bleiben wird. Morgen wollen die Ärzte ausführlicher mit mir sprechen. Und ich denke derweil über den Trümmerhaufen nach, den ich bis gestern »mein Leben« nannte. Ich habe Geld und alles, was ein materialistisch eingestellter junger Mann sich wünscht. Ich studiere, habe die Abschlussprüfung fest im Blick und bin im Begriff, Hotelbetriebswirt zu werden. Ich liebe schnelle Autos, Musik und Klubs, und ich habe jede Menge Freunde, mit denen ich am Wochenende auf der Piste bin. Irgendwann will ich auch mal heiraten und Kinder haben – aber ganz sicher noch nicht jetzt. Ich will … ich wollte mein Leben und meine Jugend erst mal in vollen Zügen genießen, ohne über den Ernst des Lebens nachzudenken. Und nun? Was wird jetzt aus alldem?
Inzwischen ist der Angriff zehn Tage her – und ich bin durch die Hölle gegangen. Eigentlich wollte ich die ganze Zeit nur noch sterben.
Das eine sind meine schweren Verletzungen. Aber noch schlimmer ist etwas anderes: Ich habe plötzlich keine Freunde mehr. Vor zwei Wochen waren es noch verdammt viele, aber die haben sich jetzt alle blitzschnell verpieselt. Nach dem Motto: Sollen wir jetzt etwa einen Krüppel mit zum Feiern nehmen? Ist doch viel zu anstrengend. Diese menschliche Enttäuschung hat mich emotional völlig aus der Bahn geworfen und mir das Herz gebrochen.
Dazu kommt das Medizinische. Auch wenn niemand es laut aussprach – die Botschaft der Ärzte in Mimik und Gestik lautete während der letzten Tage immer gleich: »Das war’s. Sie werden Ihr Leben lang eingeschränkt bleiben und entweder im Rollstuhl sitzen oder an Krücken gehen.« Zeitweise stand sogar die Amputation meines völlig zertrümmerten Unterschenkels zur Debatte. Diagnostiziert haben sie unter anderem: einen gebrochenen Kniekopf, einen Wadenbeinbruch, gerissene Kreuz- und Seitenbänder sowie einen zertrümmerten Schulterkopf. Und – Stichwort Krücken – eine Peroneuslähmung. Solange diese Nervenschädigung anhält, kann ich sowieso nicht ohne Gehhilfen laufen.
Die Ärzte wirkten auf mich allesamt ratlos und angesichts der Röntgenbilder geradezu bedrückt. Doch seit einigen Tagen gibt es einen Lichtblick: Ein Orthopäde mit dem genial passenden Namen Dr. Schrott ist aus dem Urlaub zurück. Er ist ein toller Arzt und ein toller Mann. Und er sieht meine Verletzungen als Herausforderung. Beim Betrachten der Röntgenbilder wurde er geradezu euphorisch: »Boah, hier ist ja auch was gerissen! Und das da ist auch kaputt! So was hatten wir hier noch nie! Fantastisch!«
Mit dieser Tatkraft angesichts einer eigentlich unlösbaren Aufgabe steckt er mich an. Außerdem war er daran beteiligt, dass ich das erste Mal seit dem Angriff wieder herzhaft lachen musste. An einem Tag hatte er einen Praktikanten dabei. Er erklärte ihm, dass ich Jude sei und ein Muslim mich so zugerichtet habe, und fragte ihn dann: »Was meinen Sie: Wo ist das wohl passiert?« Die Antwort des Praktikanten kam zögernd: »Im Gazastreifen?« Worauf Dr. Schrott auf gut Bayerisch und mit seiner lustigen Mimik erwiderte: »Da doch ned – hier bei uns um die Eckn.« Meine Schulter schmerzte, weil das Lachen mich so durchschüttelte.
Jedenfalls: Ich will jetzt dabei mithelfen, dass es mir besser geht. Das erste Mal, seit ich hier liege. Aber wie? Dr. Schrott hat mir einen Rat gegeben, der andere vermutlich in noch tiefere Verzweiflung stürzen würde: »Dir bleibt eigentlich nichts anderes als Beten.« Aber ich habe inzwischen kapiert, dass ich ein Wunder brauche, um aus der Scheiße rauszukommen.
Ich will Dr. Schrotts Rat also befolgen und tatsächlich anfangen zu beten. Aber wie stellt man das an? Ich merke, dass ich keine Ahnung habe. Bisher war ich der klassische Atheist. Ach was, nicht mal das, eher bin ich mit hundertachtzig an allen wichtigen Lebensfragen vorbeigerast, oberflächlich und großmäulig. Glaube? Mein Standardspruch zum Thema lautete immer: »Ich glaube nur an das, was ich sehen kann!« Und das waren schnelle Autos, Freunde auf Partys und die Zahlen auf meinem Kontoauszug. Und vielleicht noch meine Lehrbücher – ich bin ja kein fauler Student.
Natürlich hätte ich mir von meinen Eltern mal ein Gebet abschauen können. Die sind zwar nicht superfromm, aber sie wissen immerhin, wo die Synagoge ist. Doch es hat mich nicht wirklich interessiert. Und so sprechen aus meinem ersten Gebet denn auch all die Zweifel, die ich in mir habe: »Wenn Du wirklich da oben bist – dann zeig es mir jetzt.« Es ist kein eigentliches Gebet, eher eine Mischung aus Verhandlungsangebot und Erpressung. Und wenn Er sich jetzt nicht zeigt, werde ich mich wohl bestätigt fühlen in meiner Überzeugung, dass es keinen Gott gibt. Weil ich ihn nicht sehe.
(Später, in Israel, habe ich dazu etwas Geniales gelernt. Und zwar fragte mich ein Rabbiner: Liebst du deine Mutter? Ich: Sehr! Und er: Dann zeig mir diese Liebe, hier und jetzt. Ich: Wie soll das gehen, sie ist ja nicht anwesend. Er: Also kannst du mir diese Liebe nicht zeigen – womit nicht erklären gemeint ist. Ich war irritiert. Okay, lassen wir das, meinte der Rabbi und fragte mich, ob ich ihm zeigen könne, dass ich intelligent sei, er würde es gern sehen. Auf meine ratlose Geste hin meinte der Rabbi: Siehst du, du kannst mir hier nicht deine Liebe oder deine Intelligenz zeigen, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht existieren. Genauso ist es mit Gott.)
In den folgenden Tagen taste ich mich langsam weiter vor. Ich liege zur Passivität verdammt im Bett und suche nach der richtigen Ansprache gegenüber Dem, an Dessen Existenz ich höchstens halbherzig glaube. Weil ich nun mal keine vorgegebenen Gebete kenne. Aber allmählich komme ich auf den Trichter: Ich muss einfach als der Mensch, der ich bin, auf Gott zugehen und die Worte wählen, die mir passend erscheinen. Und was dann geschieht, überlasse ich … ja: wem? Dem Schicksal? Dem Zufall? Oder doch Hashem? Das bedeutet »der Name« und ist das Wort, das wir Juden für »Gott« verwenden. O Mann: Gott in Anführungszeichen – das ist so typisch für den David, der da in diesem Krankenhauszimmer liegt und herauszufinden versucht, wie Beten geht. Übrigens bin ich in der Sprache genauso unentschieden wie in meinem Glauben: Ich bete mal auf Hebräisch, mal auf Deutsch. Das hat mit meinem Elternhaus zu tun.