Sabine Ebert
Roman
Knaur eBooks
Originalausgabe November 2021
Knaur Hardcover
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Collage unter Verwendung von Motiven von Richard Jenkins, Yolande de Kort / Trevillion Images und Shutterstock
Landkarte: Verantw. Redakteur: Prof. Dr.-Ing. Andreas Kowanda
Kartograph: M. Eng. Thomas Zimmermann
Stadtplan Freiberg: Universitätsbibliothek Freiberg
ISBN 978-3-426-45737-5
Wie ein loses Blatt im Wind
Ich weiß, was du planst«, wisperte die zierliche Carlotta ihrem Mann zu und stieß ihm energisch den Ellenbogen in die Rippen. »Sag bitte sofort, dass das nicht dein Ernst ist!«, zischte sie und starrte ihn mit gerunzelten Augenbrauen an.
Wilhelm Trepte, ein Rechtsgelehrter der Berliner Universität mit grauem Backenbart, hatte den Blick auf seine junge Schwiegertochter Henriette gerichtet, die gerade ihr Söhnchen – seinen Enkel – auf den Arm hob und an sich drückte, während Tränen in ihren Augen glitzerten.
Als Wilhelm nicht antwortete, riss ihn Carlotta mit einem erneuten Rippenstoß aus seinen Grübeleien.
Rasch zog er seine Frau in den Salon und nahm sie bei den Händen.
»Liebes, wir müssen etwas unternehmen, damit sie nicht länger in Trauer versinkt.«
Ihr Sohn Maximilian, Henriettes große Liebe, hatte wie seine beiden jüngeren Brüder sein Leben im Krieg gegen Napoleon verloren. Schwer verwundet war der preußische Premierleutnant aus Frankreich zurückgekehrt, durfte gerade noch die Geburt seines Sohnes erleben und starb nur Tage später während der Operation, bei der eine Kugel entfernt wurde, die nahe seinem Herzen steckte. Das war im Sommer des vergangenen Jahres geschehen.
»Sieh sie dir doch an!«, drängte Wilhelm seine Frau. »Sie wandert umher wie ein Geist, und wann hast du sie das letzte Mal lachen sehen? Oder auch nur lächeln? Jette muss sich wieder dem Leben zuwenden. Sie ist noch nicht einmal zwanzig! Und das Trauerjahr ist vorbei.«
»Hast du denn aufgehört, um unsere Söhne zu trauern?«, fragte Carlotta vorwurfsvoll, ohne eine Antwort zu erwarten. »Könntest du den Gedanken ertragen, dass sie mit unserem einzigen Enkel dieses Haus verlässt, um sich neu zu vermählen?«
Wilhelm Trepte seufzte leise und zog ein sauberes Schnupftuch aus der Weste, um seine Brille zu putzen – eine für ihn typische Geste, wenn er Zeit gewinnen wollte.
»Das fällt mir nicht weniger schwer als dir, Liebes«, gestand er schließlich. »Doch ist es nicht auch für das Kind das Beste, wieder einen Vater zu haben – und eine glückliche Mutter statt einer in Trauer versunkenen?«
»Sie findet Trost im Schreiben«, hielt Carlotta dagegen.
Als Sängerin wusste sie um die heilende Kraft der Kunst. Henriette besaß literarisches Talent, das hatte nicht nur ihr Oheim versichert, der im sächsischen Freiberg eine Buchhandlung mit angeschlossener Druckerei führte und Fachbücher sowie ein Wochenblatt herausgab. Der Inhaber der berühmten Nicolaischen Verlagsbuchhandlung, die im Nachbarhaus der Treptes in der Berliner Brüderstraße ihren Sitz hatte, wollte sogar ihre Manuskripte veröffentlichen.
»Kann sie ausgerechnet im Schreiben Trost finden?«, zweifelte der Jurist und ging zur Anrichte, um sich und seiner Frau ein Glas Likör einzuschenken. »Du solltest sie lieber dazu anhalten, ihr Klavierspiel zu verbessern.«
Er strich sich durchs Haar und sagte dann mit sorgenvoll gerunzelter Stirn: »Sie schreibt über ihre schrecklichen Erlebnisse in den Kriegsjahren, bei der Pflege von Verwundeten und Typhuskranken in überfüllten Lazaretten. Meinst du nicht, es wäre besser für sie, endlich loszulassen? Nach vorn zu schauen? Ins Leben zurückzukehren, statt bei den Toten zu verharren?«
Müde ließ er sich in einen Sessel sinken. Es war November; die früh hereinbrechende Dunkelheit lastete schwer auf ihren Gemütern.
»Sie will Zeugnis ablegen, als Mahnung«, beharrte Carlotta und setzte sich zu ihm auf die Sessellehne.
Dass ihr Mann jetzt schwieg, machte sie unruhig.
»Was geht gerade in dir vor?«, forschte sie, denn offensichtlich zögerte Wilhelm, seine Gedanken mit ihr zu teilen, was ungewöhnlich war. Sie vertrauten einander.
Doch der Rechtsgelehrte schien nur mit Mühe die passenden Worte zu finden.
»Genau das bereitet mir Sorge«, gestand er schließlich leise ein. »Solche Zeugnisse sind nicht mehr erwünscht. Erst recht nicht, wenn jemand so hart mit Königen ins Gericht geht, wie sie es tut. Es könnte Ärger erregen, im harmlosesten Fall Missbilligung. Wir müssen sie davon abbringen. Und deshalb sollten wir am Sonnabend eine Gesellschaft geben und ein paar junge Männer einladen. Vielleicht verliebt sie sich neu.«
Die zierliche Carlotta stand mit einem Ruck auf, stellte ihr Glas ab und stemmte die Hände in die Seiten.
»Wilhelm Trepte, ich kann nicht glauben, was ich da Ungeheuerliches von dir zu hören bekomme! Weißt du, welcher Tag heute ist? Ihr Hochzeitstag! Heute vor zwei Jahren hat sie unseren Jungen geheiratet. Sie konnten nur eine schlichte Feldhochzeit feiern, und während ihrer gesamten Ehe hatten die beiden kaum vier Wochen füreinander, bis er wieder in den Krieg ziehen musste. Und ausgerechnet heute kommst du auf die Idee, sie mit einem anderen zu verkuppeln? Henriette, die uns eine Tochter geworden ist, nachdem alle unsere Söhne tot sind?«
»Sei leise, Liebes!« Ihr Mann versuchte, das Temperament seiner italienischen Frau zu zügeln. »Was, wenn sie dich hört?«
»Mit diesem Argument gibst du selbst zu, wie schändlich und taktlos deine Gedanken sind!«, hielt sie ihm leidenschaftlich entgegen.
Wilhelm Trepte seufzte leise, nahm erneut seine Brille ab, hauchte die Gläser an, holte umständlich sein Tuch hervor und putzte sie, als seien sie nicht schon blank.
»Es bleibt dabei. Wir geben eine kleine Gesellschaft, und ich kümmere mich diesmal um die Gästeliste.«
Carlotta verdrehte die Augen. »Wie viele?«
»Ein halbes Dutzend. Nach dem Essen können wir im Salon noch in zwangloser Runde plaudern und ein wenig musizieren. Aber wir sollten es Henriette erst kurz vorher und ganz beiläufig sagen, damit sie …«
»… nicht Verdacht schöpft, dass du sie verkuppeln willst?«
»Damit sie dem Abend erst einmal keine große Bedeutung beimisst und sich nicht schon innerlich dagegen sperrt, bevor auch nur der erste Gast unser Haus betreten hat.«
»Dann sag du es ihr! Ich will mit diesem Komplott nichts zu tun haben!«, forderte Carlotta kategorisch.
Sie starrte ihren Mann so lange an, bis dieser zustimmte, dann ging sie Madame Bellefleur suchen, die Haushälterin, um mit ihr eine Speisenfolge für die Gesellschaft zusammenzustellen. An diesem Punkt, das wusste sie, konnte sie ihrem Mann seine Idee ohnehin nicht mehr ausreden. Sie fragte sich, ob Henriette wohl den Plan ihres Schwiegervaters erraten würde. Sie war klug und feinfühlig, doch so von Trauer erfüllt, dass sie das Vorhaben vielleicht erst durchschaute, wenn sie sich an der Tafel von ledigen Männern umringt sah. Obwohl …
Carlotta seufzte erneut. So viele junge Männer waren in den Kriegsjahren gefallen! Und als Witwe mit einem Kind, auch wenn sie noch keine zwanzig zählte, durfte Jette wohl eher mit dem Antrag eines älteren Herrn rechnen.
Zumindest sollte die Bewirtung der Gäste weniger Schwierigkeiten bereiten als unter der Herrschaft Napoleons, der den Handel mit England strikt verboten hatte. Die Kontinentalsperre war aufgehoben, und es gab endlich wieder Kaffee, Zucker, Vanille und andere begehrte Waren aus den britischen Kolonien.
Während Carlotta bereits mit der Köchin das Menü besprach und zustimmte, für diesen Tag noch eine Beiköchin zu engagieren, zog sich Wilhelm Trepte in die Bibliothek zurück und stellte eine Liste der Gäste zusammen, die er einladen wollte. Einen älteren Kollegen von der Universität mit seiner hochbetagten Mutter, damit Henriette nicht misstrauisch würde, und einige unvermählte Assessoren und Assistenten, denen er eine erfolgreiche Laufbahn zutraute.
Die Vorbereitung für die gesellige Zusammenkunft nahm im Haus der Treptes ihren Lauf, ohne dass Henriette davon erfuhr – so hatte es sich ihr Schwiegervater ausbedungen.
Erst einen Tag vor dem Ereignis hielt Wilhelm Trepte den Moment für gekommen, ihr davon zu erzählen. Er wartete in der Bibliothek auf sie, die sie gewöhnlich aufsuchte, wenn ihr Söhnchen eingeschlafen war.
Als er ihre leichten Schritte nahen hörte, hielt er mit dem Schreiben inne.
Henriette trat ein und verharrte kurz, als sie ihn erblickte. Das hellbraune Haar hatte sie zu einem einfachen Knoten hochgesteckt, und unter dem Arm trug sie zwei Bücher.
»Störe ich?«, fragte sie zaghaft, schon auf dem Sprung, gleich wieder zu gehen, falls es so war.
»Komm nur herein, meine Liebe, und such dir neuen Lesestoff aus!«, schlug Wilhelm mit einladender Geste vor.
»Max ist gerade erst eingeschlafen«, erzählte die zarte junge Frau, während sie die Bücher wieder an ihrem Platz einsortierte. Dann suchte sie die hohen Regalreihen nach weiterer Lektüre ab.
»Wir werden morgen eine zwanglose kleine Gesellschaft geben«, erklärte er beiläufig und beobachtete sie genau. »Nicht ganz die übliche Runde, sondern hauptsächlich Kollegen von der Universität und Männer, mit denen ich geschäftlich in Verbindung stehe. Die meisten von ihnen wirst du noch nicht kennen. Aber es ist wichtig für mich, dass wir sie hier bei uns empfangen.«
Henriette verzog keine Miene, sondern wartete, dass er weitersprach. Sie schien keinen Verdacht zu schöpfen. Die Treptes führten ein gastliches Haus. Wilhelm war an der Universität geschätzt und Carlotta als talentierte Sängerin beliebt.
Also wagte er sich ein Stück weiter vor.
»Ich würde dich gern einmal wieder in dem hellblauen Kleid mit der fliederfarbenen Spitze sehen, das du trugst, als wir den großen Iffland in seiner letzten Theatervorstellung erlebten.«
Verwundert sah sie ihn an. Bis eben hätte sie nie vermutet, dass sich ihr Schwiegervater Gedanken darüber machte, was sie anzog. Ihr selbst war es ziemlich gleichgültig, seit Maximilian gestorben war. Sie war nur müde, so furchtbar müde, und wenn nicht ihr kleiner Sohn und die Verpflichtungen gegenüber den Schwiegereltern wären, würde sie vollends im Dunkel umhertreiben.
Nun sollte sie also auf einem häuslichen Fest brillieren. Nach nichts stand ihr der Sinn weniger. Doch da diese Zusammenkunft Maximilians Vater wichtig zu sein schien, würde sie natürlich seinem Wunsch nachkommen.
»Und steck ein paar Blüten ins Haar, Liebes. Ich wünsche mir sehr, dass du dich endlich wieder ein wenig herausputzen lässt. Du bist noch jung und solltest das Leben genießen.«
Während der Gelehrte fürchtete, Henriette könnte seine Absicht erraten, stieg in ihr ein ganz anderer, beunruhigender Verdacht auf.
»Falle ich euch zur Last?«, fragte sie, biss sich auf die Lippe und musterte ihn beklommen.
Die Treptes hatten sie vor zwei Jahren aufgenommen, ohne sie zu kennen, nachdem ihr ältester Sohn sie überraschend in Frankfurt geheiratet hatte. Und seit Maximilians Tod war nun schon über ein Jahr vergangen.
Bestürzt legte Wilhelm Trepte die Feder hin, ging auf sie zu und nahm ihre Hände. »Das darfst du nie denken!«, versicherte er ihr. »Du warst uns vom ersten Tag an willkommen, das weißt du doch. Ich möchte dich nur wieder lächeln sehen.«
Wortlos nickte sie, während ihre Kehle wie zugeschnürt war.
Dieses Kleid, von dem er sprach – ein Hochzeitsgeschenk von Oheim und Tante aus Freiberg –, hatte sie seit Maximilians Tod nicht mehr getragen. Sie musste erst einmal mit Änni, dem Hausmädchen, nachsehen, ob es noch passte und ob vielleicht etwas daran ausgebessert werden musste.
Bevor sie ging, gab ihr Wilhelm Trepte mit auf den Weg: »Vielleicht übst du bis dahin noch ein wenig auf dem Klavier? Carlotta möchte morgen etwas singen, und du könntest sie begleiten.«
Insgeheim gratulierte er sich dazu, dem Ganzen einen so beiläufigen Anstrich gegeben zu haben.
Wieder nickte Henriette mit erstarrter Miene. Natürlich durfte sie ihren Schwiegereltern diesen Wunsch nicht abschlagen. Doch das Klavier musste warten. Erst einmal hatte sie für morgen etwas anderes vor, etwas Wichtiges. Das Einzige außer ihrem Kind, was sie aus der Apathie riss, die sie seit dem Tod ihrer großen Liebe lähmte.
»Seien Sie willkommen!«
Überschwänglich stemmte sich Monsieur Parthey, der Inhaber von Berlins berühmtester Verlagsbuchhandlung, aus dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch und ging mit ausgebreiteten Armen auf Henriette zu. »Kommen Sie in den Salon, meine Liebe, ich werde Sie doch nicht im Komptoir empfangen! Wie geht es meinem Patensohn?«
»Gut, Monsieur«, berichtete Henriette, und dies war einer der wenigen Momente, in denen sie lächelte. »Er läuft schon munter drauflos und will schneller sein, als ihn seine Beinchen tragen. Und er redet den ganzen Tag, wobei oft sehr lustige Wortschöpfungen herauskommen.«
Mit einem Arm wies ihr der siebzigjährige Daniel Friedrich Parthey den Weg zum Salon und orderte beim Hausmädchen Mokka für sich und seine Besucherin.
Der Mokka wurde in zwei goldgeränderten kobaltblauen Tassen aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur Berlin serviert. Dazu trug das Mädchen eine Kristallschale voller Mürbeplätzchen auf dem Tablett herein.
Nach einem Moment andächtigen Schweigens, in dem Monsieur Parthey genüsslich den Kaffeeduft einsog, nahm Henriette allen Mut zusammen, um die Frage auszusprechen, die ihr auf der Seele lag.
»Haben Sie etwas darüber gehört, wann mein Buch erscheinen darf? Sind die Seiten schon vom Zensor zurück?«
Umständlich löffelte der Verleger Zucker in seinen Mokka und schien ganz auf diese Tätigkeit konzentriert.
»Nein, sie befinden sich noch dort«, antwortete er nach bedeutungsschwerem Schweigen. »Und zu meinem Leidwesen kann ich die Prüfprozedur nicht beschleunigen, obwohl sie ungewöhnlich lange dauert.«
»Müssen wir uns deshalb sorgen?« Beunruhigt beugte sich Henriette ein wenig vor. »Vielleicht liegt es nur daran, dass einer der Zensoren erkrankt ist. Bei diesem nasskalten Novemberwetter wäre das kein Wunder.«
Der weißhaarige Verleger war nun auffallend intensiv damit beschäftigt, den Mokka mit seinem silbernen Löffelchen umzurühren; er schien wie gebannt von dem dunklen Strudel und dem leisen Klirren.
Da er aber spürte, dass sich seine junge Besucherin ohne klare Antwort nicht zufriedengeben würde, riss er schließlich den Blick widerstrebend von dem Gebräu los und sah sie an.
»Wenn etwas lange beim Zensor liegt, ist das nie ein gutes Zeichen, meine junge Freundin«, eröffnete er und seufzte. »Ihr Werk ist ungewöhnlich, aufrüttelnd und bewegend. Sehr einfühlsam geschrieben, trotzdem schlicht und klar.«
Ungewohnte Verlegenheit zeichnete sich nun auf seinem Gesicht ab.
»Genau das ist das Problem, wie sich nun herausstellt. Sie schreiben vom Krieg, von Ihren erschütternden Erlebnissen in den Lazaretten vor, während und nach der Leipziger Völkerschlacht. Ich halte Sie für ein großes Talent und möchte Sie fördern. Und ich gebe zu, Sie haben mich alten Mann zutiefst berührt. Ich war, nein: Ich bin sicher, Sie würden jeden Leser bewegen.«
»Würden?«, fragte Henriette mit hochgezogenen Augenbrauen.
Parthey stellte seine Tasse auf dem Tischchen ab, das mit Intarsien aus Perlmutt verziert war, und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Nun … Ich habe mir erlaubt, dezent beim Sekretär der Zensurbehörde nachzufragen. Und bekam in etwa zu hören, was ich schon befürchtete, nachdem die Genehmigung des Textes so lange ausblieb.«
Verlegenheit stand auf seinem Gesicht geschrieben.
Jette, die ahnte, worauf das Gespräch jetzt hinauslaufen würde, stellte ebenfalls ihre Tasse auf dem Tischchen ab, denn ihre Hände begannen zu zittern. Vor Entrüstung.
»Als Seine Majestät der König sein Volk zum Kampf gegen Napoleon aufrief, da erfasste eine patriotische Welle das Land, weit über Preußen hinaus«, holte Parthey weitschweifig aus. »Selbst aus Nachbarländern wie Sachsen oder Anhalt meldeten sich Freiwillige zur Armee. Damen verkauften ihren Goldschmuck, damit die Truppen bewaffnet werden konnten.«
Bei weitem nicht so viele, wie der preußische König gehofft hatte, dachte Henriette sarkastisch, hielt diese Bemerkung aber zurück.
»Nun ist der Sieg errungen, auf dem großen Kongress in Wien wurde Frieden geschaffen …«, fuhr der Verleger fort, und in Gedanken kommentierte Henriette sofort: auf Kosten Polens und Sachsens, das zur Hälfte als Beute an Preußen ging!
»Deshalb wünscht man sich in allerhöchsten Kreisen …« – Monsieur Partheys Blick wanderte bedeutungsvoll zu dem goldgerahmten Porträt Friedrich Wilhelms III. an der Wand – »… dass nun nicht mehr von solch schrecklichen Dingen die Rede ist, wie Sie sie beschreiben. Die Besetzung Preußens durch Napoleon und der Krieg sind vorbei. Jetzt sind Zuversicht und Unterhaltung erwünscht.«
Parthey räusperte sich sichtlich verlegen.
»Man hat mir bedeutet, eine junge Frau wie Sie sollte doch, wenn sie schon meint, schreiben zu müssen, etwas Nettes zu Papier bringen.«
Henriette hatte das unwirkliche Gefühl, dass sich ihr die Haare sträubten, obwohl sie fest zum Knoten aufgesteckt waren.
»Aha«, sagte sie nur und hielt mit Mühe alle Erwiderungen zurück, die ihr auf der Zunge lagen. Denn sie spürte genau, dass der Verleger das Entscheidende noch nicht gesagt hatte.
Damit rückte er nun heraus, zögernd und mit gesenkter Stimme.
»Zumal …« – unter seinen buschigen Augenbrauen sah er Henriette beschwörend an – »… Sie sich unverhohlen kritisch über den König von Preußen und den König von Sachsen äußern.«
»Friedrich Wilhelm von Preußen hatte dem Volk Reformen und eine Ständeverfassung versprochen«, erinnerte sie leidenschaftlich. »Davon ist plötzlich keine Rede mehr. Doch ich verstehe natürlich, dass es einem König den Schlaf raubt, wenn er sein Volk bewaffnet, und er jede Erinnerung daran tilgen will.«
Nun beugte sie sich ein wenig vor, strich mit den Fingern über die Perlmuttintarsien des Tisches, ohne es wahrzunehmen. »Eine Kritik am König von Sachsen sollte doch beim preußischen Regenten Beifall finden, nachdem beide Herrscher in den letzten Kriegsjahren auf gegnerischen Seiten standen, nicht wahr?«
Monsieur Parthey hüstelte, sein Blick wanderte erneut zu dem goldgerahmten Porträt des preußischen Königs. Solche Drucke hatte auch ihr Oheim in Freiberg verkauft – jedenfalls so lange, wie das preußische Heer im Land weilte, und später noch einmal, während Sachsen unter preußischer Verwaltung stand. Je nach politischer Lage hatte Friedrich Gerlach auch Porträts Napoleons oder des russischen Zaren im Angebot. Die des sächsischen Königs Friedrich August natürlich ständig.
»Ich erhielt einen Fingerzeig der Zensurbehörde, dass herabwürdigende Äußerungen über Angehörige von Königshäusern generell als unangemessen betrachtet werden«, bekannte der Verleger.
»Aha«, wiederholte Henriette kühl. »Soll ich also die betreffenden Abschnitte entfernen?«
Parthey schloss die Augen und wirkte tief in Gedanken versunken, ehe er weitersprach. Schließlich öffnete er die Lider und blickte Henriette ins Gesicht.
»Ich fürchte, das wird nicht genügen, meine Liebe«, sagte er besorgt. »Sie haben in allerhöchsten Kreisen Missfallen erregt. So leid es mir tut um Sie und Ihr Buch – darf ich Ihnen noch einen dringenden Rat geben: Sie sollten sich umgehend davon distanzieren und zum Zeichen guten Willens etwas Gefälliges schreiben. Etwas Nettes. Lauschige Naturbetrachtungen oder die romantische Liebesgeschichte eines patriotisch gesinnten Paares.«
Henriette schwieg kurz, ehe sie sich erhob.
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Monsieur Parthey«, sagte sie. »Und ich betrachte Sie nach wie vor als Freund. Doch Sie werden von mir nicht ernsthaft erwarten, dass ich über Schmetterlinge und Frühlingsdüfte schreibe – nach all dem, was ich gesehen und erlebt habe. Das, was ich Ihnen anvertraute, ist eine Liebesgeschichte. Eine Geschichte über Nächstenliebe. Nur scheint meine Auffassung von Patriotismus nicht mehr zeitgemäß zu sein.«
Parthey erhob sich ebenfalls.
»Ziehen Sie es wenigstens in Betracht!«, beschwor er sie leise.
Besorgt sah er ihr nach, als sie sich in den Mantel helfen ließ und zur Tür ging.
Schneidend kalter Wind trieb Henriette winzige Eiskörner ins Gesicht, als sie aus dem Haus des Verlegers trat. Rasch drückte sie ihren Hut fester aufs Haar und band die Satinschleife enger, die ihn hielt.
Mit nur wenigen Schritten zur benachbarten Tür hätte sie Kälte, Wind und Hagel entkommen können. Aber sie fühlte sich jetzt nicht imstande, gleich wieder ins Haus ihrer Schwiegereltern zurückzukehren – mit ihrem Zorn, ihrer Enttäuschung und dem Wissen, dass Wilhelm und Carlotta sich große Sorgen machen würden, wenn sie erfuhren, was Monsieur Parthey berichtet hatte. Gefährdete sie vielleicht sogar die Stellung ihres Schwiegervaters an der Berliner Universität, wenn sie nicht klein beigab und den Zensoren zum Zeichen vermeintlicher Läuterung eine »nette Geschichte« lieferte?
Gedankenschwer ging sie bis zur nächsten Spreebrücke, klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest und reckte ihr Gesicht den feinen Graupeln entgegen, als könnte die Kälte auch den Aufruhr in ihrem Innern abkühlen. Der Wind zerrte an den Schößen ihres Mantels und an ihrem Hut, den sie nun doch lieber mit einer Hand festhielt.
Die Gegend um die Brücke war fast menschenleer, nur in einigem Abstand sah sie einen Schusterjungen mit tief ins Gesicht gezogener Mütze und einem Paar Stiefel, die über seiner Schulter hingen; er lieferte wohl für seinen Meister die fertige Ware aus. Auf der gegenüberliegenden Seite des Spreekanals watschelte eine in dicke Wolltücher gehüllte Frau mit einem Korb Kartoffeln. Zwei Möwen stritten laut kreischend um irgendetwas Essbares.
Im fauchenden Wind verharrend, haderte Henriette mit dem soeben Gehörten. Nicht nur, dass sie »etwas Nettes« schreiben sollte, womit gemeint war: völlig ohne Belang. Man hatte ihr auch ausrichten lassen, dass es gänzlich unangemessen sei, wenn sich Frauen – noch dazu junge – anmaßten, Bücher zu schreiben.
Nach dem Krieg und all den Entbehrungen und Verlusten würden die Menschen Vergnügen und Zerstreuung brauchen. Sicher, Hoffnung und endlich wieder einziehende Normalität brauchten sie auch, das war verständlich …
Doch wie konnte die Menschheit nach einer solchen Katastrophe weiterleben, nach einem Krieg, der mehr als einen ganzen Kontinent erfasst und Millionen Tote gekostet hatte, wenn jedermann so tat, als habe das alles nie stattgefunden?
Damit würde sie Maximilian verraten und all jene, die in diesen furchtbaren Jahren ihr Leben gelassen hatten. Nicht nur die Soldaten, sondern auch die zahllosen Zivilisten, die große Not litten, die ausgeplündert worden waren und ihre Häuser und ihre Habe verloren hatten, die hungerten und vom Typhus hinweggerafft wurden, den die erschöpften Heere mit sich brachten.
Rasch wurden Henriettes Finger klamm vor Kälte, an ihren Haaren und Wimpern setzten sich winzige Eiskristalle fest.
Doch ehe sie sich in die Wärme des Hauses flüchtete, musste sie ihren Gedankengang zu Ende bringen.
Und dazu gehörte der Entschluss, den Schwiegereltern vorerst nichts davon zu sagen, was Monsieur Parthey ihr gestanden hatte. Sie wollte nicht, dass sie sich sorgten. Vielleicht verlief diese unleidige Angelegenheit im Sande, weil die Zensoren eine junge Frau und Mutter nicht ernst nahmen und bald vergaßen? Sollte sie nicht besser doch schleunigst ihre literarischen Ambitionen aufgeben, stattdessen Klavier spielen und sticken, wie es die Treptes vorgeschlagen hatten? Um Unheil von ihren Schwiegereltern und auch dem Verleger fernzuhalten?
Henriette wandte den Blick von dem träge dahinfließenden Spreekanal, in dem die Überreste einer Holzkiste und ein angebissener Apfel schwammen, und lief zurück zum Haus der Treptes. Sie würde sich in ihr Zimmer zurückziehen und in Ruhe noch einmal über Monsieur Partheys Worte nachdenken.
Doch dazu sollte sie keine Gelegenheit finden.
Carlotta hielt schon am Fenster nach ihr Ausschau und bedeutete ihr mit energischem Winken, sich zu beeilen.
Sie empfing sie gleich an der Tür, zog sie herein und überschüttete sie mit Vorwürfen.
»Wo bleibst du denn, noch dazu bei diesem Wetter? Deine Hände sind ja eiskalt! Und dein Haar ist nass und zerzaust! Um Himmels willen, wie sollen wir dich präsentabel herrichten, bevor die Gäste kommen? In weniger als zwei Stunden treffen sie hier ein!«
Mit einer Spur von Verlegenheit wegen ihrer Unaufrichtigkeit murmelte sie noch: »Du weißt doch, wie wichtig diese Gesellschaft für Wilhelm ist …«
Sie schob Jette in deren Zimmer und rief nach Änni, damit die der jungen Frau in Mieder und Kleid half und die Brennschere erhitzte. Um den Haarschmuck würde sich Carlotta selbst kümmern, die bereits umgekleidet und fast fertig frisiert war.
Henriettes bestes Kleid, zartblau mit fliederfarbenen Spitzen, war sorgfältig gebügelt über das Bett drapiert. Lange weiße Handschuhe, Strümpfe und ihr Silberschmuck mit Amethysten – ein Geschenk von Oheim und Tante in Freiberg, der Familienschmuck der Gerlachs – lagen auf dem Frisiertisch bereit.
Teilnahmslos und schweigend ließ Henriette Carlottas und Ännis Wortschwall über sich ergehen, während ihr das Dienstmädchen die Haare trockenrieb, sie in das Mieder schnürte und ihr in das Festkleid half. Es war aussichtslos, jetzt über ihr Gespräch mit Monsieur Parthey nachdenken zu wollen, während die zwei Frauen geschäftig und höchst gesprächig um sie herumschwirrten.
Henriette schien es, als würde sie in eine andere Welt gezogen, weg von den dramatischen Ereignissen, über die sie geschrieben hatte, und stattdessen angefüllt mit Banalitäten: ob die Brennschere heiß genug war, um Locken zu drehen, wo die Haarnadeln lagen, ob die seidenen Blüten fest genug im Haar saßen …
Sollte sich ihr Leben künftig nur darum drehen?
Nachdem sie draußen so durchgefroren war, wirkten die Wärme des Zimmers und das unablässige Geplapper der beiden Frauen einschläfernd auf sie, zumal sie ohnehin seit Maximilians Tod von andauernder Müdigkeit erfüllt war. Ihre Gedanken verloren sich im Nichts, während verlockende Düfte durch das Haus zogen, von Gebratenem und Gebackenem.
»Nun lass dich anschauen, Liebes!«, meinte Carlotta schließlich, zog sie hoch, drehte sie an den Schultern zu sich und musterte mit leicht zusammengekniffenen Augen das Ergebnis ihrer Mühen.
»So wird es gehen«, meinte sie zufrieden, zupfte da und dort noch an einer Locke und fuhr zusammen, als unten am Hauseingang die Glocke schellte.
»Sie kommen! Warte im Salon, dort werden wir dich den Gästen vorstellen.«
Henriette nickte und stellte sich gedanklich auf ein paar Stunden höflicher Konversation mit vermutlich grauhaarigen Kollegen ihres Schwiegervaters ein. Doch ihm zuliebe würde sie sich von ihrer besten Seite zeigen. Aufmerksam und Interesse vortäuschend, auch wenn in ihrem Inneren alles erstorben war.
Zwei Stunden später, während die Treptes und ihre Gäste das Dessert löffelten, ein köstliches Zitronenparfait, fragte sich Henriette längst, was sie hier sollte. Sie wünschte sich fort von dieser zunehmend lärmenden Runde, an einen stillen Ort. Vorzugsweise in ihr Bett, wo sie sich zwischen Kissen und Decken verkriechen und nichts sehen und nichts hören wollte.
Die Gäste ihres Schwiegervaters mochten wohl in der Rechtskunde hervorragend bewandert sein und erörterten schon seit der Vorspeise diverse juristische Neuerungen und Streitfälle. Doch taten sie sich schwer, einen Gegenstand allgemeinen Interesses zum Thema einer Konversation zu machen.
Carlotta warf ihrem Mann deshalb in unbeobachteten Momenten immer wieder vorwurfsvolle Blicke zu – weil sie sich genau so langweilte wie sie selbst, glaubte Henriette. Ihr wäre nie der Gedanke gekommen, die Schwiegermutter wollte damit die offenkundige Fehleinschätzung ihres Mannes rügen, was potenzielle Ehekandidaten für eine intelligente junge Witwe betraf.
Wilhelm funkelte in diesen Momenten zurück, um Carlotta an seine Argumente zu erinnern: Jeder dieser Männer hatte ein gutes Einkommen und eine gehobene Position im Staatsdienst in Aussicht, was Henriette Schutz und Sicherheit bieten würde.
Als Gäste waren ein wortgewaltiger älterer Anwalt mit seiner hochbetagten Mutter erschienen, eine Matrone mit schrillem Kichern und hochaufgetürmten grauen Locken, auf denen eine Spitzenschleife prangte, sowie vier junge Männer, denen ihr Schwiegervater wohl eine verheißungsvolle Laufbahn an der Universität voraussagte.
In Freiberg, das wusste Henriette aus den Erzählungen ihrer dort lebenden Verwandten, war es auch üblich, dass Gelehrte der Königlich-Sächsischen Bergakademie ihre Studenten und Assistenten zu Tisch luden, um den fachlichen Austausch und den Gemeinschaftssinn zu fördern.
Wenn diese Gesellschaft ihren Schwiegereltern so wichtig war, sollte sie sich wohl zusammenreißen und den Konventionen Genüge tun.
Also saß sie seit zwei Stunden an diesem Tisch, nickte immer wieder mal nach links oder rechts, als verfolge sie das Gespräch, zeigte dann und wann das freundlichste Lächeln, das sie aufbieten konnte, und warf gelegentlich ein »Ach, wirklich?« oder »Was Sie nicht sagen!« in die Runde, um Interesse vorzutäuschen, während sie in Wahrheit immer apathischer wurde und ihr Gesicht zur Maske erstarrte.
Anfangs hatten die Männer sie mit teils routinierten, teils unbeholfenen Komplimenten über ihr Aussehen, ihr Kleid und ihren Haarschmuck überhäuft. Doch seit sie bei Tisch saßen, war nur noch von Dingen die Rede, die an Henriette vorbeirauschten.
»Können die jungen Burschen denn über gar nichts anderes reden als über die Juristerei?«, beschwerte sich schließlich die alte Madame Stieglitz, nachdem sie ihr Dessertschälchen bis auf den kleinsten Rest ausgekratzt hatte. »Wo wir doch die charmante Gastgeberin und ihre bildhübsche Schwiegertochter am Tisch haben, die sich vermutlich über all eurer Paragraphenreiterei tödlich langweilen!«
Vorwurfsvoll sah sie in die Runde.
»Madame, ich denke, ich spreche im Namen meiner Kollegen, wenn ich mich schuldig bekenne«, räumte der junge Mann mit den vorstehenden Zähnen namens Isidor ein, der rechts von Henriette saß und sich ihr nun zuwandte.
»Verzeihen Sie mir, teure Henriette; wir sind Ihnen und unserer verehrten Gastgeberin mehr Aufmerksamkeit schuldig. Wie schrieb schließlich schon Schiller? Ehret die Frauen! Sie stricken und weben himmlische Rosen ins irdische Leben.«
Henriette starrte ihn irritiert an, sah dann zu Carlotta, deren Mundwinkel zuckten, als wollte sie gleich in schallendes Gelächter ausbrechen, und riss sich zusammen, um ebenfalls nicht loszuprusten.
Betont liebenswürdig neigte sie den Kopf ihrem Tischnachbarn etwas entgegen und korrigierte sanft: »Sie flechten und weben … Schiller hat dabei gewiss keine Handarbeitskränzchen vor Augen gehabt. Er meinte das sinnbildlich.«
Isidor stutzte.
»Sinnbildlich? Sind Sie da sicher?«
Carlotta griff nach der Serviette – vorgeblich, um sich den Mund abzutupfen, in Wahrheit aber, um ihr Lachen zu verbergen.
»Ich bin mir vollkommen sicher«, beteuerte Henriette und dachte bei sich: Das halte ich keine Minute länger aus.
Wilhelm Trepte schien ihre Gedanken zu erraten und beschloss, dieser peinlichen Szene und der zunehmenden Langeweile bei Tisch ein Ende zu bereiten, ehe die Frauen seiner Familie den Gast noch lauthals auslachten.
Schwungvoll legte er seine Serviette beiseite und schlug vor: »Begeben wir uns doch hinüber in den Salon, um dort den Kaffee zu nehmen. Vielleicht könnten wir auch ein wenig musizieren.«
Erleichtert ließen sich die Damen von den Stühlen helfen und gingen ins Nachbarzimmer; Henriette und Carlotta nebeneinander und verständnisinnige Blicke tauschend.
»Ich habe Noten mitgebracht, Auszüge aus den neuesten Kompositionen Beethovens, sie sind gerade erst erschienen«, eröffnete ein weiterer junger Mann im Salon, blass und bisher nicht sehr beredt. Er holte ein paar zusammengerollte Blätter hervor und hielt sie Henriette auffordernd entgegen. »Es sind Variationen für vier Hände. Vielleicht könnten wir gemeinsam …?«
»Oh, da fragen Sie bitte Madame Trepte! Ich bin bei weitem nicht so gut auf dem Piano, dass ich a prima vista spielen könnte, schon gar nicht Beethoven«, wehrte Henriette ab.
Es stimmte; ihr Spiel hatte sich zwar während des Aufenthalts bei den Treptes verbessert, weil Carlotta sie zum Üben anhielt. Aber sie selbst betrachtete sich immer noch als eine höchst bescheidene musikalische Amateurin. Worte waren ihr Metier, nicht Noten.
Außerdem wollte sie nicht spielen, um sich vorführen zu lassen wie ein Paradepferd. Es würden ohnehin nur wehmütige Melodien dabei herauskommen. Doch sie würde gern Carlotta zuhören, schon um dem banalen Geschwätz zu entfliehen.
Nach dem musikalischen Beitrag schlug die fast unerträglich gut gelaunte Madame Stieglitz vor, Scherenschnitte von allen Anwesenden anzufertigen. Wie sich herausstellte, besaß die alte Dame dafür wirklich Geschick, und ihr erstes aus schwarzem Papier geschnittenes Porträt – Carlotta im Profil – rief ehrlich gemeinte Komplimente hervor.
Es wurde beschlossen, dass sich alle Anwesenden nacheinander mit der Schere porträtieren lassen sollten – die Gelegenheit für Henriette, sich ein paar Schritte Richtung Kamin zurückzuziehen, während die anderen die aufgekratzte Madame Stieglitz umringten, um zuzusehen, wie nun das Profil des jungen Pianospielers mit gekonnt feinen Schnitten Kontur annahm, und dabei mit Lob nicht geizten.
Jette starrte zum Fenster, auch wenn in der Dunkelheit draußen nichts zu erkennen war, und fühlte sich gedankenleer.
Wenn sie dieser Gesellschaft nur endlich entfliehen könnte! Sie war müde, unendlich müde und der aufgesetzten Munterkeit einer solchen Runde überdrüssig.
So bemerkte sie erst gar nicht, dass sich einer der jungen Männer in ihre Richtung bewegte, Mokkatasse und Unterteller geschickt balancierend.
»Ist Ihnen kalt?«, erkundigte er sich fürsorglich und deutete auf das Kaminfeuer. »Da Sie sich entgehen lassen, wie Madame Stieglitz uns allen wahlweise römische Profile oder Knollennasen verpasst?«
»Ein wenig«, sagte sie und fürchtete schon, nun erneut unbeholfene Komplimente für ihr schönes, aber aus dünnem Musselin gefertigtes Kleid zu hören.
Stattdessen fragte der junge Mann – Ludwig, erinnerte sie sich, mit dunkelbraunem Haar und langen Koteletten, wie sie die Mode vorschrieb – besorgt: »Soll ich Ihnen ein wärmendes Tuch bringen?«
Schon sah er sich um und deutete auf die cremefarbene Stola, die Henriette vor dem Mahl getragen hatte und die auf einem Sessel lag.
»Ich danke Ihnen, das wird nicht nötig sein. Es geht schon wieder«, wehrte sie freundlich ab. Mit einem Fransentuch am Kamin zu stehen, war nicht ratsam. Die züngelnden Flammen konnten leicht danach greifen.
»Dann hole ich Ihnen noch einen Kaffee«, insistierte er, stellte sein eigenes Getränk auf dem Kaminsims ab, ging zur Anrichte und brachte ihr eine Tasse, aus der es noch dampfte.
Während er damit auf sie zuschritt, rekapitulierte sie rasch, was sie noch von ihm wusste; von ihr würde jetzt höfliche Konversation mit dem jungen Mann erwartet. Er hatte ihr bei Tisch gegenübergesessen und nur wenig gesagt. Wenn sie sich recht entsann, sollte er eine höhere Beamtenlaufbahn einschlagen.
Sie dankte ihm für den frischen Mokka, sog den Duft ein und nippte daran.
»Sie müssen während des Krieges in einem der preußischen Freikorps gedient haben, wenn Sie nun hierzulande im Staatsdienst eingestellt werden sollen«, sagte sie dann, ohne zu bedenken, dass er es vielleicht als taktlos empfinden mochte, wenn sie die Rede auf den Krieg brachte. Hatte ihr nicht erst am Morgen Monsieur Parthey eingeschärft, die Menschen wollten nichts mehr vom Krieg hören, sondern sich amüsieren?
Deshalb fügte sie rasch und ehrlich bedrückt hinzu: »Verzeihen Sie, ich will Sie nicht mit Fragen bedrängen, die als unangemessen erachtet werden könnten.«
Ludwig nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse und stellte sie wieder auf dem Kaminsims ab.
»Keineswegs«, versicherte er lächelnd. »Ja, ich war als Freiwilliger in der preußischen Armee. Doch wenn Sie nun glauben, dass ich zu den Helden des berühmten Lützowschen Freikorps zählte« – an dieser Stelle spielte ein winziges, fast sarkastisch wirkendes Lächeln um seine Lippen –, »muss ich Sie leider enttäuschen. Ich gehörte einem weniger bekannten, aber sehr erfolgreichen Kommando an. Ich hatte die Ehre, unter dem Befehl des Rittmeisters von Colomb zu dienen.«
Henriette hielt mitten in der Bewegung inne, starrte ihn verblüfft an und war auf einmal hellwach, so wach wie seit langem nicht.
»Tatsächlich? Ein guter Freund von mir gehörte ebenfalls diesem Korps an. Vielleicht kennen Sie ihn?«
»Wie lautet sein Name?«, fragte Ludwig lebhaft.
»Felix Zeidler, ein Bergstudent aus Freiberg. Wir hatten zusammen in Freiberg preußische Verwundete gepflegt, bevor er sich als Freiwilliger meldete. Aber eigentlich stammt er aus Köthen-Anhalt.«
»Volontärjäger Zeidler?«, rief ihr Gegenüber überrascht und lächelte breit. »Mit krausem Haar und einer Brille? Und einem hervorragenden Gespür für Pferde?«
»Sie kennen ihn?«, fragte Henriette erfreut.
»Natürlich. Ein guter Mann. Er hatte uns gewarnt, als uns der Feind von drei Seiten entgegenrückte, obwohl er verwundet war und sich kaum noch im Sattel halten konnte. Dass wir damals nicht niedergemacht wurden wie die Lützower ein paar Tage zuvor nahe Leipzig, ist auch sein Verdienst.«
»Davon wusste ich gar nichts«, staunte Henriette. »Er hegte Zweifel, ob er wohl für das militärische Leben geeignet sei. Aber er wuchs auf dem elterlichen Gestüt auf, daher sein gutes Gespür für Pferde.«
»Wissen Sie, was aus ihm geworden ist? Während des Waffenstillstands verloren wir uns aus den Augen. Zeidler musste seine Verwundung auskurieren, er hatte zwei Finger der rechten Hand verloren.«
»Er beendete sein Studium in Freiberg und ging zum Korps Yorck, als die große Schlacht bei Leipzig begann.«
»Oh, das Korps Yorck … Die hatten im Norden Leipzigs schlimme Verluste zu beklagen, ein Drittel der Männer«, warf Ludwig bedrückt ein. »Ich hoffe, er ist durchgekommen.«
»Ja, das ist er. Er war bei Blüchers Rheinübergang dabei und bei den Kämpfen um Paris«, erzählte Henriette zunehmend lebhaft. »Inzwischen lebt er sogar hier in Berlin, soweit ich weiß. In seinem letzten Brief schrieb er mir, dass er in einer Einrichtung arbeiten will, in der kriegsverletzte und kriegsgeschädigte Pferde gepflegt werden.«
Ludwig lächelte. »Das klingt ganz nach ihm. Er litt mit den Tieren. Viele sind nicht nur körperlich verwundet worden, sondern einfach … verrückt geworden, wenn man das bei einem Pferd so sagen kann. Haben Sie ihn hier in Berlin getroffen?«
»Nein. Seit besagtem Brief habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
An der Stelle verschwieg Henriette, weshalb Felix einer erneuten Begegnung mit ihr ausgewichen war, obwohl sie ihn als guten Freund betrachtete. Sie hatten gemeinsam viel durchlitten, aber es stand Ungesagtes zwischen ihnen. Und manches, bei dem sie Felix gern widersprechen würde.
»Kennen Sie seine Anschrift? Oder nein, machen Sie sich nicht die Mühe, danach zu suchen. Ich weiß, wo diese Anstalt für Pferde ist. Dort werde ich ihn schon finden«, meinte Ludwig voller Tatendrang.
Auf der anderen Seite des Salons nickte Wilhelm Trepte seiner Frau vielsagend zu.
»Siehst du, ich habe es doch gewusst! So lebhaft hat sie nicht mehr gewirkt, seit …«
Er verstummte. Carlotta würde wissen, was er meinte, und er wollte es nicht aussprechen, nicht an diese Wunde rühren.
»Ich hatte sehr gehofft, dass einer der jungen Männer sie ein wenig von ihrem Kummer ablenkt, und bin unendlich froh darüber. Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sich die beiden wiedersehen. Vielleicht in einer Abendgesellschaft, bei der auch getanzt wird?«
Carlotta seufzte leise und sah ihn schmerzerfüllt an.
»Ach, Wilhelm. Hörst du denn nicht, worüber sie so angeregt sprechen? Vom Krieg! Wollten wir sie nicht genau davon abbringen? Sie hat ihren Mann verloren. Wir haben unseren Sohn verloren. Alle unsere Söhne …«
Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und ging unter einem Vorwand rasch hinaus, damit niemand ihre Tränen sah.