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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2018

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Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Rolf Haufs

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ISBN Printausgabe 978-3-7371-0040-3 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-10063-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-10063-3

 

(Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)

 

Das musst du jetzt aushalten, das wirst du aushalten, sagte ich mir, als wir uns gesetzt hatten, die beiden Freunde und ich, der ihnen gefolgt war, mach gute Miene, lehn dich zurück und hör einfach zu oder hör weg, das hältst du jetzt aus. Fünf Musiker auf der schmalen Bühne, einer mit Saxophon, einer mit Trompete, einer am Schlagzeug, ein Bassist und ein Geiger, fünf Männer prügelten mit ihren Instrumenten auf meine Hörnerven ein, und ich dachte

 

Musik war das nicht, aber was sollte das sein, wenn es keine Katzenmusik war, das naheliegende Wort, das einem Laien und einfallsarmen Zuhörer wie mir schon bei den ersten Takten in den Kopf gerutscht war, eine böse und trotzdem treffende, kaum zu bestreitende Bezeichnung für das Zirkusgetöse, die verstörenden und schmeichelnden Töne, die schrille Verweigerung von Harmonien und Melodien, für den Schock, den ich fühlte, und die Schockwellen, die sich weiter steigerten. Ich sah, wahrscheinlich mit fragenden und, wie ich hoffte, nicht allzu schülerhaft hilfesuchenden Augen, auf die beiden Freunde neben mir, die mich ermutigten mit zustimmendem Grinsen zu diesem Schallüberfall und mit lechzender Aufmerksamkeit, fast schon bereit zum ersten rhythmischen Wippen der Köpfe, die Freunde hatten mich gewarnt –

 

Ob das noch Musik sei, ob da oder da der Jazz aufhöre oder ganz neu anfange, ob das richtige Musik sei, ob es richtigen Jazz überhaupt gebe und geben dürfe, hatten die beiden Experten beim Frühstück am vorletzten Tag unserer newyorkischen Reise diskutiert, der Autor Christoph, der diesen verrückten oder genialen Albert Ayler schon mal in Kopenhagen gehört hatte, und der Redakteur Peter, der beim Sender Freies Berlin irgendwie auch mit Jazz zu tun hatte. An dem Gespräch hatte ich mich nicht beteiligt, hätte mich

 

Nach einer Woche der Besichtigungen, U-Bahn-Touren, nach stundenlangen Läufen in Manhattan, mal allein, mal zu zweit oder zu dritt, war ich erschöpft von der Wucht der Eindrücke, der Lebendigkeit der Bilder, von den Kontrasten zwischen Schaufensterglanz, Schäbigkeit und vibrierendem Optimismus, erschöpft vom permanenten Wechsel zwischen der Härte, die einem an den Straßenecken ins Gesicht schlug, und der Freundlichkeit der Leute, die sich von der Berliner Bissigkeit so wohltuend abhob. Fürs Erste hatte ich genug von Wolkenkratzerfernblicken, Museen, Kauftempeln, angeblich gefährlichen Straßen in Harlem und Kaschemmen in SoHo, und diesen letzten Abend vor dem Abflug wollte ich nicht in einem Kino oder in einer Bar am Times Square vertrödeln. Also lieber ein halbherziges Interesse an der mir unbekannten, verrufenen Underground-Musik vortäuschen und dem Rat der Freunde folgen, die sich auch im Hotel Paris einquartiert hatten: Komm mit, so schnell bist

 

Wir bestellten Bier, ich gab mir Mühe, lässig und aufmerksam auszusehen und das Gehör einzustimmen, die Ohren zu öffnen und an diese Musik zu gewöhnen. Der bärtige Mann mit dem riesigen Saxophon in der Mitte musste der berüchtigte, der unter Kennern berühmte Ayler sein, der uns mit schreienden, stechend hohen Tönen, mit nie gehörtem dissonantem Sound begrüßte und überfiel, schreckte und abschreckte schon mit dem ersten Stück. Ayler mit kariertem Jackett, Krawatte und weißem Hemd bewegte sein erstaunliches Saxophon, Tenor Sax, wie Christoph mich belehrt hatte, heftig hin und her und auf und ab und dirigierte die Band mit dem im Bühnenlicht blitzenden Instrument und spuckte befremdliche Töne in alle Richtungen. Die ganze Band, alle etwa zehn Jahre älter als wir, hätte ich mir bei geschlossenen Augen als eine Gruppe von Kindern vorstellen können, die mit Tröten, Topfdeckeln, Kochlöffeln, Rasseln, mit Mundharmonikas und Kämmen vor dem Mund und mit einer alten, verstimmten Geige auf sich aufmerksam machte –

 

Düster der Saal und schmal, schmucklose Wände, ältere Einrichtung, hinter uns der Tresen, nur wenige weiße Gesichter hinter den Rauchschwaden zu entdecken, wir gehörten zur Minderheit, hier saß man

 

Noch immer nicht hatte ich verstanden, wie frei ich in diesen amerikanischen Tagen war: nicht auf einer Bühne sitzend, nicht vor hundert klugen Leuten auf dem sogenannten elektrischen Stuhl, dem Vorlesestuhl der Gruppe der berühmten Schriftsteller, auf dem ich zweimal die Probe bestanden hatte und deshalb zum dritten Mal eingeladen war, sogar bis in die USA. Ein neuer Auftritt, den ich mehr gefürchtet als erhofft hatte, war mir erspart geblieben wegen des großen Andrangs der anderen auf diesen gefährlichen Stuhl, ich war noch einmal davongekommen, man hatte nicht geprüft, was ich konnte, man duldete mich auch so. Danach die hitzigen Debatten über The Author in the Affluent Society, dann drängelten die Autoren mitten hinein in die literarische Wohlstandsgesellschaft, zu den Partys, zur Konversation über die misslungene Tagung, in ihre Dichter-Eitelkeiten, bis alles verebbte in anstrengenden Sätzen mit Emigranten oder mit Allen Ginsberg im Kreis seiner Jünger, der jeden Abend irgendwo auftauchte und berauscht

 

Ich konnte mich zurücklehnen, durchatmen, brauchte seit einer Woche keine Angst mehr zu haben, vor nichts und niemandem Angst, schon gar nicht vor dieser aufgeregten, aufdringlichen Musik, ich brauchte nur ruhig zu sitzen und auf mich trommeln und tröten zu lassen, was da wollte, und die Ohren aufzusperren, so weit es nur ging. Sie zuzuhalten wäre normal gewesen, wenn man sie schon nicht entlasten konnte wie am Radio mit einem Druck auf die Austaste, gegen solche Reflexe wusste ich mich zu wehren, hier unter Kennern und vor den Freunden galt die Devise: Keine Schonung bitte, wir sind schließlich in New York, da haben Schwächlinge nichts zu suchen, da wird nicht gekniffen –

 

Das also sollte die freieste Spielart des Improvisierens sein, frei hieß freie Fahrt für jede Sorte Geräusch, frei unter dem Dirigat eines rebellischen Saxophonisten. Das war das Unerhörte, das war der Jazz, den ich nicht kannte, der weiter ging als die Avantgarde, als John

 

Die Probe in Slugs’ Saloon wollte ich bestehen und niemanden enttäuschen, ich klatschte wie alle andern nach Aylers erstem Solo, wollte alles tun, um mich nicht zu blamieren im Halbdunkel des schmalen Raumes vor den Freunden als unverständiger, verschreckter Laie, vor dem schwarzen Publikum als Weißer, vor den Amerikanern als täppischer Europäer, als dummer Deutscher, der ich war oder als den ich mich sah, Dorfkind, Provinzler, Hinterherläufer, Pastorensohn, verklemmt, unmusikalisch, stotternd, Anfänger, Nichtskönner, Spätzünder, der schüchternste aller schüchternen Jungdichter, gerade mal dreiundzwanzig geworden. Ein Zuschauer, der sich halbblind, ein Zuhörer, der sich taub vorkam angesichts all dessen, was es zu beobachten und wahrzunehmen gab. Ein Schweiger, der nicht durchschaut werden wollte und mal aus Dummheit, mal aus Angst vor Blamage schwieg, oder dann den Mund hielt, wenn er sich klüger vorkam oder zu viel Respekt hatte oder weil er unentschieden oder sprechfaul bleiben oder andere nervös machen wollte. Alle sieben Sprachen des Schweigens waren mir vertraut, nicht aber die drei

 

Den Blick vorsätzlich lässig zur Bühne gerichtet, trank ich den nächsten Schluck des dünnen Flaschenbiers, streckte die Beine aus und klatschte die Hände, wenn alle die Soli beklatschten. Jetzt konnte ich unbeschwert schweigen, staunte, wie Ayler sein riesiges Instrument, hinter dem er fast verschwand, steuerte und dem Zucken seines Körpers anpasste, wie er aus den Schultern heraus zu spielen schien, ich hielt die Ohren offen, hörte zu, ich musste zu der Musik nichts sagen und keine spezielle Schweigetaktik aufbieten. Ich wippte mit den Füßen, bewegte nun auch den Kopf im Takt und hörte in den stampfenden Rhythmen Ansätze von schräger Marschmusik oder verrückt verdrehtem Dixieland, da flogen tatsächlich Fetzen aus When the Saints Go Marching In durch den Saal –

 

Oh when the saintsI want to be in that number