Jenny-Mai Nuyen
Die Töchter von Ilian
Roman
FISCHER E-Books
Jenny-Mai Nuyen wurde 1988 als Tochter deutsch-vietnamesischer Eltern in München geboren. Geschichten schreibt sie, seit sie fünf ist, mit zehn folgte das erste Drehbuch, mit dreizehn ihr erster Roman. Seit ihrem literarischen Debüt Nijura- das Erbe der Elfenkrone gilt sie als eine der großen deutschsprachigen Fantasyautorinnen. Nach einem Filmstudium an der New York University lebt Jenny-Mai Nuyen heute in Berlin, studiert Philosophie und widmet sich dem Schreiben.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Die Autorin von Nijura- das Erbe der Elfenkrone und Das Drachentor schreibt den ersten epischen High-Fantasy-Roman für eine neue Generation von LeserInnen.
Vier magische Artefakte bestimmen
das Schicksal der Welt
Ein Becher, um die Vergangenheit zu bewahren.
Eine Flöte, um mit Tieren zu sprechen.
Ein Spiegel, um sich selbst zu erkennen.
Eine Sternenscheibe, um die Zukunft zu sehen.
Werden sie verschenkt, steigert sich die Macht der Artefakte, werden sie behalten, nimmt diese ab.
Doch die magischen Artefakte sind verschollen. Die Weisen Frauen, die einst friedvoll mit ihnen regierten, sind in die Wälder geflohen, und Kriegsfürsten herrschen über Menschen, Zwerge und Elfen.
Die Zeit ist gekommen, dass die Töchter aller Völker sich erheben, um die Macht zurückzugewinnen.
Für alle LeserInnen von Marion Zimmer Bradley, Ursula K.Le Guin, Leigh Bardugo und Tomi Adeyemi
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 Jenny-Mai Nuyen
Deutsche Erstausgabe © 2019S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, Münchenn
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
unter Verwendung mehrerer Bildeer von shutterstock/faestock, susanitah, Valokuva24
Kartenillustration: Jenny-Mai Nuyen & Markus Weber, Guter Punkt
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490556-3
Welcher Traum bewegte die Flüsse, bevor sie sich teilten?
Erste elfische Frage der Weisheit
Am Ende handeln alle Geschichten von der Liebe und ihrem langen Schatten, der Angst. Jedenfalls behaupten das die Wandererzähler, wenn sie am Herdfeuer sitzen und unseren schlimmen Erinnerungen, der Nacht in unseren Herzen, einen guten Ausgang weissagen.
Ich will euch eine Geschichte erzählen.
Es ist die Geschichte vom Untergang meines Volkes, das lange vor euren Ahnen, vor dem Kleinen Volk und den zahlreichen Menschenvölkern in den tiefen Wäldern wohnte, den Gesang der Flüsse von den Bergen bis zum Meer vernahm und auf dem Rücken von Lindwürmern durch die Nebel flog. Ihr nennt uns das Alte Volk, die Aelteren, Elden oder Elfen. Aber wir haben einen eigenen Namen für uns. Er setzt sich aus unserem Ursprung und unserem Ende zusammen. Der Ursprung ist ein Geheimnis, das Ende ein Rätsel:
Wir gingen zugrunde
an einer Legende
vom Frieden aller Völker.
Und so geschah es, in einer finsteren Zeit, lange vor meiner Geburt und noch länger vor eurer …
Im Morgengrauen tauchten die Reiter auf, als hätte die Nacht sich in dunklen Gestalten verdichtet. Ihre Pferde, mächtige Tiere mit einem Kinderknochen im Maul, der sie würgte und mal linksherum, mal rechtsherum in den Wahnsinn trieb, donnerten über die Felder und zermalmten die junge Saat. Weil Regen fiel, hörte man sie erst, als sie schon die Hütten der Seenländer im Uferschilf erreicht hatten. Es waren Hütten auf Holzpfählen, die vor steigendem Wasser schützen, nicht aber vor Räubern.
Die ersten Bewohner, die auf die Stege hinausrannten, wurden mit Speeren heruntergeholt und von Hufen zertreten. Manche wehrten sich mit Äxten und zersplitterten die Speere. Doch auch die Reiter hatten Äxte, bessere Äxte, geschmiedet vom Kleinen Volk aus reinem Kupfer, dem Blut ihrer Ahnen.
Nachdem die Ersten erledigt waren, sprangen die Reiter von ihren Pferden und kletterten die Stiegen hinauf. In den Hütten erwarteten sie die Seenländer, die feige oder besonnen genug gewesen waren, ihnen nicht entgegenzukommen. Jetzt wehrten sie sich mit Beilen, Messern, Tonkrügen und Mahlsteinen. Weil sie sich in ihren Hütten blind bewegen konnten, brachten sie viele Angreifer zu Fall, die in die Vertiefungen der Feuerstellen stolperten, über Schemel stürzten oder sich in Kräuterbündeln und Fischreusen verfingen.
Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis die Angreifer siegreich aus dem Tumult hervorgingen. Sie waren besser ausgerüstet, kampferprobt und vorbereitet; außerdem waren sie, wenn man Kinder, Hochschwangere und Greise nicht zählte, in der Überzahl. Sie töteten die Männer und alle Frauen, die sich ihnen in den Weg stellten.
Die heulenden, blutbespritzten Gestalten, die übrig blieben, zerrten sie nach draußen und teilten sie in brauchbare und unbrauchbare auf. Die brauchbaren – größere Kinder und junge Frauen, deren Bauch sich nicht wölbte – fesselte man an Händen und Hals; die unbrauchbaren wurden zusammen an einen Pfahl gebunden.
Dann wurden die Hütten geplündert. Kleider, Schuhe, Decken, kostbares Kupferzeug, Klingen, Kämme und Schmuck wanderten in Säcke. Nahrung gab es nicht viel, denn der Frühling hatte gerade erst begonnen, und die Vorräte waren im Winter aufgebraucht worden. Die wenigen geräucherten Fische und Schinken wurden eingepackt. Linsen, Bohnen, Emmer und Hafer aus den Krügen umgefüllt und den Gefangenen auf den Rücken geschnürt, ehe Letztere an Leinen kamen, damit die Reiter sie hinter sich herführen konnten.
Als alles getan war, drang das erste kalte Sonnenlicht durch die Nieselwogen. Überall lagen stöhnende Verwundete.
Die Räuber waren nicht ohne Ehre. Sie kannten Gnade. Rasch gingen sie umher, um die Todgeweihten mit einem Hammerschlag aus der Zeit zu erlösen.
Bei einer Frau jedoch geriet ein Räuber ins Zögern. Sie lag im Uferschlamm und musste zu den Ersten gehört haben, die aus den Hütten gestürmt waren. Wunden an ihren Beinen zeugten von der Axt, die sie vom Steg heruntergeholt hatte. Langsam und beharrlich war sie von Büschel zu Büschel des hohen Ufergrases vorangerobbt, hin zu den Greisen, Schwangeren und Kleinen am Pfahl.
Der Räuber beugte sich zu ihr hinab. Sie sah ihn nicht an. Ihr Blick war auf ihre Angehörigen gerichtet, als gäbe es nur sie. Ächzend kroch sie an dem Räuber vorbei, der weniger als Schlamm, weniger als ein fauler Gestank für sie war, ein Nichts.
Der Räuber hieß Serekas. Er war als Halbwüchsiger aus seinem Stamm verstoßen worden, dem Siebten Stamm der Urier unter Fürst Eukerion, und hatte sich, wie so viele verstoßene Männer aus dem Volk der Urier, einer Räuberhorde angeschlossen. Heute, neun Jahre später, war er der Anführer der Horde. Er nannte sie den Zehnten Stamm unter Fürst Serekas. Doch es gab Dutzende, wenn nicht Hunderte Räuberhorden, die sich als Zehnten Stamm bezeichneten, und keinen einzigen davon hätte ein Fürst der großen Neun Stämme der Urier anerkannt.
Von alldem ahnten die Leute des Seenlands, die sie überfielen, sehr wenig. Mochten sie auch alle dem Geschlecht der Menschen entstammen – für die Seenländer waren Urier unterschiedslos hellhaarige Barbaren auf Pferden.
Serekas rammte seinen Dolch aus Feuerstein ein paar Schritte weiter in festen Boden, so dass die sich unverzagt vorankämpfende Frau ihn sehen musste. Und tatsächlich hielt sie für einen Moment inne. Daran erkannte Serekas, dass sie ihn durchaus wahrgenommen und dass sie damit gerechnet hatte, von ihm getötet zu werden.
Er schwang sich auf sein Pferd.
»Warum hast du die da nicht aus der Zeit geführt?«, fragte sein Krieger Pargemion, als er neben ihn ritt.
»Damit jemand die Unbrauchbaren nachher losbindet.«
Pargemion musste an ein altes Sprichwort denken, das besagte, nur ein weiser Mann könne einen weisen Mann von einem Dummkopf unterscheiden. Er schwieg.
»Auf, Männer«, rief Serekas. »Der See hat noch drei Dörfer für uns.«
Und sie setzten ihren Weg fort.
Die Morgenstunden verstrichen, ohne dass es heller wurde. Ein gespenstischer Nebel kroch aus der Erde, machte die Räuber unsichtbar und dämpfte ihre Geräusche. Serekas hätte schwören können, dass es kein gewöhnlicher Nebel war. Fast wie ein Lebewesen schien er sich um die Räuber zu schlängeln, überzog die von Blut und Schweiß triefenden Gestalten mit klebriger Feuchtigkeit und machte ihnen das Atmen schwer. Gelegentlich schien etwas in ihm aufzuglänzen wie ein großer Wassertropfen oder ein Auge … und dann raschelte das Gras, als würde nicht Nebel darüber hinwegstreichen, sondern ein geschuppter Bauch.
Serekas verlor in den nächsten zwei Dörfern elf Männer, darunter zwei sehr gute. Aber der Gewinn war größer: Werkzeuge, Dutzende kräftige Kinder, die man an die Kupferminen der Zwerge verkaufen konnte, und viele unverbrauchte Frauen.
Als letztes Dorf hatten sie absichtlich das kleinste gewählt. Falls man dort von den Überfällen gehört hätte, wären die Leute immer noch zu wenige, um sich erfolgreich zu verteidigen, und kein großer Verlust, wenn sie geflohen waren.
Doch die Seenländer hatten sich weder in ihren Hütten verschanzt, noch waren sie geflohen. Als die Reiter kamen, schälte sich eine lange Reihe von Umrissen aus dem Nebel. Die Seenländer hatten sich vor dem Friedhof versammelt, wo moosüberzogene Steintürmchen an ihre Ahnen gemahnten – eine von den Zwergen übernommene Tradition. Obwohl die Leute sich mit Spitzhacken, Messern und Äxten ausgerüstet hatten, würden sie im Freien leichte Beute für die Reiter sein.
Eine hutzelige Gestalt in einem grünlich schwarzen Umhang trat vor. Lichtes Haar stand ihr um den Kopf. Serekas hatte noch nie eine dermaßen alte Frau gesehen. Sie war geradezu ein Fossil. Ihre knotigen Hände hielten einen Becher.
Sie näherte sich mit feierlichen, schleppenden Schritten, als vollzöge sie einen uralten rituellen Tanz. Ihre Bewegungen hypnotisierten die Reiter. Erst als die Alte direkt vor Serekas’ Hengst stand und das Pferd schnaubend den Kopf neigte, um sie zu beschnuppern, erwachte Serekas aus seiner Starre, und statt seine Männer zum Kampf aufzufordern, ließ er sein Pferd zurückweichen.
»Ich kenne deine Geschichte, Sohn der Urier«, sagte die Alte. Ihre Stimme war tief und schrebbelig. Sie hob den Becher, in dem sich eine Flüssigkeit bewegte.
Serekas blickte hinein. Er sah sein Gesicht auf der Oberfläche erzittern. Vollbärtig und blutüberströmt. Nein, nicht vollbärtig. Er war klein … er war ein Rotzlöffel. Der Bastard einer Sklavin, weniger wert als ein Hund.
»Du bist kein Fremder.« Die Alte verzog den Mund zu einem Lächeln, das ihm wehtat – im tiefsten Innern wehtat. »Jeder von uns ist ein Kind zwischen Licht und Dunkel …«
Und am Ende handeln alle Geschichten von der Liebe und ihrem langen Schatten.
»… und die Dunkelheit weicht dem Licht, nicht umgekehrt.«
Serekas spürte, wie eine Flut in ihm stieg. Sie erreichte seine Augen und ließ alles verschwimmen. Als er schon seine Waffe fallen lassen wollte, regte sich Panik in ihm. Er stieß einen Zorneslaut aus, riss die Streitaxt hoch und spaltete der Zauberin den Schädel.
Die Seenländer schrien auf, und die Reiter brüllten, rammten ihren Pferden die Fersen in die Flanken und stürzten sich auf die Leute.
Serekas sprang ab, seine Streitaxt umklammernd, deren Klinge im Schädel der Zauberin steckte. Der Leichnam sackte vor ihm auf die Knie. Der Becher fiel aus den klauenartigen Händen, und die Flüssigkeit darin verdampfte zischend zu einem unnatürlichen Nebel, der schnell wie eine Schlange über Serekas’ Stiefel davonglitt.
Er betrachtete das zierliche Gefäß aus schwarzem, fein geädertem Obsidian. Ein Relief verzierte den Rand, dessen Muster Serekas fremd waren, und er riss die Klinge aus der Toten, um das zauberische Gefäß zu zerschlagen. Klirrend prallte die Streitaxt dagegen. Doch nichts geschah. Noch einmal schlug Serekas zu und dann wieder. Und wieder. Er spürte, wie die Kupferklinge vibrierte, aber der dünnwandige Becher blieb unversehrt, verlor nicht einen einzigen Splitter.
Serekas bekam es mit der Angst zu tun.
Ein Seenländer stürzte sich auf ihn; ohne zu überlegen, stieß Serekas ihm den Ellenbogen ins Gesicht, steckte den Becher ein und schwang sich auf sein Pferd, um am Kampf teilzunehmen.
So verschwand der Blickende Becher aus dem Besitz der Weisen Frauen, die ihn über Jahrhunderte gehütet hatten.
Das Leben eines Räubers währt nicht lange. Das weiß jeder Räuber. Darum versuchte auch Serekas, nachdem er erstaunliche fünf Winter als Räuber durchgehalten hatte, einen Stamm zu gründen, der sich mit eigenen Viehherden versorgte.
Vier Winter ging das mehr oder weniger gut. Das Hirtenleben war härter, als er es aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Sie mussten zwar nicht mehr Dörfer überfallen, aber das Weideland war unter den Neun Stämmen der Urier aufgeteilt, und die Neun Stämme waren schwerer zu schlagen als überraschte Bauern.
Im fünften Winter wurde Serekas von Rebellen angegriffen, die sich gegen die Urier in ihrem Land erhoben und keinen Unterschied zwischen den Stämmen machten. Einer der Rebellen war ein Seenländer, dessen Dorf Serekas geplündert hatte, als der Seenländer noch ein Kleinkind gewesen war. Damals hatte Serekas ihn verschont.
Doch sie erkannten einander nicht wieder.
Serekas starb, verwundet von einer Klippe gestoßen, und ihm schien es, als blickte der Junge, der er einst gewesen war, von der glänzenden, endlosen Oberfläche des Himmels herab, ohne ihn zu sehen.
Wie Laub, das von einem toten Zweig segelt, gingen die Rinder, Pferde und Frauen, die Serekas angesammelt hatte, in neuen Besitz über.
Auch der zierliche Becher aus Obsidian.
Viele Sommer und Winter rollte der Becher von einer blutigen Hand in die nächste, ohne dass jemand mehr in ihm sah als ein hübsches Gefäß. So manchem fiel auf, wie ungewöhnlich robust, geradezu unzerstörbar er war oder wie erstaunlich klar man sich in jeder Flüssigkeit darin spiegelte. Doch der Zauber des Bechers hatte sich zurückgezogen. Er schlief unter der blinden Gewalt, die um ihn loderte, bis er einem Händler in der Nordstadt Pen Korwall zwischen die parfümierten Finger geriet.
Der Händler hieß Rautenkhal in der Sprache des Kleinen Volkes – Rotkehlchen in den einfachen Dialekten der Menschenvölker. Er raubte den Becher nicht, er erwarb ihn, was eine kultiviertere Form von Raub ist, da der Beraubte bei dem Handel nicht anwesend sein muss.
Rautenkhal ahnte etwas von der Macht des Bechers, auch wenn sie sich ihm nicht zeigte. Er tauschte das rätselhafte Gefäß nicht weiter, sondern behielt es vierzig lange Jahre, erst in Armut, dann in Reichtum, immer größerem Reichtum, bis zum Tag seines Todes.
Da er weder Frau noch Kinder hatte, hinterließ er seinen Besitz einer Sklavin – einem jungen Mädchen, das einst aus dem geheimnisvollen Volk der Waldelfen entführt und von ihm gekauft worden war. Doch sie wollte Rautenkhals Schätze nicht, und so wurden sie unter den Mächtigsten von Pen Korwall aufgeteilt.
Nur der Becher war nicht darunter.
Noch am selben Tag verließ die Elfe Pen Korwall. Sie ging allein, mit nichts als den Kleidern an ihrem Leib, dem Becher aus Obsidian in den Händen und einem Lächeln auf den Lippen.
Es war das Lächeln eines Wesens, das entweder wahnsinnig geworden war oder ein Wunder erlebt hatte.
Die Tochter des Alten Volkes, in deren Herz nur Schatten gewesen war, hatte ein Wunder erlebt.
Sie war geliebt worden.
Mitten im Wald lag eine kleine, kreisrunde Lichtung, von der die mächtigen Ulmen Abstand hielten wie abergläubische Alte. Dort hockte ein Haus aus Stein, über und über mit Brombeersträuchern und Moos überwachsen. Die Wasserlilien neigten sich den Kristallfenstern zu statt dem Himmel, und unter dem First zogen Eulen und Tauben nebeneinander ihre Jungen auf. Es war kein gewöhnliches Haus, so wie die Lichtung keine natürliche war … eine Zauberin wohnte hier, eine Weise Frau.
»Sie ist wach«, flüsterte Haselkin.
»Wo?«, fragte Salbei aufgeregt.
»Na, im Haus, Dummerchen. Schau, der Kamin raucht.«
»Sag nicht Dummerchen zu mir!«
Haselkin verbarg sich mit ihrer kleinen Schwester am Rande der Lichtung im Unterholz. Von hier aus hätte man das Haus für einen Hügel halten können, wäre nicht tatsächlich eine Rauchfahne vom Kamin hinauf ins Laubdach des Waldes weit oben gestiegen. Frühes Morgenlicht fiel durch den sich kräuselnden Dunst und verriet, dass der Herbst nahte. Vor einem halben Mond noch hätte ein pollenkörniger Schimmer die grünen Kronen durchdrungen. Nun schwebten die ersten gelben Blätter im Wind.
Haselkin zupfte Salbei eines davon aus den Zöpfen und fuhr auch sich selbst über den von Zöpfen bedeckten Kopf. Sie war zwölf und galt fast schon als zu alt, um die Opfergaben zu bringen, weshalb man ihre kleine Schwester mitgeschickt hatte. Dem Himmel sei Dank hatten sie die Hütte gefunden. Sicher konnte man nämlich nie sein. Angeblich zeigte sie sich nur jenen, die reinen Herzens waren, und darum sollten Kinder die Opfergaben bringen. Was Haselkin Schlimmes über Erwachsene vermuten ließ.
»Klopfen wir an?«, fragte Salbei.
»Um Himmels willen, nein. Die Sachen werden hier abgelegt. Komm, und mach keinen Krach«, raunte Haselkin und ging ihrer kleinen Schwester voran.
Zwei Bäche flossen am Haus vorüber: ein schmaler an der Südseite, ein breiter an der Nordseite. Am Ufer des südlichen Wasserlaufs ruhte ein großer, flacher Stein, beinahe wie ein Tisch. Auf den legten sie ein Stück geräucherten Speck, noch ofenwarme Fladenbrote aus Einkorn und die ersten Äpfel des Jahres.
»Jemand kommt«, quietschte Salbei.
Haselkin drehte sich um. Aber die Tür der Hütte war geschlossen, und außer den Blättern, die aus den Baumkronen trudelten, bewegte sich nichts.
»Da ist niemand, du Hasenfuß.«
In dem Moment spürte Haselkin einen Blick auf sich. Langsam schaute sie sich um. Und da, auf der anderen Seite des Baches, stand eine junge Frau in einem leuchtend blauen, feingewebten Gewand, auf das mit Goldfaden Bienen gestickt waren.
»Habt Dank, Mädchen«, sagte sie im Dialekt der Leute hier aus der Gegend. Dabei war sie augenscheinlich keine Seenländerin, ja, nicht einmal ein Mensch. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Turm hochgesteckt und mit Stoff umwunden, wie es nur die Töchter des Kleinen Volkes taten. Ihr Gesicht, rund und in schwungvollen Bögen gezeichnet, wirkte auf Haselkin eigentlich fröhlich und freundlich. Doch ihre steife Haltung und ihr Ausdruck widersprachen dem. Nein, diese hübsche Zwergin war kein lustiges, kindliches Wesen. Schon jetzt ging eine feine Linie durch ihre Stirn, weil sie die Brauen wohl grüblerisch zu verziehen pflegte. Haselkin musste daran denken, was ihre Großtante manchmal mahnend sagte: Mit den Jahren verändert der Geist den Körper mehr als umgekehrt.
Die hübsche Zwergin nutzte die Trittsteine, um den Bach zu überqueren, kam zu ihnen und reichte ihnen mehrere Sträuße getrockneter Kräuter und einen Tonkrug, den Haselkin ehrfürchtig entgegennahm. Dabei fiel ihr auf, dass die Hände der Zwergin nicht größer waren als ihre eigenen.
»Die Arzneien sind geweiht«, sagte die junge Frau. »Gebt den Trunk euren Kranken, die Kräuter den Stillenden und Schwangeren.«
»Du bist gar keine von uns«, sagte Salbei.
Haselkin versetzte ihrer kleinen Schwester einen Stoß mit dem Ellenbogen, doch die Frau lächelte, wenn auch angespannt. »Das ist wahr. In eurer Sprache heiße ich Waldgrün – Walgreta bei meinem Volk, das noch die Zunge der Götter spricht. Eine Weise Frau, eine Wyka, muss sich darauf verstehen, auf viele Arten zu reden, auf die der Menschenvölker ebenso wie auf die des Kleinen Volkes.«
Trotzig fuhr Salbei fort: »Aber du bist nicht die Weise Frau. Ich hab sie schon oft gesehen. Sie ist alt.«
»Salbei!«, zischte Haselkin.
»Du hast recht«, sagte Walgreta in einem heiteren Ton, der etwas Schrilles hatte. »Ich bin nicht die Weise Frau vom Ulmenhain, sondern ihre Schülerin. Bis zum Jahresende noch.«
Da Walgreta so redselig war, wagte nun auch Haselkin eine Frage: »Nur bis zum Jahresende? Also wirst du nicht ihre Nachfolgerin?«
Ein Schatten fiel auf Walgretas Gesicht, und Haselkin bekam Angst. Konnte die Schülerin der Weisen Frau in ihr Herz hineinhorchen? Wusste sie, dass Haselkin fragte, weil sie selbst bei der Weisen Frau in die Lehre gehen und ihre Nachfolgerin werden wollte?
»Lauft nach Hause«, murmelte Walgreta, und ein eisiger Luftzug strich Haselkin über die Haut.
Im nächsten Moment rannte sie mit ihrer kleinen Schwester davon.
Walgreta sah den Mädchen nach, dann beäugte sie die Opfergaben. Es gab tatsächlich schon Äpfel. Der Herbst war nicht mehr im Anmarsch, er war gekommen. Und obwohl Walgreta diese Jahreszeit, wenn die Erde ihre schönsten Geschenke gab, am meisten liebte, regte sich Panik in ihr. Denn nicht nur das Jahresende stand bevor, sondern auch das Ende ihrer Ausbildung.
Sieben Jahre hatte Walgreta nacheinander bei sieben Weisen Frauen die Zauberkunst und die geheime Unterredung mit den Göttern erlernt. Länger durfte man nicht in die Lehre gehen. Und bis jetzt hatte keine Wyka ihr das Angebot gemacht, dass sie bei ihr bleiben und eines Tages ihre Nachfolgerin werden könnte. Wenn es hier, in diesem Jahr, nicht passierte …
Walgreta verbot sich ein Seufzen und atmete stattdessen tief ein. In der Luft lag schon der süße Hauch, den die Blumen ausstießen, wenn die Kälte aus dem Totenreich stieg, ihre Wurzeln berührte und sie erschaudern ließ.
Walgreta sammelte die Opfergaben auf, füllte noch einen Tonkrug mit Wasser und kehrte ins Haus zurück.
Onyx stand am offenen Herd und fischte ein Stöckchen aus dem Feuer, das Walgreta entfacht hatte. Mit dem Stöckchen zündete die Weise Frau ihre Pfeife an. Groß, krumm und dürr wie eine Esche stand sie da im Leinenkittel, umgeben vom Gespinst ihrer grauen Haare, und rauchte.
»Guten Morgen«, sagte Walgreta, ohne eine Antwort zu erwarten. Onyx gehörte zu den Leuten, die finsteren Blicks durch die ersten Tagesstunden schlafwandelten, und war bis zu ihrer zweiten Pfeife nicht ansprechbar. Das hatte Walgreta schnell lernen müssen.
Sie hängte den Kessel über die Flammen, füllte ihn mit Wasser und kochte Haferbrei auf die Weise, die Onyx für richtig hielt, auch wenn die Weise Frau morgens nicht mitaß, und Onyx sah ihr dabei zu, rauchend in ihrem mit Lammfell bezogenen Sessel, die Beine breit vor sich ausgestreckt.
Die Zauberin hatte etwas von einem jungen Mädchen in diesen Momenten. Etwas Schlaksiges und Linkisches von einem jungen Mädchen, das in die Höhe schoss, statt rundere Formen anzunehmen. Auf eine verwirrende Weise fand Walgreta das jedoch hübsch. Vielleicht, weil sie selbst so sehr das Gegenteil war. Dabei waren die Menschen in jeder Hinsicht weniger edel als Walgretas Volk, und es gab keinen Grund, weshalb sie, eine Hochgeborene des Kleinen Volkes, auf eine Seenländerin neidisch sein sollte. Außer, dass diese Seenländerin eine Weise Frau war … und Walgreta niemals eine werden würde, wenn Onyx sie nicht zu ihrer Nachfolgerin erklärte, ehe das Jahr um war.
»Der Sommer ist vorbei«, bemerkte Onyx, als hätte sie Walgretas Gedanken erraten. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich hatte einen Traum. Zwei Bucheckern fielen vom Baum. Eine fiel in einen Fluss, und eine fiel in einen Teich. Diejenige, die in den Fluss fiel, ließ Bäume entlang des Flusses wachsen, doch es waren kahle Stämme ohne ein grünes Blatt. Diejenige, die in den Teich fiel, wuchs nach unten in die Erde, und ihre Wurzeln schwammen wie ein böses Spinnennetz an der Oberfläche.« Sie sah Walgreta eindringlich an. »Was, meinst du, bedeutet dieser Traum?«
Walgreta hielt im Rühren inne, überrascht, dass die Alte so viel sagte, obwohl sie noch ihre erste Pfeife paffte. »Ich glaube, es bedeutet, dass Ihr nachts die Eicheln in den Bach habt fallen hören.«
Onyx verzog die Lippen zu ihrem Dachsgrinsen. »Eine gute irdische Erklärung. Und wenn du den Kopf aus der Erde ziehst, was siehst du dann in meinem Traum?«
»Dann …« Walgreta rührte weiter im Haferbrei, als suchte sie darin ihre Gedanken. »Dann glaube ich, die Buchecker, die in den Fluss fiel, steht für die Güter, welche die Händler dieses Jahr den Donwall heraufbringen werden. Es werden Güter sein, die allerorts begehrt sind, aber mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken werden. Und die Buchecker, die in den Teich fiel … kündigt einen harten, langen Winter an, in dem die Menschen des Seenlands bang zum Totenreich hinabblicken.«
Onyx ließ sich nicht anmerken, was sie davon hielt. Dabei hatte sie sonst nie gezögert, Walgretas Traumdeutungen mit einem verächtlichen Schnauben oder, seltener, mit einem anerkennenden Brummen zu quittieren. Still, wie in einen Tagtraum versunken, saß sie da und vergaß sogar ihre Pfeife. Endlich kam sie zu sich, stand auf und zündete das Violettenkraut noch einmal an.
»Frostig heute«, murmelte sie. »Ich zieh’ mich an.«
Damit verschwand sie in ihrer Schlafkammer und kam eine ganze Weile nicht wieder.
Als die Zauberin endlich aus ihrer Kammer trat, trug sie ihren Mantel aus schwarzen Ziegenfellstreifen ungegürtet über dem Kittel und das Haar noch immer zottelig. Sie streckte sich und ließ einen weichen Furz fahren.
Formgefühl, wie jede Art von Kultur, war bei den Menschen nicht so entwickelt wie beim Kleinen Volk, aber selbst für die Verhältnisse der Menschen war Onyx eine verlotterte Erscheinung. Als Weise Frau durfte sie sich solche Freiheiten wohl erlauben; schließlich lebte sie in der Abgeschiedenheit, wo sie auf niemanden Rücksicht nehmen musste außer auf ihre Schülerin.
Walgreta wandte sich geflissentlich den letzten Löffeln ihres Nachschlags zu, und Onyx beäugte, während sie sich ihre Pfeife neuerlich anzündete, den Kessel.
»Du bist naschhaft wie eine Schwangere«, sagte die Wyka.
Walgreta verkniff sich eine Bemerkung über Onyx’ weit naschhafteres Rauchverhalten und erwiderte stattdessen: »Dafür esse ich abends kaum.«
Onyx paffte ihr Violettenkraut, dessen Duft Walgreta oft schwindelig machte, und breitete dann den Arm aus, was eine allgemeine Betrachtung der Welt ankündigte. »Unser Tagesablauf spiegelt unser ganzes Leben wider, so wie ein einzelnes Leben das eines ganzen Volkes spiegelt. Du, mein liebes Waldgrün, springst bei Sonnenaufgang aus den Federn und futterst dich durch die Morgenstunden wie eine Made durch die Pflaumen, weil du in deiner Jugend vor Lebenshunger, Kraft und Tatendrang strotzt. Mit dem Alter wirst du dich übersättigt aus dem Leben zurückziehen. Und als alte Frau wirst du vielleicht nicht einmal mehr sprechen, so wie du jetzt schon bei Einbruch der Dunkelheit in jeder Hinsicht schlappmachst.«
Walgreta rätselte, ob Onyx ihr damit etwas über ihre Nachfolge andeuten wollte, und fragte behutsam: »Was sagt Euer Tagesablauf dann über Euer Leben aus?«
»Dass ich in meiner Jugend ein faules Ei war. Ich lag moderig rum wie heute noch jeden Morgen.«
»Aber die Weise Frau vom Ulmenhain hat Euch damals trotzdem zu ihrer Nachfolgerin erwählt.«
»Ja, weil ich abends fidel werde. Ich konnte schon damals die Spindel länger drehen, als der Torf brennen kann. Ich habe bis zur Morgendämmerung Kröten gefangen, wenn es sein musste, und wenn man mich gelassen hat, habe ich auf der Zupfe gespielt und Lieder erfunden, bis die Nachtigallen schlafen gingen. Die Weise Frau vor mir wusste, dass sich meine Kräfte mit dem Alter entfalten würden, so wie sie sich täglich zu vorgerückter Stunde entfalteten. Und sie wusste auch, dass eine Weise Frau die längste Zeit ihres Lebens alt sein wird und nicht jung.«
Walgreta nickte langsam, die Zähne zusammengebissen, um sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Ich verstehe«, sagte sie erstickt und merkte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Die konnte sie nicht zurückhalten.
Also erhob sie sich und eilte aus dem Haus nach draußen ins funkelnde Morgenlicht.
Onyx fand ihre Schülerin beim Wasserfall, der dreihundert Schritte östlich der Lichtung, auf der ihre Hütte stand, von einer Klippe stürzte. Es war kein besonders imposanter Wasserfall, nur gespeist von den zwei Bächen, die ihre bescheidene Behausung umflossen, aber weil an der Felswand keine Bäume wuchsen, eröffnete sich an dieser Stelle ein herrlicher Ausblick auf die verflochtenen Kronen der Eichen, Buchen, Eiben und Zedern weiter unten, in denen Vögel und Eichhörnchen umherhuschten.
Walgreta hatte den Wasserfall wohl aufgesucht, weil sie in seinem Rauschen schluchzen konnte, ohne es selbst hören zu müssen. Danach musste sie sich in dem eiskalten Wasser das Gesicht gewaschen haben. Denn als Onyx sich nun neben sie auf das Moos setzte, sah Walgreta fast wieder so aus, als wäre nichts geschehen. Nur die nassen Strähnen an ihren Schläfen und ein rötlicher Schimmer um ihre Augen verrieten ihre Gekränktheit.
Eine Weile saßen sie schweigend da und beobachteten die Baumwipfel, in denen der Wind atmete. Im Wald war es leicht, die Zeit zu vergessen. Das Leben ringsum war so groß und umfassend, dass man darin versank und eins werden konnte mit den warmen Steinen, den raschelnden Blättern und dem knarrenden Holz.
So mancher Sterbliche war auf diese Weise im Wald verschwunden, hatte sich in Vogelgesang und Morgentau verwandelt – ohne Schmerzen, wie man sagte. Auch die Schwangeren der Menschenvölker verließen nach uralter Sitte ihre Dörfer, um ihre Kinder in Aufgelöstheit mit dem Wald zu gebären. Manche kamen nicht wieder, und man wusste, dass sie nicht gelitten hatten …
Aber eine Weise Frau beherrschte die Kunst, mit dem Wald nicht nur zu verschmelzen, wann immer es ihr beliebte, sondern auch wieder aus ihm aufzutauchen, und so sagte Onyx schließlich in die riesige, ruhige Lebendigkeit des Waldes hinein: »Du hast meinen Traum mit viel Zuversicht ausgelegt.«
»Bedeutet es Schlimmeres als Hungersnot im Winter, wenn im Traum Nüsse ins Wasser fallen?«, erwiderte Walgreta, und ihre Stimme klang spöttisch vor Verletztheit.
»Es waren Bucheckern«, korrigierte Onyx sie ernst. »Bucheckern sehen aus wie eine Königskrone. Mein Traum kündigt in der Tat Schlimmeres an als einen harten Winter.«
Walgreta wandte sich ihr jetzt zu, ihr Blick ahnungsvoll bestürzt, so wie damals zu Beginn ihrer Ausbildung, als sie einmal aus Versehen einen Haufen Abfälle in die heilige Opfergrube geschüttet hatte.
»Beide Bucheckern«, fuhr Onyx fort, »stehen für ein Samenkorn von königlichem Blut, das ich in die Welt entlassen werde: Sie stehen für dich, mein liebes Waldgrün. Von dir kündet mein Traum. Zwei Wege stehen dir offen: über die weitverzweigten, schnelllebigen Gewässer der Sterblichen oder in die stillen, tiefen Wasser der Zauberwelt hinab. Ich weiß wohl, welcher Weg dir lieber wäre. Du bist im siebten und letzten Jahr deiner Lehre. Du willst eine Zauberin sein und den Ulmenhain hüten, wenn ich zu den Toten übergegangen bin. Mein Traum aber hat mir gezeigt, dass du als Weise Frau in die falsche Richtung wachsen würdest. Du würdest vom Dunklen angelockt werden und die Welt mit einem gefährlichen Spinnennetz überziehen.«
Walgreta spürte, wie die Worte der Wyka etwas in ihr zertrümmerten. Es war die Hoffnung, an die sie sich sieben Jahre lang geklammert hatte. Nein, länger noch – seit sie ein kleines Mädchen war, hatte sie eine Weise Frau sein wollen, tief im Wald, bei einem heiligen Hain, eine Mittlerin zwischen den Völkern, zwischen den Sterblichen und den Göttern, dem Vergangenen und dem Kommenden. Doch das würde sie nun nie sein, niemals.
Niemals.
In den Abgrund dieses Wortes stürzend, hörte sie nur halb zu, während Onyx fortfuhr: »Wenn du zu deiner Familie zurückkehrst, wirst du auf andere Weise einflussreich werden. In meinem Traum hast du viele Bäume entlang des Flusses wachsen lassen. Sie waren blatt- und fruchtlos. Doch Träume sind Bilder der Zukunft. Sie warnen uns vor Gefahren, denen wir entgegenwirken können. Dies wird deine Aufgabe sein, mein liebes Waldgrün, wenn du wieder in deine Heimat zurückkehrst: nicht den Tod in die Welt zu bringen, sondern das Leben.
Nicht erst mein Traum hat mir gezeigt, dass du Großes vollbringen kannst. Du bist willensstark und hast einen scharfen Blick. Du siehst die Dinge klarer als die meisten, denen ich begegnet bin, und bestimmt deutlicher als ich. Aber dein Blick geht ins Detail, nicht in die Tiefe. Du siehst die Dinge – nicht das, was dahinterliegt. In Zeiten wie unseren ist dein Talent sehr viel wert. Die Neun Stämme der Urier haben das Mitterland schon erobert. Dessen ursprüngliche Bewohner mussten sich ihren barbarischen Bräuchen beugen. Jetzt zwingen die Urier nach und nach auch die Völker des Seenlands unter ihr Joch. Keiner aus dem Menschengeschlecht ist mächtig genug, um sich ihnen zu widersetzen. Aber dein Volk, angeführt von Frauen wie dir, könnte uns vor den Reiterstämmen beschützen. Das wird deine Aufgabe sein.«
Walgreta verzog das Gesicht. Ihre Träume sahen anders aus. Hatten mit den Uriern nicht das Geringste zu tun.
»Weißt du, Waldgrün … im Grunde deines Herzens willst du nur eine Weise Frau werden, weil dir der Rang einer Wyka gefällt, das damit verbundene Ansehen, die Ehrerbietung der Leute.«
»Ihr täuscht Euch.« Walgreta wollte kühn und selbstsicher klingen, aber ihre Stimme war wie gequetscht vor Bitterkeit. »Ginge es mir um Rang und Ehrerbietung, wäre ich nach dem ersten Lehrjahr, das für eine Tochter meines Ranges Pflicht ist, nach Hause zurückgereist und Priesterin geworden.«
Onyx schüttelte langsam den Kopf. »Als Priesterin hättest du dich auf kleinliche Kämpfe um die Gunst der Königin einlassen müssen. Du willst echte Macht. Einfluss … und vor allem Ehrerbietung.«
»Das ist unwahr!« Walgreta sprang auf. Die Wut, die sie all die Monde in sich getragen hatte wie Glutstücke, flammte jäh auf. »Ihr mochtet mich von Anfang an nicht. Ach was, Ihr mochtet mich schon nicht, bevor Ihr mich kennengelernt habt! Und ich vermag sehr wohl hinter die Dinge zu sehen! Ihr verweigert mir die Nachfolge, weil ich vom Kleinen Volk bin. Es nagt an Euch, dass Ihr Menschen uns untertan seid, und darum wollt Ihr lieber eine Seenländerin zur Weisen Frau machen als eine Zwergin!«
Ohne aufzublicken, erwiderte Onyx: »Das ist es, was ich meine. Du siehst nur die Verstrickungen der Sterblichen, aber das, worum es einer Weisen Frau gehen sollte, ist für dich nichts als ein diffuser Schein.«
Walgreta dachte daran, wie leicht es wäre, Onyx mit einem Tritt in den Abgrund zu befördern. Ein Frösteln durchrann sie, da ihr die Zerbrechlichkeit aller Dinge bewusstwurde, von Träumen ebenso wie von Lebewesen … und sie wusste nicht, ob sie sich zurückhalten oder im Gegenteil gegen ihre Feigheit ankämpfen sollte, um den Tritt doch noch auszuführen.
»Du bist gefährlich, Walgreta«, murmelte Onyx. »Du fühlst dich ohnmächtig, ohne dir deiner Kraft bewusst zu sein. Blinde Kraft ist Vernichtung. Erinnere dich daran!«
Wieder füllten sich Walgretas Augen mit Tränen. Sie schämte sich – für ihre Wut, für ihr Versagen, für so vieles, was sie falsch gemacht hatte. Aber ihr Lebensziel zu verlieren … das konnte sie nicht einfach hinnehmen. Sie wünschte es sich mehr als alles auf der Welt, mehr als irgendwer es sich je gewünscht hatte! Was brauchte es denn mehr? Sie war bereit zu lernen, zu opfern, sich zu verändern. Warum war das nicht genug?
»Verzeiht mir«, brachte sie hervor. »Ich habe im Zorn gesprochen. Ehrenwerte Onyx, bitte erklärt mir, was Euch an mir fehlt. Wenn Ihr mich behaltet, schwöre ich, dass ich genau so werde, wie Ihr mich …«
Ein jäher Wind fegte durch die Baumkronen, so dass die Zweige sich teilten und Sonnenlicht Walgreta blendete. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab. Da sah sie, dass buntes Laub über die Stelle wirbelte, an der Onyx gesessen hatte.
Die Zauberin war verschwunden.
Walgreta lief bis zur Abenddämmerung durch Wald und Unterholz, ohne den Ulmenhain, geschweige denn das Steinhaus auf der Lichtung, zu finden. Onyx hatte sie ausgestoßen. Ihr Lehrjahr war vorbei.
Sie fühlte sich wie ein Schatten ihrer selbst, dazu verdammt, auf Erden umherzuirren. Schließlich gab sie die Suche auf. Niemand konnte eine Wyka finden, die nicht gefunden werden wollte. Nicht einmal nach sieben Lehrjahren konnte Walgreta das.
Sie stieg ins Tal hinab und erreichte, als die Sterne bereits am Himmel schimmerten, ein Dorf, das auf Pfählen im Uferschilf stand.
»Brot, etwas Warmes und ein trockenes Lager«, befahl sie missmutig in der Sprache des Kleinen Volkes, als sie, ohne anzuklopfen, das größte der Pfahlhäuser betrat, damit die Seenländer gleich wussten, wen sie vor sich hatten.
Auch wenn diese die Worte vielleicht nicht kannten, errieten sie Walgretas Wünsche und kamen ihnen augenblicklich nach, wie es sich für Menschen geziemte, wenn sie es mit Angehörigen des Kleinen Volkes zu tun hatten.
Schweigend ließ Walgreta sich nieder und begann zu essen.
»Hallo, Waldgrün«, erscholl da plötzlich die Stimme eines kleinen Mädchens, in dessen großen, schlaftrunkenen Augen mehr als nur der Widerschein des Herdfeuers leuchtete.
Es war Salbei, die an diesem Morgen die Opfergaben gebracht hatte. Wie lange schien das her!
»Ist deine Ausbildung bei der Weisen Frau jetzt vorbei?«
Walgreta wusste nicht, was sie antworten sollte; die Beklommenheit verhinderte so oder so, dass sie sprechen konnte.
»Wenn ich groß bin, will ich die Zauberin vom Ulmenhain sein!«, rief die Kleine aus.
Walgreta erhob sich vom Herdfeuer und zog sich wortlos in die Tiefe des Hauses zurück. Ohne ihre Kleider abzulegen, streckte sie sich auf dem Lager aus, das man ihr bereitet hatte, und schloss die Augen. Sie wollte schlafen und nie wieder aufwachen.
Schon am nächsten Nachmittag kam ein Boot zweier Händler den Fluss herauf, die auf dem Weg nach Süden waren, wie so viele zu dieser Jahreszeit. Die beiden nahmen Walgreta mit, nachdem sie ihnen zwei Säcke Linsen und einen Sack Hafer abgekauft hatte, damit in dem langen, schmalen Einbaum Platz genug für sie war. Die kostbaren Nahrungsmittel schenkte sie den Dorfbewohnern, die vor ihr auf die Knie fielen. Dann ließ sie sich von dem schaukelnden, bedenklich tief im Wasser liegenden Gefährt in Richtung Heimat bringen.
Heimat. Obwohl Horuns Bauch, die prächtige Stadt im hohlen Berg, der Ursprung ihres Volkes war, hatte Walgreta sich innerlich schon vor Jahren davon verabschiedet. Es war der Ort ihrer Kindheit. Das Nest, das sie ein für alle Mal verlassen haben wollte. Was für eine Schmach, nun dorthin zurückkehren zu müssen!
Zwei Tage vergingen. Nachts schliefen sie in seenländischen Dörfern, die entlang des Donwall lagen und den Meridiern und Sarwen gehörten. Walgreta sprach nur so viel, wie die Höflichkeit es erforderte. Ihr war wohl bewusst, dass sie bei den Seenländern damit Erstaunen, wenn nicht gar Befremden auslöste, denn von ihr als Tochter des Kleinen Volkes erwartete man, dass sie am Feuer die Geschichte ihrer langen Abstammung erzählte, die bis in Zeiten zurückreichte, die für die Menschen im Dunkel lagen. Aber sie brachte es nicht fertig, die Runenkette abzuzählen, die ihr Haartuch umwand. Sie würde sich wie ein Schandfleck fühlen, wenn sie ihre über neunhundert großen Mütter aufzählte, deren ruhmlose Tochter sie war.
Dann zerfiel der Donwall in die vielen störrischen Bäche, die ihn speisten. Die Händler mühten sich, das Boot über die schnellen Wogen zu staken, bis ihnen nichts anderes mehr übrigblieb, als ihren Weg zu Fuß fortzusetzen, wobei die Männer das Boot über ihren Köpfen trugen.
In der Dämmerung eines Morgens erreichten sie die Quelle der Bäche: den ersten der fünf Hellen Seen.
Nun waren sie nicht länger allein. Von den Ufern des Sees, wo Dörfer lagen, lösten sich nach und nach Boote, lang und schmal und beladen mit allerlei Gütern. Bunte Wimpel waren an Schnüren und Stöcken aufgezogen, um die Waren anzuzeigen – exotische Tiere, Getreide, Stoffe und Färbemittel, Klingen und Werkzeuge – oder um als Wappenzeichen die eigene Herkunft kundzutun. Langsam glitten die Boote über den See. Ab und an hallten Grüße in verschiedenen Dialekten der Menschenvölker und den unverständlichsten Varianten der Hochsprache des Kleinen Volkes durch die Nebel.
Walgreta hielt sich das Ende ihres Haartuchs vors Gesicht, von einem kindischen Wunsch ergriffen, niemand möge sie sehen. Aber man würde sie sehen. Noch früh genug.
Vor ihnen tauchte Land auf aus der Nacht, endlose Hügel und Berge, blauschimmernd am Firmament wie rhythmische Wiederholungen von Raum und Zeit. Laut der Überlieferung des Kleinen Volkes waren die Berge riesenhafte Ahnen, die gegen die Götter des Himmels aufbegehrt hatten und von Blitzen erschlagen worden waren. Unter den Erdgöttern war auch eine Schwangere gewesen, die Riesin Horun, deren Silhouette mit dem großen Bauch und den geschwollenen Brüsten an der Grenze zum unbetretbaren Gebirge noch heute zu erkennen war. Als Horun bereits erschlagen dalag, senkte sich der mitleidige Vater Sonne zwischen ihre Beine, erwärmte ihren Schoß und rettete so den ungeborenen Kindern der Riesin das Leben: Hervor kamen winzige, weiche und unfertige Geschöpfe – das Kleine Volk, liebevoll oder spöttisch auch Zwerge genannt.
In goldenen Schleiern strich das Licht über die östlichen Hügelkuppen und löste den Nebel. Nun sah Walgreta, dass nicht nur Boote der Menschenvölker sich ihrem Zug anschlossen. Da waren auch geflochtene und mit Birkenpech bestrichene Barken, die sich nach Bedarf auf- und abbauen ließen. Die Gestalten darin waren größer als Menschen. Diademe aus Flechtwerk, verziert mit Muscheln und Perlen, bändigten ihr rötliches Haar. Ihre seltsam blassen, ärmellosen Roben waren zarter als alle Walgreta bekannten Stoffe, und grüne Tätowierungen überzogen ihre perlmutthelle Haut wie ein Gespinst von Schlingpflanzen. Nicht zuletzt verrieten ihre erstaunlichen diamanthellen Augen, dass es Leute vom Alten Volk der Küsten waren.
Sie, die Elfen, stammten nicht von Horun ab. Sie waren schon immer da gewesen, so wie Feuer und Wasser, und hatten zu Zeiten der Riesen Jagd auf die gewaltigen Ahnen der Tiere gemacht. Jedenfalls, wenn man den Geschichten der Elfen glauben durfte. Sie erzählten sich überhaupt ganz andere Geschichten: Ihrer Auffassung nach waren die Berge kein Gebein toter Götter, sondern lebten und bewegten sich, so wie alles, und zwar um den herum, der schaute.
Walgreta hatte nie recht verstanden, wie sie sich das vorstellen sollte. Sie wusste sehr wenig über sehr viel, wie Onyx einmal bemerkt hatte … Der Hass auf die Wyka überschwemmte ihre Gedanken, und sie versuchte, ihn loszulassen, während das Wasser geschmeidig an ihr vorüberzog.
Loslassen. Eine der ersten Übungen für eine Weise Frau.
Blitz und Donner würde sie loslassen!
Es dauerte vier Tage, das Land der Hellen Seen zu durchqueren. Jeder der fünf Seen war so lang, dass man von einem Ende das andere kaum erkennen konnte. Dazwischen lagen schmale Flussabschnitte, von denen nicht alle befahrbar waren; zweimal mussten sie aus dem Boot steigen und mit allem Gepäck durch ein Tal wandern. Zum Glück gab es genug Dörfer, aus denen ihnen bereitwillige Helfer entgegenkamen. Der Herbst war die Zeit der Gastfreundschaft, in der sich alle fröhlich begegneten. Es wurde getauscht und geschenkt, und an jeder Flussbiegung und jedem Ufer erwartete die Reisenden ein Festessen mit Musik unter alten Ulmen, Linden, Buchen oder Eichen.
Dann endlich erreichten sie den Finsteren See. Es war der letzte des Seenlands, bevor das unüberwindliche Gebirge sich erhob. Anders als die Hellen Seen leuchtete er nicht türkisfarben, sondern war schwarz wie Obsidian. Schroffe Felswände umschlossen ihn, die unter Wasser ebenso steil abfielen: Selbst in Ufernähe konnte man einen Stein an einem zweihundert Ellen langen Seil versenken, ohne dass er auf Grund stieß.
Es gab nur zwei Stellen, über die der Finstere See erreicht werden konnte. Eine davon war der Flusslauf, über den sein Wasser in die Fünf Hellen Seen abfloss. Die andere war ein Hang gegenüber, der durch einen Bergrutsch entstanden war. Mit Tannen und Moos überwucherte Felsbrocken lagen im Wasser. Das mussten Schädel von Riesen gewesen sein, dachte Walgreta, denn die Felsen wiesen grottenartige Öffnungen auf, die an Augenhöhlen erinnerten. Darin befanden sich Stege und Pflöcke aus Holz für Boote zum Anlegen.
Männer in den roten Umhängen von Horuns Bauch hielten Wache und kontrollierten die Ankömmlinge und ihre Waren. Walgreta erkannte ein paar hochgeborene Söhne aus den ältesten Familien ihres Volkes wieder und wurde von ihnen mit einer Verneigung begrüßt.
Spätestens heute Nacht werden alle wissen, dass mich auch die letzte Wyka abgelehnt hat.
Man bot ihr eine Sänfte an, aber Walgreta wollte lieber zu Fuß gehen, verabschiedete sich knapp von ihren seenländischen Wegbegleitern und begann mit dem Aufstieg.
Ein wagenbreiter gewundener Pfad führte aus den Grotten durch den Wald nach Horuns Bauch. Walgreta, die den Weg als Kind endlose Male zurückgelegt hatte, überholte mehrere Händler, die sich ebenfalls mit ihren Waren bergauf mühten. Bei einer Ansammlung von kleinen Steintürmchen, die einen heiligen Ort markierten, nahm sie eine kaum sichtbare Abzweigung und kam zu einem Weiher. Hier legte sie für die Ahnen mehrere flache Steine zu einem Turm aufeinander, um dann gelbe, violette und weiße Wasserlilien und Orchideen pflücken zu dürfen, die sie der Königin von Horuns Bauch mitbringen würde. Als sie einen prächtigen Strauß zusammenhatte, kletterte sie auf einen Felsen im Sonnenlicht, wickelte sich sorgfältig ihr Tuch neu ums Haar, ließ lediglich zwei Strähnen vor den Ohren herabhängen, die sie flocht, und versuchte, ihre Sorgen zu vergessen. Sie rief den Wald … und der Wald atmete langsam und friedlich über sie hinweg. Die Zeit fiel von ihr ab, und was blieb, war ein endloses, stilles Hier. Es war verlockend, sehr verlockend, zu bleiben …
Ein Flüstern drang zu ihr. Nein, es war weniger ein Geräusch als ein Gefühl: Sie war nicht allein. Walgreta kroch bis zum Rand des Felsens und lugte hinab.
Unten am Weiher kniete ein junger Mann. Mit einer Gans.
Die Gans war schwarzweiß gefiedert, wie Walgreta es noch nie gesehen hatte. Die weißen Wangen und schwarzen Streifen über den Augen verliehen ihr das Aussehen eines Dämons. Noch dazu stand sie mit gerecktem Hals und vollkommen reglos hinter dem Jungen, als wachte sie über ihn. Falls das geheimnisvolle Tier Walgreta wahrgenommen hatte, ließ es sich davon aber nichts anmerken.
Der junge Mann tauchte einen Becher ins Wasser und trank. Dann wusch er sich die Arme, den Nacken und die Stirn. Walgreta hielt den Atem an. Das erstaunliche Blau seiner Augen ließ keinen Zweifel daran, dass er elfischen Geblüts war. Und er war schön.
Groß und feingliederig, mit länglichem Gesicht, einer flachen, eckigen Nase und eher weit auseinanderstehenden, runden Augen erinnerte er sie an einen Hirsch. Von seinen Gewändern her hätte man ihn für einen Menschen halten können – er trug einen Wollumhang, ein schlichtes Lederwams und grobe, bis zu den Knien geschnürte Stiefel –, doch seine Haut schimmerte zu grünlich und war zugleich viel zu dunkel für die eines Küstenelfs. Auch seine struppig gelockten kurzgeschnittenen Haare waren nicht feuerfarben wie die der Küstenelfen, sondern dunkel wie Ruß. Er strich sie sich mit Wasser aus der Stirn und sah auf.
Für einen Moment war Walgreta sicher, dass er sie entdeckt hatte. Aber sein Blick ging an ihr vorbei in Richtung des Sonnenlichts, das durch die Baumkronen funkelte. Er schloss die Augen, und die Gans hüpfte auf seinen Schoß.
Walgreta nutzte die Gelegenheit, um vom Felsen zu klettern und zum Pfad zurückzukehren. Ob er sie gehört hatte? Man sagte den Elfen nach, so spitze Ohren wie Wildkatzen zu haben. Ihr Herz schlug schnell, und sie fühlte sich leicht und kribbelig. Der Junge musste zum Alten Volk des Waldes gehören. Die Küstenelfen waren geheimnisvoll und blieben meist unter sich, aber die Elfen vom Wald lebten so zurückgezogen, dass viele ihnen niemals begegneten. Es gab sogar Gerüchte, dass sie längst ausgestorben waren und nur noch ihre Geister durch die Wälder zogen … Aber Walgreta wusste, dass das nicht stimmte. Egal wie selten etwas war, irgendwann tauchte es in Horuns Bauch auf, und so hatte sie in ihrer Kindheit auch zwei- oder dreimal Waldelfen gesehen, in deren grünlich schimmernden Gesichtern die typisch elfischen edelsteinhellen Augen noch erstaunlicher wirkten als bei den Küstenelfen.