
Die Handlung des vorliegenden Romans ist fiktiv. Die Figuren, mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte, sind erfunden. Sofern die Personen der Zeitgeschichte in diesem Buch handeln oder denken wie Romanfiguren, ist auch das erfunden (siehe auch das Nachwort zu diesem Buch).
Für David
Leave your ego, play your music
and love the people.
Luther Allison
Dennoch hat der Schriftsteller vor allem zu befürchten,
dass er, wenn er nichts mehr zu sagen hat,
auf einmal geistreich wird.
Imre Kertész
Eine halbe Stunde vor Mitternacht betrat der Präsident sein Arbeitszimmer im ersten Stock.
Er fühlte sich sicher, denn schließlich war er einer der bestbewachten Männer Deutschlands. Vor der Eingangstür seines Hauses stand ein Polizeifahrzeug mit vier bewaffneten Beamten, die halbstündlich um sein Haus patrouillierten. Kurz nach seinem Amtsantritt waren die Fenster des Erdgeschosses seines Privathauses mit kugelsicherem Glas ausgestattet worden. Morgen früh um sieben Uhr würde ihn eine Eskorte bewaffneter Polizisten der Einsatzgruppe Bonn des Bundeskriminalamtes in einem gepanzerten BMW zum Flughafen Lohhausen fahren, und bei seiner Ankunft in Tegel würde ihn direkt auf dem Rollfeld eine weitere Kolonne von zivilen Polizeifahrzeugen erwarten, die ihn sicher zu seinem Berliner Amtssitz bringen würde.
Niemand hatte ihm jedoch gesagt, dass die Sicherheitsstufe für sein Düsseldorfer Wohnhaus herabgesetzt worden war, von der höchsten Stufe »Eins« auf »Zwei«, während die Vorkehrungen an seinem Berliner Arbeitsplatz auf der höchsten Ebene beibehalten worden waren. Diese Anweisung, deren Urheber man nie feststellen würde, führte auf dem üblichen Dienstweg zu der geänderten Vorschrift an die Besatzung des Streifenwagens: In Zukunft sei auf Kontrollen des Schrebergartenviertels zu verzichten, das seiner Wohnung gegenüberlag.
Deshalb blieben die beiden Männer ungestört, die sich dort in einem der Kleingärten aufhielten. Der Jüngere spähte unentwegt durch ein Fernglas zum schräg gegenüberliegenden Haus und gab seine Beobachtungen an einen hageren, durchtrainiert wirkenden Mann mit fahlgelbem Bürstenhaarschnitt weiter, der noch einmal den Sitz des Zielfernrohrs auf dem militärischen Präzisionsgewehr prüfte.
Der Präsident setzte sich in den wuchtigen, mit dunkelblauem Leder bespannten Sessel und zog sich mit einer schnellen Bewegung an den Schreibtisch heran. Er fand in der Dunkelheit die beiden Schalter für die Schreibtischleuchte und für die hinter einer Holzblende verborgenen Lampen des Bücherregals. Der Raum erleuchtete sich.
Vor ihm lag noch immer das Dokument, über das er seit drei Wochen unentwegt grübelte. Er hatte den Text so oft gelesen, dass er ihn nahezu auswendig konnte. Es waren sechs eng beschriebene, auf blaues Papier gedruckte Seiten, auf denen der Verfasser weder rechts noch links einen Rand für Notizen gelassen hatte, so als würde seine Beweisführung jeden schriftlichen Kommentar erübrigen.
Der Präsident, ein kräftiger, hoch gewachsener Mann mit zurückfliehendem Haaransatz, lehnte sich in seinem Sessel zurück. In der rechten Hand hielt er die Blaue Liste, wie er das Dokument insgeheim nannte, und dachte nach.
Für Detlef Karsten Rohwedder war die Präsidentschaft der Berliner Treuhandgesellschaft das dritte wichtige Amt, das er ausfüllte. Lange Jahre hatte er unter Bundeskanzler Helmut Schmidt als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium gearbeitet, bevor er sich hatte überreden lassen, den Chefposten im angeschlagenen Hoesch-Konzern zu übernehmen. In wenigen Monaten gelang ihm die Sanierung des Stahlunternehmens, ohne dass ein Arbeiter entlassen werden musste. Diese Meisterleistung, verbunden mit seiner politischen Erfahrung, war der Grund, warum ihn Helmut Kohl auf den Chefposten der Treuhandgesellschaft berief.
Die letzte Regierung der DDR hatte beschlossen, das produktive Eigentum des Staates in einer einzigen Gesellschaft zusammenzufassen. Die Treuhandgesellschaft wurde zu einem Superkonzern, der alle staatlichen Betriebe der DDR besaß. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung hatte die Bundesregierung Rohwedder zu ihrem Präsidenten berufen.
Anfänglich schwebte ihm eine ähnliche Lösung vor, wie er sie für den Hoesch-Konzern angewandt hatte. Er plante, die maroden Betriebe zu sanieren, ohne die dort Beschäftigten zu Tausenden auf die Straße zu setzen. Als überzeugtem Sozialdemokraten widerstrebte ihm die Hau-Ruck-Methode mancher Manager, die mit möglichst wenig Arbeitern und Angestellten optimale Betriebsergebnisse erzielen wollten.
Rohwedder war sich jedoch darüber im Klaren, dass er sich mit seiner Haltung angreifbar machte. Im Verwaltungsrat der Treuhand saßen etliche Vertreter von Firmen aus dem Westen, die ihre östlichen Konkurrenten aufkaufen wollten, um sich deren Märkte anzueignen. Sie befürchteten, durch Rohwedders Kurs würden im Ostteil Deutschlands neue Wettbewerber herangezüchtet. Keiner sagte dem Präsidenten ins Gesicht, dass man gegen seine Linie opponierte, aber Rohwedder spürte genau, wie sein Einfluss schwand.
Vor einigen Wochen hatte die Leipziger Bevölkerung die Montagsdemonstrationen wieder aufgenommen, mit denen sie vor zwei Jahren Erich Honecker vertrieben hatte. Nun verlangten die Menschen die schnelle Angleichung ihrer Lebensbedingungen an die der westlichen Bundesländer. Diese Aktionen lösten im Bonner Bundeskanzleramt eine Welle aufgeregter Aktivitäten aus. Fast täglich riefen hohe Ministerialbeamte aus Bonn an und forderten ihn auf, etwas gegen diese Demonstrationen zu unternehmen. Diese Leute, so sagte einer von ihnen, haben schon einmal eine Regierung gestürzt; sie werden vor uns nicht Halt machen.
Nachdenklich betrachtete der Präsident die Blaue Liste auf seinem Schreibtisch. Wenn er den Vorschlägen des Dokumentes folgen wollte, müsste er jetzt handeln. Noch konnte er sich im Verwaltungsrat durchsetzen. Sein Deutschlehrer hatte oft Shakespeare zitiert: »Der bessere Teil der Tapferkeit ist die Vorsicht.« – Er würde geschickt vorgehen müssen.
Für eine flächendeckende Umsetzung des Konzeptes fände er keine Mehrheit im Verwaltungsrat. Alle Vorgespräche, die er mit Wirtschaftsvertretern und Beamten aus dem Kanzleramt führte, hatten ihm signalisiert, dem Konzept der Blauen Liste würde entschiedener Widerstand entgegensetzt, selbst wenn dies der einzige Weg war, die Betriebe des Ostens zu erhalten. Er wollte dem Gremium einen Testlauf vorschlagen: Mit nur wenigen, vielleicht mit den dreißig Betrieben, die in der Blauen Liste vorgeschlagen wurden, würde die Treuhand ein Experiment starten. Wenn es gelänge – daran zweifelte er nicht –, würde er den Versuch ausdehnen können.
Nun atmete er freier. So könnte es funktionieren. Mit der Rechten nahm er die Liste und las den Text erneut aufmerksam. Als er das letzte Blatt zur Seite legte, war er sicher, er konnte Tausende von Beschäftigten vor Arbeitslosigkeit und Abwanderung bewahren.
Doch er musste sich beeilen. Jetzt gleich wollte er die Beschlussvorlage für die Sitzung diktieren. Während er in Gedanken die ersten Sätze formulierte, sah er sich nach seinem Diktiergerät um und entdeckte es auf dem metallenen Regal hinter sich.
Er stand auf, lächelnd und zuversichtlich; mit der Blauen Liste in der Hand trat er zu dem Bücherbord und wandte dem Fenster seines Arbeitszimmers den Rücken zu.
Die Attentäter warteten bereits seit vielen Stunden in einem umzäunten Schrebergarten kaum hundert Meter von Rohwedders Haus entfernt. Die beiden Männer waren am Nachmittag erschienen und hatten den Eindruck erweckt, als ob sie zu einem gemütlichen Samstag in die Kleingartenanlage schlenderten, ausgerüstet mit einigen Dosen Bier in den beiden Kühltaschen und in Erwartung einer Radioübertragung des Spiels von Borussia Dortmund.
In den Taschen trugen sie jedoch kein Bier, sondern ein NATO-Präzisionsgewehr und, in ein Handtuch eingeschlagen, das Zielfernrohr.
Der Jüngere der beiden, der aussah, als habe er die dreißig noch nicht überschritten, legte das Bekennerschreiben, das er in eine Klarsichthülle gesteckt hatte, um es vor möglichem Frühjahrsregen zu schützen, neben den Campingstuhl, den er von der kleinen Terrasse des Gartenhäuschens geholt und wortlos aufgestellt hatte.
Der ältere, wesentlich sportlicher wirkende Mann hatte die Kühlboxen geöffnet und das Gewehr zusammengesetzt. Er sprach nur wenig. Er überwachte die Platzierung des Schreibens, ohne dass er es las, was den jüngeren irritierte, denn er hatte viele Stunden grübelnd über einem Schreibheft gehockt, bevor er mit dem Text zufrieden gewesen war. Jetzt befahl ihm der Ältere, das Fernglas zu nehmen und ihm seine Beobachtungen zuzuflüstern, während er selbst unbeweglich auf seinem Campingstuhl kauerte.
Erst als das Licht im Arbeitszimmer aufflammte, geriet der Fahlgelbe in Bewegung. Er stellte sich auf die Sitzfläche des Hockers und sah durch das Zielfernrohr hinüber zum Haus.
Das körnige Licht des Zielfernrohrs schuf eine seltsame Intimität zwischen dem Präsidenten und seinem Attentäter. Er konnte die gestreifte Struktur von Rohwedders Hemd erkennen, sah, wie sich die Falten seiner Stirn beim Lesen eines Schriftstücks zusammenzogen und wieder entspannten.
Als der Mann am anderen Ende der Schussbahn aufstand, um zum Bücherregal zu gehen, zielte sein Mörder auf jene Stelle im Rücken, auf die zu zielen man ihn gelehrt hatte.
Das Geschoss zerriss Luft- und Speiseröhre des Präsidenten, zerfetzte seine Aorta und das Rückgrat. Er war tot, noch bevor sein Körper auf dem Boden des Arbeitszimmers aufschlug.
Der Mann blieb auf dem Campingstuhl stehen. Durch das Präzisionsobjektiv sah er die Frau des Präsidenten ins Zimmer stürmen und verletzte sie mit einem zweiten Schuss am Arm. Als sie aus dem Zimmer floh, hob er die Waffe noch einmal an, zielte und setzte einen dritten Schuss in das Bücherregal. Dann erst stieg er herunter. Der Jüngere sammelte die drei Patronenhülsen auf und deponierte sie säuberlich nebeneinander geordnet auf der Sitzfläche des Campinghockers. Nun verließen sie auf vorher geplantem Weg den Tatort.
Das erste Licht verwandelte den Tisch, der unter dem Fenster stand, allmählich aus einem Schatten in ein Möbelstück zurück. Georg Dengler lag bereits eine Stunde wach.
Die Zeit der Morgendämmerung gefiel ihm. Er fand es fair, dass der Tag der zurückweichenden Nacht gestattete, das Gesicht zu wahren, und nur behutsam das Regime über die Gegenstände des Raumes übernahm. Die zwei überlangen Schatten an der Wand schrumpften zu den beiden Flaschen Merlot, die er gestern Abend getrunken hatte, und die dunklen Inseln auf dem Fußboden entpuppten sich innerhalb weniger Minuten als die achtlos hingeworfenen Kleidungsstücke, derer er sich gestern Abend hastig entledigt hatte.
Kaum fanden die Dinge im Zimmer ihre ursprünglichen Konturen wieder, rollte er sich noch einmal auf die Seite. Das Federbett wärmte ihn, und Dengler schloss mit dem Fuß eine Lücke zwischen Decke und Leintuch, durch die für einen Augenblick irritierend kalte Luft eingedrungen war.
In diesen frühen Stunden vermisste er die Nähe eines weiblichen Körpers. Er sehnte sich danach, sich an den Rücken einer schlafenden Frau zu schmiegen, und stellte sich vor, wie er seine Hand um ihre Taille legen, ihre Haut spüren und ihrem Atem lauschen würde. Er blätterte in seiner Erinnerung wie in einer erotischen Kartei, fand aber kein Vorbild für die Frau, die er sich in diesem Augenblick wünschte.
Ich will mich verlieben – dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Gestern Abend war er noch spät in die Weinstube Fröhlich gegangen, um seine neue Freiheit mit einem Glas Grauburgunder zu feiern. Doch berührte ihn das Lächeln der jungen Frau, die ihm das Glas an den Tisch brachte, so unerwartet, dass er für einen Augenblick glaubte, es habe ihm selbst gegolten und sei nicht eine professionelle Mimik für den späten Gast. Unauffällig und ein wenig eifersüchtig hatte er beobachtet, ob sie den drei Studenten am Nachbartisch ein ähnlich offenes Lächeln schenken würde. Als sie es nicht tat, leerte er sein Glas in zwei Schlucken und zahlte bei ihrem Kollegen an der Theke.
Inzwischen lärmte auf der Straße die Müllabfuhr.
Georg Dengler wartete einen Augenblick, ob der fast schon vertraute, schmerzende Stich im Kreuz einsetzen würde. Doch heute schmerzte sein Rücken nicht, und so warf er schnell die Decke zurück. In zwei Schritten stand er vor dem CD-Spieler, drückte die Play-Taste, reckte sich und registrierte ungeduldig das kurze Grummeln, mit dem die Maschine sich in Gang setzte. Dann endlich sang Junior Wells einen Willie-Dixon-Blues. Seine raue Stimme füllte Denglers kleines Zimmer, und die Pianosoli von Otis Spann plätscherten durch den Raum.
I don’t want you
To be no slave
I don’t want you
To work all day
I don’t want you
’Cause I’m kind of sad and blue
I just want to make love to you
Dengler drehte den Ton lauter und begann mit den allmorgendlichen Liegestützen. Aus den Augenwinkeln sah er jedes Mal, wenn er sich vom Boden abstemmte, die Marienstatue an der Wand. Bald ist die Farbe völlig abgesprungen, dachte er, und tatsächlich war von dem ehemals blauen Umhang nur noch an wenigen Stellen die Farbe zu sehen. Dunkles Holz trat hervor, und der Heiligenschein war vollständig abgegriffen.
Nach dem dreißigsten Liegestütz schwitzte er. Und als er sich nach der sechzigsten Übung erhob, beobachtete ihn die Madonna immer noch. Junior Well’s Mundharmonika lieferte sich ein Duell mit Buddy Guys Gitarre. Er drehte die Musik noch lauter und ging ins Bad.
Nach dem Duschen zog er sich an und benötigte wie üblich zwanzig Minuten dafür. Die einfarbigen, dunkelblauen Boxershorts sollten zu den neuen Jeans passen, er wählte ein helles, leicht ockerfarbenes Shirt. Es passte zu dem dunkelblauen Jackett, in das er nun mit einer schnellen Bewegung schlüpfte.
Noch ohne Schuhe ging er in seinen Büroraum und fuhr den Rechner hoch. Als die Eingabeaufforderung für das Kennwort aufleuchtete, drückte Dengler mit der Esc-Taste dieses Fenster fort. Er brauchte kein Passwort. Über den Netscape-Navigator loggte er sich ins Internet ein und rief die Seite der Citibank auf.
Sein Guthaben betrug 4578,34 Euro. Das Bundeskriminalamt hatte ihm sein letztes Gehalt immer noch nicht überwiesen. In einer Woche würden Miete, Nebenkosten und die monatliche Überweisung ans Jugendamt fällig werden. Hoffentlich traf bis dahin das Geld ein. Er überlegte: Zwei oder drei Monate würde er mit diesem Betrag über die Runden kommen. Er musste unbedingt Geld verdienen. Dengler verließ das Internet, startete Word und begann, die Anzeige zu entwerfen.
Kurz vor neun Uhr nickte er zufrieden. Er las den Text noch einmal sorgfältig durch, korrigierte zwei Schreibfehler und druckte ihn aus. Das Blatt steckte er in die Innentasche seines Jacketts. Er zog ein paar schwarze Slipper an und verließ die Wohnung.
Nach drei Minuten erreichte er das Brenners. Mario saß bereits an einem kleinen Tisch an der Fensterfront des Lokals und rührte in einem Milchkaffee. Er winkte ihm zu. Als Dengler eintrat, nölte Bob Dylan mit ungewohnt engagierter Stimme aus den Lautsprechern:
You got gangsters in power
and lawbreakers making rules.
When you gonna wake up …
»Darf ich mich setzen?«
»Ich frühstücke nicht mit Bullen.«
»Ich bin kein Bulle mehr.«
»Einmal Bulle, immer Bulle.«
Beide lachten; dann lagen sie sich in den Armen.
Mario und Dengler stammten beide aus Altglashütten, einem kleinen Dorf im Südschwarzwald. Denglers Mutter bewirtschaftete nach dem Tod seines Vaters den kleinen Bauernhof alleine weiter, bis sie ihn vor einigen Jahren in eine Ferienpension umbauen ließ. Marios Mutter wohnte in einer Zweizimmerwohnung im ersten Stock des Dorfbahnhofes. Tagsüber arbeitete sie bei der Rhodia, einem Chemiewerk in Freiburg.
Sie hatte nie geheiratet, und niemand außer ihr wusste, wer Marios Vater war. Ein schöner Italiener – mehr gab sie nie preis.
Mario sah man seinen italienischen Vater sofort an. Er war nicht sonderlich groß gewachsen, maß sicherlich nur wenig über einen Meter siebzig. Die schwarzen Haare trug er schulterlang, streng nach hinten gekämmt und häufig mit einem Haarband mühsam gebändigt. Sein Vater hatte ihm das lebhafte Temperament vermacht, das Gestikulieren mit beiden Händen, das Argumentieren mit dem ganzen Körper.
Obwohl er drei Jahre jünger war als Dengler, wählte er sich damals den Älteren als Freund und ließ sich davon auch dann nicht abbringen, als Georg die Anhänglichkeit des Jüngeren unangenehm, ja ärgerlich wurde und er ihn fortschickte. Doch am nächsten Tag war Mario wieder da, als habe er das sichere Gefühl, dass sie, die beiden vaterlosen Außenseiter der Dorfgemeinschaft, letztlich für eine Freundschaft bestimmt seien, die mehr als nur den Altersunterschied überstehen würde. Irgendwann kapitulierte Georg und akzeptierte die Gefolgschaft des Jüngeren, zunächst nur als eine Art Eleve, den er mit kleineren Aufträgen und Diensten demütigte, doch schon bald als seinen besten und einzigen Freund anerkannte.
Später trennten sich ihre Wege, doch die Verbindung riss nie ab. Mario begann in Freiburg eine Anstreicherlehre, die er bald wieder abbrach. Danach malte er Bilder, immer Vater-und-Sohn-Motive, alle entweder in einem toskanischen Ocker gehalten oder in einer Farbsinfonie von Rot, Blau und Gelb. Dengler wusste, dass ein Sammler ihm ein- oder zweimal im Jahr ein Bild abkaufte, doch wer dieser Käufer war, verriet Mario niemandem, nicht einmal Georg.
Mit der gleichen Besessenheit, mit der Mario die großen Leinwände füllte, erschuf er sich seine italienische Identität, wie eine zweite, selbst erwählte Haut. Er erlernte die Sprache seines unbekannten Vaters mit einer Verbissenheit und Energie, die der grüblerische Dengler nie aufgebracht hätte. Du weißt, ich werde nie damit zufrieden sein, antwortete Mario jedes Mal, wenn Georg sich nach dem Fortschritt seiner Sprachstudien erkundigte.
Ebenso stürzte er sich mit einer nie enden wollenden Begeisterung aufs Kochen. Zunächst erlangte er eine reife Meisterschaft in allem, was er für italienische Küche hielt: Pasta in allen Varianten, Schwertfisch, Kalbfleisch in Zitronensauce. Dann erschloss er sich die badische, später die französische Küche. Obwohl er gerne las, erfreute ihn ein neues Kochbuch mehr als ein guter Roman.
Als Mario sich in Sonja verliebte, dämpfte dies seine manische Art, sich in einen echten Italiener zu verwandeln. Ihr zuliebe zog er nach Stuttgart, in eine kleine Wohnung im obersten Stockwerk eines großen Hauses in der Mozartstraße. Dort betrieb er nun in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer ein Einzimmerrestaurant, das er halb Sonja, halb seinem Lieblings-Beaujolais zuliebe »St. Amour« nannte. Für siebzig Euro pro Person kochte er die besten Gerichte, die Dengler je aß, und die erlesensten Menüs, die in Stuttgart zu haben waren. Im Preis enthalten waren ausgewählter Wein und ein Glas besten Crèmants. Kein Wunder, Marios Wohnzimmer wurde bald zum Geheimtipp von Stuttgarts Künstlerszene.
»Es ist klasse, dass wir beide wieder in derselben Stadt wohnen«, sagte Mario, »warum hast du dir eigentlich Stuttgart ausgesucht?«
»Mein Sohn Jakob wohnt hier. Er ist jetzt bald alt genug zu entscheiden, wohin er nach Schulschluss geht. Und ich hoffe, er kommt hin und wieder zu mir.«
»Weißt du, Georg«, Mario wechselte rasch das Thema, als er sah, dass sein Freund nachdenklich auf die Tischdekoration starrte, »die Schwaben sind gar nicht so schlecht wie ihr Ruf.«
Sie wurden von der hübschen, rothaarigen Bedienung unterbrochen, die sie nach ihren Wünschen fragte. Mario empfahl Dengler Weißwürste. Bei Brenners gäbe es die besten der Stadt. Die Frau notierte ihre Bestellung.
»Als ich erst einige Wochen in Stuttgart wohnte, habe ich in der Straßenbahn das ganze Ausmaß der schwäbischen Subversivität kennen gelernt«, sagte Mario. »Interessiert es dich?«
Dengler nickte.
»Ich fuhr mit der Straßenbahn in die Stadt, um in dem kleinen Waschsalon am Hölderlinplatz meine Wäsche zu waschen. Sonja hatte mir einen Stapel Slips mitgegeben, die sie oben in die Tasche gelegt hatte. Da es nur ein paar Stationen waren, setzte ich mich nicht, sondern blieb an der Tür stehen und las in der neuen Ausgabe des Feinschmecker einen Artikel über die neue spanische Küche, von einem spanischen Superrestaurant bei Barcelona, heißt übrigens El Bulli – bei diesem Namen musste ich gleich an dich denken.«
Dengler seufzte nachsichtig; er hatte davon noch nie gehört.
»Plötzlich kippt meine Tasche um – und Sonjas Höschen purzeln durch die Straßenbahn. Ich musste sie vor aller Augen unter den Sitzen der Leute wieder aufsammeln.«
Mario nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort. »Und während ich zwischen den Sitzen umherkrieche und die Slips zusammensuche, fängt ein älterer Mann im Lodenmantel an, lautstark mich zu beschimpfen, ich sei ein perverses Schwein. Ich bin völlig verdutzt. Da springt mir eine Frau zur Hilfe. Sie legt ihre Hand auf meinen Arm und sagt in breitestem Schwäbisch: ›Sie müsset die Frauen wohl sehr lieben!‹«
Dengler lachte.
»Im gleichen Augenblick«, sagte Mario, »greift ein Typ in Anzug und Krawatte ganz nebenbei nach Sonjas String-Tanga und stopft ihn in die Innentasche seines Jacketts. Ich schreie ihn an, er solle das Höschen hergeben; wir hätten nicht so viel Kohle, um unsere Unterwäsche in der Straßenbahn zu verschenken. Und außerdem sieht Sonja in diesem Zeug ziemlich scharf aus. Als ich dann am Charlottenplatz aussteige, kommt plötzlich ein anderer Mann auf mich zu und flüstert im Verschwörerton: ›Hier, ich habe auch noch eines gefunden‹, und zieht einen weiteren Slip aus seiner Manteltasche und steckt ihn mir heimlich zu. – Und zum Schluss stellt sich heraus, dass immer noch zwei fehlten.«
Beide lachten, doch dann wurde Mario plötzlich ernst: »So, und jetzt erzähl, warum du kein Bulle mehr bist.«
»Weißt du«, Georg hielt einen Moment inne, »es hat mit einem Traum zu tun …«
»Erzähl! Ich nehme Träume ernst.«
»Ich werde verhaftet und lande in einer großen weißen Zelle, völlig ausgeleuchtet, ganz hell, wie man sie eher in einer Irrenanstalt als in einem Gefängnis finden würde, eine Fledermaus hängt kopfunter am Türrahmen und schaut mir zu. Ich werde an Händen und Füßen an ein Bett gebunden. Plötzlich steht die gesamte Führungsriege des BKA um mich herum. Der Präsident brüllt mich an: Sie haben heute noch nicht gelogen! Dann schreit der Abteilungsleiter: Sie haben heute noch nicht gelogen! Und zum Schluss grölen sie im Chor: Sie haben heute noch nicht gelogen! – so laut und so lange, bis ich aufwachte.«
Dengler fuhr fort: »Tatsache ist: Ich habe drei der meistgesuchten Terroristen verhaftet. Das ist nicht wenig für einen einzelnen Beamten. Aber bei den letzten Fällen wurde mir zunehmend unheimlich. Es gab immer wieder Hinweise, dass bestimmte Straftaten nur mit genauer Kenntnis der Polizeiarbeit begangen werden konnten. Doch jedes Mal, wenn ich in diese Richtung ermittelte, wurde ich zurückgepfiffen.«
»Warum?«
»Ermittlungsökonomie, wurde mir gesagt. Ich solle nicht Zeit und Geld in aussichtslose Ermittlungsstränge verschwenden. Jedes Mal, wenn sich die Dinge nicht in Richtung Terrorismus verdichteten, griffen die Vorgesetzten ein und stoppten die entsprechenden Projekte. Eine Zeit lang versuchte ich auf eigene Faust aufzuklären, aber das war schwer. Schließlich wurde mein direkter Chef, den ich eingeweiht hatte und der mir vertraute, in den Ruhestand versetzt. Dann verließ mich Hildegard mit dem Kleinen. Und dann kam dieser Traum.«
Beide schwiegen. Die Rothaarige brachte ihnen die Weißwürste. Sie aßen.
»Und nun willst du hinter untreuen Ehefrauen herjagen«, sagte Mario.
»Oder hinter untreuen Ehemännern.«
»Untreue Ehefrauen sind interessanter als untreue Ehemänner.«
»Das ist wahr.«
»Eigentlich ist das ungerecht. Wenn eine Frau fremdgeht, erntet sie Bewunderung: Sie verwirklicht sich selbst, bricht aus ihrem gewohnten Leben aus, ist eine Heldin. Betrügt jedoch ein Mann seine Frau, sagt jeder, das ist ein widerlicher geiler Sack. Wieder so ein Fall, in dem wir Männer benachteiligt sind.«
Dengler sagte: »Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn ein Tyrann einen Sklaven erschlägt, sagen wir zu Recht, er ist ein Verbrecher. Erschlägt jedoch ein Sklave den Tyrannen, so gilt ihm unsere Sympathie. Dem gesellschaftlich Schwächeren gilt unser Mitgefühl, wenn er einen Reichen oder gar die Obrigkeit betrügt. Dann kann das Verbrechen als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit erscheinen. Wenn der Bankräuber seine Beute mit den normalen, einfachen Leuten teilt, wird er zum Helden. Aber solche Fälle gibt es schon lange nicht mehr.«
»Und die ehebrechende Frau ist uns sympathischer als der untreue Mann, weil die Frauen immer noch nicht gleichberechtigt sind.«
»So ist es.«
»Dem Verbrecher nutzt die Sympathie nichts. Wenn er geschnappt wird, wird er trotzdem bestraft.«
»Na ja, so einfach ist es nicht. Mein früherer Chef erzählte mir, die oberen Chargen in den siebziger Jahren hatten eine höllische Furcht davor, dass Baader-Meinhof nach einem Bankraub Geld auf der Straße an Passanten verteilten. Oder dass sie bei Entführungen verlangten, alle Sozialhilfeempfänger sollten 500 Mark bekommen oder solche Sachen. Wenn ein Verbrecher Ansehen in der Öffentlichkeit genießt, hat das für die Polizeiarbeit weit reichende Folgen. Es kann nötig sein, diese Zustimmung zu zerstören.« Er strich sich mit einer schnellen Bewegung ein paar Haare aus der Stirn: »Aber diese Sachen habe ich alle hinter mir.«
Dann zog er den Computerausdruck aus der Tasche und schob ihn zu seinem Freund über den Tisch.
»Das ist der Text für die Anzeige, die ich in den Stuttgarter Nachrichten aufgeben will.«
»Georg Dengler – Private Ermittlungen«, las Mario, »das hört sich an wie in einem amerikanischen Film. Hoffentlich gibt es viele betrogene Ehemänner in Stuttgart. Sonst helfe ich gern ein bisschen nach.«
Dengler lachte nicht.
Mario sagte: »Entschuldige, du weißt, wir Italiener können nichts anderes als blöde Witze machen.«
»Mario, das stimmt nicht: Ihr könnt auch Opern singen und Spaghetti kochen.«
Sie lachten.
Die rothaarige Bedienung räumte ihre leeren Teller ab. Dengler bestellte für sich einen doppelten Espresso mit ein bisschen Milch. Mario nahm noch einen Milchkaffee. Als beides vor ihnen stand, wurde Mario plötzlich ernst.
»Georg, ich habe eine Bitte.«
»Schieß los.«
»Du weißt doch – meine Mutter lag zehn Tage in der Uniklinik in Freiburg.«
Dengler nickte.
»In dieser Zeit habe ich etwas getan, dessen ich mich schämen sollte. Ich habe in ihren Unterlagen nach Hinweisen auf meinen Vater gewühlt – und ich fand ein Foto. Ein Foto von meinem Vater. Und einen Brief von ihm. Ich weiß, wie er aussieht, und ich weiß, wie er heißt: Caiolo, Stefano Caiolo.«
»Und?«
»Ich will ihn suchen. Ich habe im Internet gesucht. Es gibt einen Stefano Caiolo. In einem kleinen Dorf am Comer See.«
Georg sah Mario an. Er spürte eine Unsicherheit an seinem Freund, wie er sie zuvor noch nie an ihm beobachtet hatte. Es schien, als würde Mario innerlich zittern, und er kam Georg plötzlich dünn und durchsichtig vor. Merkwürdig, dachte er, nun sind wir beide erwachsene Männer, die Liebe und Tod erlebt haben, und trotzdem gibt es Dinge, die uns wieder zu den ängstlichen Buben machen, die wir einmal waren.
»Ich mache dir einen Vorschlag. Du gehst jetzt mit mir zu den Stuttgarter Nachrichten, damit ich meine Anzeige aufgebe, und ich begleite dich an den Comer See.«
»Die Weißwürste gehen auf meine Rechnung«, sagte Mario. Er zahlte, und sie verließen das Lokal.
»Das macht dann …«, die Frau am Schalter der Stuttgarter Nachrichten schob ihre Lesebrille, die an einer dünngliedrigen Messingkette um ihren Hals hing, auf die Nase, »513 Euro und 26 Cent.« Sie sah ihn über die Gläser hinweg an.
Mario stieß pfeifend die Luft aus.
Zum ersten Mal an diesem Tag peinigte Dengler sein Kreuz und schickte wellenförmig einen sanften Schmerz, den er bis zum Schulterblatt spürte. Sein Guthaben bei der Citibank schrumpfte.
»Wir nehmen auch die EC-Karte«, sagte die Frau, den Schock in seinem Gesichtsausdruck taxierend.
Dengler nickte, zog seine Karte aus dem Geldbeutel und reichte sie über die Theke zu der Frau. Sie zog die Plastikkarte mit dem Magnetstreifen nach unten durch einen kleinen blauen Apparat, der nach einer Sekunde Bedenkzeit zu rattern begann. Die Frau, deren Brille nun wieder vor ihrem Busen baumelte, rückte die Maschine vor Dengler zurecht, und Dengler tippte »1421« ein, seine Geheimzahl. Wieder schien die Maschine kurz nachzudenken, dann druckte sie einen kleinen Zettel aus, den die Frau ihm überreichte.
»Ich hoffe, die Anzeige bringt Ihnen Erfolg.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Dengler und verließ den Tagblattturm, in dem sich die Anzeigenannahme der beiden großen Stuttgarter Zeitungen befand.
Am Freitag würde seine Annonce unter der Rubrik »Geschäftsverbindungen« erscheinen.
»Nun bist du die Hoffnung aller betrogenen Ehemänner«, sagte Mario.
Dengler fühlte sich nicht zu Scherzen aufgelegt.
»Komm am Samstagabend zu mir«, sagte Mario, »wir kochen etwas Besonderes.«
Dengler nickte, und dann verabschiedeten sie sich.
Er wartete, bis Mario im Verkehrsgewühl verschwand. Erst dann überquerte er die Rotebühlstraße und bog in die Fußgängerzone ein. Die Sonne kroch zwischen großen Wolkenbergen hervor und schuf die erste Frühlingsatmosphäre in der Stadt. Eine Amsel probte auf einem Verkehrsschild unsicher den ersten Gesang, und die Königstraße war belebt wie immer. Aus den umliegenden Büros und Ministerien drängten sich Angestellte und Beamte in die Mittagspause. Cafés und Restaurants servierten bereits im Freien.
Er ließ sich von dem Menschenstrom treiben. Er zog ihn mit sich, an dem kleinen Schlossplatz vorbei in Richtung Bahnhof.
Einer plötzlichen Eingebung folgend betrat er das Musikgeschäft Lerche. Dieser Laden unterhielt als Einziger ein eigenes Sortiment mit Bluesplatten, zwar nur im obersten Stockwerk und in der hintersten Ecke, aber immerhin. Er sah zunächst unter dem Buchstaben »W«, ob es eine neue Platte von Junior Wells gab, aber er fand nur die Aufnahme eines Chicagoer Live-Konzertes, die er schon besaß. Nun durchsuchte er systematisch das Regal und wurde unter »G« fündig. Von Buddy Guy gab es eine neue CD: »Sweet Tea« hieß sie. Er kaufte zwei Exemplare und ging wieder zurück auf die Königstraße.
Nur wenige Schritte weiter saugte der Kaufhof seine Kundschaft in zwei riesige Portale ein. Dengler brauchte einen Briefumschlag und fädelte sich in den Menschenstrom vor dem Warenhaus ein; doch dann überlegte er es sich anders, arbeitete sich aus der Menge heraus, bog in eine kleinere Gasse und dann nach links in die Lautenschlagerstraße. Nach einigen Schritten erreichte er einen kleinen Schreibwarenladen. Ein älterer Mann, dessen Gesicht mit unzähligen Altersflecken übersät war, verkaufte ihm missmutig einen DIN-A-4-Briefumschlag. Noch im Laden schrieb Dengler die Adresse auf das Kuvert. Er kannte sie auswendig: Roman Greschbach, Justizvollzugsanstalt Stammheim, Hochsicherheitstrakt A, 70439 Stuttgart. Einen Absender vermerkte er nicht.
»Wir haben den Tyrannen getötet«, sagte Uwe Krems, »jetzt können sich die Demonstrationen in Leipzig entfalten, und die Arbeiter werden zur direkten Aktion übergehen.«
Der Ältere verzog das Gesicht, als könne er das Gequatsche nicht mehr ertragen. Er klopfte sich eine neue Reval aus der Packung und steckte sie an.
Sie saßen nun schon drei Tage in der geräumigen Wohnung in Derendorf auf der anderen Seite des Rheins. Uwe wunderte sich, dass Heinz den ursprünglichen Plan geändert hatte. Zunächst sollte er mit Kerstin allein in dieser Wohnung bleiben. Geplant war, dass Heinz in die Eifel fahren sollte, um die Waffe zu zerstören. Doch Uwe schien es, als habe Heinz nicht damit gerechnet, dass die Polizei so schnell Straßensperren aufbaute, Brücken sperrte und Düsseldorf in ein Meer von Blaulicht tauchte. Heinz sagte, die hektische Aktivität diene nicht der Fahndung, sondern solle die Bevölkerung beruhigen. Die Staatsmacht zeige, sie habe die Dinge im Griff – und in ein, zwei Tagen würde alles wieder so sein wie zuvor.
Kerstin versorgte sie mit Brot, Fertigsuppen und Eiern. Sie hatte vor drei Wochen die Wohnung gemietet und mimte nun die brave, berufstätige Frau, die morgens das Haus verließ und abends um sechs Uhr zurückkam. Tatsächlich fuhr sie tagsüber nach Köln, wo sie eine Dauerkarte für den Zoo gekauft hatte. Der heftige Streit gestern Abend zwischen ihr und dem Genossen Heinz bedrückte Uwe. Kerstin wollte wissen, wie Heinz sie gefunden hatte, denn sie hatten sich nach zwei Jahren im Untergrund von den anderen Kommandos und von der Unterstützerszene zurückgezogen. Aus dem Überfall auf die Volksbank in Hochdorf waren noch zwanzigtausend Mark übrig, und mit diesem Geld wollten sie sich eine Weile ausruhen.
Sie mieteten damals eine Wohnung im Koblenzer Stadtteil Lützel. Hier vermutet uns niemand, sagte Kerstin. Inmitten dieser riesigen Garnisonsstadt mit acht Kasernen und dreißigtausend Soldaten fahndet das BKA sicher nicht nach uns.
Uwe hasste Koblenz vom ersten Tage an. Vielleicht hing das aber auch damit zusammen, dass er nun die Haare kurz tragen und dunkelbraun färben musste. Er schaute nur noch widerwillig in den Spiegel, aber Kerstin tat seine Bedenken mit einem Schulterzucken ab: Keine Ähnlichkeit mehr mit deinem Bild auf dem Fahndungsplakat.
Doch Heinz hatte sie trotzdem gefunden.
Er stand in der Bäckerei in der Löhrstraße plötzlich neben ihm und flüsterte ihm leise zu: »Nicht schießen – ich bin ein bewaffneter Kämpfer.« Trotzdem zuckte Uwes Hand zur 9mm-Walther, die in seinem Hosenbund steckte, aber er war viel zu langsam. Die Schrecksekunde dehnte sich endlos, und wären es Polizisten gewesen, die ihm hier auflauerten, läge er längst tot auf dem Boden neben den weggeworfenen Papiertüten im feinen Mehlstaub. So stockte seine Hand auf halbem Weg.
Der unbekannte Genosse deutete mit einer Kopfbewegung nach draußen. Mit einigem Abstand folgte ihm Uwe zu dem Parkplatz hinter dem Rhein-Mosel-Center.
Der Mann mit dem fahlgelben Haar stand neben einem Mercedes-Geländewagen und winkte ihn zu sich heran.
»Steig ein, wir fahren eine halbe Stunde durch die Gegend. Dann bringe ich dich wieder hierher.«
Uwe stieg ein, obwohl das allen abgesprochenen Vorsichtsregeln widersprach. Der Mann fuhr los und stellte sich als Heinz vor, ein Genosse aus Hamburg. Heinz trug einen blondgelben und trotzdem fahl wirkenden Bürstenschnitt, und Uwe wunderte sich, wie normal bei ihm diese militärische Frisur wirkte. Er hasste seine zur Tarnung kurz geschnittenen Haare und befürchtete insgeheim, irgendein Passant würde mit dem Finger auf ihn zeigen: Das da ist ein Terrorist; ich habe ihn sofort erkannt, er hat sich nur die Haare abgeschnitten und braun gefärbt! Bei Heinz schien das anders. Er trug den Bürstenschnitt mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als wäre dies die Frisur, die er auch dann tragen würde, wenn er nicht im Untergrund leben würde.
Uwe sah sich mehrmals um, fast schon instinktiv, ob ihnen nicht ein anderes Auto folgte. Ihm fiel auf, dass Heinz die Situation besser im Griff hatte. Er blickte nur selten in den Rückspiegel, sondern beobachtete stattdessen ihn. Immer wieder sah Heinz vom fließenden Verkehr weg und musterte ihn, nicht aufdringlich, sondern eher prüfend, als ob er darüber nachdachte, ob er ihm die anstehenden Aufgaben anvertrauen könnte. Er will mich testen, dachte Uwe.
Heinz wirkte durchtrainiert, kräftiger Oberkörper, schmale Hüften und unter dem hellblauen Jeanshemd dehnten sich beachtliche Oberarmmuskeln. Die Hüfte wirkte selbst in der sitzenden Haltung schmal, und der Stoff der Wranglerjeans spannte sich um seine Oberschenkel.
Der Genosse treibt viel Sport, dachte Uwe, er hat sich für den bewaffneten Kampf fit gemacht. Uwe mochte keine körperliche Anstrengung. Schon in der Schule hatte er den geisttötenden Drill gehasst, aus dem der Sportunterricht bestand.
Der Daimler fuhr über die Moselbrücke in Richtung Autobahn, als Heinz das Schweigen brach.
»Wir sind das Kommando ›Andreas Baader‹, und wir haben eine Aktion vorbereitet, die dem Schweinesystem einen Schlag versetzt, einen richtigen Schlag, verstehst du, was ich meine?«
Uwe zuckte unmerklich zusammen. Wenn die Genossen ihr Kommando nach Andreas Baader benannten, planten sie eine große Aktion. Bisher hatte noch kein Kommando der RAF den Mut aufgebracht, sich nach Baader zu benennen.
»Wir haben alles vorbereitet«, fuhr Heinz fort, »doch jetzt ist uns das BKA auf der Fährte, verstehst du, was ich meine?«
Uwe nickte.
»Wir haben einen Plan; wir haben genau die richtige Waffe; wir haben die Fluchtwege. Nur können wir uns nicht mehr so frei bewegen, wie wir das gerne hätten. Deshalb müssen wir die Operation an andere Genossen abgeben, verstehst du?«
Uwe nickte wieder.
»Es ist eine ziemlich massenfreundliche Sache. Wir schaffen ihnen einen Tyrannen vom Hals, gegen den sie in Massen demonstrieren, es ist eine politisch unheimlich wichtige Sache, und wir brauchen jetzt euer Kommando, das die Operation weiterführt. Seid ihr bereit?«
Uwe überlegte.
»Wir müssen das diskutieren, aber wenn die Sache die Massen mobilisiert, dann sind wir dabei. Wir wollen nur keine abgehobene Sache mehr machen.«
Heinz lachte leise.
»Das ist eine der wichtigsten Aktionen, die je stattgefunden haben.«
Sie befanden sich mittlerweile auf der Straße, die zum Bauplatz des Kernkraftwerkes Mülheim-Kärlich führte. Heinz steuerte den schweren Mercedes auf eine Ausfahrt zu; sie verließen die Ausfallstraße an einem großen Möbelhaus, unterquerten sie und fuhren erneut, diesmal jedoch in Gegenrichtung, auf die große, sechsspurige Fahrbahn.
»Wir werden dich an der Waffe ausbilden«, sagte Heinz, »auch dazu haben wir einen idealen Platz organisiert. Wir wollen nicht, dass etwas schief geht.«
Uwe nickte.
Dieser Genosse wusste, was er wollte, und diese Bestimmtheit gefiel ihm. Drei Tage später gab ihm Heinz den ersten Schießunterricht.