Kerstin Höckel
Die Geschichte vom Erben, Hauen und Stechen
Fischer e-books
Kerstin Höckel studierte Schauspiel an der Hochschule der Künste Berlin. Nach ein paar Jahren am Theater begann sie, Independentfilme zu drehen und Drehbücher zu schreiben. Höckel lebt abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald
Covergestaltung: grape media design
Coverabbildungen: Fotolia/Thinkstock
Erschienen bei FISCHER Ebook
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402017-4
für die Nachkommen meiner Großmutter
Der Kurt kommt auf Ideen. Legt der ihr vorgestern diesen Wisch auf den Frühstückstisch. Ganz knapp neben das Marmeladenmesser, keine vier Zentimeter.
Lies, sagt er, und im Hinausgehen, Was meinst du, ich hol eben die Post.
Als handele es sich um seinen alljährlichen Weihnachtsbrief. Nichts hat sie gesagt. Nicht mal zu Ende gelesen hat sie. Lächerlich. Wozu braucht der Kurt ein Testament? Meint der vielleicht, er überlebt den Besuch seiner Kinder nicht? Richtig Zoff hat es gegeben.
Ich hab im Moment wirklich anderes zu tun, als an so einem dämlichen Dokument rumzudoktern, hat sie gesagt.
Sie ist, mag sein, in der Folge ein bisschen ungerecht geworden. Hat dem Kurt Vorhaltungen gemacht, dass er sich vor den Umbauten für die Enkel im Garten drücke, dass er sie mit der Spülmaschine habe hängenlassen, dass sie ihm tausendmal gesagt habe, welche Matratzen er mit den antiallergischen Laken beziehen solle. Und was mache er, Ja muss man dir denn alles schriftlich geben?
Du sagst es, sagte er, Wir werden alt. Es ist Zeit für einen letzten Willen.
Das kommt bei mir nicht in die Tüte, hat meine Mutter geschrien.
Am liebsten hätte sie das Blatt neben ihrem Teller mit dem Marmeladenmesser erdolcht.
Dann lass uns mit den Kindern reden, hat der Kurt vorgeschlagen, Ich will einfach nicht, dass das so endet wie bei euch damals.
Worüber denn? Worüber willst du denn da reden? Das ist nichts, worüber man reden kann.
Na wer was haben will. Noch können wir vermitteln, und schelmisch hat der Kurt hinzugefügt, Oder was wir gleich entsorgen sollen.
Aufgesprungen ist sie da, die Treppe rauf bis unters Dach, wo sie zwei Stunden lang zwischen Kartons und Tüten nach einem geblümten Wachstischtuch gesucht hat und nicht zu sprechen war.
Sonst ist meine Mutter nicht so. Sie ist die, die redet. Sie redet sich den Mund fusselig. In der ganzen Familie redet keiner so viel wie meine Mutter. Sie weiß auch nicht, was da in sie gefahren ist. Noch in derselben Nacht hat sie sich bei ihrem Mann entschuldigt. Sie seien wohl beide ein bisschen aufgeregt ob des bevorstehenden Wochenendes mit dem Nachwuchs. Mit Testamenten habe sie nun mal keine guten Erfahrungen gemacht, überhaupt mit dem Sterben.
Gut, dann lassen wir das, hat er gescherzt und sie in den Arm genommen. Gelacht haben sie. Und noch ein paar Dinge abgesprochen, die bis Freitag zu erledigen seien, bis die Kinder kommen, bis Kurt angefangen hat zu schnarchen.
Und was macht der senile Bettflüchtling? Kommt beim Frühstück mit dem nächsten Wisch an. Diesmal vier Seiten, fein säuberlich im Computer getippt und selbständig ausgedruckt. Was meinen Vater und die moderne Technik angeht, ein mittleres Weltwunder. Die gesamte Erbmasse hat er aufgelistet, Haus, Ferienhaus, Auto, Stereoanlage, Motorsäge, er sei noch lange nicht fertig, und jeweils die vier Anfangsbuchstaben der Namen seiner Kinder danebengesetzt. Zum Ankreuzen. Wird das jetzt zur fixen Idee? Will er bei lebendigem Leib zusehen, wie sie übereinander herfallen? Oder ist ihm einfach nach Entrümpeln? Neulich hat der Kurt Bekannten vorgeschwärmt, wie gerne er in Hotels übernachte. Aus dem einfachen Grund, dass man da noch was von den Wänden sehe. Das Haus meiner Eltern ist vollgestopft mit Sachen, die meine Mutter unentbehrlich findet, du kommst kaum noch durch.
Ich bin vielleicht siebzig geworden, hat sie gesagt, Aber ich habe noch lange nicht vor, das Handtuch zu werfen.
Wann haben wir sie denn mal alle auf einem Haufen? Hm?
Sie hat die Blätter vor seinen Augen zusammengeknüllt und in den Papiermüll gestopft.
Daraufhin ist er dann an die Decke.
Was ist denn los mit dir?
Mit mir? Mit mir?
Du bist ein einziges Nervenbündel.
Was mit ihr los ist? Abgesehen davon, dass dieses Familienwochenende in der Tat ein logistisches Meisterwerk ist. Meine Mutter hat Angst, dass es von vorne losgeht. Sie will gar nicht daran denken. Erben ist in ihren Augen lebensgefährlich. Was da alles hochkommt. Dagegen ist Sterben ein Kinderspiel. Familien sind nun mal keine edel gewachsenen Bäume, die mit vielverzweigten Ästen dem Himmel zustreben. Sie haben morsche Stellen. Innen sind sie faul. Plötzlich brechen unter der Rinde Geschwulste auf, jahrzehntelang im Zaum gehalten von Konventionen, guten Manieren, strikter Rollenverteilung. Hören Sie sich doch mal um. Da können wir noch so friedfertig tun. Wenn es Tote gibt, gibt es Überlebende. Und es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass die erst mal zu Bestien werden, piepegal, um wie viel es geht. Materiell ging es gar nicht um besonders viel.
Vor elf Jahren ist meine Großmutter gestorben. Ich wiederhole. Elf Jahre. Meine Mutter braucht nur einen Ikeakatalog aufzuschlagen, bei den Wohnzimmermöbeln einen roten Sessel entdecken. Schon zuckt es ihr kalt den Rücken runter. Manche Wunden vom Gemetzel werden wohl nie verheilen. Und das würde sie uns gerne ersparen.
Ach Mama.
Seit zehn Jahren redet die Frau, die so viel redet, kein Wort mit ihrer Schwester. Und sie hat immer noch dieses latente Brummen in den Ohren. Wann das angefangen hat? Und warum? Okay. Eins nach dem anderen.
(Ich sehe nämlich nicht ein, dass eine Frau wie meine Großmutter einfach aus dem Patientenregister der Intensivstation gestrichen wird, weil ihr Herz nicht mehr klopft, ihr Gehirn keine Wellen schlägt und hier die Geschichte vom Erben erzählt wird. Sie hat einen gebührenden Tod verdient.)
In jener Nacht vom zweiten auf den dritten Dezember 1999 erwacht meine Großmutter Elly von einem starken Ziehen in der Brust. Mitte links. Sie kennt das. Ihr Herz ist schon länger aus dem Takt. In den Kniegelenken ging es los, in der Schulter nahm es seinen Lauf, an den Fingern ließ es sich nicht mehr verbergen, dann auch noch das Herz, der Apparat gibt den Geist auf, sie ist zu alt. Elly schlägt die Augen auf. Einmal, zweimal. Sie reißt sie weit auf, doch es bleibt schwarz um sie.
Elly fragt sich, ob sie tot sei. Das wäre mal was anderes, denkt sie. Schon lange sehnt meine Großmutter den Tod herbei. Nicht nur, weil um sie herum die Weggefährten wegsterben, auf den Ehemaligentreffen immer mehr Stühle frei bleiben. Elly verspürt einen gewissen Ekel vor dem heraufziehenden neuen Jahrtausend, mehr und mehr empfindet sie das Zuschauen als Zumutung, vom Fernsehprogramm ganz zu schweigen, ganz zu schweigen von der Zeitung, von der Torheit der Staatslenker und ihrer Dreistigkeit. Parallel dem eigenen Verfall beizuwohnen, dem unwiderruflichen Steifwerden der Glieder, das mehr und mehr aus dem Takt geratende Herz, das stete Nachlassen der Geschmacksnerven, bis nur noch gegessen wurde, um die Maschine am Laufen zu halten, das Unvermögen, sich an den Inhalt von gestrigen Gesprächen mit Sicherheit zu erinnern, oder wann sie zuletzt die Vögel gefüttert hatte, heute morgen, vorgestern, warum war sie überhaupt die Treppe hinuntergestiegen, was suchte sie hier, derweil das Bedrängtwerden von Erinnerungen, das ganz und gar Vereinnahmtwerden vom Vergangenen, von den verschütteten Gefühlen und Gedanken, auf die sie zum großen Teil kein Recht haben sollten, das Schwelgen im Damals, allem Unrecht zum Trotz. Ach, das Durcheinandergeraten der Körperfunktionen, die damit einhergehende drohende Unselbständigkeit, während der Begriff der Verantwortung sich in den folgenden Generationen zum Fremdwort entwickelte, das Angewiesensein erfüllte Elly regelrecht mit Groll, und dieser Groll gipfelte in ihrer bisweilen offen zur Schau getragenen Ungeduld mit dem eigenen Tod. Endlich hat er zu ihr gefunden. Andererseits. Ist nicht dort ein Schatten. Schimmert da nicht Licht zwischen den Blättern der Birke hindurch. Bricht nicht draußen bereits der nächste Tag an. Huch. Was war das. Aber ja. Von einem solchen Zwicken ist Elly erwacht. Da wieder. Erstaunlich. Heftig.
Huch.
Nur zur Information, Eleonore Pilger kam 1917 in Saarbrücken, das damals noch zum Deutschen Reich gehörte, zur Welt. Sie hatte zwei Brüder, von denen einer 1924 an Typhus starb. Elly machte Abi an der Auguste-Viktoria und nahm anschließend für etwa ein halbes Jahr am Arbeitsdienst teil. Sie begann eine Ausbildung zur Auslandskorrespondentin, die der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beendete. Ab da assistierte sie in der Presseabteilung des Rundfunks und half im Grubenholz-Geschäft des Vaters, wenn sie nicht gerade evakuiert waren. Elly träumte von Afrika und heiratete den Saarbrücker Wilhelm Schmoll 1940 in Heidelberg, sie schenkte ihm zwei Töchter, 1941 Birgit, also Mama, und 1943 Theresa Wilhelmine, genannt Tata, und zwei Söhne, Friedrich Wilhelm, genannt Fritzchen, 1946, gestorben im selben Jahr, und Norbert Wilhelm, 1950. 1946 sendete der Saarländische Rundfunk die Marseillaise. Willi übernahm den Bürobedarfsladen seines Vaters, Elly zählte die Radiergummis, beide rauchten wie die Schlote. 1950 musste Elly wegen einer Augenentzündung für ein paar Monate in Kur. 1955 stimmten die Schmolls für Deutschland. 1959 leisteten sie sich einen Citroën auf Raten, danach starb Ellys Vater. Ende der Sechziger kamen die ersten Enkel zur Welt, meine großen Geschwister. Willi verkaufte den seit hundert Jahren familienbetriebenen Schreibwarenladen, erkrankte an Parkinson und verstarb 1988 nach mehreren Krankenhausaufenthalten. Am Tag der deutsch-deutschen Wiedervereinigung knackte Elly eine Flasche Crément. Bald darauf ging es mit den Urenkeln los. 1992 entschlief Ellys Mutter, die bis zuletzt bei ihr gewohnt hatte, im Alter von achtundneunzig Jahren. Im selben Monat schenkte Tata ihrer Mutter einen Dackel. Auf den Kilimandscharo hat Elly es nicht geschafft, aber immerhin einmal zur Hochzeit der Enkelin bis nach Israel, wo zur Zeit ihre Älteste (meine Mutter, Birgit) ihrer Ältesten (meiner Schwester) zum Kaiserschnitt rät, weil deren fünftes Baby seit Tagen den Muttermund blockiert mit seinem Babypopo.
Ach Herrje.
Elly hört ihr eigenes Murmeln mit leichter Verzögerung. Also scheint sie doch zu leben. Hören. Existieren. Lästig ist das. Der nächste Stich, diesmal schreit sie auf. Es ist das Herz. Elly wird eng um die Brust, verfluchtnochmal. Hilfe, denkt sie und verwirft den Gedanken und schließt die Augen und lauscht auf den kommenden Hieb. Der lässt auf sich warten. Na warte, du Lümmel. Vom Warten schläft Elly ein. Schrickt Stunden später hoch. Beziehungsweise Sekunden. Wer kann das sagen. Jedenfalls scheint es diesmal mit dem Tageslicht ein für allemal zu Ende. Oder mit dem Augenlicht. Jeder Schlag wird von herbem Schmerz begleitet. Tapferes müdes Herz. Ein Arm ist schon taub, nun denn. Der Leib ist eine Falle, weiß Elly, so also kündige er sich an, denkt sie, nun komm schon, Tod, hereinspaziert in mein Gefängnis. Doch warum bist du so grob.
Zu Hilfe, ruft Elly leise.
Und schmunzelt unvermutet. Der Ausdruck Zu Hilfe stammt aus der bezwungenen Zeit. Zu Hilfe, Leib. Leibesertüchtigung. Schauturnen. Ruderregatta. Ilses kehliges Lachen von hinten, im nächsten Moment kippt ihr Boot in die Saar, Zu Hilfe, und Otto lacht aus voller Kehle. Die wohlverstauten Bilder und Wörter.
Dem Schmerz folgt die Übelkeit als alte Bekannte. Hat sie am Abend vergessen, ihre Tabletten zu nehmen? Nach dem Krimi im Fernsehen hat sie oben das Kreuzworträtsel vollendet, jedenfalls so weit, dass sich das Lösungswort ermitteln ließ, Marilyn Monroe, eine Fotokamera war zu gewinnen oder wahlweise ein Abonnement für eine Zeitschrift, danach eine geraucht und die Tabletten. Oder nicht? Die letzten Tage wehen davon, sind alle Staub. Eine Zigarette, denkt Elly, aber es ist noch viel zu früh für die erste, denk nicht mal daran. Vor ein paar Jahren hat sie ihrer Ältesten versprochen, auf leichte umzusteigen, und nur noch sieben am Tag. Fast täglich stopft sie heimlich zwanzig starke Zigaretten von rechts in die angefangene Packung der Ultra lights. Vierzehn Prozent Teer sind das mindeste für ein winziges Wonneempfinden. Bestimmt ist es bald vier. In einer Stunde würde ohnehin das Wachliegen beginnen. Sie trägt alle Bilder in sich. Aufnahmen aus der schönsten Zeit. Von ihr und Ilse in den Trikots mit dem Wappen des Ruderclubs. Wo ist der verflixte Wecker? Sie wendet den Kopf, versucht, den Körper hinterherzurollen. Doch er ist nicht in ihrer Gewalt. Herrgottnochmal, so vollende es endlich, wir haben nicht ewig Zeit, denkt Elly und verzerrt das Gesicht vor Schmerz. Wie brutal er ist. Da. Und da. Ein zweites Mal wird sie nicht um Hilfe rufen. Da. Auf einmal kriegt das Schwarz Flecken. Der Nachttisch schlingert in die Gegenwart. Rot tänzeln ein paar Balken an der Oberfläche. Der Rest bleibt im Schatten verborgen. Elly sammelt alle Kraft und streckt den rechten Arm über den leblosen Restkörper. Wenigstens will sie wissen, wann sie stirbt. Die Zahlen flimmern. Der Wecker gehört in die Tonne, hat Tata neulich gesagt, in jenem flapsigen Ton, den nur eine wie Tata in ihrem Alter noch tragen kann. Was haben die Linien zu bedeuten, zwischen ihnen blinkt der Doppelpunkt. Immerhin. Womit etwas bewiesen wäre. Nur was. Das Gehirn setzt sich zur Wehr. Der starke Geist. Zeitlebens diese Vergeudung, denkt sie noch und lächelt, dass man das im Tod denken kann. Nur nicht wieder Zu Hilfe rufen. Nie wieder.
Nie, spricht sie sich vor, damit das klar ist.
Dass ausgerechnet in dieser Nacht ihr Jüngster schlecht träumen muss. Er erwacht von einem Knirschen, wie beim Zerbrechen dünnen Porzellans oder vertrockneten, menschlichen Gehirns. Die Autobahn ist wie leergefegt.
Norbert findet seine Mutter vor dem Schlafzimmerfenster auf dem Fußboden. Er macht Licht. Die Deckenlampe, eine Birne ist kaputt. Die Mutti blinzelt. Ihr Puls ist schwach. Die Mutti hat auch geschwitzt. Ihr Gesicht ist bleich und nass vom Ringen. Hilfe, will sie murmeln, kriegt aber keinen Ton raus, keine Luft. Zum Glück, denkt sie und, zu Hilfe.
Ich bin da, Mutti, sagt der Norbert, Der Norbert.
Ich sterbe, will sie sagen, will lächeln, hechelt. Blinzelt ins Grelle. Lass mich, will sie sagen. Der Norbert fragt die Mutti, ob sie ihre Tabletten genommen hat. Die Mutti nickt mit den Augenlidern. Der Norbert fragt die Mutti, ob er sie ins Krankenhaus bringen soll. Die Mutti starrt ihn an. Was zitterst du denn so, Bub, denkt sie. Der Norbert sieht die Angst in ihr, die seine ist. Er fühlt ihren Puls. Der Puls ist noch schwächer. Kurz darauf ist Blaulicht vor dem Fenster. Zwei Männer in Orange tragen die Mutti auf einer Bahre die Treppe runter. Die vom Schlafzimmer im zweiten Stock zum Flur im ersten, wo Norbert den Sessel beiseiteschieben muss, damit die Männer vorbeikommen, durch den Abschluss und ins Erdgeschoss. Draußen noch vier steile Treppen bis auf die Straße.
Die Treppen bringen mich um, hatte Elly oft gemeutert.
Aber dann wurden es doch nicht die Treppen. Der Norbert begleitet die Mutti ins Krankenhaus.
Das war knapp, sagt der Kollege.
denkt Elly. Ihr Tod spielt mit den Ärzten Versteck im alten Körper. Er spielt auch mit Elly. Zunächst sieht es nämlich gut aus. Elly erholt sich und erfährt am Telefon von der Geburt ihres siebten Urenkelchens im Heiligen Land, einer gewissen Lea, ein Mädel also. Sie beginnt schon, sich wieder ans Licht zu gewöhnen. An den Tag. Die Gardine schillert hellgelb. Die Zimmernachbarin hält den Mund. Bekommt kaum Besuch. Der Fernseher läuft ohne Ton. Nur zu den Nachrichten mit. Elly freut sich auf den Wetterbericht. Im Norden hat in ihrer Todesnacht der Sturm des Jahrhunderts gewütet. Sie freut sich sogar aufs Frühstück. Das hat es lange nicht gegeben. Die sogenannten Lebensgeister. Elly lässt sich ihren Honig kommen. Und Tata bringt Zigaretten mit, echte, starke. Das müssen die anderen nicht wissen. Meiner Mutter hat sie am Telefon versprochen, das Rauchen von nun an ganz aufzugeben, hat ihr weisgemacht, dass sie nur noch ab und zu an ihrer Zigarettenspitze nuckele, wenn ihr unbedingt danach sei. In der Tat saugt sie oft daran. Unerquicklich. Elly bemerkt zum ersten Mal die Falten um Tatas Mund. Nur wenn Tata lacht, verschwinden die Falten. Tata hätte ihr Kind kriegen sollen.
Ich hole dich hier raus, Mutti, sagt Tata.
Elly lächelt.
Die einfachste Sache der Welt, wird Tata nachher wüten, Und die Arschlöcher bringen es fertig und lassen sie verbluten.
Dabei weiß Tata aus eigener Erfahrung, wie es der Tod mit dem Zeitpunkt hält. Dass jeder Mensch ihn in sich trägt von Anbeginn an, als verborgene Knospe, er lässt sich nicht zwingen, du musst warten, bis dein Tod reif ist, dass es da keinen Verhandlungsspielraum gibt.
Ellys Todesblüte sorgt bei der Katheter-Untersuchung für Flüchtigkeitsfehler, ein Leck, eine ungesunde Verbindung zwischen Schlagader und Vene. Und dafür, dass das relativ spät bemerkt wird. Außerdem für einen Ausfall während der Bypass-Operation. Dazu das übliche Spektakel aus den Krankenhausserien, immer mehr Personal, an die zwölf Leute in Kitteln, gebellte Befehle, gymnastische Übungen auf Ellys Brustkorb, jemand rupft ihr einen Schlauch aus dem Mund, stülpt ihr eine neue Maske über, Tempo Tempo Tempo, Herzstillstand, sie stirbt, sie stirbt. Elly hört noch das rhythmische Gestampfe, das sie erst für ihren Herzschlag hält, das dann aber anschwillt wie alle Größen von Glocken, kleine, mittlere, große, gigantische, die letzte kolossal wie das Himmelszelt, ein unmöglicher Lärm. Sie spürt einen starken Sog nach unten und rutscht seitlich von der Liege in eine blecherne Röhre. Sie wundert sich über das moderne Transportwesen und dass es kein Geruckel gibt, als sie zwischen den Füßen der vielen am Boden landet, dass keiner auf sie tritt in der Hektik, sie nicht mal mit dem Hosenbein streift. Eine Schwester trägt weiße Turnschuhe mit einem Känguru darauf, Frauen in Turnschuhen, das hat Elly nie verstanden, jedoch das Känguru ist recht gut getroffen. Elly ist pudelwohl zumute, und sie versteht die ganze Aufregung nicht, Herrje, all die jungen Leute, die da um die geräderte Metallliege wuseln, darauf eine alte Frau, der sie soeben Elektroden an den Oberkörper heften, gelbbeschmierte Bügeleisen über die Brüste halten, platte Brüste mit Ringen unter den Augen, die arme alte Frau, so nackend. Der Arzt mit den Bügeleisen schreit Los los los, macht schon, der liegt ja schon fast drauf auf der alten Frau, die davon ganz unbeeindruckt scheint, Worauf wartet ihr denn, wollt ihr sie abkratzen lassen, schreit der Arzt mit den Bügeleisen. Er hat sehr kurzgeschorene Haare, mattbraune Stoppeln lugen unter der albernen Kappe hervor, im Nacken mit ersten grauen dazwischen, die dem Ganzen einen gewissen Glanz verleihen. Der sollte sich seltener die Haare waschen, denkt Elly, dann hätte er nicht so viele Schuppen, weniger ist mehr, lautet die Devise, junger Mann. Ein Hautplättchen löst sich von seinem Kragen und trudelt auf den Bauch der alten Frau zu. Elly registriert, dass die Schuppe das Einzige ist, was sich in diesem Raum Zeit lässt, der freie Fall, ungeheuer leicht, und die Gehetzten können sowieso nichts ausrichten. Merken die das nicht, die Alte ist tot. Soeben schnellt ihr Körper in die Höhe, vom Strom geschockt, Elly gewissermaßen entgegen, die inzwischen unter der Decke schwebt und den Panoramablick genießt. Was für ein Trubel, welch unadäquate Zeremonie, da jemand gestorben ist. Erst als sie das Muttermal an der linken Schläfe der alten Frau entdeckt, begreift sie, dass es sich da unten um ihren eigenen Körper handelt, bei dem stumpfen Gesicht um ihr eigenes, um ihren Mund, ein wenig in die Breite gezogen, ihre Nase, die hochgeschwungenen Wangenknochen ihrer Familie unter der fahlen Haut, ihre blauen Flecken und Beulen rund um die Einstiche der Infusionsnadeln. Aus allen Richtungen zugleich kann sie ihre gebrauchte Hülle betrachten, sich selbst, das einstige Zuhause all ihrer Empfindungen und Gedanken. Du liebe Zeit. Lasst mich bloß gehen, ruft sie den Ärzten und Schwestern zu, ich brauche das Ding nicht mehr. Keiner reagiert. Hört schon auf mit dem Blödsinn, schimpft sie ganz nah am Ohr des Doktors mit den Schuppen. Lassen Sie diesen Körper gefälligst in Ruhe, es war meiner, ich will ihn nicht mehr, ich bin es leid, was wissen Sie schon vom Leben, Sie, Sie. Elly brüllt unter Aufbietung all ihrer Kraft, Mir geht es bestens, sie klammert sich an den Armen des Arztes fest, der schon wieder Anstalten macht, die Bügeleisen auf ihren Brustkorb zu pressen. Vergebens. Sie wird ignoriert. Sie richtet nichts aus. Muss stattdessen mitansehen, wie ihr Leib sich erneut aufbäumt unter Strom, knirscht und knackt. Na warte, denkt sie, einen Leserbrief an die Saarbrücker Zeitung wird sie schreiben, über die Entmündigung der Sterbenden, Na warte, ruft sie und macht sich gleich auf den Weg an den Schreibtisch, durch die Decke in den zwölften Stock, nur dass dort nicht ihr Schreibtisch steht, der ehedem Willis Schreibtisch gewesen ist, und den sie erst nach der Geburt von Veronikas Sohn ausgetauscht haben, um im Herrenzimmer Platz für das Babybett zu schaffen, damit Elly das Kleine hüten kann, während ihre Enkelin studiert, sondern das Schreibpult einer Ärztin mit langen aschblonden Haaren, die soeben den Befund eines Leberkranken in ihr Diktiergerät spricht, eines gewissen Herrn Soundso, drogensüchtig, Hepatitis B.
Ich bin tot, dämmert es Elly, und zu ihrem Erstaunen löst die Erkenntnis weder Furcht noch Erleichterung aus, denn sie ist längst jenseits davon, sie ist so leicht, dass es sich nur mit den Begriffen einer weiteren Dimension erklären ließe, wenn überhaupt. Ich bin tot, trällert sie ins Diktaphon der Blonden, und ob Sie es glauben oder nicht, jenes hosentaschenfreundliche Aufnahmegerät wird Ellys Überschwang in einem nach dem heutigen Stand der Wissenschaft unerklärlichen Rauschen für ihre Nachwelt dokumentieren, während Elly sich in den Himmel beamt, der nicht weit ist, da sie sich ja bereits im zwölften Stock befindet. Etwa in Lichtgeschwindigkeit sieht sie die Dächer des Krankenhauskomplexes kleiner werden, den Hubschrauberlandeplatz, das dunkle Quadrat der Klinikkapelle, Autodächer werden Farbpixel, die sich ins Einerlei des Asphaltes fügen, die Zipfel der Höckerlinie vom Gras überwuchert, selbst das große, dunkle Dach des Staatstheaters, das ihnen der Führer zum Dank für die Abstimmung geschenkt hat und das ihm nachher zu mickrig erschien für seine Zwecke, in der Tat, mickrig löst es sich im Gesamtbild auf neben der grau sich schlängelnden Saar, SR und Casino werden vom Wald geschluckt, ein braungraugrünes Gemälde, messerscharf nimmt Elly jede Einzelheit wahr trotz ihres Tempos, famos, denkt sie und passiert die Wolken über der Landesgrenze, ein Flugzeug passiert Elly, ohne ihr einen Kratzer zuzufügen, es ist der Flieger aus Tel Aviv, in dem ihre Älteste an einem Sudoku herumrätselt, welches sie unbedingt vor der Landung lösen will, Herrgottnochmal, das kann doch nicht so schwer sein, ihren Gatten neben sich, der Erdnüsse knabbert, obwohl der Zahnarzt ihm das untersagt hat, einer Digitalkamera voll frischer Fotos von den jüdischen Enkeln (Ellys Urenkeln) im Gepäck, fünf an der Zahl, oder mittlerweile sechs, wie war das noch gleich, Elly erlaubt sich einen Blick auf die Chipkarte, auf jedem Bild lächeln ihr ein paar niedliche Israelis entgegen, die ebenso gut Schweden sein könnten, so hellhaarig sind sie, und jetzt fällt ihr sogar der unmögliche Name ihres allerersten Urenkels wieder ein, Elieser, ja ist denn das die Möglichkeit, der kleine Elieser, Du bist aber groß geworden, sie zählt die Urenkelschar, die sich neben der rostigen Wippe um den bärtigen Schwiegersohn versammelt haben, fünf sind es, fünf an der Zahl, drei davon mit Schläfenlocken, die Wolken lichten sich über Ägypten, schon entdeckt sie ein großes Stück Afrika, nun also doch, Afrika, sieh nur die helle Wüste aus Sand, der Fluss, neue Wölkchen, und wo das Rund den flüssigen Horizont bildet, jeden Moment neu erfindet, die Berge, der Berg, Ellys Kilimandscharo, er trägt ein Halsband aus Wolken, seht nur, seht, all das zu erfassen, ist das der Tod, bleibt man sich derartig nah, da man ganz und gar abhebt? In Form dieses Gedankens katapultiert Elly sich ins Weltall, während entgegenkommende Flugkörper an der Erdatmosphäre verglühen. Der Anblick des blauen Planeten ist berauschend, und berauschend beschreibt mehr schlecht als recht, was Elly empfindet, denn sie befindet sich, wie erwähnt, in einer mindestens fünfdimensionalen Sphäre jenseits unserer gängigen Sprachen, if you know what I mean, treiben wir es nicht zu sehr auf die Spitze, von fern ist der blaue Planet wunderschön, das wissen wir auch aus Berichten unserer Astronauten, aus dem Fernsehen, amazing, überirdisch eben. Junge Junge, denkt Elly, und dieser Wortlaut wiederum schleudert sie im Nu zu ihrem Jungen, Norbert, der seinen Wagen gerade auf einem Behindertenparkplatz parkt, obwohl er nicht im Geringsten behindert ist, und der gesenkten Hauptes auf den Haupteingang des Krankenhauses zutrottet.
Norbert will Tata lieber nicht begegnen. Er kann ihren Blick nicht ertragen. Bei der Operation sei was schiefgelaufen, Tata klang erzürnt am Telefon.
Die bauen Scheiße, sie verliert Blut wie Sau, du hast sie hergebracht, du bist Arzt, ist mir egal, ob du Sprechstunde hast, du kommst jetzt her und unternimmst was.
Norbert hat Blei an den Fußsohlen, scheint es Elly, im Etwasunternehmen war der Kleine noch nie groß. Tata kann auf den Tisch hauen, Tata mit ihrem Temperament, Tata mit ihrer Verachtung für Chefsessel. Der Arzt der Familie, und traut sich nicht, seiner Mutter die Hand zu halten, das Weichei. Der einzige Sohn, und hat nicht den Mumm, Muttis letzten Wunsch zu respektieren, Zeit ihres Lebens kein Krankenhaus mehr zu betreten.
Es ist einerlei, mein Bub, flüstert Elly dem Gebeutelten ins Ohr, Es geht mir fabelhaft.
Jedoch hört Norbert die Mutter nicht. Er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zum Beispiel mit seinem von Kinderfingern verschmierten Spiegelbild in der Glasscheibe neben dem Aufzug, dem Bauchansatz, dem Doppelkinn, das auch kein Rollkragenpullover verbergen kann, seiner schwammigen Visage, Gewichtsprobleme, Geldsorgen, Weichei, die Sorge, dass Tata aus dem Aufzug kommt, und die Angst um die Mutti natürlich, hoffentlich wird alles wieder gut, ein Routineeingriff. Norbert schwitzt schon wieder wie bekloppt, was ist nur los mit ihm, Blutverlust, Blutvergiftung hat Tata gebellt, ein Routineeingriff, betet Norbert sich vor, bestimmt kriegen die das wieder in den Griff, bestimmt darf sie bald nach Hause, ruhig Blut. Die Assistenzärztin von der Herz eilt durchs Foyer, die kann er fragen, wie war noch ihr Vorname, sie trägt weiße Turnschuhe, schon schieben sich die Glaspforten hinter ihr zusammen, sie schrumpft zum hellgrünen Fleck auf dem überdachten Rauchersteg zur Kantine.
Oben beobachtet Elly, wie ihr Jüngster einem Pfleger nachschaut, statt Erkundigungen einzuholen. In Norberts Gesichtsausdruck entdeckt sie sein ganzes Wesen und ermisst, wie einsam er sich gefühlt haben muss all die Jahre, allein gelassen und voll Schuld. Wie der Bub sich plagt. Nagelkauend drückt er sich an der Wand herum, statt sich auf einem der orangefarbenen Plastikstühle niederzulassen. Dass er doch als Kind nie kleinmütig war, denkt Elly, war der Norbert nicht ein ausgesprochen fröhlicher Junge.
Du darfst ruhig fröhlich sein.
Warum hört er sie nicht? Wozu soll es bitteschön gut sein, dass sie zu ihm sprechen kann? Seine Gedanken lesen? Wer denkt sich solche albernen Tricks aus? Nun kaut der Bub den Daumennagel runter bis zum Bett, er reißt mit den Zähnen Stücke aus der Haut, merkt nicht, dass er im Begriff ist, von seinem eigenen Fleisch zu essen. Der Arzt mit den Schuppen kommt rübergeschossen von der Intensiv.
So sagen Sie ihm doch, was es mit mir auf sich hat, sonst verblutet der ihnen noch hier im Wartebereich an seinen Bisswunden, ruft Elly, He, Sie Flegel Sie, was erlauben Sie sich, machen Sie gefälligst kehrt, gehen Sie zu ihm und informieren ihn, dass es mir fabelhaft geht.
Am Ende des Ganges, wo der Flegel verschwunden ist, schimmert die Morgensonne durch die Scheibe. Obwohl da gar kein Fenster ist. Unwiderstehlich zieht es Elly in Richtung Sonne. Ein geradezu körperlicher Sog. Elly reist im Auge des Taifuns. Die Sonne strahlt die Wärme aus, die Elly zeit ihres Lebens entbehrt hat. Sie wärmt ihre Hände, die sich ihr entgegenstrecken. Elly wird durch und durch warm. Sie wundert sich noch, dass das extreme Licht sie nicht blendet, obwohl sie den Blick nicht davon lassen kann. Bis ihr einfällt, dass sie ohne Augen unterwegs ist. Unerhört, strahlt Elly. Das Licht strahlt darüber hinaus. Und siehe, es besteht aus reiner Liebe. Liebe, für die das Wort nicht ausreicht. Elly ist davon durchdrungen. Es ist der schönste Tag ihres Lebens, nie hat Elly sich derart angenommen gefühlt, und weiß doch, hier ist weder Tag, noch handelt es sich um das, was die Leute gemeinhin unter Leben verstehen. Der Fairness halber sollte festgehalten werden, dass Elly während ihres Trips in vollkommen neuen Begriffen denkt und kommuniziert, eben nicht mittels meiner, unserer abgenutzten Wörter in all ihrer Deutbarkeit, mit ihrem Rattenschwanz an Herkunft und Benutzerfreundlichkeit. Als sicher gilt aber wohl dennoch, dass das, was wir gemeinhin als die irdische Liebe bezeichnen, ein müder Abklatsch von dem ist, was Elly da draußen begegnet.
Das ist wahr, antwortet das Licht und legt den Kopf schief.
Verzeihung, Sind Sie etwa Gott, fragt Elly.
Und bemerkt erst jetzt den gutaussehenden jungen Mann, der da neben dem Licht aufgetaucht ist, wer ist das, er kommt ihr bekannt vor, Mitte dreißig etwa, goldbraune Locken, selbst aus Licht. Fritzchen? Er winkt ihr zu.
wird sich das nie verzeihen. Als der Flieger nach ein paar Warteschleifen in Frankfurt landet, liegt ihre Mutter bereits seit über einer Stunde im Koma statt gestorben zu sein. Was Birgit erst erfährt, als sie zum Krankenhaus aufbricht und schnell noch den Anrufbeantworter abhört. Norbert hat darauf gesprochen und ich und Tata mit ihrem fordernden Unterton, sie solle der Mutti ein frisches Nachthemd mitbringen, die hätten die auf der Intensiv im OP-Kittel deponiert und ihre Privatklamotten in die Wäscherei gegeben. Tatas Sinn für Ästhetik, Tata und ihr kindisches Denken, als würde der Schnitt des Schlafkleids etwas an Muttis Zustand ändern, Herrgottnochmal ein Koma.
Dennoch fährt Birgit den Schlenker über die Waldmannstraße und kramt im elterlichen Kleiderschrank und stößt bei der Gelegenheit auf drei Stangen Lord und fragt sich, warum die Mutti ihre Zigaretten hinter den Nachthemden versteckt, und wittert was und geht zu Muttis Schreibtisch, der früher Vatis war, um die Etiketten zu vergleichen, die nicht übereinstimmen, ach guck, auf Muttis offenem Päckchen steht Null Komma zwei Prozent und Ultra light, wie verabredet, und auf der Stange heißt es was mit neun und vierzehn, und indem sie eine Zigarette aus Muttis angebrochener Schachtel zieht, hat sie es schwarz auf weiß, dass die eigene Mutter sie betuppt.
Erst will Birgit die Beweismittel einstecken, um Tata im Krankenhaus eine Standpauke zu halten, denn gewiss hat Tata die zollfreien Stangen von einer ihrer Flugreisen mitgebracht. Tata fliegt viel, Tata fliegt in der ganzen Welt herum, sobald sie einen Stein verkauft hat, Tata war auf Neuseeland und Mauritius, nicht dass sie und Kurt weniger flögen, aber was bleibt ihnen anderes übrig, zwei ihrer Kinder sind der Liebe wegen aus Europa ausgewandert, da bleibt einem ja wohl nichts anderes übrig. Tata fliegt ohne Anlass, Tata fliegt allein oder mit Freundinnen, mit denen Tata auch in die Sauna geht, eine gemischte Sauna, oder Workshops besucht, im Sommer hat Tata trommeln gelernt, trommeln wie im afrikanischen Busch. Regelmäßig nimmt Tata Flugstunden, um ihren Flugschein frisch zu halten, wenn Birgit sich nicht irrt, ist Tata erst letztes Jahr mit einem Sportflugzeug nach Zypern geflogen. Tata raucht starke Zigaretten, Tata meinte neulich, wenn man sie zwänge, Lights zu rauchen, könne sie sich auch gleich den Strick nehmen, Tata und ihre dummdrastischen Sätze, denkt Birgit, Tata und ihre Sucht, sich interessant zu machen.
Birgit beschließt, eine Klärung mit Tata auf später zu verschieben, wenn es der Mutti bessergeht, heute haben sie andere Sorgen, die Mutti liegt im Koma, Birgit will gar nicht daran denken. Auf der Suche nach einem Stift öffnet sie eine Schreibtischschublade nach der anderen. Die Mutti hat das Kreuzworträtsel nicht vollständig ausgefüllt, zwar hat sie das Lösungswort notiert, doch die Leerstellen um das zweite N von Marilyn Monroe sind Birgit ein Dorn im Auge, denen rückt sie noch eben auf die Pelle, Mischung aus Rock und Jazz mit vier Buchstaben, der erste ein F, an dritter Stelle das N, warum hat die Mutti es nicht vollendet, die Denkspiele in der Saarbrücker seien so leicht zu enträtseln, dass es an eine Beleidigung grenze, hat sie immer geschimpft. Schimpft sie immer, korrigiert sich Birgit erschrocken, noch ist sie nicht, Herrgottnochmal, wo hat die Mutti ihren Stift versteckt. Der Schreibtisch ist vollgestopft mit Restbeständen aus dem Geschäft, Lineale, Radiergummis, Spitzer, Zehnerpack Klebstreifen, Tintenpatronen, Fässchen, Locher in allen Farben, Karteikarten, Schnellhefter in Din A4 und 5, Taschenkalender mit dem alten Firmenlogo bedruckt: Wir geben zu Protokoll, Bürobedarf stets nur von Schmoll! Die marmorierten Füllfedern sind entweder unbenutzt oder ausgetrocknet, die Mutti bevorzugt Bleistift und Radiergummi, und Birgit hält es genauso in ihrem Perfektionismus, beziehungsweise ihrer Flucht vor der Ewigkeit, wo aber stecken die Bleistifte. Auf den Knien durchstöbert Birgit jedes Federmäppchen, jede Briefpapierkiste, noch den hintersten Winkel der Schubladen, bis sie sogar die Leitzordner aus den unteren Fächern zieht, in der verrückten Hoffnung, dahinter ein Depot für Bleistifte aufzuspüren.
Hat sie den ledernen Würfelbecher auf dem Regal rechts vom Schreibtisch wirklich übersehen? Es liegt mir fern, hier in aller Öffentlichkeit ein Urteil zu fällen, aber demnächst werden sich die Schuldzuweisungen häufen, ich möchte einen klaren Kopf behalten, und fragen wird man wohl dürfen.
Ein Haufen Bleistifte steht, seit ich denken kann, gut sichtbar, im Sitzen greifbar, im Becher auf dem Regal zwischen den verstaubten Bilderrahmen mit den Urenkelfotos und der Bonbonkiste. (Die Oma hat uns immer mit Nimm2 und Gummibärchen versorgt.) Im Nachhinein macht es mich stutzig, dass meine Mutter vierzehn Tage vor Omas Tod zufällig auf das Testament stößt. Es folgt nun eine kurze Abhandlung über das Wesen des Zufalls, die Koinzidenz der Ereignisse, das kollektive Unbewusste mitsamt Schattenkonzept nach C. G. Jung und den daraus abzuleitenden Sinn des Lebens. War nur Spaß, keine Sorge. Das Testament steckt in einer schwarzen Ledermappe mit Lasche und Prägung. Woraus sich meine zweite Frage ergibt. Wenn meine Mutter, wie sie behauptet, das Dokument damals nicht gleich gelesen hat, woher wusste sie, dass es sich um ein Testament handelte? Und zwar das ihrer Eltern. Warum hat sie es eingesteckt? Außen auf der Mappe steht nix von wegen Letzter Wille, im glänzenden Leder ist lediglich der Name von Opas Schreibwarenladen eingraviert, Bürobedarf Schmoll, in Gold, ein edles Werbegeschenk für den treuen Kunden. Klappt man den Aktendeckel auf, sticht einem die krakelige Handschrift meiner Großmutter ins Auge und die vorgedruckte Überschrift, Berliner Testament, sowie unten die Signaturen meiner Großeltern aus dem Jahr 1985. Ehrlich mal, wenn du so einen Wisch vor dir hast, und du bist daran gewöhnt, die Sauklaue deiner Mutter mühelos zu entziffern, da kannst du mir nix erzählen, da kannst du das reinste Seelchen dein Eigen nennen, du kannst als bester Mensch auf Erden gelten, du liest, was da steht, schließlich handelt es sich bloß um fünf, sechs Zeilen, Mama, erzähl mir doch nix!
Selbstverständlich hat Birgit das Papier überflogen. Und weil, was da steht in amtlichem Deutsch, ein Schock ist, liest sie es gleich noch einmal. Und zur Sicherheit noch dreimal, meine Mutter ist ein gewissenhafter Mensch:
Wir, Wilhelm Friedrich Schmoll, geboren 1913 in Saarbrücken, und Eleonore Schmoll, geborene Pilger, geboren 1917 in Saarbrücken, bestimmen uns gegenseitig zu Alleinerben.
Nach dem Tod des zuletzt Versterbenden von uns sollen unsere Töchter Birgit, geboren 1941 in Saarbrücken, und Theresa Wilhelmine, geboren 1943 in Saarbrücken, zu gleichen Teilen Erben sein.
Norbert, geboren 1950 in Saarbrücken, wird bis auf seinen Pflichtteil vom Erbe ausgeschlossen.
Ort. Datum. Unterschriften.
Birgit schießt die Röte ins Gesicht. Norbert, denkt sie, Gott, Jesses, Wirtschaftswunder hat der Vati ihn seinerzeit genannt, Unser kleines Wirtschaftswunder hat er gejubelt, Vati, wie kannst du nur. Wie konnte er.
Wie war der Vati stolz, es endlich doch zu einem Bub gebracht zu haben, einem regelrechten Buben mit allem Drum und Dran, mit welchem Stolz hat er ihn herumgezeigt in blauen Söckchen und neuen Strickjäckchen, in die Luft hat er ihn geworfen, bis knapp unter die Decke, und dabei gesungen, alle möglichen Lieder, die ihm in den Sinn kamen, verbotene darunter, die Melodien neu betextet, bis die Mutti bat, Nicht so laut, wenn dich die Nachbarn hören.
Und da die Mutti ihn nicht stillen konnte, saß Birgit, sooft sie konnte, im Sessel und gab dem Kleinen das Fläschchen, der Norbert wehrte sich bei allen, selbst bei der Mutti manchmal, nur bei Birgit trank er seelenruhig, umso mehr beeilte sie sich, nach der Schule nach Hause zu kommen zu ihrem schmächtigen Schatz, auch wenn Tata sie dafür hänselte vor ihren Freundinnen. Und wenn sie ihn nachts schreien hörte im Elternschlafzimmer, krabbelte Birgit aus dem Bett und bat die Mutti, mit runter zu dürfen in die Küche, wo sie dem kleinen Schatz Milch aufwärmten mit Zwieback. Birgit liebte die rituellen Handgriffe und dass sie die Mutti eine Viertelstunde lang für sich allein hatte, denn der Norbert zählte ja noch nicht richtig. Das Wunder, das Wirtschaftswunder beruhigte sich in Birgits Arm, und sie steckte der Mutti eine Zigarette an und fühlte sich erwachsen und achtete darauf, dass ihnen die Milch nicht anpappte, und nahm im Sessel Platz und schickte die Mutti dann vor ins Bett, weil die schon am Küchentisch eingenickt war und bestimmt wieder bis drei an der Inventur gesessen hatte, obwohl der Arzt ihr das verboten hatte, wegen der Augen. Der Vati hatte versprochen, dass sie dafür jemanden einstellen würden, aber dann reichte es immer vorne und hinten nicht für eine Extrakraft, und sparen wollten die Eltern, möglichst bald die Schulden zurückzahlen und dann weitersparen für die Ausbildung, vor allem die des Jungen, und außerdem hatte die Mutti kein rechtes Zutrauen in ihre Angestellten, in so einem Geschäft kam es nun mal auf jede Reißzwecke an.
Zu Beginn hatte der Norbert rote Haare gehabt, genau wie Tata, und seine Ärmchen waren so dünn gewesen, dass Birgit Sorge hatte, sie würden durchbrechen oder die ungestüme Schwester werde sie durchbeißen. Laut Tata war Norberts Bauch ein Ballon voll blauer Schlangen, und als Birgit der Schwester erklärte, dass das die Adern seien, in denen Norberts Blut floss, schrie Tata, Blut sei rot, nicht blau, und trachtete, es zu beweisen, und da riss Birgit ihr den Schatz aus den Armen und rannte mit ihm ins Herrenzimmer, denn das war der einzige Raum, in den man sich einschließen konnte, und Tata trommelte gegen die Glasscheiben der Schiebetür, bis der Vati kam und Tata zurechtwies und mit Hausarrest drohte, was Birgit Genugtuung verschaffte und Schuldgefühle. Derweil bettete sie den Schatz neben den schweren Aschenbecher auf Vatis Schreibtisch und legte ein Ohr auf seinen hervorragenden Nabel, und während Norbert frohlockte, würgten und geiferten Tatas Schlangen in seinem Innern.
Birgit kann es nicht fassen. Wie konnte er nur? Vergöttert hat er seinen Bub. Verwöhnt, bevorzugt bis zum Gehtnichtmehr bis. Bis. Nun ja. Es kommt ihr vor, als hätte der Vati mit einem Handstreich sein Lebenswerk zerstört. Den Zweck. Sie vergewissert sich, dass sie die letzten Zeilen richtig gedeutet hat, vom Erbe ausgeschlossen, Saarbrücken, den Soundso. Der Vati konnte ungerecht sein, grob, auffahrend, das schon, aber diese endgültige Boshaftigkeit in Schwarz und Weiß passt nicht zu ihm. Und wie hat die Mutti es hinnehmen können? Sie war sonst nicht auf den Mund gefallen, schon gar nicht gegenüber dem Vati. Norbert, unser Kleiner, das Wunder. Wieso hatte sie sich nicht gegen seinen Willen verwehrt? Sie stellt sich ihre alten Eltern vor, am Tisch im Esszimmer, der Vati muss das Papier formuliert haben, die unsägliche Verfügung war auf seinem Mist gewachsen, darüber kann Muttis Handschrift nicht hinwegtäuschen. In welcher Verfassung muss sie gewesen sein, hier zu unterschreiben, Eleonore Schmoll. Was hast du getan? Auch wenn der Norbert der Mutti nie so ans Herz gewachsen ist wie ihre Mädchen, auch wenn sie bisweilen kein Hehl daraus machte, was für eine Last das späte Kind ihr war, da konnte Birgit ihr noch so hilfreich zur Hand gehen, Norbert blieb doch Muttis Sohn, ihr Fleisch und Blut, auch nach dem großen Knall.
Unwillkürlich ist Birgit in die Knie gegangen und kramt wieder zwischen den Leitzordnern. Das kann und darf nicht alles sein, es muss ein Papier geben, das die vernichtende Wucht dieses Schriftstücks relativiert, die Mutti hatte in den letzten Jahren so oft von ihrem bevorstehenden Tod gesprochen, geliebäugelt hatte sie, es muss eine aktuelle Fassung geben. Ein mütterliches Testament, ein versöhnliches, zum Schreiben war sich die Mutti nie zu schade gewesen, zum Gedanken zu Papier bringen, kluge Gedanken, und wie sie allzeit Verantwortungsbewusstsein von den Verantwortlichen forderte, musste auch sie, muss sie doch, muss, als geborene Pilger besaß die Mutti einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, besitzt die Mutti, als Mutter, eine Mutter. Doch das Fach ist leer, außer einem Gummiband, das in der Hand zerbröselt, und einer Sicherheitsnadel ist da nichts, nichts weiter, auch kein Geheimfach.
hat das Laken beiseitegeschoben, sitzt auf dem Bettrand und hält Muttis Hand. Ihre Augen sind gerötet. Birgit erinnert sich nicht, wann sie ihre Schwester zuletzt hat weinen sehen. Außer als sie klein waren natürlich, wenn das Pummelchen Bauchweh hatte oder Hunger, an eine Situation erinnert sich Birgit besonders gut, da hat sie vor der Nase ihrer kleinen Schwester die kostbare Weißbrotscheibe aufgefuttert, die die Mutti für sie beide auf dem Holzofen gegrillt hatte (es gab mächtig Geschrei und einen tüchtigen Klaps), oder als Tata einmal (kurz vor Kriegsende) aus lauter Gier ein Tässchen frischer Ziegenmilch auf ihr Dirndl verschüttet hat, das die Mutti ihr aus einem alten Bettlaken genäht hatte, mit roter Knopfleiste aus der Fahne, die sie nicht mehr brauchten, oder als die Mutti (kurz nach Kriegsende) mit einem Blecheimer hinausging in den Garten hinterm Haus und feststellte, dass in der Nacht ihre Kartoffeln gestohlen worden waren, und da die Mädchen hinterherstürmten, um bei der Ernte zu helfen, fanden sie die Mutti mit hochgekrempelten Ärmeln vor dem Beet, einen ganz und gar fremden Ausdruck im Gesicht wie ein leerer Eimer in Person, Tränen der Wut rannen ihr die Wangen hinunter, und da mussten sie beide auf Anhieb mitweinen. Und als der Vati kam, um sie heimzubringen (obwohl er von den Engländern keinen Passierschein bekommen hatte), und die Mutti umarmte und Birgit auf den Schoß nahm und Tata im Türrahmen entdeckte, an den die Kleine sich klammerte in Ermangelung von Muttis Bein, und der Vati sagte, Wen haben wir denn da, und Tata rannte davon und schrie wie am Spieß und war für den Rest des Tages nicht mehr zu beruhigen.
Birgit irritieren nicht nur die roten Augen der Schwester. Auch die vielen Schläuche und Kabel, an die sie die Mutti angeschlossen haben, die Geräusche des Überwachungsmonitors, der Tubus der Trachealkanüle, die unterhalb des Kehlkopfes aus Muttis Hals ragt, das alles setzt ihr zu. Dazu die Selbstverständlichkeit, mit der Tata sich in Straßenkleidung auf Muttis Bettrand gepflanzt hat, das ist wieder, darf man das denn auf der Intensivstation. Birgit traut sich nicht mal, das Plastikfläschchen mit dem blauen Desinfektionsmittel anzurühren, um es vom Rand des Rollwagens wegzuschieben, ohne Einmalhandschuhe kommt das nicht in Frage. Für gewöhnlich ist meine Mutter nicht zimperlich in Sachen Sicherheitsreflexe, wenn es um das Vorbeugen von Unfällen geht, wo immer sie verweilt, auch in fremden Wohnungen, auch wenn gar keine Kinder dabei sind, zum Doppelkopf bei Freunden, selbst bei Lehrerkonferenzen, ständig korrigiert Birgit die Position der Gegenstände am Abgrund, insbesondere Gläser oder Tassen der anderen und scharfe Objekte, Brieföffner, Gemüsemesser, auf dass nicht in einem unbedachten Moment etwas runterrutsche oder von der Küchenanrichte gemopst werde, nicht auszumalen, all die möglichen Folgen, dass der Rotwein nämlich Flecken mache, die nie mehr rausgingen, dass sich jemand etwa den Oberschenkel am Kaffee verbrühe, dass ein Kind sich mit dem Küchenmesser eine Fingerkuppe abschneide, mit dem Korkenzieher zu tief in der Nase bohre, wenn das Desinfektionsmittel ungünstig kippt, ergießt es sich womöglich über die Elektroden auf Muttis Brust, die Kompresse an ihrem Hals saugt sich voll, Desinfektionsmittel gelangt in die Lunge, und die Mutti erstickt.
Eine Scheiße ist das, sagt Tata und will das Nachthemd sehen, das Birgit mitgebracht haben soll, und will die Mutti gleich umziehen, aber Birgit hat es vergessen in der Aufregung, nicht mal das Kreuzworträtsel hat sie vollendet. Sie redet sich mit Prioritäten raus und gibt sich Mühe, Tata nicht merken zu lassen, wie sehr sie neben sich steht, denn selbst wenn ein nahes Familienmitglied im Sterben liegt, meine Mutter ist die Königin des Multitasking. Brüste ich mich damit, simultan stricken, fernsehen und kochen zu können, wird Birgit der Liste mindestens vier Tätigkeiten hinzufügen, ohne mit der Wimper zu zucken, Einkaufszettel schreiben, Enkel trösten, Tabletten nehmen, Spülmaschine ausräumen und Tisch decken zum Beispiel (sie strickt nicht) oder Hunde füttern, mit Papa streiten, Zähne putzen, Zeugnisse schreiben und Schultaschen für morgen packen oder einen Drittklässler zwei mit siebzehn multiplizieren lassen, die Kreide nach Farben sortieren, die Mädchen in der ersten Reihe zurechtweisen, sich über den Direktor aufregen und im Kopf den Einkaufszettel vervollständigen, oder als wir noch kleiner waren, Platz in der Tiefkühltruhe schaffen, Erbsen pulen, Schlüssel suchen, mit meinem Zwillingsbruder schimpfen und Aufsätze korrigieren, oder um drei Uhr nachts, immer noch lesen, Socken überstreifen, weil sie sich so leicht erkältet, Papas Schnarchen überhören, dem Gespräch im Lehrerzimmer nachsinnen, sich über ihre unmögliche Schwester ärgern.
Die behaupten, selbst im Fall, dass sie noch mal aufwacht, Tata bläst verächtlich die Luft aus, Selbst in dem Fall wird sie nicht mehr die Alte sein. Weißt du, was das bedeutet? Die erklären sie für geistig tot. (Fakt ist, Elly ist alles andere als tot. Leider. Sie hört alles, sie sieht alles, sie liest Gedanken, ob sie will oder nicht. Sie will nicht. Es ist die Hölle.)
Da können wir auch gleich den Stecker ziehen und sie zu Hause sterben lassen.
Bist du völlig übergeschnappt, zischt Birgit, Wir sind keine Ärzte, die werden schon wissen, was sie tun.
Norbert hat gesagt, wenn sie eine Patientenverfügung hätte.
Hat sie aber nicht. Wo ist der überhaupt?
Woher willst du das wissen, faucht Tata, Hier geht’s nicht um Gesetze, an die man sich halten muss. Es geht um ein letztes bisschen Würde. Als ich hier ankam, waren nicht mal ihre Titten bedeckt, und da drüben, Tata nickt in Richtung Nachbarkabine, Bei Monsieur war Besuchszeit. Überleg mal, was die Mutti davon halten würde.