Daniel H. Wilson

Die Dynastie der Maschinen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Oliver Plaschka

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Daniel H. Wilson

Daniel H. Wilson wurde am 6. März 1978 in Tulsa, Oklahoma geboren. Schon als Kind versuchte er, seinen Computer zum Sprechen zu bringen, und verliebte sich in das Androidenmädchen einer Fernsehserie. Heute lebt er mit Frau und Kindern in Portland. Er trägt einen Doktortitel für Robotik, und neben Artikeln für das „Popular Mechanics Magazine“ veröffentlicht er sehr erfolgreich Anleitungen, wie man einen Roboteraufstand überlebt. Seine besten Freunde sind Werkzeuge – und er arbeitet, wie er selbst betont, für die Mächte des Guten.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Clockwork Dynasty« bei Doubleday, New York.

 

© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2017 Daniel H. Wilson

This translation is published by arrangement with Doubleday, an imprint of the Knopf Doubleday Group, a division of Penguin Random House, LLC.

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Michael Meyer

Covergestaltung: © Guter Punkt, Markus Weber unter Verwendung von Motiven von Getty Images

ISBN 978-3-426-44382-8

Hinweise des Verlags

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Prolog

Das Alter eines Gegenstands steckt in seiner Beschaffenheit. Geheimnisse verbergen sich im Fingerabdruck gesprungenen Porzellans und in der Blüte von Rost auf Metall. Man braucht ein staubiges Artefakt bloß in die Hand zu nehmen und sich darauf zu konzentrieren. Mit ein wenig Übung breiten sich die schwindelerregenden Abgründe der Zeit wie ein Sternenhimmel vor dem geistigen Auge aus.

Ich habe diese Kunst nicht in einem Schulzimmer gelernt. Kein Wissenschaftler hat das.

Mein Großvater, mein deduschka … Er hat mich die Ehrfurcht vor dem vergessenen Gestern gelehrt.

Als ich sechzehn war, hat Wassili Stefanow mich in seinem Werkzeugschuppen erwischt, als ich heimlich in seinen Kriegsandenken wühlte und das Vorhängeschloss einer ramponierten grünen Munitionskiste mit einem Schraubenzieher zu öffnen versuchte. Er stieß einen leisen Pfiff aus, wie ein Kuckuck. Auf diese Weise erregte er jedes Mal meine Aufmerksamkeit, seit ich ein kleines Mädchen war. Und auch jetzt erstarrte ich vor Schreck.

Statt mich zu bestrafen, erzählte er mir eine Geschichte.

»Du bist so neugierig«, meinte er mit seinem starken russischen Akzent, den er aus einem anderen Leben in die Vereinigten Staaten mitgebracht hatte. »Wonach suchst du?«

»Es tut mir leid, deduschka«, stammelte ich. »Nichts. Ich wollte bloß …«

Mit seiner schwieligen Hand machte er eine abwehrende Geste. »Ist schon gut. Neugierige Menschen wollen etwas lernen.«

Damit nahm mein Großvater mir die Munitionskiste ab und stellte sie klappernd auf seine Werkbank. Er öffnete das Messingschloss und hob den verbeulten Deckel an. Ein paar vergilbte Fotografien, eine alte Taschenuhr und einige Orden kamen zum Vorschein. Dann holte er einen offenbar schweren Gegenstand heraus, der in ein öliges Tuch eingewickelt war, und warf mir das Bündel wortlos in die Hände.

Unter dem Tuch fand ich etwas Metallisches und Festes, etwas so Komplexes und Fremdartiges, dass mir der Atem stockte. In ein muschelgroßes Stück Metall von der Form eines Halbmonds war ein verschlungenes Linienmuster geätzt – wie eine Sprache aus bizarren Winkeln.

»Dieses Ding«, sagte er. »Dieses unglaubliche Ding … Ich wollte es immer mit jemandem teilen, verstehst du? Aber die Jahre fliegen nur so dahin.«

»Es ist schwer«, stellte ich fest.

»Es ist ein Relikt aus dem Krieg. Und es hat eine Geschichte, die ich nie jemandem erzählt habe.«

Noch heute sehe ich sein Gesicht deutlich vor mir, mit all diesen Falten, die einem Angst machen konnten, bis der alte Mann lächelte und man ihren Ursprung erkannte.

»Glaubst du an Engel, June?«, fragte er mich.

»Ich weiß nicht«, gab ich zur Antwort. »Nein.«

»Vielleicht solltest du aber.«

Großvater räusperte sich, lehnte sich gegen die ächzende Werkbank. »Ich war fast noch ein Kind, genau wie du jetzt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Meine Familie wohnte in einem Dorf im Ural. Als die Deutschen in Russland einfielen, wurde beschlossen, dass ich alt genug war, um an die Front zu gehen. Alle Jungen im Dorf wurden losgeschickt. Wir waren aufgeregt. So aufgeregt.«

Er schüttelte gedankenschwer den Kopf.

»Stalingrad. Es war Winter«, fuhr er fort. »Noch am Anfang der Schlacht, aber wir hungerten schon. Waren halb erfroren. Die Deutschen hatten eine Million sowjetischer Soldaten fast bis an die Ufer der Wolga gedrängt. Die Frauen und Kinder und Verwundeten, die in der Stadt zurückgeblieben waren … die versuchten schließlich, über den eisigen schwarzen Fluss zu entkommen. Wir hatten alle Hoffnung aufgegeben. Es ging nur noch ums Überleben.

Die Wolga war völlig verstopft: große grüne Militärtanker, schmutzige Fischerboote, private Jachten – und Menschen, Tausende, ja, eine … eine Masse von Menschen, die sich an allem festhielt, was schwamm. Und in den tiefen grauen Wolken über dem Fluss schrien die Kampfflugzeuge der Nazis. Aus dem Himmel fielen feurige Tränen auf die Rücken dieser Frauen und Kinder. Öl und Benzin waren ins Wasser geflossen. Der ganze Fluss stand in Flammen.

Ich und die anderen Späher, wir hielten uns nahe am Ufer auf und deckten den Rückzug. Stalingrad selbst war bereits völlig zerbombt. Du kannst dir das gar nicht vorstellen … Es war die reinste Mondlandschaft. Wie eine andere Welt. Eine Welt aus zerschmetterten Steinen und Holz. Zerfallene, halb versunkene Wände auf Flächen, die einmal Wohnviertel gewesen waren, leere Fenster wie offene Münder, die Staub ausspuckten. Die Gefallenen blieben einfach liegen und wurden von Eis bedeckt. Niemand begrub sie.

Wir Jungen schlugen uns durch, kletterten wie die Ratten durch die Überbleibsel eingestürzter Keller und aufgegebener Schützengräben. Oberirdisch war nichts mehr übrig. Diesen Albtraum machten wir monatelang mit … Monate, die sich wie eine Ewigkeit hinzogen. Frostbeulen und Durst und Scharfschützen. Anfangs brachten wir unseren Hunden noch bei, mit Sprengstoff unter die deutschen Panzer zu rennen. Später aßen wir sie. Und ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, wnutschka … aber mit der Zeit … in dieser seltsam kalten Welt zerfiel die Erinnerung an mein altes Leben zu Asche.

Törichterweise begann ich zu glauben, dass nichts mir mehr Angst einjagen konnte.«

Großvater blinzelte, starrte die Munitionskiste und das herabbaumelnde Messingschloss an. Verloren in der Erinnerung sah er mich nicht an, als er weitersprach.

»Ein Naziflugzeug muss unsere Position verraten haben. Im einen Moment lagen die anderen Jungen und ich noch nebeneinander in unseren Wintermänteln und luden unsere Gewehre nach, unser Munitionsvorrat ausgebreitet auf einem Schotterhaufen. ›Nicht ein Schritt zurück‹, das war die Devise. Wer floh, wurde erschossen. Wenn Gestalten aus dem Rauch auftauchten, zogen wir den Abzug und hielten die Stellung. Egal, wie viele deutsche Helme da kamen … wir waren bereit, das Opfer zu bringen.

Und dann brach das Chaos auf unserem Hang aus. Ein deutscher Panzer hatte sich auf uns eingeschossen. Es war, als rammte ein Riese seine Faust in den Hügel. Wir wurden fortgeschleudert, sodass es uns die Helme wegriss; wie Stoffpuppen wurden wir in den Himmel geworfen. Ein gelb und grau bemalter Panzer kroch aus dem Nebel, wie ein kranker Tiger, und suchte uns mit dem schwarzen Auge seines Geschützes. Ich lag auf dem Bauch, atmete Staub, konnte nichts klar erkennen … Die Rufe der Deutschen aber, die hörte ich. Wie Dämonen aus Rauch und Staub, die aus der Hölle riefen.

Bitte versteh mich recht, June – was als Nächstes passierte … das ist schrecklich. Doch du musst es erfahren. Eines Tages hilft es dir vielleicht, zu begreifen, was du da in deinen Händen hältst.«

Meine Augen wanderten von seinem Gesicht zu dem Stück Metall in meinen Fingern. Ich konnte die Symbole auf seiner Oberfläche nicht deuten. Sie wirkten wie verzerrte Buchstaben, mit geometrischen Formen, Linien und Punkten durchsetzt. Das Metall fühlte sich eigenartig warm an, die fein verzierten Ränder verloren sich in fraktalen Strukturen. In jeder der beiden Halbmondspitzen war ein kleines Loch, als ob das Artefakt einst Teil von etwas Größerem gewesen wäre.

»Nachdem das Geschütz uns getroffen hatte, waren all die anderen Jungen weg – einfach ausgelöscht. Meine Seite war taub, von Steinen und Splittern aufgerissen. Ich konnte mich aber noch bewegen. Mit einem Pfeifen in den Ohren drehte ich mich auf den Rücken. Und durch eine Fügung des Schicksals war ich am Leben, um das Folgende mit anzusehen.

Ein großer Mann mit Mantel und Mütze der sowjetischen Armee kam den verwüsteten Hügel hinabgestolpert. Seine Züge waren starr, seine Bewegungen wie automatisch. Doch er hatte die Deutschen schneller entdeckt als sie ihn. Er warf sich nach vorn, griff nach der gezogenen Waffe in der Hand des Soldaten und schoss ihm damit in den Leib, bis er keine Kugeln mehr hatte. Mit dem nächsten Schritt hatte er zwei weitere Soldaten gepackt. Er schlug ihre Köpfe zusammen, sodass es ihnen die Helme zerbrach. Die Männer fielen tot zu Boden. Und schließlich drehte der Russe sich zu mir um. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen.

Wir hatten Ratten gegessen, June. Wir waren schwach. Dieser Mann hingegen war stark – er kam mir wie ein Heiliger vor. Meine Augen füllten sich mit Tränen, als mir klar wurde, dass er ein Racheengel war, der mit gerechtem Zorn den Schlachtenrauch durchschritt.

Und ich erinnere mich, dass ich gelächelt habe, obwohl meine aufgeplatzten Lippen bluteten. Ich hatte das Gefühl, dass ich in gewisser Weise Zeuge der Wahrheit, ja der Verkörperung von Gerechtigkeit wurde.

Eine Luke des Panzers ging auf, der Nazikommandant kam zum Vorschein und schoss mit seiner Maschinenpistole. Die Kugeln schlugen nur so in den Rücken des Engels ein. Er stolperte und fiel wie ein gewöhnlicher Mann, lag verkrümmt zwischen den Leichen meiner Freunde.

Argwöhnisch kletterte der Kommandant aus dem Panzer. Bemühte sich, in jede Richtung gleichzeitig zu schauen. Dieser Mann hatte die wütende Rache Gottes gesehen und wusste, dass man über ihn gerichtet hatte. Ich blieb ganz still liegen, atmete flach, lugte unter meiner schiefen Uschanka-Mütze hervor und versuchte, nicht vor Furcht zu zittern.

Der Todgeweihte beugte sich vor, um die Leiche zu inspizieren. Ich weiß nicht, was er erblickte, aber ich werde nie vergessen, was für ein Gesicht er dabei machte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Mit wehendem Mantel wirbelte er herum und schrie dem Fahrer seines Panzers einen Befehl zu. Dabei wandte er sich nur eine Sekunde lang ab … doch das reichte. Der Engel richtete sich auf und packte den Mann am Kopf. Die behandschuhten Finger schlossen sich fast komplett um den Schädel seines Feindes, als er ihn vom Boden hob. Mit einem Druck seiner Hand …«

Mein Großvater fuhr sich mit dem Daumen über die Kehle.

»Der Panzer war noch im Leerlauf und wartete. Dann wurde die Luke mit einem Knall zugeschlagen, der Motor heulte auf. Sie ergriffen die Flucht. Stell dir das mal vor: Ein mächtiger Panzer, praktisch unbesiegbar, floh vor einem einzigen Mann.

Der Engel erhob sich und öffnete seinen zerrissenen Mantel. Danach sprang das Ding den Panzer an, klammerte sich fest und riss mit einer Hand die Luke vom Geschütz. Er griff hinein, zerrte den schreienden Deutschen am Kragen heraus, schlug sein Gesicht aufs Metall und warf seine Leiche zu Boden. Als wäre nichts dabei – als würde er einen Fisch auf einen Stein schlagen.

Einen Moment lang stand der Engel still, den Kopf in Verzweiflung gesenkt. Etwas entglitt seinen Händen. Dann schritt er davon und verschwand in den Rauchschwaden. Der Panzer rollte noch weiter bis zum Fluss. Kurze Zeit später hörte ich ein Platschen. Meine Verletzung schmerzte immer mehr, doch meine Neugierde wollte trotz allem gestillt werden. Also schleppte ich mich durch Tod und Geröll bis hin zu der Stelle, an welcher der Engel gestanden hatte.

Ich hatte beobachtet, wie die Kugeln ihn getroffen hatten. Auf dem Boden fand ich statt Blut jedoch nur Metallsplitter. Ein paar lederne Fetzen, Projektilsplitter und noch etwas anderes – ein Objekt, sehr alt, wie ich meine, aber moderner als jede andere Maschine in dieser Schlacht.

Das ist es, was du da in Händen hältst, June … Dieses Relikt hat der Racheengel hinterlassen.«

Mein Großvater hielt schweigend inne. Schließlich hob er den Blick, sah zu, wie ich mit den Fingern die Form des Artefakts nachzeichnete.

»Es gibt seltsame Dinge auf der Welt, June. Dinge, die älter sind, als wir ahnen. Und die aussehen wie Menschen … Die Engel sind unter uns. Manchmal richten sie uns. Und manchmal vollstrecken sie ihre Strafe.

Was du da hältst, gehört zu ihrer Welt – nicht zu unserer.«

In seiner strengen Miene las ich, was er mir sagen wollte.

Erzähle niemandem davon.

»Die meisten Menschen wollen nichts über eine verborgene Welt hören. Sie sind damit zufrieden, in Unwissenheit zu leben. Andere zeigen mehr Neugier. Zu welcher Sorte Mensch gehörst du, June?«

»Ich weiß es nicht, Großvater«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Daraufhin nahm er mir das Relikt vorsichtig ab, schlug es in das ölige Tuch ein und legte es zurück in die Munitionskiste. Mit einem lauten Klicken ließ er das alte Messingschloss zuschnappen.

»Darf ich es irgendwann noch einmal sehen?«, fragte ich.

Großvater betrachtete mich eine ganze Weile.

Schließlich nickte er. »Eines Tages, ja.«

Zwei Jahre später, auf seiner Beerdigung, reichte mir meine Großmutter einen versiegelten Umschlag. Darauf war in der fahrigen Handschrift meines Großvaters mein Name gekritzelt. Und darin fand ich ein kleines Etwas, das mein Leben für immer veränderte.

Einen Messingschlüssel.

EINS

Neprawda (Unwahrheit)

Bei dem Versuch, solche Maschinen zu konstruieren, sollten wir nicht respektlos Gottes Macht, Seelen zu erschaffen, (…) an uns reißen (…): Vielmehr sind wir (…) Werkzeuge seines Willens, indem wir Wohnstätten für die Seelen, die er erschafft, bereitstellen.

– Alan Turing, 1950

1

Oregon, Gegenwart

Der Automat hat die Größe eines kleinen Mädchens, liegt fest und schwer in meinen Fingern. Die schimmernden Metallknochen ragen durch verblasste Spitze. Ein engelsgleiches Porzellangesichtchen späht aus dem vergilbten Stoff, die Wangen von einer Patina feiner Sprünge überzogen; die Lippen geschürzt und von blassem Rot; die Augen glänzend, schwarz und glatt. Auf den ersten Blick sieht die Maschine wie ein Kind aus. Doch was ich da in meinen Händen halte, ist weitaus fremdartiger.

Zum einen ist dieses Kind über dreihundert Jahre alt.

Der Altgläubige, der mich in diesen stickigen Alkoven seiner Kirche eingelassen hat, steht im Eingang und starrt mich aus den Tiefen seines schwarzen Bartes heraus an. Einige verirrte Haare sind ihm auch die Wangen hochgeklettert. Die dichte Gesichtsbehaarung macht es mir schwer, sein Alter zu bestimmen; das Unbehagen in seinen hellen blauen Augen ist hingegen offensichtlich. Durch seine Größe und die gebeugte Haltung unter der schwarzen Robe wirkt der Priester wie der Sensenmann, bewacht mich auf Schritt und Tritt.

Im Gegensatz zu den Frauen in der Kirche, die Präriekleider tragen und ihr schönes Haar, das sie zu dicken Zöpfen geflochten haben, unter Seidenhüten verstecken, trage ich eine Schutzbrille um den Hals, blaue Latexhandschuhe und verstaubte schwarze Jeans. Mein dreckiges Haar habe ich zu einem achtlosen Pferdeschwanz zusammengebunden.

Es ist die dritte und letzte Woche meiner Reise, und ich mache mir längst schon keine Gedanken mehr um mein Äußeres.

Ich lege das Porzellanmädchen auf ein schwarzes Polster auf einem gotischen Eichentisch. Meine übliche Arbeitsumgebung an der Universität kennt keine handgeschnitzten Kuckucke und festem Holz entlockte Efeu-Ornamente, doch wohin ich auch komme, ich bin es gewohnt, mich an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen.

»Will er uns den ganzen Tag so anstarren?«, frage ich Oleg, meinen Übersetzer.

»Wahrscheinlich«, antwortet er, ohne mich anzusehen.

Oleg sitzt auf einem Hocker, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Der stämmige Mann riecht nach Zigaretten und Aftershave. Er ist durchweg rüpelhaft und ungeduldig – und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich auf Ukrainisch verflucht –, aber der Sponsor meiner Reise hat nun mal entschieden, dass Oleg die richtigen Sprachen spricht.

Vor mehreren Jahren trat die Kunlun Foundation im Namen einer reichen chinesischen Gönnerin auf mich zu, einer offenbar von mechanischen Antiquitäten besessenen Frau. Primitive Automaten wie dieser stellen ein Nischengebiet in der Forschung dar, Fördermittel sind rar gesät. Vor diesem Hintergrund ist ein griesgrämiger Übersetzer vermutlich ein geringer Preis für die Reisekosten und Ausrüstung, die man mir erstattet.

Ich ziehe an der Kette einer kunstvoll verzierten Messinglampe. In dem Alkoven ist es geradezu klaustrophobisch eng. Er ist vollgestopft mit Bücherregalen und wird von trüben Lichtstrahlen durchkreuzt, die durch eine hohe Reihe gewölbter Bleiglasfenster hereinfallen. Wie ein stiller Wasserfall wirbelt der Staub im Licht umher und legt sich auf den dicken ockerfarbenen Teppich. Der Himmel draußen ist hell, aber verhangen und spuckt vereinzelte Regentropfen auf das Glas.

Ich wähle einen Tastkopf aus meiner Werkzeugrolltasche und löse damit das Spitzenkleid. Darunter kommt ein glitzerndes Netzwerk von Zahnrädern und -stangen zum Vorschein. Dieses Artefakt hat nichts mit einem echten Mädchen gemein, aber es ist weitaus komplexer als eine Porzellanpuppe.

Es ist ein klassischer Hofautomat der Renaissance – einer von vielen, doch die meisten gingen verloren. Vor langer Zeit wurden Artefakte wie dieses den reichsten, mächtigsten Menschen der Welt geschenkt. Ihre Besitzer verwahrten diese primitiven Roboter in Wunderkammern und Kunstsammlungen und diskutierten darüber, ob solche Gerätschaften von Dämonen, Engeln oder Naturmagie betrieben wurden.

Hunderte von Jahren später sind die letzten dieser Objekte so selten geworden wie eine nahezu ausgestorbene Spezies, fast immer in privaten Sammlungen versteckt und in jedem Fall beinahe unmöglich zu finden und zu erforschen. Auf dieser letzten Station unserer Reise durch die Gemeinden von Altgläubigen im pazifischen Nordwesten ist dies das erste Artefakt, zu dem Oleg und ich Zugang erhalten. Und es ist das erste seit Jahren, das nicht mutwillig beschädigt wurde.

»Bitte sagen Sie ihm, dass ich die Gelegenheit zu schätzen weiß.«

Oleg nickt, dreht sich um, und ich höre das leise Flüstern in slawischer Sprache. Der Altgläubige lacht einmal scharf auf und erwidert etwas.

»Was hat er gesagt?«, frage ich.

»Er sagt, er tut Ihnen keinen Gefallen. Die Kirche wünscht sich bloß, dass Sie die Existenz des Porzellanmädchens von Sankt Petersburg dokumentieren, ehe … die Wölfe es holen.«

Ich mustere den Altgläubigen. Seine Kleidung ist dieselbe wie die seiner Vorfahren im siebzehnten Jahrhundert, als ihre Religion im Zuge des Großen Schismas verboten wurde. Um der Verfolgung zu entgehen, verstreuten sich diese Menschen in alle Winkel der Welt. Das war vor mehr als dreihundert Jahren – und trotzdem spricht dieser Mann noch einen alten russischen Dialekt.

»Wölfe?«, frage ich Oleg und hebe eine Braue.

Der Übersetzer nickt und bestätigt das Wort.

Mein Mund wird trocken bei dem Gedanken, dass dieselben Vandalen, die ich andernorts traf, auch hier tätig sein könnten. Wenn die Zeit etwas nicht zerstört, erledigt es jemand anderes. Zumindest kommt mir das inzwischen so vor.

Ich hatte gehofft, dass die Dinge hier anders lägen.

Die Altgläubigen sind unnachgiebige Leute. Jahrhundert um Jahrhundert haben sie ihre heiligen Bücher und Artefakte mitgeführt, wo immer sie sich niederließen – von China bis Oregon. In unermüdlicher Handarbeit fertigten ihre Gelehrten früher Abschriften ihrer Büchersammlungen an, in einem Wettlauf gegen die Zeit, ehe die Seiten zu Staub zerfielen. Alles in diesem Raum ist heilig, muss gepflegt und um jeden Preis beschützt werden.

Wölfe.

Ein kleines ovales Gesicht strahlt mich von seinem Schaumpolster aus an, jahrhundertealte Lachgrübchen in den Wangen. Mit meinem Werkzeug stoße ich auf eine gravierte Plakette unter den Falten des Kleides.

Die Inschrift ist in altem Russisch verfasst, doch die Namen und Daten kann ich erkennen. Ich würde raten, dass die Puppe ein Geschenk an Papst Clemens XI. von Peter dem Großen war. Der Zar von Russland betrachtete sich als Herrscher von Gottes Gnaden: Er hatte wenig Verwendung für einen Papst. Ein Automat wie dieser wäre ein horrend teures Geschenk gewesen. Es mochte ein Friedensangebot gewesen sein – oder ein Bestechungsversuch.

Oder eine Botschaft.

Im Schein der Lampe drehe ich das Artefakt herum, bewundere die fein verarbeitete Spitze, aus der das Kleid gemacht ist, während ich den Rücken freilege.

»Sie ist wirklich unglaublich«, murmle ich.

Oleg steht auf und streckt sich. Lautlos tritt er auf dem dicken Teppich näher und wirft einen gelangweilten Blick auf den Automaten. Dann schnaubt der Übersetzer.

»Eine Puppe?«, fragt er mit seinem starken ukrainischen Akzent.

Ich nehme meine Kamera zur Hand und richte ihr schweres Glasauge auf das kleine Mädchen, dessen Körper zart und zerbrechlich im Bett seines gebauschten Kleides liegt.

Der Raum blitzt auf, als ich ein Foto mache.

Klick.

»Ein Automat«, korrigiere ich ihn. »Fast wie ein Roboter – aber vor den Zeiten der Elektrizität hergestellt. Bevor es Autos und Flugzeuge und Telefone gab. Vermutlich von einem Mechaniker gebaut, der direkt dem Zaren unterstellt war. Für kurze Zeit war diese ›Puppe‹ höchstwahrscheinlich die komplexeste Maschine, die die Welt je gesehen hatte.«

»Ein Spielzeug.«

»Eine kaiserliche Inspiration. Ein Bindeglied in der langen Kette technologischer Errungenschaften, die bis in die Vorzeit reicht – wie lange genau, weiß niemand.«

»Ein altes Spielzeug«, sagt Oleg.

Ich verenge die Augen zu Schlitzen, dränge den Mann mit meinem finsteren Blick beiseite. Glucksend schlendert Oleg zu den Regalen hinüber und tut so, als würde er die in Leder gebundenen Buchrücken studieren. Je ausgefeilter und anspruchsvoller solch altertümliche Maschinen sind, desto leichter fällt es heutigen Menschen, sie als Spielzeug abzutun.

Doch unsere Vorfahren feierten auch ihre Triumphe.

Ich entledige den Automaten der restlichen Kleidung. Unter dem knitternden Stoff kommen die fein geschliffenen goldenen Glieder zum Vorschein, schimmern dumpf im Lampenlicht. Das Messingskelett mit seinem kindlichen Gesicht bietet sich meinen Händen dar.

Ich merke, dass Oleg unwillkürlich wieder linst.

»Sie war unglaublich«, fahre ich fort. »Und nicht die Erste ihrer Art. Sokrates hat berichtet, dass man die ›beweglichen Statuen‹ des Meisters Dädalus festketten musste, damit sie nicht fortliefen. Heron von Alexandria soll einen künstlichen Mann gebaut haben, der sich bekanntermaßen nicht mit dem Schwert enthaupten ließ. Und der Chinese Yan Shi konstruierte angeblich schon vor dreitausend Jahren einen lauffähigen Automaten.«

»Legenden«, erwidert Oleg.

Ich hebe den nackten Automaten hoch, taste den kleinen Körper ab, die schlanken Rippen, die wie die Speichen eines Rades ausstrahlen. Im Inneren der schmalen Brust ist ein komplizierter Mechanismus aus Messing verbaut. Mit dem schlaffen Gewicht in meinen Händen schließe ich kurz die Augen und versuche mir die verlorenen Jahrhunderte auszumalen, die sie auf wundersame Weise überlebt hat.

»Sie ist echt«, widerspreche ich Oleg.

Die Ehrfurcht vor dem Vergangenen ist das, was mich hierhergeleitet hat.

Vor vielen Jahren habe ich mit einem kleinen Messingschlüssel in den schweißnassen Fingern eine verschrammte Munitionskiste aufgeschlossen. Aus dem ölgetränkten Tuch darin wickelte ich ein unglaubliches Artefakt – eine Kriegsbeute, ein zeitloses Geheimnis zwischen meinem Großvater und mir. Dieses Relikt gehörte in eine andere Welt, und verborgen in seinen fraktalen Mustern konnte ich eine epische Geschichte erahnen.

Ich fädelte eine Kette durch die Spitzen des halbmondförmigen Relikts und hängte es mir um den Hals. So begleitete mich das Artefakt, ein vertrautes Gewicht, während ich erst Linguistik studierte, dann Geschichte, Ingenieurwesen und schließlich mittelalterliche Automaten. Ich löste hundert kleine Rätsel; doch das größte baumelte stets über meinem Herzen. Und je mehr ich lernte, desto tiefer versank ich in der geheimnisvollen Vergangenheit, hinabgezogen vom Relikt meines Großvaters.

2

Moskau, 1709

Das Gesicht der Puppe ist das Erste, was ich sehe. Sie ist meine erste Erinnerung und das Letzte, was ich je vergessen werde.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich die Augen aufgeschlagen habe.

Der kerzenhelle Pfad ihrer Wange überstrahlt ein großes Dunkel. Als sie sich regt, werden die Umrisse ihres Gesichts zu einer wellenförmigen Klinge aus Licht. Ihre Haut ist aus festem Porzellan, darüber trägt sie ein Kleid. Sie sitzt über einen hölzernen Arbeitstisch gebeugt und kratzt Zeichen mit einem Federkiel, den sie in den gefrorenen Keramikfingern hält. Ihre schwarzen Augen zielen auf das Papier, ohne etwas wahrzunehmen.

Die Puppenhand bewegt sich vor und zurück, während sie geistlos ihre Botschaft schreibt. Ein Flattern von Zahnrädern unter dem zarten Kragen täuscht einen falschen, mechanischen Puls vor, und doch ist dies der feste Herzschlag meiner Welt; ein ruhiger, beständiger Rhythmus unter dem warmen Wachsgeruch von Kerzen, dem Baldachin der tiefen Holzdecke.

Dann kommt der alte Mann.

Eine amorphe Gestalt zwischen den Schatten, die wie Schlangenzungen an den getäfelten Wänden hochlecken. Dann beugt sich der Hagere über mich und streicht mit langen Fingern über mein Gesicht. Ich drehe leicht den Kopf, um ihn in Augenschein zu nehmen, und blinzle, bis seine Züge schärfer hervortreten: faltige Tränensäcke unter glitzernden Augen, zusammengepresste Lippen, wie eine weiße Linie in dem ergrauten Bart. Jede halbe Sekunde zittern seine Glieder sachte unter dem Schlag seines Herzens in der schmalen Brust.

Ich werde diesen Mann als Favorini kennenlernen. Mein Vater – oder das, was dem am nächsten kommt.

Der alte Mann hält den Atem an, betrachtet mich mit großen Augen.

»Priwjet«, sage ich, und er bricht bewusstlos zusammen.

Ohne nachzudenken, packe ich ihn an der Schulter. Seine Lider flattern, sein Kopf sinkt auf die Brust wie ein schlaffes Segel. Zum ersten Mal sehe ich, was meine Hand sein muss: ein Arrangement von Messingstreben, in geschmeidiges Leder gehüllt. Und da beginne ich erst wirklich zu verstehen, dass auch ich ein Ding in dieser Welt bin. Nicht wie die Puppe, die ein paar Schritte weiter schreibt und dabei dieselbe Überlegtheit an den Tag legt wie Wasser, das sich seinen Weg von einem Berg nach unten ins Tal bahnt. Ich bin durchaus mehr. Aber ebenso wenig bin ich vergleichbar mit diesem ohnmächtigen Mann aus weichem Fleisch.

Auf irgendeine Weise bin ich. Und, das muss ich sagen, ich finde es eigenartig, zu sein.

Die Vorstellung setzt sich in meinem Bewusstsein fest: eine Welt außerhalb von mir, die ich durch Sicht, Gehör, Geruch und andere, intuitivere Sinne wahrnehme. Und irgendwo in meinem Inneren setze ich aus diesen Bildern und Geräuschen die kleinere, simplere Version der wahren, zu komplexen Welt zusammen. Aus dieser kleinen Welt in meinem Kopf heraus treffe ich meine Entscheidungen.

Ich packe meinen Vater also an der Schulter. Der alte Mann sackt zusammen, wird nur noch von meiner Hand gehalten. Sein Kinn fällt auf die Brust, und sein Gesicht verschwindet hinter Strähnen graubraunen Haars.

Ich habe ihn davor bewahrt, in ein scharfes Durcheinander am Boden verstreuter Werkzeuge zu fallen. Dieses Zimmer ist … eine Werkstatt, ohne Fenster, erhellt von einem windschiefen Sammelsurium von Kerzen, die aus jeder Oberfläche wachsen. Gesplitterte Balken unterteilen die Decke in Abschnitte, und das niedrige Zimmer verläuft sich jenseits des Lichts in warmem Dunkel. Verschiedenartige Tische und Werkbänke bilden Grüppchen. Manche sind leer, aber auf den meisten türmen sich Metallteile, Seilstücke, Holzschalen voll unbekannter Substanzen, schmutzige Löffel und allerhand gläserne Phiolen und Schläuche.

Auf irgendeine Weise ist die Kenntnis dessen bereits in mir.

Auch halb fertige Körperteile finden sich verstreut in dem Chaos. Klobige Torsi mit filigranen Zahnrädern darin, gefasst von Fischbeinrippen und durchwuchert von Kautschukvenen. Dieses Zimmer ist mehr als eine Werkstatt … es ist ein Schoß.

Ich richte mich auf der langen Werkbank auf, auf der ich eben zu mir gekommen bin, und lege den alten Mann neben mich auf ein leeres Pult.

In unmittelbarer Nähe nickte diese Puppe geistlos, während ihr kratzender Stift ein steifes Blatt mit Tintenkritzeleien füllt.

Sie und ich sind Familie, das weiß ich.

Meine Gestalt ist die eines Mannes, in perfekten Proportionen gefertigt. Lange goldene Beine, Hunderte von Nieten, auf denen das Licht blitzt. Meine Haut besteht aus Streifen eines gehämmerten graugoldenen Metalls, das auf ein festes Gestell montiert ist. Durch schmale Schlitze am oberen Ende meiner Schenkel kann ich geflochtene Drahtseile erkennen, straff gespannt und um runde Zahnkränze gewickelt.

Wenn ich mich bewege, höre ich das Surren des Uhrwerks aus meinem Inneren.

»Hallo?«, murmelt der alte Mann. »Mein Sohn?«

Die Konsonanten hallen in meinem Bewusstsein nach, verbinden sich zu Worten. Beinahe kann ich mich erinnern, seine Stimme schon früher gehört zu haben. Geflüsterte Lektionen in meinem Schlaf.

Knorrige Finger schließen sich um mein Handgelenk. Schwach kann ich die Hitze in seinen Händen spüren. Ich spüre, er ist voll warmen Blutes, das seinen Körper mit Energie versorgt. Seine Haut, sein Herz sind nicht wie bei mir. Er ist ein menschliches Wesen, und ich bin … etwas anderes.

»Du bist hier«, sagt er, und der Griff um mein Gelenk verstärkt sich. »Woran erinnerst du dich? Wie weit zurück?«

Ich sende meine Gedanken in die Vergangenheit und finde bloß Leere. Kopfschüttelnd entziehe ich dem alten Mann meinen Arm. Einen Augenblick lang wirkt er enttäuscht.

»Wer … wer bist du?«, frage ich.

Meine Stimme dringt tief aus meiner Brust. Dort kann ich eine Gerätschaft spüren, einen Blasebalg, der Wind durch meinen Hals und zwischen meinen Zähnen hindurchpresst. Unter meiner Stimme scheint sich eine Vielzahl anderer Stimmen zu verbergen.

»Giacomo Giuseppe Favorini«, antwortet der alte Mann. »Nenn mich doch Favo. Ich bin der letzte Mechaniker des Zaren Pjotr Alexejewitsch. Praktizierender der alten Kunst der awtomata und Bewahrer der Anima. Nachfolger der großen Alchemisten, die vor Anbeginn der Geschichte kamen und gingen. Und sofern du der Frau des Zaren, Katharina Alexejewna, glaubst, bin ich ein Teufel.«

»Der letzte Mechaniker?«

»Lass mich erklären. Vor zehn Jahren besuchte der Zar heimlich Europa. Die Niederlande, England, Deutschland, Österreich. Er kehrte mit Schiffsbauern, Künstlern und Mechanikern zurück. Einer Gruppe von uns gab er ein spezielles Artefakt – die Anima. Damit sollten wir etwas bauen … dich. Doch die Frau des Zaren sah nie die Verheißung darin. So lange geht das nun schon. Katharina gelang es, die anderen Mechaniker nach Osten ins Exil zu schicken. Ich bin der letzte.«

Der alte Mann gerät ins Stocken, Trauer in seiner Stimme.

»Aber jetzt bist du hier!«, ruft er aus und greift sich einen kleinen Hammer vom Tisch. »Sieh dich nur an! Du sprichst! Kannst du mich sehen? Sag mir, was du siehst!«

»Einen Raum. Einen Mann. Maschinen.«

Etwas Wissen über diese Welt ist bereits in mir abgelegt, in Worten, die sich mir enthüllen, sobald ich nach ihnen suche. Doch spüre ich auch schon, dass es noch viel, viel mehr zu lernen gibt.

»Ganz präzise«, gibt Favorini zurück, klopft leise meine Brust ab und lauscht. »Die alten Schriften hatten recht. Die Anima funktioniert …«

Diese Worte verwirren mich. Ich balle meine Fäuste, die Hände wie Panzerhandschuhe, und reibe das harte Metall meiner Finger aneinander. Ich drücke so fest, wie ich kann, bis es die Getriebe in meinen Händen zu sehr strapaziert und ich es nicht länger aushalte. Ich schwinge meine Beine über den Rand der Werkbank, und meine hölzernen Absätze kratzen über den Boden.

Als ich aufstehe, streift mein Scheitel fast die Decke.

Favo huscht davon ins Dunkel. Kurz darauf kehrt er zurück, die Arme um eine hohe goldfarbene Platte geschlungen. Die polierte Bronze protestiert, als er sie über den Holzboden schleift, ihre Oberfläche glänzt im Kerzenschein. Dann hält er sie hoch, dreht die Platte mir entgegen, stützt sich darauf und sieht mich an.

»Schau dich an«, flüstert er.

Ich sehe jede meiner Bewegungen lebensecht in der glänzenden Platte gespiegelt. Ich bin schlank und groß – sehr groß. Mein Gesicht ist glatt, mit einem Grübchen im Kinn und scharfen, raubtierhaften Augen über einer geraden Nase. Umrahmt von braunen Locken gleicht mein Gesicht nur vage dem eines Menschen. Meine Unterlippe ist schief, wirkt leicht entstellt. Ich trage keine Kleidung. Stattdessen sind meine Brust und meine Arme von mehreren Lagen gehämmerter Metallbänder überzogen. Darunter, sauber eingepasst, entdecke ich vereinzelt feste Lederstücke. Ein Blitzen sucht die Tiefen meiner braunen Augen heim, und ich verstehe nun die Ehrfurcht in Favos Stimme.

»Mein Sohn?«, fragt er.

»Ja«, antworte ich.

»Was ist das Erste?«, will er wissen.

»Das Erste?«

Abermals balle ich die Fäuste, fühle die unbeugsame Kraft in meinen Metallknochen. Ich bin so viel größer als dieser kleine alte Mann.

»Ja«, flüstert er. »In deinem Bewusstsein – greife hinein und sag mir das Erste. Das erste Wort, das du je kanntest. Was ist dein Wort, mein Sohn?«

Ich spüre die harte Ehrlichkeit, die den Grenzen meines Körpers, dem festen Druck meines Fleisches und der geballten Stärke meines Griffs innewohnt. Dann durchdringe ich auf der Suche nach einer Antwort auf Favos Frage meinen Verstand und stoße auf ein weiteres Prinzip, noch unumstößlicher und stärker als das meines Körpers. Dies ist der Grund meiner Existenz – die überragende Bestimmung, die in den Fels meines Geistes gemeißelt ist.

Es gibt ein Wort für die Gestalt meines Lebens.

Ich richte meine Augen auf den alten Mann, und mit einem Kratzen meiner ledrigen Lippen spreche ich das Wort zum ersten Mal laut aus.

»Prawda«, sage ich. »Ich bin die Einheit von Wahrheit und Gerechtigkeit.«

3

Oregon, Gegenwart

Während ich weiterarbeite, wird mir klar, wie sehr es mich ärgert, dass Oleg den Hofautomaten rundweg als einfaches Spielzeug abtut. Ich weiß, dass es nichts nutzt, ihm Vorträge zu halten – der Mann hat so viel Fantasie wie ein Felsbrocken –, doch ein Teil von mir will ihn überzeugen, um wirklich jedem zu beweisen, dass dieses kleine Mädchen etwas Besonderes ist.

»Also gut, Oleg, wir haben keine verlässlichen Dokumente über die frühesten Automaten.« Ich lege die schwere Kamera auf den Tisch und inspiziere das Innenleben der Maschine mit meiner Stiftlampe. »Das bedeutet aber nicht, dass die Legenden nicht stimmen.«

Oleg gibt ein unbestimmtes Grunzen von sich.

»Albertus Magnus – ein Dominikaner, der im dreizehnten Jahrhundert lebte. Es gibt Augenzeugenberichte, dass er einen sprechenden Messingmann baute. Thomas von Aquin soll diese Schöpfung persönlich mit einem Hammer zerstört haben, weil sie für ihn einer Schmähung Gottes gleichkam.«

»Wo er recht hat …«, meint Oleg. »Wir sind Gottes Schöpfung. Man kann uns nicht nachbauen.«

Draußen wird der Regen immer stärker. Ferne, grollende Donnerschläge lassen die Bleiglasfenster erbeben.

»Ein weitverbreiteter Standpunkt«, erwidere ich. »Deshalb suchen die Altgläubigen nach diesen Automaten. Sie glauben, dass unsere Körper die Häuser unserer Seelen sind und dass Artefakte wie diese eine bedeutsame Frage aufwerfen.«

Die Puppe liegt nun auf ihrem Gesicht. Da entdecke ich eine Abschürfung auf ihrer winzigen Porzellanhand. Ich drehe ihr schmales Gelenk zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Welche Frage?«, will Oleg wissen.

»Wenn wir ebenfalls Häuser bauten, würde Gott ihnen eine Seele geben?«

Ein Blitz fährt draußen nieder und macht für einen Moment eine Furche entlang des Puppengelenks sichtbar.

Und ich begreife: Dieses Gerät war dazu gedacht, etwas zu schreiben. Die abgewetzte Stelle muss die Auflage eines Schreibwerkzeugs gewesen sein. Durch meine dünnen Handschuhe spüre ich die Erhöhung, an der einst vielleicht ein Federkiel befestigt war. Die vielen makellosen Messingräder hatten einen Zweck. Im Grunde wurde dieser Automat entwickelt, um auf täuschend simple Weise eine Botschaft zu teilen – indem er sie buchstäblich niederschrieb.

»Gott gibt uns allen eine Bestimmung, Oleg.« Ich schenke ihm ein Lächeln. »Finden wir heraus, welche die ihre war.«

Konzentriert arbeite ich mich durch die Anatomie der Puppe. Die Logik, die ihr zugrunde liegt, ist zeitlos, fühlt sich für mich wie die Verbindung zu einem anderen Bewusstsein aus einer anderen Zeit an. Erst als ich jeden ihrer Teile nachfahre, bemerke ich eine Unvollkommenheit. Wie ein schwarzes Loch – sichtbar nur durch die umliegenden Sterne, die es beeinflusst – mündet die Konstruktion der Puppe in einer Leerstelle. Etwas Zentrales fehlt.

Ein Loch füllt die Stelle ihres Herzens aus.

Mit dem plötzlichen Adrenalinschub schießt mir Hitze in die Wangen, und ich stoße die Stiftlampe tiefer in das Loch. Das Räderwerk ist unberührt, kein Teil der Maschinerie beschädigt. Und doch kündet diese Lücke davon, dass hier etwas Wichtiges aus dem Puppenkörper gerissen wurde. Ich werfe die Lampe auf den Tisch und lasse die Schultern hängen.

So viele Jahre schaue ich nun schon in die Vergangenheit, suche nach dem Gefühl von Ehrfurcht, das ich als Kind empfand. Doch jedes Mal, wenn ich kurz davorstehe, diesen Funken einzufangen, entwischt er mir wieder. Ein Artefakt auf ein Regal zu stellen reicht mir nicht. Ich muss es zum Funktionieren kriegen – etwas Verlorenes zu etwas Gefundenem machen. Ich möchte sehen, was Menschen vor fünfhundert Jahren sahen, und dasselbe Gefühl des Staunens erleben.

Vielleicht bin ich einfach etwas zu spät geboren.

Erneut fällt mein Blick auf die Puppe, ihr im Lampenschein erstrahlendes Gesicht. Ich richte mich auf und rutsche näher heran. Meine Finger schließen sich um den Tastkopf, ich dringe abermals in ihren Körper ein und untersuche den Hohlraum.

»Verdammt«, flüstere ich.

Ein paar helle Scharten überziehen das Metall. Die Beschädigungen sind nicht oxidiert, von daher muss man sie erst kürzlich verursacht haben. Ich drehe die Puppe herum. Unbeirrt lächelt sie zu mir auf. Ihre Wangen und geschürzten Lippen haben einen blassroten Glanz. Doch was immer sie einst antrieb, ist verschwunden. Jemand ist gekommen und hat ihr das Herz herausgeschnitten. Meine Gedanken wandern zu jenem eigenartigen Wort, das der Altgläubige gebraucht hat: Wölfe.

Ich lege Tastkopf und Stiftlampe auf den Tisch.

»Sie ist nicht mehr im ursprünglichen Zustand«, erkläre ich dem Raum. »Jemand hat sie beschädigt.«

Der Altgläubige in der Tür stimmt ein leises Gebet an.

Seine Glaubensbrüder würden niemals ihr eigenes Artefakt verstümmeln. Diese Gemeinde zog vor über hundert Jahren aus Brasilien hierher, zusammen mit ihren seltenen Büchern und Schätzen. In letzter Zeit haben die Altgläubigen begonnen, ihre Sammlung zu digitalisieren, statt sie immer wieder aufs Neue abzuschreiben. Doch die Gegenstände in diesem Alkoven sind der Kirche noch genauso teuer wie vor dreihundert Jahren.

Der Altgläubige steht im Eingang, die Augen in den Schatten über seinem Bart verloren. Er scheint mich gar nicht mehr wahrzunehmen; sein Bart zuckt, die Lippen beben, doch sein Gemurmel wird von dem dicken Teppich und den Vorhängen, von den vom Boden bis zur Decke gestapelten Büchern verschluckt.

»Wer ist hier gewesen?«, frage ich ihn. »Wer kann das getan haben?«

Ein ferner Blitz erhellt den Himmel draußen. Die Fenster erzittern in ihren Rahmen, als der Donner durch die Wälder grollt.

Ich schließe meine Hände und atme tief durch.

»Miss June?«, erkundigt Oleg sich. »Ist alles in Ordnung?«

Der kleine Mann betrachtet mich nervös. Seine blassen Lippen entblößen nikotingelbe Zähne, als sie versuchen, mich aufzumuntern. Ich streiche mir eine verirrte Strähne hinters Ohr und hebe die Puppe hoch, um Oleg das klaffende Loch in ihrem Rücken zu zeigen.

»Fragen Sie ihn, ob dieser Schaden hier neu ist.« Ich schaue über seine Schulter zu dem Altgläubigen, der hin und her wiegend im Gebet versunken ist.

»Hey? Ist das neu?«, rufe ich ihm zu.

Der Altgläubige kommt einen Schritt näher.

»Wer hat das getan?«, frage ich. »War außer uns noch jemand hier?«

Die Augen des Mannes weiten sich über dem buschigen Bart.

»Njet«, sagt er kopfschüttelnd. »Njet, njet, njet.«

Er bedeckt mit einer Hand das Gesicht und bekreuzigt sich mit der anderen. Dann hastet er zu der Reihe hoher Fenster und rüttelt an den Messingstangen, die sie öffnen, vergewissert sich, dass die Fenster verschlossen sind. Regentropfen schlagen wie dicke Motten gegen die Scheiben. Es ist das einzige Geräusch in dem vor scharfem Ozongeruch stickigen Raum.

»Das ist nicht gut«, sagt Oleg. »Er weiß es nicht.«

»Holen Sie mir bitte meine große Tasche aus der Kirche.«

Mit einem zweifelnden Blick wendet er sich ab und geht.

Ich entnehme meiner Werkzeugrolle eine zierliche medizinische Kopfleuchte und ziehe sie mir gerade auf die Stirn, als Oleg wieder hereingetrampelt kommt. Er wirft mir die schwere schwarze Tasche vor die Füße, auf der das Logo der Kunlun Foundation prangt.

»Was immer Sie tun, Sie beeilen sich besser«, erklärt er. »Die da draußen sind … aufgebracht.«

Der Altgläubige hat die Kontrolle der Fenster beendet und greift nun nach Oleg, beschwert sich eindringlich auf Slawisch bei ihm. Beide gestikulieren, streiten in lautem Getuschel.

Das Loch im Brustraum der Puppe hat gezackte Ränder. Wer immer das getan hat, war eindeutig nur an diesem einen Teil interessiert. Ich zwänge einen Spreizer zwischen die Rippen und betätige den Griff, bis das Innere besser bloßgelegt ist. Die Maschinerie wirkt intakt, hat die Jahrhunderte gut überstanden. Das fehlende Teil muss den Rest des Automaten mit Energie versorgt haben.

Doch es gibt Wege, einen Motor zu ersetzen.

Ohne mich um die streitenden Männer zu kümmern, ziehe ich drei Plastikbehältnisse aus der Tasche, öffne sie und platziere drei kompakte, batteriebetriebene Werkzeuge auf dem breiten Tisch: einen Stab, einen 3-D-Drucker und einen Akkubohrer.

Die Kunlun Foundation hat diese teuren Gerätschaften zwar finanziert – aber sie hätte sicher nie erwartet, dass ich sie auf diese Weise einsetze.

Ich greife mir das stabförmige Gerät und entferne mit einem Fingerschnippen die Schutzkappe von seiner roten Spitze. Dann klappe ich mir zwei Linsen über die Augen und betätige die Stirnleuchte. Die Landschaft innerhalb der Automatenbrust springt mich an, jedes Detail vergrößert und hell.

Die Sonde dringt in das Loch im Rücken der Puppe vor. Durch meine Linsen betrachtet, wirkt sie so groß wie ein Kran. Sie gibt ein aufgeregtes Klicken von sich, fast wie ein ausschlagender Geigerzähler, bis ein gleichmäßiges Prasseln mir anzeigt, dass sie eine geeignete Stelle zum Scannen gefunden hat.

Ich schließe kurz die Augen und betätige mit dem Daumen den Schalter. Der Laser des Abstandsmessers an der Sondenspitze erwacht zum Leben und flutet den Innenraum der Puppenbrust mit unsichtbarem Licht. Es dauert bloß eine Millisekunde, dann setze ich die Stirnlampe ab und entnehme dem Stab den USB-Stick an seinem Ende.

Oleg tippt mir auf die Schulter. »Okay. Zeit, zu gehen.«

Mit einem finsteren Blick schüttle ich seine Hand ab und schiebe den Stick in den tragbaren 3-D-Drucker. Ich berühre das kastenförmige Gehäuse. Die sich erwärmende Oberfläche verrät mir, dass der Apparat bereits arbeitet.

»Eine Minute noch«, sage ich zu Oleg. Über seine Schulter hinweg füge ich hinzu: »Ich packe zusammen, in Ordnung? Ich gehe! Ich beende meine Arbeit mithilfe der Aufnahmen.«

Mit dem passenden Verbindungsstück kann ich das Zahnradsystem im Inneren des Automaten ansprechen. Trotz der entfernten Energiequelle lässt sich dieses kleine Mädchen aktivieren. Es wurde vor der Entdeckung der Elektrizität erschaffen. Also sind seine Gliedmaßen auf mechanische Energie angewiesen – so wie ein gutes altes Uhrwerk auf seine gespannte Feder reagiert.

Oder ein Bohrer auf seinen Motor.

Der Drucker spuckt einen zahnradförmigen Bohrkopf aus. Ich reibe das Plastikteil zwischen den Fingern, um es von Rückständen zu befreien. Als ich daraufpuste, wirbelt der Abrieb wie Pappelsamen davon.

Der Altgläubige rauscht aus dem Raum.

»Jetzt«, beharrt Oleg. »Wir müssen jetzt gehen!«

»Moment noch.«

Oleg flucht in einer Sprache, die ich nicht verstehe.

Ich nehme den Akkubohrer, ein schwarzes, futuristisches Stück Technologie, das glatt und ölig und schwer in meiner Hand liegt. Mit einer leichten Drehung meines Handgelenks lässt sich der frisch gedruckte Bohrkopf darauf montieren. Ich schalte ihn an. Der Bohrer gibt ein Knirschen und Summen von sich und dreht das filigrane Artefakt ruhig um seine Achse. Vor dreihundert Jahren muss es Monate gedauert haben, dieses Stück von Hand zu feilen. Und ich habe es binnen dreißig Sekunden mit einem Gerät reproduziert, das erst seit einem Vierteljahr auf dem Markt ist.

Es ist an der Zeit, diesem kleinen Mädchen von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, Wölfe hin oder her.

Ein Zittern fährt durch die Luft des Alkovens, als die Tür aufgerissen wird.

Der Altgläubige ist mit einem anderen, noch älteren Mann an seiner Seite zurückgekehrt. Beide reden wie Maschinengewehre auf mich ein, erheben immer mehr die Stimmen. Oleg springt auf, um sie zu besänftigen. Doch ich widme ihnen keine Aufmerksamkeit. Ich bin allein mit ihr beschäftigt, arbeite mich durch jedes Rad und jede Stange. Spüre die uralten Fingerabdrücke auf ihr.

Vertieft in die Komplexität der Puppe, frage ich mich nicht zum ersten Mal, weshalb Menschen davon ausgehen, dass uns die fortschrittlichsten Technologien erst noch bevorstehen. Zweihunderttausend Jahre menschlicher Geschichte lauern in den Schatten hinter uns; ungeahntes Wissen, gewonnen und wieder verloren. Um eines Tages, nur vielleicht, wiedergewonnen zu werden.

Mit einem Klicken rastet der Bohrkopf ein.

Ich halte den Bohrer fest und richte die Puppe in eine sitzende Position auf. Ihr skelettartiger Arm ragt vor wie ein toter Zweig, die Porzellanfinger, einer Kneifzange gleich, sind geschlossen. Mit meiner freien Hand ziehe ich mein Haargummi heraus und wickle es um ihre schmalen Finger, stecke einen Stift dazwischen. Dann klatsche ich ein Blatt Papier vor ihr auf den Tisch.

»Los geht’s«, flüstere ich.