KAPITEL 1
LONDON, GEGENWART
Abby Gordon sah auf die sepiafarbene Landkarte hinunter, die ausgebreitet auf dem Eichentisch lag, und seufzte. Interessierte es eigentlich irgendwen, wo Samarkand lag?, dachte sie trotzig. Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, die Landkarte zu einem Ball zusammenzuknüllen und sie in den Verbrennungsofen zu werfen. Sie malte sich aus, wie die Karte Feuer fangen, auflodern und schließlich verbrennen würde. Kopfschüttelnd sah sie sich um und fragte sich, ob irgendjemand bemerkt hatte, dass sie rot wurde. Nein, auf der anderen Seite der Glastür befand sich lediglich der sympathische Mr Bramley, ein älterer Wissenschaftler. Er saß tief über seine Forschungsarbeiten gebeugt.
Mr Bramley zumindest war das Schicksal der Landkarte nicht egal. Mr Bramley würde wahrscheinlich sogar in den Verbrennungsofen springen, um sie zu retten.
Reiß dich zusammen, Abby, schalt sie sich, als sie sich vorstellte, wie Mr Bramley in Flammen stand.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte ihr die Arbeit als Archivarin am Royal Cartography Institute noch großen Spaß gemacht. Natürlich war es nicht die Tate Modern oder das Courtauld Institute. Sie verbrachte ihre Tage nicht damit, unbezahlbare Gemälde zu katalogisieren wie manche ihrer Freundinnen, mit denen sie Kunstgeschichte studiert hatte. Sie arbeitete auch nicht für eine angesagte Galerie oder ein renommiertes Auktionshaus oder als Assistentin eines berühmten Fotografen. Dennoch war das Institut keineswegs unbekannt: Landkarten-Freaks und Geografieliebhaber aus aller Welt sprachen nur mit höchster Erfurcht vom Archiv des RCI. Abby selbst gehörte zwar nicht zu dieser Spezies, doch sie freute sich jedes Mal wie eine Schneekönigin über die Schätze, die sie inmitten des ganzen Krimskrams zutage förderte. Da waren zunächst die Landkarten, und zwar Tausende davon, die in klimatisierten (beziehungsweise, wenn man keine Strumpfhose trug, eiskalten) begehbaren Schränken aufbewahrt wurden. Dann gab es die Atlanten, manche davon gewöhnlich, andere äußerst selten und wertvoll, darunter auch ein Atlas aus dem Besitz von Marie Antoinette, ein schwerer ledergebundener Band, den niemand – nicht einmal ihr Chef Stephen – anfassen durfte. Und dann gab es noch die Artefakte – ein alter Stiefel, eine Sauerstoffflasche, ein stumpf gewordener Messingkompass –, die größtenteils wahllos in die Pappkartons neben Abbys Schreibtisch gestopft worden waren. Oberflächlich betrachtet handelte es sich dabei lediglich um Überreste längst vergessener Expeditionen. Doch hinter jedem einzelnen dieser Gegenstände verbarg sich eine Geschichte: der Kompass des Polarforschers Captain Scott, der Tropenhelm des Afrikareisenden Henry Morton Stanley, ein Eispickel vom Erstbesteigungsversuch des Mount Everest.
Obwohl die Einrichtung auf Landkarten spezialisiert war, bestand der Großteil der Sammlung überraschenderweise aus Fotografien. Aus Hunderttausenden Negativen und Dias, die seit der Erfindung der Kamera von jeder Expedition gesammelt worden waren. Allerdings hatten die meisten von ihnen noch nie ihre Kisten verlassen, und genau aus diesem Grund war Abby vor achtzehn Monaten eingestellt worden: Sie sollte sie katalogisieren und dann hoffentlich ans Tageslicht holen, eine wahre Mammutaufgabe.
Sie holte tief Luft, rollte die Landkarte auf und schob sie vorsichtig in die dazugehörige Rolle, froh, dass sie zumindest einen Punkt auf ihrer heutigen To-do-Liste abhaken konnte.
Russische Steppen, gedruckt und handkoloriert, circa 1789, Morgan Johnson. Abby wusste, dass die Karte Tausende Pfund wert war, falls sie jemals versteigert werden würde. Nicht dass sie das tatsächlich würde. Stattdessen versauerte sie hier im staubigen Keller des Royal Cartography Institute, achtlos in ein Regal geschoben, geduldig darauf wartend, dass jemand sich für sie interessieren würde.
Tja, wie sich das anfühlte, wusste sie nur zu gut.
Da klingelte das Telefon.
»Hallo, hier ist das Archiv«, meldete sich Abby mit ihrer schönsten Telefonstimme. »Hallo?«
Zunächst waren nur ein tiefer Atemzug, gedämpftes Stimmengewirr und Lachen im Hintergrund zu hören. Instinktiv wusste sie, dass es ihr Chef war, der sich von einer ausgedehnten Mittagspause zurückmeldete.
»Abigail, ich bin’s, Stephen. Kannst du mich hören?«
Abby musste gegen ihren Willen lächeln. Stephen Carter, der Leiter des RCI-Archivs, war stets heillos überfordert, wenn es ums Telefonieren ging. Er stellte sich an wie ein viktorianischer Gentleman, der zum ersten Mal in seinem Leben einen dieser fürchterlichen neumodischen Apparate benutzen musste.
»Wie läuft es bei dir? Alles klar so weit?«
Abby sah an dem Kistenstapel empor, der sich vor ihr auftürmte und bedrohlich schwankte.
»Nichts, was ich nicht bewältigen könnte.«
»Sehr gut, sehr gut«, rief er übertrieben enthusiastisch aus. »Äh, eigentlich wollte ich dir nur kurz Bescheid geben, dass ich nicht weiß, ob ich es heute Nachmittag noch mal ins Büro schaffe; du weißt ja, wie solche Meetings laufen.«
Das wusste sie in der Tat. Stephen lallte bereits leicht.
»Aber dafür habe ich gute Nachrichten«, fuhr er fort. »Christine hat hochinteressante Informationen über die Ausstellung. Ich kann es kaum erwarten, dir davon zu erzählen.«
Heute war Stephens monatliches Mittagessen mit Christine Vey, der Leiterin der Sammlungen, eine aufgeblasene Wichtigtuerin, der rein gar nichts am RCI, dafür aber umso mehr an ihrer Karriere lag. Christines Pläne erfüllten Abby stets mit Unbehagen; für die Leute am Institut verhießen sie selten etwas Gutes.
»Irgendetwas, was ich wissen sollte?«, erkundigte sie sich.
»Wir reden morgen darüber«, sagte Stephen. »Das Beste wäre wohl, wir würden eine Lagebesprechung zum aktuellen Stand der Dinge abhalten. Christine will einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die neuesten Entwicklungen. Sie hat mit der Ausstellung ein ziemliches Risiko auf sich genommen, wir dürfen sie also auf keinen Fall enttäuschen. Haben wir uns verstanden?«
»Natürlich«, murmelte Abby und tippte nebenher schnell eine E-Mail an ihre drei besten Freundinnen Anna, Ginny und Suze, um zu fragen, ob es bei ihrer Verabredung heute Abend bleiben würde.
»Als Allererstes werden wir morgen die endgültige Bildauswahl durchgehen, danach kannst du die Dias und Negative rüber ins Labor bringen«, erläuterte Stephen weiter. Er sprach sehr hastig, offenbar wollte er das Gespräch rasch beenden.
»Ich muss jetzt Schluss machen. Ach, und könntest du die Morgan-Landkarte von 1789 für Mr Bramley rauslegen? Du weißt ja, wie penibel er ist.«
»Schon passiert«, erwiderte sie und sah im selben Moment, dass Suze bereits zurückgemailt hatte.
Ja, klar, wir sehen uns gleich in der Bar. Schön, dass Du Dich besser fühlst.
»Ausgezeichnet, Abigail, du bist ein Schatz.«
Und dann hatte er auch schon aufgelegt.
Abby legte das Telefon zurück auf die Station und sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal halb fünf. Eine Ewigkeit bis zum Feierabend, selbst wenn Stephen nicht noch einmal zurück ins Büro kommen würde.
Aber sie musste sich ohnehin noch auf die Lagebesprechung vorbereiten. Stephen Carter war an sich kein schlechter Chef, aber er war ein Pedant und außerdem sehr darum bemüht, es seinen Vorgesetzten recht zu machen, und da sie – dank ihres befristeten Vertrags – streng genommen nur eine Zeitarbeitskraft war, würde sie als Sündenbock für sämtliche Pannen, Fehlschläge oder Ungereimtheiten im Archiv herhalten müssen.
Und im Moment war sie vollkommen auf sich allein gestellt, sie musste ohne das Sicherheitsnetz einer Familie oder eines Partners auskommen. Deshalb wollte sie sich gar nicht ausmalen, welche Konsequenzen es hätte, wenn sie ihren Job verlöre.
Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, doch sie bemühte sich, ihre Gefühle zu unterdrücken, während sie sich in das Fotoarchiv begab: lange Reihen kriegsschiffgrauer Metallregale, in denen Dutzende Archivkisten voller Negative, Diapositive und Abzüge lagerten.
Sie schritt die Regalreihen ab und strich dabei mit dem Finger über die Kisten. Eigentlich mochte sie diesen Teil ihrer Arbeit am liebsten. Für Landkarten konnte sie sich nicht allzu sehr begeistern: Wie konnte irgendjemand angesichts eines schlecht gezeichneten Umrisses der Grafschaft Lancashire ins Schwärmen geraten? Mit den Fotografien jedoch war das anders. Sie hatten etwas Magisches an sich. Sie waren intime, persönliche Zeugnisse einer Zeit, in der die Welt noch nicht vollständig erforscht gewesen war, aufgenommen von den wenigen Menschen, die sich hinausgewagt hatten in die noch unbekannte Wildnis. Abby holte eine Kiste herunter und nahm dann auf einem Bürostuhl Platz. Grob gesagt bestand ihre Arbeit darin, die Sammlung zu katalogisieren, also zu vermerken, was die einzelnen Kisten enthielten: Expedition, Jahr, Erdteil, Namen, erreichte Ziele und dergleichen, sodass die Angaben im Computer erfasst und mit Querverweisen versehen werden konnten.
Doch daneben hatte sie noch eine weitere Aufgabe: Sie sollte die Geister der Vergangenheit für das Institut lebendig werden lassen. Das war der eigentliche Grund für ihre Anstellung gewesen: Sie sollte Ausstellungen kuratieren, um all diese lang vergessenen Dias der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ihre erste Ausstellung sollte anlässlich der Zweihundertjahrfeier des Instituts in drei Wochen stattfinden; allerdings hatte Abby leichte Zweifel, ob sie tatsächlich schon so weit waren. Die Zusammenstellung der Bilder war einfach gewesen. Der Titel der Ausstellung lautete Die großen britischen Forschungsreisenden, und sie hatte aus einer Vielzahl spektakulärer Expeditionen auswählen können: Besteigungen des Mount Everest und des K2, Polarreisen und sogar Livingstones Suche nach den Nilquellen. Doch irgendetwas fehlte noch, eine Leerstelle im Herzen der Ausstellung, etwas, was sie zwar nicht genau benennen konnte, von dem sie aber hoffte, dass sie es erkennen würde, sobald sie darauf stieß.
Sie holte tief Luft, zog eine schmale Kiste heraus und öffnete sie. Darin befand sich eine Auswahl an Dias. Sie nahm das erste heraus und hielt es gegen das Licht: eine Gruppe winziger Gestalten, die angesichts des verschneiten Gipfels im Hintergrund wie Zwerge wirkten. Sie hielt das nächste hoch: eine Halbnahaufnahme eines Teams von Trägern, die den unsichtbaren Fotografen angrinsten. Sie drehte die Kiste auf die Seite; sie war beschriftet mit Mortimer-Expedition, Nepal, 1948. Dann rollte sie ihren Stuhl hinüber zu der Leuchtplatte, schaltete sie ein und griff nach einer Dialupe, einer Art Vergrößerungsglas, durch das hindurch man das Bild betrachten konnte, als wäre es ein normaler Abzug.
Das scharf umrissene Schwarzweißbild der zerklüfteten Himalaya-Gipfel war eindrucksvoll, doch im Grunde unterschied es sich kaum von den Dutzenden anderer atemberaubender Bilder, die sie bereits von verschneiten abgelegenen Gegenden zusammengetragen hatte. Und genau das war das Problem: Die ganze Ausstellung wirkte sehr verschneit, sehr hügelig, sehr weiß. Sehr eintönig.
Sie blies die Backen auf und wünschte sich, sie dürfte eine Tasse Tee in das Fotoarchiv mitbringen. Doch das war in den beengten Räumlichkeiten, die Abby immer an alte U-Boot-Filme erinnerten, streng verboten.
Schade nur, dass die durchtrainierten Matrosen fehlen, dachte sie grimmig.
Einen Augenblick lang bereute sie es, in einer derart dunklen und abgeschotteten Umgebung zu arbeiten. Ihre Freundinnen hatten sie allesamt für verrückt erklärt, als sie ihre Vollzeitstelle aufgegeben hatte. Doch sie kannten ja auch nicht den wahren Grund für ihre Kündigung. Sie wussten nicht, weshalb sie ihre Festanstellung im V&A, dem berühmten Victoria & Albert Museum, für eine Stelle als freie Mitarbeiterin am RCI aufgegeben hatte.
Denn Abby und Nick Gordon hatten mit niemandem über ihre vergeblichen Bemühungen, ein Kind zu bekommen, gesprochen. Obwohl sie als erstes Paar in ihrem Freundeskreis geheiratet hatten, wurden sie nie gefragt, ob sie an Nachwuchs dachten. Sie waren Mitte dreißig, lebten in London, amüsierten sich und gaben beruflich Vollgas. Außerdem war es ein Tabuthema, eine äußerst private Angelegenheit. Man fragte nicht nach, wenn man vermutete, dass ein befreundetes Paar mit Fruchtbarkeitsproblemen zu kämpfen hatte. Nicht, wenn sie nicht von sich aus darüber sprechen wollten.
Abby und Nick waren vor den Schwierigkeiten einer künstlichen Befruchtung gewarnt worden. Doch sie hätte nicht gedacht, dass es sie körperlich und auch emotional derart belasten würde. Sie hatte ihren Arbeitsplatz aufgegeben und die flexiblere Stelle am Institut angenommen. Und trotzdem war kein Baby gekommen. Und dann gab es auf einmal auch keinen Mann mehr.
Sie zog eine weitere Kiste heraus, diesmal mit Schwarzweißabzügen. Peru, Amazonas, lautete die Beschriftung, 1961.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren und die ungebetenen Erinnerungen an Nick zu verdrängen.
Nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte, nahm sie die Fotos aus der Schachtel, balancierte den Stapel auf ihren Oberschenkeln und blätterte ihn aufmerksam durch.
Auf dem ersten Bild, einer Weitwinkelaufnahme eines langgezogenen Tals mit üppiger Regenwaldvegetation, war ein Mann zu sehen, der sich um mehrere Maultiere kümmerte. Das zweite Foto war eine hübsche Nahaufnahme von einem Kolibri, das dritte zeigte eine Schar von Trägern mit zerfurchten, von der Sonne gegerbten Gesichtern. Sie schleppten riesige Körbe.
Immerhin liegt zur Abwechslung mal kein Schnee, dachte sie. Sie ahnte, dass sie in dieser Kiste etwas Nützliches finden würde.
Sie ging die anderen Bilder durch, bis eine Fotografie sie innehalten ließ. Ein Bild von einem Mann und einer Frau, nur Zentimeter voneinander entfernt. Seine Hand ruhte auf ihrer Wange und sie hatte in einer zärtlichen Abschiedsgeste die Handfläche darüber gelegt. Abby stockte der Atem. Das Bild war wunderschön, geradezu ergreifend, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum. Die Situation an sich war nicht besonders ungewöhnlich, eine Szene, wie man sie tagtäglich auf Bahnhöfen und Flughäfen beobachten konnte.
Doch dieses Foto war anders: Es lag Anspannung, Herzschmerz darin. Die Frau wirkte aufgelöst, verzweifelt. Aber weshalb? Wer war dieser Mann? Und wer war die Frau, die ihn liebte?
Sie drehte das Bild um und las die Beschriftung auf der Rückseite: Blake-Expedition, Peru, August 1961.
Aus den übrigen Fotografien konnte sie schließen, dass er in den Dschungel gereist war. Hatte sie ihn angefleht, zu bleiben? Und war er trotzdem fortgegangen? Sie fragte sich, wie alt dieses Liebespaar inzwischen sein mochte, ob sie beide noch am Leben und immer noch ein Paar waren.
Ihr Blick fiel wieder auf das Bild. Verdammt, es war wirklich gut. Sie wusste auf Anhieb, dass es sich perfekt für die Ausstellung eignen würde. Atemberaubende und dramatische Aufnahmen hatte sie inzwischen schon zur Genüge: winzige Gestalten, die eine Felswand erklommen, Schiffe, die mit dicken Eiszapfen behangen zwischen Eisschollen feststeckten. Aber das hier? Das hier war anders. Das Foto barg Emotionen, es vermittelte einem das Gefühl, dass es bei Forschungsreisen um mehr ging als lediglich darum, aufzubrechen und fortzugehen. Es verankerte die heldenhafte Tat in der Wirklichkeit und brachte einen zum Nachdenken: Was wäre, wenn ich fortgehen würde? Wie würde ich mich fühlen? Und was würde ich empfinden, wenn ich diejenige wäre, die zurückbleibt? Die Fotografie sprach deutlich von der Macht der Liebe und der Angst vor dem Verlust.
Sie merkte erst, dass sie weinte, als eine dicke Träne auf die Leuchtplatte tropfte.
Mensch, Abby, du kannst doch nicht die unbezahlbaren Artefakte vollheulen, schalt sie sich und eilte aus dem Fotoarchiv, um ein Taschentuch zu holen.
»Abigail? Geht es Ihnen gut?«
Als sie sich umdrehte, stand Mr Bramley vor ihr und musterte sie besorgt. Christopher Bramley zählte zu den treuesten Mitgliedern des Instituts: Er kam häufig hinunter ins Archiv, um zusätzliche Materialien für seine Forschungsarbeit anzufordern. Ein weißhaariger, gebeugter und eher wortkarger Mann, der normalerweise nur sprach, wenn er irgendein Dokument oder eine Landkarte benötigte.
»Ja, danke, es ist alles in Ordnung«, erwiderte Abby schnell und rieb sich die feuchten Augen.
Der alte Mann hob die Brauen. »Das hoffe ich sehr«, meinte er freundlich.
Sie fragte sich, wie viel er über sie und ihr Leben wusste. Ob er davon gehört hatte.
»Bitte sehr. Das sind die Landkarten, die Sie angefordert hatten«, sagte sie etwas heiterer.
»Ich glaube, ich bin für heute Ihr letzter Kunde. Im Institut ist kaum noch jemand«, bemerkte er lächelnd, während er in seinen Taschen wühlte und ein Taschentuch zutage förderte. Er reichte es ihr. »Ich bin sicher, Mr Carter hätte nichts dagegen, wenn Sie heute ein bisschen eher Schluss machen.«
Sie beschloss, genau das zu tun, und kehrte in das Fotoarchiv zurück, um ihre Sachen zusammenzupacken.
Die Aufnahme von der Blake-Expedition steckte sie in einen kartonierten Umschlag. Sie wollte Stephen gleich morgen dazu befragen, schließlich arbeitete er schon seit über zehn Jahren am RCI und besaß ein enzyklopädisches Wissen über jeden Forschungsreisenden und Kartografen der letzten dreihundert Jahre.
Dann schaltete sie die Lichter aus, sah nach, ob alles abgeschlossen war, und zog sich ihre Jacke an.
»Sehe ich Sie morgen wieder, Mr Bramley?«, fragte sie, während sie sich ihre Tasche über die Schulter schwang und den Lesesaal durchquerte.
»Sollte mich nicht wundern«, gab der alte Mann zurück. »Gehen Sie noch aus?«
»Ja, ich gehe mit ein paar Freundinnen was trinken.«
Er lächelte. »Dann amüsieren Sie sich schön, Abigail. Sie haben es sich verdient.«
Sie erwiderte sein Lächeln. Zwar hatte sie sich bis jetzt noch nicht sonderlich auf ihren Mädelsabend gefreut, aber vielleicht war es ja genau das, was sie brauchte. Sie rannte die Kellertreppe hinauf und trat in die lichtdurchflutete Vorhalle des Instituts. Zurück in die Zivilisation, dachte sie, als sie auf ihr Handy blickte und sah, dass sie im Keller, wo es keinen Empfang gab, einen Anruf verpasst hatte.
Sie wählte die Mailbox. Während sie die Nachricht abhörte, wurde ihr so übel, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt.
»Hi Abs, ich bin’s, Nick. Ruf mich bitte zurück. Wir müssen reden.«