Die Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel «Matilda» bei Jonathan Cape Ltd., London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Matilda» Copyright © 1988 by Roald Dahl Nominee Ltd.
Illustrationen Copyright © 1988 by Quentin Blake
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Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Umschlagillustration Quentin Blake
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ISBN Printausgabe 978-3-499-21789-0 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-57451-9
wwww.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-57451-9
Für Michael und Lucy
Die Leserin
Herr Wurmwald, der große Autohändler
Der Hut und der Sekundenkleber
Das Gespenst
Arithmetik
Der wasserstoffblonde Mann
Fräulein Honig
Die Knüppelkuh
Die Eltern
Hammerwurf
Theo Torfkopp und die Torte
Lavendel
Die Wochenprüfung
Das erste Wunder
Das zweite Wunder
Fräulein Honigs Häuschen
Fräulein Honigs Geschichte
Die Namen
Die praktische Übung
Das dritte Wunder
Ein neues Zuhause
Mütter und Väter sind komisch. Ihr eigenes Kind kann eine noch so widerliche kleine Ratte sein – sie bilden sich trotzdem ein, er oder sie sei eine Offenbarung.
Manche Eltern gehen sogar noch weiter. Sie werden aus lauter Liebe so verblendet, dass sie an ihrem Kind die Anzeichen eines wahren Genies erkennen.
Das wäre ja alles nicht so schlimm. So geht’s eben zu auf der Welt. Nur wenn diese Eltern auch noch anfangen, uns was vorzuschwärmen von den Wundergaben ihrer grauenhaften Sprösslinge, dann kann man wirklich nur keuchen: «Wo ist ein Eimer? Wir müssen kotzen.»
Lehrer haben unter diesem Gequatsche eingebildeter Eltern ganz schön zu leiden, aber sie können sich wenigstens rächen, wenn sie Zeugnisse schreiben. Wenn ich Lehrer wäre, würde ich mir für die Kinder solcher Affeneltern regelrechte Verrisse zusammenbrauen. «Ihr Sohn Maximilian», würde ich schreiben, «ist ein totaler Waschlappen. Ich hoffe, dass Sie über ein Familienunternehmen verfügen, in dem Sie ihn nach der Schule unterbringen können, denn es ist sonnenklar, dass ihn kein denkender Mensch freiwillig bei sich einstellen würde.» Und wenn ich an dem betreffenden Tage meine dichterische Ader spürte, würde ich vielleicht schreiben: «Es klingt zwar merkwürdig, ist aber eine Tatsache, dass die Hörorgane der Heuschrecke seitlich vom Magen angebracht sind. Nach dem zu urteilen, was Ihre Tochter Vanessa in diesem Schuljahr gelernt hat, scheint sie überhaupt keine Hörorgane zu besitzen.»
Kann sein, dass ich mich sogar noch eingehender mit der Naturgeschichte befassen und sagen würde: «Die Zikade bleibt im Puppenzustand sechs Jahre lang im Verborgenen und verbringt nicht mehr als sechs Tage als freies Insekt in Licht und Luft. Ihr Sohn Wilfred hat in dieser Schule sechs Jahre im Puppentiefschlaf zugebracht, aber wir warten noch heute darauf, dass er aus seinem Kokon schlüpft.»
Ein besonders boshaftes kleines Mädchen könnte mich reizen, Folgendes zu formulieren: «Fiona zeigt die gleiche kühle Schönheit wie ein Eisberg, hat jedoch im Gegensatz zu diesem absolut nichts unter der Oberfläche.»
Ich glaube, es wäre mir ein reines Vergnügen, die Zeugnisse für die Scheusale aus meiner Klasse zu schreiben, aber genug davon. Wir müssen weiterkommen.
Gelegentlich stößt man auf Eltern, die das genaue Gegenteil darstellen, die sich nicht die Bohne um ihre Kinder kümmern. Sie sind natürlich noch viel schlimmer als diejenigen, die ihre Kinder anbeten. Herr und Frau Wurmwald gehörten zu dieser Kategorie von Eltern. Sie hatten einen Sohn namens Michael und eine Tochter namens Matilda und betrachteten Matilda nicht anders als ein Stück Schorf. Mit Schorf muss man einfach leben, bis die richtige Zeit gekommen ist. Dann kann man ihn abpulen und wegschnippen. Herr und Frau Wurmwald wünschten sehnlichst die Zeit herbei, zu der sie ihre kleine Tochter abpulen und wegschnippen konnten, möglichst in die nächste Grafschaft oder noch viel weiter weg.
Es ist schlimm genug, wenn Eltern ganz gewöhnliche Kinder wie Schorf und Fliegenschiss behandeln, aber wenn das betreffende Kind außergewöhnlich ist, und damit meine ich: blitzgescheit und sehr verständig, dann ist das noch viel schlimmer. Matilda war beides, vor allem aber blitzgescheit. Ihr Verstand war so hell und scharf, und sie besaß eine so schnelle Auffassungsgabe, dass diese Talente selbst den beschränktesten Eltern hätten auffallen müssen. Herr und Frau Wurmwald waren jedoch beide so beschränkt und so sehr mit ihren kleinen albernen Alltagsdingen befasst, dass sie nicht imstande waren, an ihrer Tochter etwas Außergewöhnliches festzustellen. Ehrlich gesagt hätten sie es wohl nicht einmal gemerkt, wenn sie mit einem gebrochenen Bein ins Haus gekrochen wäre.
Matildas Bruder Michael war ein ganz normaler Junge, aber bei seiner Schwester konnte einem, wie gesagt, die Kinnlade herunterklappen. Mit anderthalb Jahren redete sie fehlerlos und kannte ebenso viele Wörter wie die Erwachsenen. Statt dass die Eltern sie lobten, beschimpften sie sie als nervtötende Plappertasche und sagten streng, brave Mädchen wolle man sehen, nicht hören.
Im Alter von drei Jahren hatte sich Matilda das Lesen beigebracht, indem sie die Zeitungen und Illustrierten studierte, die im ganzen Haus herumlagen. Im Alter von vier Jahren konnte sie rasch und fließend lesen und fing natürlich an, sich sehnsüchtig nach Büchern umzuschauen. Das einzige Buch in diesem erleuchteten Haushalt war etwas namens «Kochen ist leicht» und gehörte ihrer Mutter. Nachdem Matilda es von vorn bis hinten durchgelesen und alle Rezepte auswendig gelernt hatte, beschloss sie, sich nach etwas Interessanterem umzusehen. «Papa», sagte sie, «kannst du mir nicht ein Buch kaufen?»
«Ein Buch?», fragte er. «Wozu brauchst du ein verdammtes Buch?»
«Zum Lesen, Papa.»
«Und was hast du gegen das Fernsehen, um Himmels willen? Wir haben einen fabelhaften Fernsehapparat mit einem Riesenbildschirm, und jetzt kommst du und willst ein Buch? Mädchen, Mädchen, du bist ganz schön verwöhnt!»
An Wochentagen war Matilda fast jeden Nachmittag allein zu Hause. Ihr Bruder, der fünf Jahre älter war als sie, ging in die Schule, ihr Vater zur Arbeit, und ihre Mutter fuhr zum Bingospielen in die Nachbarstadt. Frau Wurmwald war süchtig nach Bingo und spielte es an fünf Nachmittagen in der Woche. An dem Nachmittag, an dem sich ihr Vater geweigert hatte, ihr ein Buch zu kaufen, machte sich Matilda ganz allein auf und ging in die Gemeindebücherei. Dort stellte sie sich der Bibliothekarin vor, Frau Phelps. Sie fragte, ob sie sich ein bisschen hinsetzen und ein Buch lesen dürfe. Frau Phelps, etwas verwirrt, dass ein so kleines Mädchen ohne elterliche Begleitung bei ihr auftauchte, hieß sie trotzdem herzlich willkommen.
«Wo bitte sind die Kinderbücher?», erkundigte sich Matilda.
«Da drüben auf den unteren Regalen», erklärte ihr Frau Phelps. «Möchtest du vielleicht, dass ich dir ein schönes mit vielen Bildern heraussuche?»
«Nein danke», antwortete Matilda, «ich kann das schon alleine.»
Von nun an bummelte Matilda an jedem Nachmittag, sobald ihre Mutter zum Bingo gefahren war, zur Bücherei. Der Weg war nur zehn Minuten lang, und so blieben ihr zwei herrliche Stunden, in denen sie friedlich in einer gemütlichen Ecke hockte und ein Buch nach dem anderen verschlang. Nachdem sie alle Kinderbücher gelesen hatte, die es dort gab, machte sie sich auf die Suche nach etwas anderem.
Frau Phelps, die sie in den vergangenen Wochen gebannt beobachtet hatte, kam nun hinter ihrem Tisch hervor und ging zu ihr.
«Kann ich dir helfen, Matilda?», fragte sie.
«Ich überleg mir gerade, was ich als Nächstes lesen soll», antwortete Matilda, «mit den Kinderbüchern bin ich durch.»
«Du meinst, du hast dir alle Bilder angeschaut?»
«Ja, aber gelesen hab ich die Bücher auch.»
Frau Phelps schaute von ihrer großen Höhe zu Matilda hinab, und Matilda blickte geradewegs zu ihr empor.
«Ein paar hab ich ziemlich schwach gefunden», sagte Matilda, «aber ein paar andere waren zu schön. Am besten hat mir ‹Der geheime Garten› gefallen. Da gab’s so viel Geheimnis drin. Das Geheimnis von dem Raum hinter der verschlossenen Tür und das Geheimnis von dem Garten hinter der hohen Mauer.»
Frau Phelps stand da wie vom Donner gerührt. «Wie alt bist du eigentlich genau, Matilda?», fragte sie.
«Vier Jahre und drei Monate», antwortete Matilda.
Das raubte Frau Phelps erst recht die Fassung, aber sie war vernünftig genug, es nicht zu zeigen.
«Was für ein Buch würdest du denn gerne als Nächstes lesen?», fragte sie.
Matilda erwiderte: «Am liebsten ein wirklich gutes, eins, das Erwachsene lesen. Ein berühmtes Buch. Ich kenn aber noch nicht die Namen.»
Frau Phelps musterte die Bücherreihen und ließ sich dabei Zeit. Sie wusste nicht genau, was sie anbieten sollte. Wie wählt man nur, überlegte sie, ein berühmtes Erwachsenenbuch für ein vierjähriges Mädchen aus? Ihr erster Gedanke war, ein Jugendbuch herauszuziehen, eine von diesen süßlichen Geschichten, die für fünfzehnjährige Schulmädchen geschrieben werden, aber dann merkte sie, wie sie instinktiv an diesem speziellen Regal vorüberging.
«Versuch es einmal mit diesem», sagte sie schließlich, «es ist sehr berühmt und sehr gut. Wenn’s zu dick für dich ist, dann sag mir nur Bescheid, und ich suche dir etwas Kürzeres und Leichteres heraus.»
«‹Große Erwartungen›», las Matilda, «von Charles Dickens. Das probier ich gerne.»
Ich muss verrückt sein, sagte sich Frau Phelps insgeheim, aber Matilda entgegnete sie: «Aber gerne.»
Im Lauf der folgenden Nachmittage konnte Frau Phelps kaum die Augen von dem kleinen Mädchen lösen, das stundenlang in dem großen Armsessel im hintersten Winkel des Raumes mit dem Buch auf dem Schoß saß. Es lag auf dem Schoß, weil es viel zu schwer war, als dass sie es in der Hand hätte halten können, und das bedeutete, dass sie sich vorbeugen musste, um lesen zu können. Was für ein merkwürdiger Anblick das war, dieses winzige dunkelhaarige Geschöpf, dessen Füße noch nicht den Boden berührten und das vollkommen versunken war in die wunderbaren Abenteuer von Pip und der alten Miss Havisham und ihrem spinnwebenumsponnenen Haus. Und in dem Zauber, den Dickens, der große Geschichtenerzähler, mit seinen Worten bewirkt. Die einzige Bewegung des lesenden Kindes bestand darin, dass es von Zeit zu Zeit die Hand hob und eine Seite umblätterte. Frau Phelps war immer wieder traurig, wenn es für sie an der Zeit war, in den hintersten Winkel zu gehen und zu sagen: «Es ist zehn vor fünf, Matilda.»
In der ersten Woche von Matildas Besuchen hatte Frau Phelps sie gefragt: «Bringt dich deine Mutter jeden Tag hierher und holt dich dann wieder ab?»
«Meine Mutter fährt jeden Nachmittag nach Aylesbury und spielt Bingo», hatte Matilda erwidert, «sie weiß nicht, dass ich herkomme.»
«Aber das ist sicher nicht richtig», wandte Frau Phelps ein, «ich finde, du solltest sie lieber fragen.»
«Das finde ich nicht», antwortete Matilda, «sie hält nichts vom Lesen. Mein Vater auch nicht.»
«Und was sollst du jeden Nachmittag in einem leeren Haus machen?»
«Nur so rumhängen und fernsehen.»
«Aha.»
«Es ist ihr egal, was ich tue», setzte Matilda ein bisschen traurig hinzu.
Frau Phelps machte sich Sorgen, wie Matilda heil und sicher durch die ziemlich verkehrsreiche Hauptstraße und über die große Kreuzung nach Hause kam, aber sie beschloss, sich nicht einzumischen.
Innerhalb einer Woche hatte Matilda «Große Erwartungen» ausgelesen, ein Buch, das in dieser Ausgabe vierhundertelf Seiten hatte. «Das war wunderschön», sagte sie zu Frau Phelps, «hat Herr Dickens noch andere Bücher geschrieben?»
«Ziemlich viele», antwortete die verblüffte Frau Phelps, «soll ich dir noch eins raussuchen?»
Im Lauf der nächsten sechs Monate las Matilda, stets aufmerksam und liebevoll von Frau Phelps beobachtet, die folgenden Bücher:
«Nicholas Nickleby» von Charles Dickens
«Oliver Twist» von Charles Dickens
«Jane Eyre» von Charlotte Brontë
«Stolz und Vorurteil» von Jane Austen
«Eine reine Frau – Tess von d’Urbervilles»
von Thomas Hardy
«Kim» von Rudyard Kipling
«Der Unsichtbare» von H.G. Wells
«Der alte Mann und das Meer»
von Ernest Hemingway
«Schall und Wahn» von William Faulkner
«Die Früchte des Zorns» von John Steinbeck
«Die guten Gefährten» von J.B. Priestley
«Am Abgrund des Lebens» von Graham Greene
«Farm der Tiere» von George Orwell
Das war eine stattliche Liste. Mittlerweile platzte Frau Phelps fast vor Staunen und Aufregung, und es war vermutlich nur gut, dass sie sich nicht gestattete, vollkommen den Kopf zu verlieren. Fast jeder andere, der die Fortschritte dieses kleinen Kindes verfolgt hätte, wäre der Versuchung erlegen und hätte einen ungeheuren Wirbel veranstaltet und das Wunder in der ganzen Stadt heraustrompetet. Nicht so Frau Phelps. Sie gehörte zu den Menschen, die sich nur um die eigenen Angelegenheiten kümmern, und sie hatte schon längst entdeckt, dass es sich nicht auszahlte, wenn man sich bei anderer Leute Kindern einmischte.
«Herr Hemingway schreibt vieles, was ich nicht verstehe», sagte Matilda zu ihr, «besonders über Männer und Frauen. Aber es hat mir trotzdem gefallen. So wie er es erzählt, hab ich das Gefühl, ich wäre dabei und schaute zu, wie alles passiert.»
«Dieses Gefühl wird dir ein guter Schriftsteller immer vermitteln», entgegnete Frau Phelps, «und kümmere dich nicht um die Kleinigkeiten, die du nicht verstehen kannst. Lehn dich einfach zurück und lass dich von den Wörtern umspielen wie von Musik.»
«Ja, das will ich tun.»
«Hast du gewusst», fuhr Frau Phelps fort, «dass du dir in öffentlichen Büchereien so wie dieser hier Bücher ausleihen und mit nach Hause nehmen kannst?»
«Das hab ich nicht gewusst», entgegnete Matilda, «dürfte ich das auch machen?»
«Natürlich», sagte Frau Phelps, «wenn du ein Buch ausgesucht hast, brauchst du es mir nur zu bringen, dann schreib ich’s auf, und es gehört dir für zwei Wochen. Wenn du willst, kannst du dir auch mehr als eins ausleihen.»
Von da an tauchte Matilda nur noch einmal in der Woche in der Bücherei auf, um sich neue Bücher zu holen und die ausgelesenen zurückzubringen. Ihr eigenes kleines Schlafzimmer verwandelte sich in ein Lesezimmer, und dort saß sie nun an den meisten Nachmittagen und las, wobei oft ein Becher mit heißer Schokolade neben ihr stand. Sie war noch nicht groß genug, um an alles in der Küche heranzukommen, aber sie hatte im Schuppen eine kleine Kiste gelagert, die sie, wenn sie etwas haben wollte, hereinschleppte und daraufkletterte. Am liebsten machte sie sich Schokolade, indem sie Milch in ein Töpfchen goss und auf dem Herd erhitzte, bevor sie das Kakaopulver hineinrührte. Meistens nahm sie Bovril oder Ovomaltine. Es war gemütlich, einen heißen Schluck mit hinauf in ihr Zimmer zu nehmen und neben sich zu haben, wenn sie nachmittags in der stillen Stube im leeren Hause saß und las. Die Bücher führten sie in neue Welten und machten sie mit erstaunlichen Menschen bekannt, die ein aufregendes Leben führten. Mit Joseph Conrad stach sie auf altmodischen Segelschiffen in See. Ernest Hemingway folgte sie nach Afrika und Rudyard Kipling nach Indien. Während sie in ihrem kleinen Zimmer in einem englischen Dorf saß, reiste sie durch die ganze Welt.
Matildas Eltern besaßen ein recht hübsches Haus mit drei Zimmern im ersten Stock, während es unten ein Esszimmer und ein Wohnzimmer und eine Küche gab. Ihr Vater war Gebrauchtwagenhändler, und sein Geschäft schien ganz gut zu gehen.
«Sägemehl», pflegte er stolz zu sagen, «das ist eins der großen Geheimnisse meines Erfolgs. Und es kostet mich gar nichts. Ich krieg’s gratis aus der Tischlerei.»
«Wozu brauchst du das denn?», fragte ihn Matilda.
«Ha!», sagte der Vater. «Das möchste wohl gerne wissen.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, wie dir Sägemehl beim Autoverkaufen helfen kann, Papa.»
«Weil du ein dummer kleiner Nichtsnutz bist», antwortete ihr der Vater. Er war in seiner Wortwahl nie zimperlich, aber daran war Matilda gewöhnt. Sie wusste auch, dass er gern angab, und damit zog sie ihn hemmungslos auf.
«Du musst wirklich schrecklich klug sein, dass du sogar Sachen verwenden kannst, die nichts kosten», sagte sie. «Ich wünschte, das könnte ich auch.»
«Könnste nie», antwortete der Vater, «du bist zu blöd dazu. Aber unserem Mike hier, dem könnt ich was erzählen, da hätte ich gar nichts gegen. Eines Tages wird er ja sowieso ins Geschäft einsteigen.» Er tat also, als ob Matilda Luft wäre, wandte sich an seinen Sohn und dozierte: «Ich bin jedes Mal froh, wenn ich einen Wagen erwische, wo so ’n Vollidiot die Gänge ins Getriebe geknallt hat, dass es ganz ausgeleiert ist und wie verrückt klappert. Die Karre krieg ich billig. Und dann brauch ich nur das Schmieröl tüchtig mit Sägemehl zu vermixen, und schon schnurrt die Kiste wie ein Kater.»
«Und wie lange läuft sie, bis sie wieder anfängt zu klappern?»
«Gerade so lange, dass mir der Käufer weit genug von der Hucke ist», sagte der Vater und grinste, «so ungefähr hundert Kilometer.»
«Aber das ist unehrlich, Papa», sagte Matilda, «das ist Betrug.»
«Mit Ehrlichkeit ist noch keiner reich geworden», entgegnete der Vater. «Kunden sind dazu da, dass man sie über den Löffel balbiert.»
Herr Wurmwald war ein kleiner Kerl, der wie eine Ratte aussah. Raffzähne ragten unter seinem dünnen rattenhaarigen Schnurrbart hervor. Er bevorzugte groß karierte Jacketts in schreienden Farben und hatte eine Leidenschaft für Krawatten in Gelb oder Blassgrün.
«Und dann zum Beispiel der Kilometerzähler», fuhr er fort. «Jeder, der einen Gebrauchtwagen kauft, will zuerst wissen, wie viel Kilometer er auf dem Buckel hat. Stimmt’s?»
«Stimmt», sagte der Sohn.
«Ich kaufe also eine alte Rostlaube, die ungefähr hundertfünfzigtausend auf dem Buckel hat. Die krieg ich billig. Aber mit so einem Kilometerstand kauft sie mir keiner ab, oder? Und heutzutage kann man den Kilometerzähler leider nicht mehr wie vor zehn Jahren einfach ausbauen und an den Zahlen rumfummeln. Die stehen sturmfest wie Eichen, hat gar keinen Sinn, damit die Zeit zu vertrödeln, außer du bist so ’n verflixter Uhrmacher oder so was Ähnliches. Also, was kann ich da machen? Ich benutz meinen Hirnkasten, mein Junge, das ist es.»
«Wie?», fragte Michael gespannt. Er schien die väterliche Vorliebe für krumme Dinger geerbt zu haben.
«Ich setz mich hin und frage mich, wie kann ich einen Kilometerstand von einhundertfünfzigtausend in nur zehntausend verwandeln, ohne dass ich den Zähler auseinandernehmen muss? Also, wenn ich den Wagen lange genug rückwärts laufen ließe, dann müsst es wohl klappen. Liegt doch klar auf der Hand, nicht? Aber wer würde denn so eine verdammte Karre tausend und abertausend Kilometer rückwärts fahren? Das geht doch gar nicht.»
«Nee, das geht nicht», stimmte der junge Michael zu.
«Also hab ich mich am Kopf gekratzt», fuhr der Vater fort, «und meinen Hirnkasten angestrengt. Wenn einem so ein schlauer Kopf gegeben ist, wie ich ihn hab, dann muss man ihn auch nutzen. Und plötzlich hab ich die Antwort gehabt. Ich kann dir sagen, ich hab mich genauso gefühlt, wie sich dieser andere schlaue Kerl gefühlt haben muss, als er das Penizillin entdeckt hat. Eureka!, hab ich geschrien. Ich hab’s!»
«Und was hast du gemacht?», fragte ihn der Sohn.
«Der Kilometerzähler», erklärte Herr Wurmwald, «hängt an einem Kabel, das mit einem der Vorderräder verbunden ist. Ich hab deshalb als Erstes das Kabel da abgeklemmt, wo es am Vorderrad sitzt. Als Nächstes hab ich mir eine von diesen Bohrmaschinen besorgt, und dann hab ich das Kabel so an den Bohrer angeschlossen, dass es rückwärts läuft, wenn sich der Bohrer dreht. Kapiert? Kannste mir so weit folgen?»
«Ja, Papa», antwortete Michael.
«Diese Bohrmaschinen laufen mit enormer Geschwindigkeit», sagte der Vater. «Wenn ich den Bohrer also anschalte, dann rasen die Zahlen wie wahnsinnig zurück. Mit meiner Superbohrmaschine hau ich dir fünfzigtausend Kilometer im Handumdrehen weg. Und am Ende hat die Karre nur zehntausend drauf und ist fix und fertig für den Verkauf. Sie ist so gut wie neu, sag ich dem Kunden, keine zehntausend gelaufen. Hat einer alten Dame gehört, die ist nur einmal in der Woche zum Einkaufen gefahren.»
«Kannst du den Kilometerstand wirklich mit einer Bohrmaschine zurückdrehen?», fragte Michael.
«Ich verrate dir Geschäftsgeheimnisse», antwortete der Vater. «Lass dir also ja nicht einfallen, mit wem anders drüber zu reden. Du willst mich doch nicht ins Kittchen bringen, oder?»
«Keiner Seele werd ich davon erzählen», sagte der Junge. «Haste das mit vielen Wagen gemacht, Papa?»
«Jeder einzelnen Karre, die durch meine Hände geht, verpass ich die Behandlung», erwiderte der Vater. «Eh sie zum Verkauf angeboten werden, frisier ich ihnen den Kilometerstand auf unter zehn. Wenn ich nur daran denke, dass ich das ganz allein erfunden habe!», setzte er stolz hinzu. «Es hat mich steinreich gemacht.»
Matilda, die genau zugehört hatte, sagte: «Aber Papa, das ist ja sogar noch unehrlicher als das mit dem Sägemehl. Es ist gemein. Du betrügst Leute, die dir vertrauen.»
«Wenn’s dir nicht passt, brauchst du in diesem Hause nichts mehr zu essen», sagte der Vater, «alles ist von dem Profit gekauft.»
«Von schmutzigem Geld», sagte Matilda, «widerlich.»
Auf den Wangen des Vaters tauchten zwei rote Flecken auf. «Verflucht noch mal, was bildest du dir denn ein, wer du bist», schrie er, «der Erzbischof von Canterbury vielleicht, der mir ’ne Predigt über Ehrlichkeit hält? Du bist nichts als ein dummes kleines Fräulein Naseweis, und du hast keinen Schatten einer Ahnung, wovon du redest!»
«Vollkommen richtig, Harry», sagte die Mutter, und zu Matilda: «Sei nicht so frech zu deinem Vater. Und jetzt klapp deinen vorlauten Mund zu, damit wir in Ruhe fernsehen können.»
Sie saßen im Wohnzimmer und aßen ihr Abendbrot vor dem Fernsehapparat. Es bestand aus Fertiggerichten in wabbeligen Aluminiumbehältern mit verschieden großen Abteilungen für das gekochte Fleisch, die Salzkartoffeln und die Erbsen.
Ohne die Augen vom Bildschirm und der amerikanischen Familienserie zu lösen, mampfte Frau Wurmwald die Mahlzeit. Sie war eine große Frau mit wasserstoffblond gefärbten Haaren. Bis auf den Ansatz, der mausbraun nachwuchs. Sie war stark geschminkt und hatte eine dieser unglücklich auseinanderlaufenden Figuren, bei denen das Fleisch irgendwie an den Körper geschnallt zu sein scheint, damit er nicht auseinanderfällt.
«Mami», sagte Matilda, «darf ich mit meinem Abendbrot ins Esszimmer gehen, damit ich lesen kann?»
Der Vater warf ihr einen strengen Blick zu. «Kommt nicht in Frage!», schnauzte er sie an. «Beim Abendbrot versammelt sich die ganze Familie, und vorm letzten Bissen verlässt keiner den Tisch!»
«Aber wir sitzen ja gar nicht am Tisch», erwiderte Matilda, «das tun wir doch nie. Wir essen immer von den Knien und sehen fern.»
«Und, haste was dagegen? Würdest du mir das vielleicht einmal verraten?», fragte der Vater. Seine Stimme klang plötzlich sanft und gefährlich.
Matilda traute sich nicht, ihm zu antworten, deshalb hielt sie den Mund. Sie spürte aber, wie der Zorn in ihr kochte. Sie wusste, dass man seine Eltern nicht so hassen durfte, aber es fiel ihr sehr schwer, es nicht zu tun. Das viele Lesen hatte ihr Einblicke ins Leben vermittelt, die ihre Eltern nie gewonnen hatten. Wenn die doch nur ein bisschen Dickens oder Kipling läsen, dann würden sie rasch verstehen, dass das Leben aus mehr besteht als aus Gaunertricks und Fernsehen!
Und da war noch etwas. Matilda konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr unaufhörlich einredete, sie sei dumm und dämlich, obgleich sie genau wusste, dass sie keins von beidem war. Die Wut in ihrem Bauch hörte nicht auf zu kochen, und als sie an diesem Abend glücklich im Bett lag, fasste sie einen Entschluss. Jedes Mal, wenn ihr Vater oder ihre Mutter gemein zu ihr waren, wollte sie es ihnen auf irgendeine Art und Weise heimzahlen. Ein kleiner Sieg, vielleicht sogar zwei mussten ihr helfen, den elterlichen Schwachsinn zu ertragen, ohne den Verstand zu verlieren.
Ihr dürft nicht vergessen: Matilda war erst knapp fünf Jahre alt, und für eine so Kleine ist es nicht leicht, zu Pluspunkten gegen die allmächtigen Erwachsenen zu kommen. Matilda war aber trotzdem entschlossen, den Versuch zu wagen. Und nach dem, was an diesem Abend vorm Fernsehapparat geschehen war, stand ihr Vater zuoberst auf der Liste.
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