Juliet Marillier

Die Tochter der Wälder

Roman

Aus dem Englischen von
Regina Winter

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Juliet Marillier

Juliet Marillier wurde in Neuseeland geboren und wuchs in Dunedin auf. Bereits seit frühester Kindheit begeistert sie sich für keltische Musik und irische Geschichte. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Perth, Australien. Zu ihren großen internationalen Erfolgen gehört der Sevenwaters-Romanzyklus (»Die Tochter der Wälder«, »Der Sohn der Schatten«, »Das Kind der Stürme« und »Die Erben von Sevenwaters«).

Impressum

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 1999 unter dem Titel

»Daughter of the Forrest« bei Pan Macmillan Australia Ptg. Ltd.

 

ISBN 978-3-426-43519-9

© 2015 der eBook Ausgabe by Knaur eBook

© 2000 der deutschsprachigen Ausgabe by Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

© 1999 by Juliet Marillier

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Übersetzung: Regina Winter

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: The Image Bank, München

ISBN 978-3-426-43519-9

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Vorbemerkung

Am Ende dieses Buches finden Sie eine Liste der in der Geschichte vorkommenden altirischen Namen mit ihrer korrekten Aussprache sowie ein Glossar der wichtigsten Begriffe aus der gälischen Kultur.

Karten

1

Drei Kinder lagen auf den Felsen am Ufer. Ein dunkelhaariges kleines Mädchen. Zwei Jungen, ein wenig älter. Dieses Bild sitzt für immer in meiner Erinnerung fest, wie ein zerbrechliches Geschöpf, das in Bernstein erhalten wurde. Ich selbst, meine Brüder. Ich erinnere mich an die kleinen Wellen, die entstanden, als ich mit dem Finger über die schimmernde Wasseroberfläche fuhr.

»Beug dich nicht so weit vor, Sorcha«, sagte Padraic. »Du könntest hineinfallen.« Er war ein Jahr älter als ich und versuchte, so viel wie möglich aus der geringen Autorität, die ihm das verlieh, herauszuholen. Das war wohl verständlich – immerhin hatte ich insgesamt sechs Brüder, und fünf von ihnen waren älter als er.

Ich ignorierte ihn und griff in die geheimnisvolle Tiefe hinein.

»Sie könnte reinfallen, nicht wahr, Finbar?«

Langes Schweigen. Als es andauerte, schauten wir beide Finbar an, der auf dem Rücken lag, ganz auf dem warmen Felsen ausgestreckt. Er schlief nicht; seine Augen spiegelten das offene Grau des Herbsthimmels wider. Sein Haar breitete sich wirr und schwarz über dem Fels aus. Er hatte ein Loch im Jackenärmel.

»Die Schwäne kommen«, sagte Finbar schließlich. Er setzte sich langsam auf und stützte das Kinn auf die angezogenen Knie. »Sie kommen heute Abend.«

Hinter ihm brachte eine Brise die Zweige von Eichen und Ulmen, Eschen und Holunder zum Beben und verstreute ein paar Blätter, golden, bronzefarben und braun. Der See lag in einem Kreis bewaldeter Hügel, geschützt wie in einem großen Kelch.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Padraic. »Wie kannst du so sicher sein? Sie könnten auch morgen kommen oder übermorgen. Oder sie könnten an einen anderen Ort ziehen. Du bist immer so überzeugt.«

Ich weiß nicht mehr, ob Finbar antwortete oder nicht, aber später an diesem Tag, in der Abenddämmerung nahm er mich wieder mit zum Seeufer. Im Zwielicht über dem Wasser sahen wir, wie die Schwäne heimkamen. Die letzten schrägen Sonnenstrahlen fingen eine weiße Bewegung am dunkler werdenden Himmel ein. Sie waren nahe genug, dass wir ihre Formation erkennen konnten, die ordentlichen Reihen, die im trüber werdenden Licht durch die Luft segelten. Das Rauschen der Flügel, die Vibration der Luft. Der letzte Gleitflug zur Wasseroberfläche, das silbrige Aufblitzen, als das Wasser sich teilte, um sie zu empfangen. Als sie landeten, klang das Geräusch wie mein Name, wieder und wieder: Sorcha, Sorcha. Meine Hand stahl sich in Finbars Hand; wir standen reglos, bis es dunkel war, und dann brachte mein Bruder mich nach Hause.

Wenn man das Glück hat, so aufzuwachsen wie ich, hat man viele gute Dinge, an die man sich erinnern kann. Und einige nicht so gute. Einmal, im Frühling, auf der Suche nach den winzigen grünen Fröschen, die auftauchten, sobald die erste Wärme in der Luft lag, platschten meine Brüder und ich knietief im Bach und machten dabei genug Lärm, um jedes Lebewesen zu vertreiben. Es waren drei meiner sechs Brüder dabei: Conor, der vor sich hin pfiff; Cormack, sein Zwillingsbruder, der sich hinter ihn schlich, um ihm eine Handvoll Sumpfgewächse in den Kragen zu stecken, ­woraufhin die beiden sich ringend und lachend im Wasser wälzten; und Finbar. Finbar war weiter bachaufwärts gegangen und wartete dort bei einem kleinen Felstümpel. Er drehte die Steine nicht um, um die Frösche zu finden; er wartete und lockte sie mit seinem Schweigen heraus.

Ich hatte eine Handvoll Wildblumen gepflückt, Veilchen, Mädesüß und die kleinen rosafarbenen, die wir Kuckucksblumen nennen. Unten am Ufer gab es eine neue Art mit hübschen, sternförmigen Blüten in einem zarten, hellen Grün und Blättern wie graue Federn. Ich stakste näher und streckte eine Hand danach aus.

»Sorcha! Nicht anfassen!«, rief Finbar rasch.

Erschrocken blickte ich auf. Finbar befahl mir sonst nie etwas. Wenn es Liam gewesen wäre, der älteste, oder Diarmid, der nächste im Alter, hätte ich das erwartet, Finbar rannte jetzt zurück zu mir und hatte die Frösche offenbar vergessen. Aber wieso sollte ich von ihm Notiz nehmen? Er war nicht soviel älter als ich, und es war nur eine Blume. Ich hörte ihn noch sagen: »Sorcha, nicht …«, als ich meine kleinen Finger an einen der weichen Stengel legte.

Der Schmerz in meiner Hand war wie Feuer – ein glühend heißes Stechen, das bewirkte, dass ich das Gesicht verzog und aufheulte, während ich den Weg entlangrannte. Meine anderen Blumen hatte ich längst fallen lassen. Finbar hielt mich eher unsanft auf, packte mich mit den Händen an den Schultern.

»Mieren«, sagte er und sah sich meine Hand an, die dabei war, zu schwellen und eine beunruhigende Rotfärbung anzunehmen. Inzwischen hatte mein Geschrei auch bewirkt, dass die Zwillinge angerannt kamen. Cormack hielt mich fest, weil er stark war, und ich heulte und schlug vor Schmerz um mich. Conor riss einen Streifen von seinem schmutzigen Hemd. Finbar hatte zwei spitze Zweige gefunden, und damit zog er vorsichtig einen nach der anderen die winzigen nadelähnlichen Stacheln heraus, die die Pflanze in meiner weichen Haut hinterlassen hatte. Ich erinnere mich an den Druck von Cormacks Händen auf meinen Armen, während ich unter Schluchzen nach Luft schnappte, und ich kann immer noch hören, wie Conor leise auf mich einredete, während Finbar mit geschickten Fingern seiner Arbeit nachging.

»… und sie hieß Deirdre, Herrin des Waldes, aber niemand sah sie jemals. Nur bei Nacht, wenn man unter den Birken entlangging, konnte man vielleicht einen Blick auf ihre hochgewachsene Gestalt in einem mitternachtsblauen Umhang erhaschen, und ihr langes Haar, wild und dunkel, hing ihr auf den Rücken. Sie trug eine kleine Krone aus Sternen …«

Als Finbar fertig war, verbanden sie mir die Hand mit Conors improvisiertem Verband und ein paar zerdrückten Butterblumenblüten, und am nächsten Morgen war es besser. Und als wir nach Hause kamen, verrieten sie meinen älteren Brüdern nicht, was für ein dummes Mädchen ich doch war.

Von da an wusste ich, was Mieren waren, und ich machte mich daran, mehr über andere Pflanzen herauszufinden, die weh tun oder heilen konnten. Ein Kind, das halb wild im Wald aufwächst, lernt dessen Geheimnisse zum Teil einfach durch Erfahrung. Essbare Pilze und Giftpilze. Flechten, Moos und Kletterpflanzen. Blätter, Blüten, Wurzeln und Rinde. Überall in dem sich schier endlos erstreckenden Wald wuchsen unter riesigen Eichen, starken Eschen und sanften Birken eine Myriade kleinerer Pflanzen. Ich lernte, wie ich sie finden konnte, wann ich sie schneiden musste und wie man sie als Salbe oder Aufguss verwendete. Aber damit war ich nicht zufrieden. Ich redete mit den alten Frauen, bis sie meiner müde wurden, und ich studierte alle Manuskripte, die ich finden konnte, und probierte selbst Dinge aus. Es gab immer noch mehr zu lernen, und es mangelte nie an Arbeit.

Wo liegt der Anfang? Als mein Vater meine Mutter kennenlernte, sein Herz verlor und sich entschied, aus Liebe zu heiraten? Oder bei meiner Geburt? Ich hätte der siebte Sohn eines siebten Sohns sein sollen, aber die Göttin hat uns einen Streich gespielt, und ich war ein Mädchen. Und nachdem sie mich zur Welt gebracht hatte, starb meine Mutter.

Man könnte nicht sagen, dass mein Vater sich seinem Schmerz ergab. Dazu war er zu stark. Aber nachdem er sie verloren hatte, erlosch ein Licht in ihm. Es ging nur noch um Beratungen und Machtspiele und Verhandlungen hinter geschlossenen Türen. Das war alles, was er sah, alles, was ihm noch etwas bedeutete. Also wuchsen meine Brüder wild im Wald rings um Sevenwaters auf. Und ich war vielleicht nicht der siebte Sohn der alten Geschichten, derjenige, der magische Kräfte und die Gunst des Feenvolkes haben soll, aber ich trottete dennoch hinter den Jungen her, und sie liebten mich und zogen mich so gut auf, wie ein Rudel Jungen es eben kann.

Unser Zuhause war nach den sieben Bächen benannt, die sich den Hügel herab in den großen, von Bäumen umgebenen See er­gossen. Es war ein abgelegener, stiller, seltsamer Ort, gut bewacht von schweigsamen Männern in Grau, die ihre Messer, Äxte und Schwerter scharf hielten. Mein Vater ging kein Risiko ein. Mein Vater war Lord Colum von Sevenwaters, und sein Túath war das Sicherste und geheimste diesseits von Tara. Alle achteten ihn. Viele fürchteten ihn. Außerhalb des Waldes gab es so etwas wie Sicherheit nicht. Stammeshäuptling kämpfte gegen Stammeshäuptling, König gegen König. Und dann waren da die Überfälle von See her. Häuser christlicher Gelehrsamkeit wurden geplündert, ihre friedlichen Bewohner getötet oder verjagt. Manchmal griffen die heiligen Brüder in ihrer Verzweiflung selbst zu den Waffen. Der alte Glaube ging in den Untergrund. Die Nordländer versuchten, unsere Strände einzunehmen, bauten in Dublin ein Lager und überwinterten dort, so dass sich um diese Jahreszeit niemand sicher fühlen konnte. Selbst ich hatte bereits Spuren ihrer Untaten gesehen, denn in Killery gab es eine Ruine, wo sie die heiligen Frauen getötet und ihre Zuflucht zerstört hatten. Ich ging nur einmal dorthin. Es lag ein Schatten über diesem Ort. Wenn man zwischen den Trümmern einherging, konnte man immer noch das Echo der Schreie der Frauen hören.

Aber mein Vater war anders. Lord Colums Autorität war absolut. Innerhalb des Ringes von Hügeln, die von uraltem Wald bedeckt waren, waren seine Grenzen so sicher, wie es in diesen unruhigen Zeiten überhaupt nur möglich war. Für jene, die ihn nicht achteten, die ihn nicht verstanden, war der Wald undurchdringlich. Ein Mann oder ein ganzer Trupp von Männern, die sich nicht auskannten, konnte sich dort hoffnungslos verirren in all den plötzlichen Nebelfeldern, den abzweigenden, trügerischen Pfaden und anderen, älteren Dingen, die kein Wikinger oder Brite je hoffen konnte zu verstehen. Der Wald schützte uns. Unser Land war sicher vor Banditen, ob sie nun über die See kamen oder Nachbarn waren, die planten, ihren Ländereien ein paar Weiden oder ihrer Herde ein paar Stück Vieh hinzuzufügen. Sie fürchteten Sevenwaters und machten einen großen Bogen um uns.

Aber Vater hatte wenig Zeit, sich mit den Nordländern oder den Pikten zu befassen, denn wir führten unseren eigenen Krieg. Wir waren im Krieg mit den Briten. Ganz besonders mit einer bestimmten Familie von Briten, den Northwoods. Diese Fehde hatte eine lange Geschichte. Ich gab mich nicht sonderlich damit ab. Immerhin war ich ein Mädchen und wusste außerdem Besseres mit meiner Zeit anzufangen. Außerdem hatte ich noch nie einen Briten oder einen Nordmann oder einen Pikten gesehen. Sie waren für mich nicht wirklicher als Geschöpfe aus alten Legenden, Drachen oder Riesen.

Vater war einen großen Teil der Zeit unterwegs, knüpfte Allianzen mit Nachbarn an, überprüfte die Außenposten, inspizierte die Wachtürme, rekrutierte Männer. Mir waren jene Zeiten am liebsten, wenn wir die Tage verbringen konnten, wie wir wollten: den Wald erforschen, auf die hohen Eichen klettern, Expeditionen zur anderen Seeseite durchführen und die ganze Nacht draußen bleiben. Ich lernte, wie man Brombeeren und Haselnüsse und Holzäpfel findet. Ich lernte, wie man ein Feuer anzünden konnte, selbst wenn das Holz feucht ist, und in den Kohlen Kastanien oder Zwiebeln briet. Ich konnte einen Unterschlupf aus Farnkraut bauen und ein Floß geradeaus steuern.

Ich war am liebsten draußen und spürte den Wind auf meinem Gesicht. Dennoch unterrichtete ich mich auch weiterhin in der Heilkunst, denn mein Herz sagte mir, dass dies meine wirkliche Aufgabe sein würde. Wir konnten alle lesen, obwohl Conor mit Abstand der Geschickteste war, und in einem Raum im Obergeschoss der Festung gab es alte Manuskripte und Schriftrollen. Diese verschlang ich in meinem Wissensdurst und hielt es für ganz und gar nicht ungewöhnlich, denn es war die einzige Welt, die ich kannte. Ich wusste nicht, dass andere zwölfjährige Mädchen stickten, sich gegenseitig das Haar zu kunstvollen Kronen flochten und lernten, wie man tanzte und sang. Ich verstand nicht, dass nur wenige von ihnen lesen konnten und dass die Bücher und Rollen, die diesen stillen Raum im Obergeschoss füllten, in einer Zeit von Zerstörung und Plünderung unbezahlbare Schätze darstellten. Sicher im Schatten seiner Wächterbäume, von Kräften älter als die Zeit vor der Welt verborgen, war unser Zuhause tatsächlich ein ganz anderer Ort.

Wenn mein Vater dort war, veränderten sich die Dinge. Nicht, dass er sich sonderlich für uns interessierte; seine Besuche waren kurz und galten weiteren Beratungen und Verhandlungen. Aber er sah zu, wie die Jungen mit Schwert oder Stab übten oder vom Rücken eines galoppierenden Pferdes ihre Äxte warfen. Man wusste nie, was Vater dachte, denn sein Blick verriet nichts. Er war ein kräftig gebauter Mann mit strenger Miene, und alles an ihm kündete von Disziplin. Er kleidete sich einfach; aber er hatte etwas an sich, das einem sofort mitteilte, dass er ein Anführer war. Er trug sein braunes Haar fest zusammengebunden. Wohin auch immer er ging, von der Halle in den Hof, vom Schlafraum in die Ställe, seine beiden großen Wolfshunde trabten lautlos hinter ihm her. Das, so nehme ich an, war der einzige Luxus, den er sich leistete. Aber selbst sie hatten ihren Nutzen.

Jedes Mal wenn er nach Hause kam, begrüßte er uns alle förmlich und sah sich an, welche Fortschritte wir gemacht hatten, als wären wir eine Art Pflanzen, die irgendwann erntereif sein würden. Wir hassten diese rituellen Paraden von Familienzugehörigkeit, obwohl es einfacher für die Jungen wurde, sobald sie zu jungen Männern herangewachsen waren und Vater begann, sie für nützlich zu halten. Man rief uns in die große Halle, nachdem irgendein Diener, dem die undankbare Aufgabe zugefallen war, auf uns aufzupassen, uns kurz ein wenig hergerichtet hatte. Vater saß dann in seinem großen Eichensessel, seine Männer in respektvollem Abstand, die Hunde zu seinen Füßen, entspannt, aber wachsam.

Er rief die Jungen, einen nach dem anderen, zu sich, begrüßte sie recht freundlich, beginnend mit Liam, und arbeitete sich dann langsam abwärts. Er befragte jeden von ihnen kurz nach seinen Fortschritten und den Aktivitäten, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Das konnte einige Zeit dauern; immerhin waren es sechs, und dann war auch noch ich da. Da ich keine andere Form elterlicher Anleitung kannte, akzeptierte ich das als vollkommen normal. Falls meine Brüder sich an eine Zeit erinnerten, in der die Dinge anders waren, erwähnten sie es nicht.

Die Jungen wuchsen rasch. Als Liam zwölf war, steckte er schon mitten in einer intensiven Ausbildung in den Kriegskünsten und verbrachte immer weniger Zeit mit uns anderen in unserer vergnüglichen, undisziplinierten Welt. Nicht lange danach brachte Diarmids Geschicklichkeit mit dem Speer ihm einen Platz an der Seite seines Bruders ein, und schon zu bald ritten sie mit Vater und den Kriegern zusammen aus. Cormack konnte kaum auf den Tag warten, wenn auch er alt genug sein würde, sich ernsthaft mit diesen Dingen zu beschäftigen; die Ausbildung erhielten alle Jungen von Donal, dem Waffenmeister unseres Vaters, aber das genügte Cormacks Drang, sich zu beweisen, kaum. Padraic, der jüngste der Brüder, hatte die Begabung, mit Tieren umzugehen, und Gegenstände wieder herzurichten. Auch er lernte zu reiten und ein Schwert zu schwingen, aber häufiger konnte man ihn bei der Geburt eines Kalbes antreffen, oder wenn er sich auch um die Wunden eines Zuchtbullen kümmerte, der mit einem Rivalen gekämpft hatte.

Wir anderen waren anders. Conor war Cormacks Zwillingsbruder, aber er hätte vom Charakter her kaum unterschiedlicher sein können. Conor hatte immer gerne gelernt, und schon als kleiner Junge hatte er einen Handel mit einem christlichen Eremiten abgeschlossen, der in einer Höhle am Hügelabhang oberhalb des südlichen Seeufers wohnte. Mein Bruder brachte Vater Brien frischen Fisch und Kräuter aus dem Garten und vielleicht den einen oder anderen Laib Brot, den er in der Küche geschnorrt hatte, und im Austausch dafür brachte ihm der Eremit das Lesen bei. Ich erinnere mich genau an diese Zeit. Conor saß auf einer Bank neben dem Eremiten, tief in eine Debatte über eine Feinheit von Sprache oder Philosophie vertieft, und in der Ecke hockten Finbar und ich im Schneidersitz auf dem gestampften Boden, leise wie die Feldmäuse. Wir drei saugten das Wissen auf wie kleine Schwämme und glaubten in unserer Isolation, dass dies ganz normal sei. Zum Beispiel lernten wir die Sprache der Briten, eine rauhe, abgehackte Art zu sprechen, die keinen Wohlklang hatte. Und mit der Sprache unserer Feinde erfuhren wir auch viel über ihre Geschichte.

Sie waren einmal ein Volk gewesen, das dem unseren nicht unähnlich war, wild, stolz, begabt für Lied und Legenden, aber ihr Land war offen und verwundbar und war immer wieder überrannt worden, bis sich ihr Blut mit dem der Römer und Sachsen mischte, und als endlich eine Art Frieden einkehrte, war das alte Volk dieses Landes verschwunden und an seiner Stelle lebte ein neues auf der anderen Seite des Meeres. Das erzählte uns der heilige Vater.

Jeder hatte eine Geschichte über die Briten. Erkennbar an ihrem hellen Haar, ihrem hohen Wuchs und dem Fehlen jedweden Anstands, hatten sie die Fehde begonnen, indem sie Hand an etwas so Unberührbares, unserem Volk so zutiefst Heiliges legten, dass dieser Diebstahl war, als hätte man uns das Herz aus dem Leib gerissen. Dies war der Grund unseres Krieges. Die Kleine Insel, die Größere Insel und die Nadeln. Orte unendlicher Geheimnisse. Orte gewaltiger Rätselhaftigkeit; das Herz des alten Glaubens. Kein Brite hätte jemals die Insel auch nur betreten dürfen. Nichts würde mehr sein wie früher, wenn wir sie nicht vertrieben. So erklärten es jedenfalls alle.

 

Es war deutlich zu sehen, dass Conor nicht zum Krieger bestimmt war. Mein Vater, reich an Söhnen, akzeptierte dies widerwillig. Er verstand vielleicht, dass ein Gelehrter in der Familie auch von Nutzen sein konnte. Es gab immer Chroniken zu verfassen, Bücher zu führen und Karten zu zeichnen, und meines Vaters Schreiber wurde langsam alt. Daher fand auch Conor seinen Platz im Haushalt und nahm ihn zufrieden ein. Seine Tage waren erfüllt, aber er hatte immer Zeit für Finbar und mich. Wir drei standen einander sehr nahe, verbunden durch unseren Wissensdurst und ein tiefes, unausgesprochenes Verständnis.

Was Padraic angeht, er war bei allem geschickt, aber am wichtigsten war ihm, Dinge zu untersuchen und herauszufinden, wie sie funktionierten; er konnte Fragen stellen, bis es einen schier um den Verstand brachte. Padraic war der Einzige, der hin und wieder zu Vater durchdrang; manchmal konnte man den Hauch eines Lächelns auf Colums ernstem Gesicht sehen, wenn er seinen jüngsten Sohn betrachtete. Mich lächelte er nicht an. Und Finbar auch nicht. Finbar sagte, das läge daran, dass wir ihn an unsere Mutter erinnerten, die gestorben war. Wir waren die Einzigen unter Colums Kindern, die ihr lockiges, wildes Haar geerbt hatten. Ich hatte ihre grünen Augen und Finbar ihre Begabung zu schweigen. Außerdem hatte ich sie getötet, indem ich geboren wurde. Kein Wunder, dass es Vater so schwerfiel, mich anzuschauen. Aber wenn er mit Finbar sprach, stand eisige Kälte in seinem Blick. Ganz besonders bei einer Gelegenheit. Das war nicht lange, bevor sie kam und sich unsere Leben für immer veränderten. Finbar war fünfzehn; noch kein Mann, aber auch kein Kind mehr.

Vater hatte uns alle zu sich gerufen, und wir waren in der großen Halle versammelt. Finbar stand kerzengerade vor Lord Colums Sessel und wartete auf das rituelle Verhör. Liam und Diarmid waren inzwischen junge Männer, und daher ersparte man ihnen diese Prüfungen. Aber auch sie waren anwesend, weil sie wussten, dass das den Rest von uns tröstete.

»Finbar. Ich habe mit deinen Lehrern gesprochen.«

Schweigen. Finbar schien mit seinen großen, grauen Augen direkt durch Vater hindurchzusehen.

»Ich höre, dass du deine Fähigkeiten gut entwickelst. Das erfreut mich.« Trotz dieser Lobesworte war Vaters Blick kalt, sein Ton abweisend. Liam warf Diarmid einen Blick zu, und Diarmid verzog das Gesicht, als wollte er sagen Jetzt kommt es.

»Deine Einstellung allerdings lässt viel zu wünschen übrig. Man erzählt mir, dass du diese Ergebnisse erreicht hast, ohne große Anstrengung oder Interesse an den Tag zu legen, und dass du häufig ohne Grund bei den Übungen fehlst.«

Eine weitere Pause. Zu diesem Zeitpunkt wäre es wahrscheinlich eine gute Idee gewesen, irgendetwas zu sagen, nur um den Ärger zu vermeiden; »Ja, Vater«, hätte genügt. Finbars vollkommenes Schweigen war schon eine Beleidigung an sich.

»Wie erklärst du das, Junge? Und spar dir deine unverschämten Blicke, ich möchte eine Antwort!«

Vater beugte sich vor, brachte sein Gesicht näher an das von Finbar heran, und seine Miene ließ mich schaudern und näher zu Conor rücken. Es war ein Blick, der auch einen erwachsenen Mann erschreckt hätte.

»Du bist nun alt genug, um dich zu deinen Brüdern an meine Seite zu gesellen, zumindest solange ich hier bin, und in nicht allzu langer Zeit auch im Feld. Aber im Krieg gibt es keinen Platz für Dummdreistigkeit. Ein Mann muss lernen zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen. Also sprich! Wie willst du dieses Verhalten erklären?«

Aber Finbar hatte nicht vor zu antworten. Wenn ich nichts zu sagen habe, werde ich nicht sprechen. Ich wusste, dass er diese Gedanken im Kopf hatte. Ich umklammerte Conors Hand. Wir hatten Vater schon früher zornig gesehen. Es wäre dumm, so etwas herauszufordern.

»Vater«, mischte sich Liam ein. »Vielleicht …«

»Genug!«, befahl Vater. »Dein Bruder braucht niemanden, der für ihn spricht. Er hat eine Zunge und einen eigenen Kopf – soll er beides benutzen!«

Finbar wirkte vollkommen gelassen. Nur ich, die jeden Atemzug mit ihm geteilt hatte, die jeden Augenblick des Schmerzes oder der Freude kannte, die er durchlebt hatte, als wären es meine eigenen Empfindungen, spürte die Anspannung in ihm und verstand den Mut, den es brauchte, überhaupt etwas zu sagen.

»Ich werde dir antworten«, sagte er ganz ruhig. »Zu lernen, wie man mit einem Pferd umgeht und Schwert und Bogen benutzt, ist ehrenwert. Ich kann diese Fähigkeiten benutzen, um mich oder meine Schwester zu verteidigen oder meinen Brüdern in Zeiten der Gefahr zu helfen. Aber erspare mir deine Kriege. Ich will nichts damit zu tun haben.«

Vater konnte es nicht glauben – noch war er zu verblüfft, um wütend zu werden, aber seine Augen waren wie Gletscher. Was immer er erwartet hatte, es war ganz bestimmt nicht diese Art von Konfrontation. Liam setzte abermals dazu an, etwas zu sagen, aber Vater brachte ihn mit einem wilden Blick zum Schweigen.

»Erzähl uns mehr davon«, lud er Finbar höflich ein, wie ein Raubtier, das seine Mahlzeit in eine honigversüßte Falle lockt. »Kann es sein, dass du dir der Bedrohung für unser Land, ja unser ganzes Leben hier so wenig bewusst bist? Man hat dich von allen diesen Angelegenheiten unterrichtet – du hast gesehen, wie meine Männer blutend aus dem Kampf zurückkehrten, hast gesehen, welchen Schaden diese Briten an Leben und Land anrichten. Deine eigenen Brüder halten es für ehrenhaft, neben ihrem Vater zu kämpfen, damit ihr anderen Frieden und Wohlstand genießen könnt. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, um unsere kostbaren Inseln wiederzuerlangen, die unserem Volk von diesen Banden entrissen wurden. Hast du so wenig Vertrauen in ihre Urteilskraft? Wo hast du diesen absurden Unsinn gehört?«

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, erklärte Finbar schlicht. »Während du Jahr um Jahr damit zubringst, diesen eingebildeten Feind zu Land und zu Wasser zu verfolgen, werden die Dorf­bewohner krank und sterben, und es gibt keinen Herrn, an den sie sich um Hilfe wenden können. Die Skrupellosen beuten die Schwachen aus. Ernten werden schlecht gelagert, Vieh vernachlässigt. Der Wald bewacht uns. Das ist gut so, denn du hättest ansonsten längst Heim und Menschen an die Finnghaill verloren.«

Vater holte tief Luft. Seine Männer traten einen Schritt oder zwei zurück. »Fahr bitte fort«, sagte er mit vollkommen ausdrucksloser Stimme. »Ich sehe, dass du ein Experte für das Thema Nordmänner bist.«

»Vielleicht …«, sagte Liam.

»Still!« Diesmal war es ein Brüllen, das Liam beinahe schon aufhielt, bevor er auch nur dieses eine Wort geäußert hatte. »Das hier ist zwischen deinem Bruder und mir. Heraus damit, Junge! Welche anderen Aspekte meiner Verwaltung hast du in deiner großen Weisheit beklagenswert gefunden? Sprich ganz offen, nachdem du schon einmal damit begonnen hast.«

»Genügt das nicht?«

Ich bemerkte endlich einen Hauch von Unsicherheit in Finbars Stimme. Immerhin war er noch ein Junge.

»Dir ist die Verfolgung eines weit entfernten Feindes wichtiger, als dein eigenes Haus in Ordnung zu halten. Du sprichst von den Briten, als wären sie Ungeheuer. Sind es denn nicht Menschen wie wir?«

»Du kannst ein solches Volk kaum mit dem Ehrentitel Mensch würdigen«, erklärte unser Vater, endlich zu einer direkten Antwort veranlasst. Seine Stimme war rauh von wachsendem Zorn. »Sie kommen mit böser Absicht und reißen in barbarischer Weise das an sich, was von Rechts wegen uns gehört. Möchtest du etwa sehen müssen, wie deine Schwester ihrem wilden Treiben ausgesetzt ist? Willst du, dass dein Zuhause von ihrem Schmutz überzogen wird? Deine Argumente zeigen nur, dass du die Tatsachen nicht kennst und dass du betrübliche Lücken in deiner Bildung hast. Was nützt dir deine schöne Philosophie, wenn du deinem Feind mit dem bloßen Schwert in der Hand gegenüberstehst? Wach auf, Junge. Da draußen ist eine wirkliche Welt, und die Briten haben das Blut unseres Volks an ihren Händen. Es ist meine Pflicht ebenso wie deine, Rache zu nehmen und wiederzubeanspruchen, was von Rechts wegen uns gehört.«

Finbar hatte Vater die ganze Zeit über weiterhin angesehen.

»Ich bin mir dieser Dinge bewusst«, sagte er immer noch ruhig. »Pikten und Wikinger haben uns angegriffen. Sie haben ihr Zeichen in unserem Geist hinterlassen, obwohl sie uns nicht zerstören konnten. Das erkenne ich an. Aber die Briten haben ebenfalls Land und Leben bei diesen Überfällen verloren. Wir verstehen nicht ganz, was sie damit bezwecken, unsere Inseln zu erobern und diese Fehde am Leben zu erhalten. Vielleicht sollten wir uns lieber mit ihnen gegen unsere gemeinsamen Feinde verbünden. Aber nein: deine Strategie wie die ihre besteht darin, zu töten und zu verstümmeln und nie nach Antworten zu suchen. Im Laufe der Zeit wirst du deine Söhne verlieren, wie du deine Brüder verloren hast, in blinder Verfolgung eines schlecht umrissenen Ziels. Um diesen Krieg zu gewinnen, musst du mit deinem Feind sprechen. Lerne ihn zu verstehen. Wenn du ihn ausschließt, wird er immer klüger sein als du. In deiner Zukunft liegen Tod und Leiden und eine lange Zeit des Bedauerns, wenn du diesen Weg weiter verfolgst. Viele werden mit dir gehen, aber ich werde nicht unter ­ihnen sein.«

Seine Worte klangen seltsam; sein Tonfall ließ mich frösteln. Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte.

»Ich will nichts mehr davon hören!«, donnerte Vater und stand auf. »Du redest wie ein Narr von Angelegenheiten, die du nicht verstehen kannst. Ich schaudere, wenn ich mir vorstelle, dass einer meiner Söhne so wenig wissen kann und dennoch so unverschämt ist. Liam!«

»Ja, Vater?«

»Ich will, dass dein Bruder da ausgerüstet wird, um mit uns zu reiten, wenn wir uns wieder auf den Weg nach Norden machen. Kümmere dich darum. Er hat den Wunsch ausgesprochen, den Feind zu verstehen. Vielleicht wird er das ja, wenn er aus erster Hand Zeuge des Blutvergießens wird.«

»Ja, Vater.« Liams Miene und Tonfall waren von wohleinstudierter Neutralität. Er warf Finbar allerdings einen kurzen, mitleidigen Blick zu. Er überzeugte sich nur zunächst davon, dass Vater das nicht bemerkte.

»Und wo ist meine Tochter?«

Ich trat zögernd vor, kam dabei an Finbar vorbei und streifte seine Hand mit meiner. Seine Augen glühten in einem Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war. Ich stand vor Vater, hin- und her­gerissen von Gefühlen, die ich kaum verstand. Sollte ein Vater denn seine Kinder nicht lieben? Wusste er denn nicht, wie viel Mut es gekostet hatte, dass Finbar so mit ihm sprach? Finbar sah die Dinge auf eine Weise, wie der Rest von uns es nie gekonnt hätte. Vater hätte das wissen sollen, denn die Leute behaupteten, unsere Mutter hätte dieselbe Gabe gehabt. Wenn er sich Zeit gelassen hätte, hätte er es gewusst. Finbar konnte in die Zukunft sehen, und wenn er vor etwas warnte, war es gefährlich, diese Warnung nicht zu beherzigen. Es war eine seltene Begabung, gefährlich und eine Last. Einige nannten es den Blick.

»Komm noch ein wenig näher, Sorcha.«

Ich war wütend auf Vater, und dennoch wollte ich, dass er mich anerkannte. Ich wollte sein Lob. Trotz allem konnte ich diesen Wunsch tief in mir nicht abtöten. Meine Brüder liebten mich. Wieso konnte Vater das nicht? Das waren meine Gedanken, als ich zu ihm aufblickte. Von ihm aus gesehen musste ich eine jämmerliche Figur abgegeben haben, dünn und ungepflegt, und meine Locken fielen mir zerzaust über die Augen.

»Wo sind deine Schuhe, Kind?«, fragte Vater müde. Er wurde langsam ruhelos.

»Ich brauche keine Schuhe, Vater«, sagte ich, ohne groß nachzudenken. »Meine Füße sind rauh und fest. Sieh doch«, und ich hob einen schmalen, schmutzigen Fuß, um ihn ihm zu zeigen. »Es ist nicht notwendig, dass ein Geschöpf stirbt, nur damit ich Schuhe trage.« Dieses Argument hatte ich gegenüber meinen Brüdern benutzt, bis sie seiner müde waren und mich barfuß laufen ließen, wenn mir das passte.

»Welcher Diener ist für dieses Kind verantwortlich?«, fauchte Vater gereizt. »Sie ist inzwischen zu alt, dass man sie einfach rennen lassen kann wie einen Hausiererjungen. Wie alt bist du, Sorcha – neun, zehn?«

Wie konnte er es vergessen haben? War meine Geburt nicht gleichzeitig mit dem Verlust alles dessen, was er in der Welt geliebt hatte, erfolgt? Denn meine Mutter war am Mittwintertag gestorben, als ich noch keinen Tag alt war, und es hieß immer, ich hätte Glück gehabt, dass die dicke Janis, unsere Köchin, damals ein Baby und genug Milch für zwei hatte, oder ich wäre vermutlich auch tot. Es zeigte, wie gut es Vater gelungen war, dieses alte Leben vor sich selbst zu verschließen, dass er nicht mehr jede einsame Nacht, jeden leeren Tag seit ihrem Tod zählte.

»Ich werde am Mittwinterabend dreizehn, Vater«, sagte ich und richtete mich so hoch auf, wie ich konnte. Vielleicht würde er mich ja dann für erwachsen halten und anfangen, richtig mit mir zu sprechen, wie mit Liam und Diarmid. Oder mich mit dieser Andeutung eines Lächelns betrachten, mit dem er sich manchmal Padraic zuwandte, der mir dem Alter nach am nächsten stand. Für kurze Zeit begegnete der Blick seiner dunklen, tief liegenden Augen dem meinen, und ich starrte auf eine Weise zurück, die, wenn ich das auch nicht wusste, der meiner Mutter sehr ähnlich war.

»Das genügt«, erklärte er abrupt. Sein Tonfall war wegwerfend. »Schafft diese Kinder hier heraus, wir haben zu tun.«

Dann drehte er sich um und wandte sich einer großen Karte zu, die sie auf dem Eichentisch ausrollten. Nur Liam und Diarmid konnten erwarten, bleiben zu dürfen; sie waren jetzt Männer, und ihnen war erlaubt, die Strategien meines Vaters zu hören. Für den Rest von uns war es vorbei. Ich wich zurück aus dem Lichtkreis.

Warum kann ich mich so gut daran erinnern? Vielleicht hat sein Missvergnügen mit dem, was aus uns geworden war, Vater dazu bewogen, die Wahl zu treffen, die er schließlich traf, und eine ganze Reihe von Ereignissen in Gang zu setzen, die schrecklicher waren, als jeder von uns sich hätte vorstellen können. Zweifellos benutzte er unser Wohlergehen als eine seiner Ausreden, um diese Frau nach Sevenwaters zu bringen. Dass darin keine Logik lag, war unwichtig – er muss im Herzen gewusst haben, dass Finbar und ich aus anderem Stoff gemacht waren, stark und bereit, an Geist und Körper wohl ausgeformt, wenn auch noch nicht ganz erwachsen, und dass die Erwartung, wir würden uns einem anderen Willen beugen, dem Versuch glich, die Gezeiten zu ändern oder den Wald am Wachsen zu hindern. Aber er war von Kräften beeinflusst, die er selbst nicht verstehen konnte. Meine Mutter hätte sie erkennen können. Ich habe mich später manchmal gefragt, wie viel sie von der Zukunft wusste. Der Blick zeigt einem nicht immer, was man sehen möchte, aber ich denke, als sie uns Lebewohl sagte, muss sie gewusst haben, welch seltsamen, gewundenen Wegen ihre Kinder folgen würden.

Sobald Vater uns aus der Halle geschickt hatte, war Finbar weg – ein Schatten, der die Steintreppe zum Turm hinauf verschwand. Als ich mich umdrehte, um ihm zu folgen, zwinkerte Liam mir zu. Er mochte ein junger Krieger sein, aber er war auch mein Bruder. Und Diarmid grinste, aber dann schaute er wieder ausdruckslos drein, und als er sich Vater zuwandte, war auf seiner Miene nur noch Respekt zu lesen.

Padraic war wahrscheinlich schon draußen; er hatte im Stall eine verletzte Eule, die er gesund pflegte. Es war verblüffend, sagte er, wie viel ihn das über die Prinzipien des Fluges gelehrt hatte. Conor arbeitete mit dem Schreiber meines Vaters zusammen an ein paar Berechnungen; wir würden ihn eine ganze Weile nicht oft zu sehen bekommen. Cormack übte wahrscheinlich Schwert- oder Stockkampf. Ich war allein, als ich mit meinen bloßen Füßen die Steintreppe in den Turmraum hinaufging. Von hier aus kann man noch weiter nach oben auf ein Schieferdach mit niedrigen Zinnen ringsumher, die vermutlich nicht genügt hätten, einen Sturz aufzuhalten, aber das hatte uns nie daran gehindert, nach dort oben zu gehen. Es war ein Ort für Geschichten, für Geheimnisse; ein Ort, an dem man gemeinsam schweigen konnte.

Er saß, wie ich erwartet hatte, an der gefährlichsten, steilsten Stelle des Dachs, die Knie hochgezogen, die Arme um sie geschlungen, die Miene unergründlich, als er über die steinummauerten Weiden, die Scheunen und Bauernhäuser zum Rauchgrau und Samtgrün und nebligen Blau des Waldes hinausstarrte. Nicht so weit entfernt glitzerte das Wasser des Sees. Der Wind war recht kühl und zupfte an meinen Röcken, als ich die Schräge hinaufstieg und mich neben meinen Bruder setzte. Finbar regte sich nicht. Ich brauchte ihn nicht ansehen, um seine Stimmung zu erkennen, denn ich war auf den Geist dieses Bruders eingestimmt wie ein Bogen auf die Sehne.

Wir schwiegen recht lange, während der Wind uns das Haar zerzauste und ein Schwarm Möwen über uns hinwegflog. Hin und wieder drangen Stimmen und das Klirren von Metall herauf: Vaters Männer, die im Hof übten, und Cormack war bei ihnen. Vater würde mit ihm zufrieden sein.

Langsam kehrte Finbar aus den Weiten seines Geistes zurück. Er wickelte sich eine Haarsträhne um die schlanken Finger.

»Was weißt du von dem Land hinter dem Wasser, Sorcha?«, fragte er leise.

»Nicht viel«, erwiderte ich verwirrt. »Liam sagt, die Karten zeigen nicht alles; es gibt Orte, von denen er nur wenig weiß. Und Vater sagt, man müsse die Briten fürchten.«

»Er fürchtet, was er nicht versteht«, sagte Finbar. »Was ist mit Vater Brien und seinen Leuten? Sie kamen von Osten übers Meer und haben dabei großen Mut bewiesen. Mit der Zeit wurden sie hier anerkannt und haben uns viel gegeben. Vater versucht nicht, seine Feinde zu kennen oder zu verstehen, was sie wollen. Ihm geht es nur um die Bedrohung und die Beleidigung, und so verbringt er sein ganzes Leben damit, sie zu verfolgen, zu töten, zu verstümmeln, ohne eine einzige Frage zu stellen. Und warum ?«

Ich dachte eine Weile darüber nach.

»Aber du kennst sie ebenfalls nicht«, erklärte ich logisch genug. »Und es ist nicht nur Vater, der sie für gefährlich hält. Liam sagt, wenn die Kämpfe im Norden und an der Küste im Osten nicht siegreich gewesen wären, würden wir eines Tages überrannt und alles verlieren, was wir haben. Vielleicht nicht nur die Inseln, sondern auch Sevenwaters. Und dann würde unsere Art zu leben für immer untergehen. Das sagt er jedenfalls.«

»In gewisser Weise stimmt das auch«, entgegnete Finbar überraschenderweise. »Aber in jedem Kampf gibt es zwei Seiten. Er beginnt über eine Kleinigkeit, eine zufällige Bemerkung, eine unbedachte Geste. Von da an wächst er. Beide Seiten können ungerecht sein. Beide können grausam sein.«

»Woher weißt du das?«

Finbar antwortete nicht. Sein Geist war dicht vor mir abgeschlossen, dies war nicht der Zeitpunkt für eine Begegnung von Gedanken wie das lautlose Austauschen von Bildern, das so oft zwischen uns stattfand und das uns so viel leichter fiel als das Sprechen. Ich dachte eine Weile nach, aber mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte. Finbar kaute auf seinen Haarspitzen – er trug das Haar im Nacken zusammengebunden und lang. Seine dunklen Locken hatten, wie die meinen, einen eigenen Willen.

»Ich denke, unsere Mutter hat uns etwas hinterlassen«, sagte er schließlich. »Sie hinterließ in jedem von uns ein kleines Stück von sich. Es ist gut, dass Liam und Diarmid das haben. Es wird verhindern, dass sie werden wie er.«

Ich wusste, was er meinte, ohne seine Worte vollständig verstehen zu können.

»Liam ist ein Anführer«, fuhr Finbar fort, »ebenso wie Vater, aber nicht genauso. Liam hat Gleichgewicht. Er weiß, wie man ein Problem abwägt. Männer würden für ihn sterben. Eines Tages wird es vielleicht auch geschehen. Diarmid ist anders. Ihm würden Leute bis zum Ende der Welt folgen, einfach weil sie denken, dass das Spaß machen könnte.«

Ich dachte darüber nach; ich stellte mir vor, wie Liam sich bei Vater für mich einsetzte, wie Diarmid mir beibrachte, wie man Frösche fing und sie wieder gehen ließ.

»Cormack ist ein Krieger«, meinte ich. »Aber er ist großzügig. Sanftmütig.« Da war immerhin der Hund. Eine der Wolfshündinnen hatte sich verleiten lassen und Mischlinge zur Welt gebracht; Vater hätte sie alle ersäuft, aber Cormack rettete einen der Welpen und behielt ihn, eine magere Hündin namens Linn. Seine Freundlichkeit wurde mit der tiefen, fraglosen Ergebenheit belohnt, wie sie nur ein treuer Hund geben kann. »Und da ist noch Padraic.«

Finbar lehnte sich gegen die Dachziegel und schloss die Augen.

»Padraic wird weit kommen«, sagte er. »Er wird weiter kommen als jeder von uns.«

»Conor ist anders«, stellte ich fest, war aber nicht in der Lage, diesen Unterschied in Worte zu fassen. Es war etwas daran, das mir immer wieder entglitt.

»Conor ist ein Gelehrter«, sagte Finbar. »Wir alle lieben Geschichten, aber er schätzt das Lernen wirklich. Mutter hatte ein paar wunderbare alte Geschichten und Rätsel und seltsame Gedanken, über die sie dann lachte, so dass man niemals wusste, ob sie es ernst meinte oder nicht. Conor hat seine Liebe für Ideen von ihr. Conor ist – er ist einfach er selbst.«

»Wie ist das möglich, dass du dich an all das erinnerst?«, fragte ich, unsicher, ob er es nicht zu meiner Freude erfand. »Du warst erst drei, als sie starb. Ein kleines Kind.«

»Ich erinnere mich aber«, meinte Finbar und wandte den Kopf ab. Ich wollte, dass er weitersprach, denn ich war fasziniert davon, von unserer Mutter zu hören, die ich nie gekannt hatte. Aber er schwieg nun wieder. Es wurde spät; lange Baumschatten streckten ihre Spitzen über das Gras tief unter uns.

Das Schweigen zog sich wieder dahin, so lange, dass ich schon glaubte, Finbar wäre eingeschlafen. Ich wackelte mit den Zehen; es wurde kalt. Vielleicht brauchte ich wirklich Schuhe.

»Was ist mit dir?« Ich brauchte kaum zu fragen. Er war wirklich anders. Er war anders als wir alle. »Was hat sie dir hinterlassen?«

Er drehte sich um und lächelte mich an, und dieses Lächeln veränderte sein Gesicht vollkommen.

»Vertrauen in mich selbst«, sagte er einfach. »Dass ich tun kann, was richtig ist, und nicht davon abweiche, ganz gleich, wie schwierig es wird.«

»Das war heute schwierig genug«, sagte ich in Gedanken an Vaters kalten Blick und daran, wie Finbar ausgesehen hatte.

Es wird noch viel schwerer werden. Ich wusste nicht, ob dieser Gedanke aus meinem eigenen Geist oder aus dem meines Bruders stammte. Es lief mir eiskalt über den Rücken.

Dann sagte er laut: »Du solltest eins nicht vergessen, Sorcha. Vergiss nicht, dass ich immer für dich da sein werde, ganz gleich, was geschieht. Das ist wichtig. Und jetzt komm, es ist Zeit zurückzugehen.«

 

eins, zwei, drei