Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-18773-5
ISBN E-Book 978-3-688-10328-7
www.rowohlt.de
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Es ist nicht möglich, die
Vergangenheit zu schildern,
ohne ihr die Färbung
unserer eigenen Gefühle zu geben.
Heinrich Heine
Im Jahre 1964 antworteten auf die Frage «Wenn Sie von einem Deutschen hören, er habe als Soldat oder Beamter während des Krieges insgeheim in einer Widerstandsgruppe gearbeitet, spricht das für oder eher gegen ihn?» nur 29 Prozent der Deutschen in der Bundesrepublik, es spreche für ihn. Zwanzig Jahre später waren 60 Prozent aller Bundesbürger der Meinung, daß der Widerstand gegen das NS-Regime «einen Menschen auszeichnet». Knapp 70 Prozent der 1984 Interviewten fiel zum 20. Juli 1944 der Name Stauffenberg ein. Doch obwohl dieses Datum in der Geschichte der Bundesrepublik zum Synonym für Widerstand geworden ist, konnten sich nur 12 Prozent an Carl Goerdeler erinnern, und auch andere Männer aus dem engsten Verschwörerkreis um Stauffenberg sind längst aus dem Gedächtnis entschwunden.
Wie der Widerstand im «Dritten Reich» nach 1949 in den beiden deutschen Staaten aufgenommen, verarbeitet oder verdrängt wurde, das ist selbst schon wieder Geschichte geworden. Die Bundesrepublik stellte die Männer des 20. Juli–Adlige, Militärs, hohe Beamte, einige Sozialdemokraten – aufs Podest und nannte ihr Handeln eine patriotische Tat. Die gleichen ehrenhaften Motive sprach sie den kommunistischen Widerstandskämpfern ab und schloß diese 1952 im Bundesentschädigungsgesetz von Wiedergutmachungszahlungen aus, weil die Kommunisten «nach dem 23.5.1949 die freiheitlichen Grundrechte» bekämpft hätten. Die Ermordeten und Gefolterten mußten im Zeichen des Kalten Krieges herhalten für die politische Auseinandersetzung. Die DDR machte den Widerstand der Kommunisten zum Bestandteil ihrer Staatsdoktrin, ließ keinerlei kritisches Nachdenken über die Rolle der KPD im Nationalsozialismus zu und verbannte ihrerseits die Verschwörer des 20. Juli aus der ehrenvollen Erinnerung. «Monopolbourgeoisie» und «reaktionäre Militärs» hatten angeblich mit dem Attentat nichts anderes im Sinn, als den «deutschen Imperialismus» zu retten.
Mitte der sechziger Jahre wurde die Bundesrepublik durch den Frankfurter Auschwitz-Prozeß jenseits aller Feiertagsreden sehr konkret mit den Verbrechen der jüngsten Geschichte konfrontiert. Das Schweigen brach auf, historische Tabus wurden zerstört, die «Widerstandshelden» vom Sockel gestoßen. Die Täter von damals, die sich so nahtlos im emsigen Treiben von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in die Demokratie gefügt hatten, endlich zur Rechenschaft zu ziehen; den Juristen und Professoren, den Medizinern und Theologen, die den NS-Machthabern so willfährig gedient hatten, endlich die biedermännische Tarnkappe zu entreißen – auch das war Antrieb für die 68er Revolte der Studenten.
Dann schlug das Pendel wieder zurück. Das Erbe Preußens erlebte in Ausstellungen und Aufsätzen eine Renaissance – diesseits und jenseits der Demarkationslinie. Nicht nur Luther und Bismarck wurden von der DDR neu entdeckt. Zum 40. Jahrestag des Attentats in der Wolfsschanze wurde aus der «reaktionären Aktion» eine «mutige Tat von historischem Rang».
In der Bundesrepublik fanden sich seit den siebziger Jahren Historiker, die den Widerstand der Kommunisten und der Arbeiterbewegung insgesamt erforschten. Schülergruppen und engagierte Bürger gingen zu den Überlebenden, um deren Erinnerungen festzuhalten, und machten den Widerstand zu einem Thema der jungen oral history. Verdrängte Stätten der Verfolgung wurden entdeckt, ausgegraben – nicht selten gegen den Protest der heute dort Lebenden.
Immer umfangreicher wurde die Literatur zum Widerstand. Es erschienen Einzeluntersuchungen über «Widerstand und Verfolgung» in Mannheim und Essen, Duisburg und Braunschweig, Köln und Bremen und vielen anderen Orten (wenngleich es immer noch etliche weiße Flecken gibt). Das ist ein großes Verdienst, und nur auf Grund solcher regionalen Detailarbeiten ist dieses umfassende Buch über «Menschen im Widerstand» erst möglich geworden. Auch etliche zusammenfassende Darstellungen liegen vor. Aber sie spalten den Widerstand, die Namen, Statistiken und Dokumente kapitelweise nach Sachgruppen auf. Die Kirchen und die Jugend, die SPD und die KPD, die Konservativen und die Militärs werden jeweils für den gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 zusammengefaßt.
Dieses Buch ist der Versuch, den deutschen Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus zusammenhängend chronologisch zu erzählen. Jahr für Jahr wird geschildert, welche Menschen und welche Gruppen sich den Zwängen und Verführungen der Diktatur nicht anpaßten. Es wird der Alltag im Nationalsozialismus aufgezeigt, weil nur so zu verstehen ist, wie einsam die Widerstandskämpfer aller politischen und gesellschaftlichen Strömungen handelten, litten und starben. Es ist von Strukturen die Rede, von Parteiprogrammen und allgemeinen Entwicklungslinien. Aber daneben kommen die Menschen zu Wort, die für ihre Überzeugungen ihr Leben aufs Spiel setzten und das ihrer Familie dazu. Widerstand bedeutete im Alltag: untertauchen in die Illegalität, gehetzt werden, ständig das Quartier wechseln, vor verschlossenen Türen stehen, kein Geld haben, stets auf der Hut und in Angst vor den Verfolgern leben, Lüge und Verstellung praktizieren, keinen Kontakt mehr zur Familie und den Freunden haben. Und immer lebte man mit der Gewißheit, daß am Ende nicht nur KZ oder der Henker standen, sondern Brutalität und Folter warteten, mit denen die Gestapo aus ihren Opfern die Namen von Mitstreitern herauspreßte.
Damit es kein Mißverständnis gibt: Die Deutschen unter Hitler waren kein Volk von Widerstandskämpfern. Die große Mehrheit hat sich ohne Zwang dem «Führer» anvertraut und dem Terror gegenüber allen, die sich dem nationalsozialistischen Regime nicht beugten, zustimmend bis tatenlos zugesehen. Wer nicht mitjubelte, wer den Arm zum «Hitler-Gruß» nur hob, um nicht aufzufallen, war völlig isoliert und sehr einsam. Doch es gilt auch: Die Zahl der Menschen, die trotzdem Widerstand leisteten, ist viel größer, als es vom öffentlichen Bewußtsein bisher wahrgenommen wird. Auch neuere Veröffentlichungen in der Bundesrepublik haben den Kampf der Kommunisten und der kleinen radikalen Parteien und Gruppen vom linken Rand des politischen Spektrums gegen den Nationalsozialismus nicht in die Traditionen dieser Republik integrieren können. Der Widerstand der Arbeiterbewegung ist bei uns immer noch ein unbekannter Widerstand. Ebenso hat mancher Geistliche, ob evangelisch oder katholisch, mancher Mediziner und Lehrer, mancher Gewerkschafter keine Beachtung gefunden neben den übermächtigen «Helden» des 20. Juli.
Unbestritten ist, daß keine Gruppierung so entschieden vom ersten Tag an den Nationalsozialisten Widerstand leistete wie die KPD. Von den 360000 Mitgliedern haben zwischen 1933 und 1945 rund 150000 für längere oder kürzere Zeit in Gefängnis, Zuchthaus oder KZ gesessen, wohl 20000 Kommunisten sind ermordet worden. Die deutsche Sozialdemokratie entschied sich 1933 zuerst gegen den Kampf im Untergrund, weil dies ihrer Tradition zutiefst widersprach. Sie setzte auf Legalität und Vernunft und hoffte, die neuen Machthaber durch Zugeständnisse zu besänftigen, als diese den Untergang der Arbeiterkultur schon längst beschlossen hatten. Gemeinsam war SPD und KPD bis weit in das Jahr 1934 hinein die Illusion, der Hitlerspuk werde über Nacht verschwinden bzw. die Mehrheit sich in einem Volksaufstand erheben.
Dem Jahr 1933 gilt in diesem Buch ein ausführliches Kapitel, weil nichts so lehrreich ist, wie die Anfänge einer Entwicklung zu kennen, und weil Widerstand vom Januar 1933 an geleistet wurde. Es gab nicht nur im Frühjahr wilde Folterorgien der SA-Trupps, sondern das ganze erste Jahr der Diktatur war – vor den Augen der Bürger – erfüllt von systematischem Terror gegen Andersdenkende. Die Gewerkschaftshäuser wurden ebenso gestürmt wie die Redaktionen von SPD-Zeitungen. Akten und Mobiliar flogen auf die Straße und wurden angezündet, tagelang brannten die Feuer. Aus ordentlichen Sitzungen wurden SPD-Stadtverordnete hinausgeprügelt, ohne daß es Protest gab. Mit Erstaunen erlebten selbst die Nationalsozialisten, wieviel an Brutalität die Deutschen duldeten, wenn sie jene traf, die als verfemte Außenseiter galten wie Juden und Kommunisten, oder als Vertreter der verhaßten Republik von Weimar wie die Sozialdemokraten.
Und weil die Motive der Widerstandskämpfer des Jahres 1933, ihre Differenzen und ihre Hoffnungen, nur zu verstehen sind im Rahmen der Entwicklung seit 1918, wird zu Beginn dieses Buches die Zeit der Republik ausführlich geschildert: Wie jene sich zur Demokratie von Weimar verhielten, die – früher oder später – gegen das NS-Regime Stellung bezogen. Es wird erinnert an die blühende Kultur der Arbeiterbewegung, die den Verfolgten Kraft gab, ihren Idealen treu zu bleiben, und die doch von den Verfolgern innerhalb weniger Wochen bis auf den Grund zerstört wurde und bis heute keinen angemessenen Platz gefunden hat in den Museen und Traditionen der Bundesrepublik.
Die Organisationsformen von KPD und SPD konnten sich in der Illegalität nicht halten, 1935 waren sie weitgehend zerschlagen. 1937 hatte die Gestapo auch die kleinen Gruppen im Untergrund vernichtet. Trotzdem ging der Widerstand weiter und führte in den Kriegsjahren zu erstaunlichen Aktivitäten. Neue Zentren der KPD bildeten sich in Berlin und Sachsen, in Thüringen und im Ruhrgebiet, in München gab es Ableger und in Pommern, in Hamburg wie in Magdeburg. Illegale Zeitschriften und Flugblätter wurden wieder in größerer Zahl gedruckt. Und das zu einer Zeit, als der Terror der Machthaber immer mörderischer wurde und der Widerstandskämpfer bei der Mehrheit als doppelter Verräter galt: weil er die Niederlage Hitler-Deutschlands herbeisehnte, ohne die es keine Befreiung vom Nationalsozialismus gab.
Es waren die Kriegsgefahr 1938 und dann der Krieg, die zur Opposition der Konservativen – der Adligen, Militärs und Beamten – führten. Es war eine Elite, die erkennen mußte, daß sie dem Diktator zur Macht verholfen hatte, um die 1918 verlorenen Privilegien zurückzuerhalten. Die allermeisten waren keine Demokraten, ihre Visionen für die Zeit nach Hitler wollten Frieden und Gerechtigkeit, aber auch Deutschlands Stellung als Großmacht erhalten. Manche träumten gar, den «guten Kern» des Nationalsozialismus in die neue Zeit zu retten.
Auch die Kommunisten wollten keine Demokratie, erbittert hatten sie die Republik von Weimar bekämpft und die Sozialdemokraten als «Sozialfaschisten», das heißt Steigbügelhalter Hitlers, beschimpft. Sie erschreckten die Mehrheit der Deutschen mit ihrem politischen Programm, eine Räterepublik nach sowjetischem Muster einführen zu wollen und sich sklavisch mit den Interessen der Sowjetunion zu verbinden. Erst in den Kriegsjahren, von der Moskauer Zentrale abgetrennt, kam es bei deutschen Kommunisten im Widerstand zu einer vorsichtigen Abnabelung von diesem übermächtigen Vorbild, rückten eigene deutsche Interessen in den Vordergrund und wurde die Verteidigung demokratischer Rechte beschworen.
War das nur Taktik, um die alten Ziele zu vernebeln? Hatte der Wolf Kreide gefressen? Niemand kann diese Frage überzeugend beantworten, denn die führenden kommunistischen Widerstandskämpfer der letzten Kriegsjahre sind alle ermordet worden. Ein Beispiel für die gnadenlose Verfolgung der Kommunisten ist die blutige Statistik der Mitkämpfer und Sympathisanten um den KPD-Funktionär Wilhelm Knöchel, der im Januar 1942 illegal von Amsterdam ins Reich reiste, um den Widerstand seiner Genossen neu zu organisieren und auszuweiten. Im Januar 1943 begann die Gestapo, die Knöchel-Gruppe aufzurollen, bis zum Sommer waren über 200 Menschen verhaftet: 23 von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet; 9 wurden während der Untersuchungshaft ermordet, in den Tod getrieben oder nahmen sich in letzter Freiheit das Leben; einer tötete sich im Augenblick der Verhaftung; 4 starben nach der Verurteilung im Zuchthaus; 7 wurden ins KZ verschleppt und dort umgebracht; 4 wurden im April 1945 bei Nacht und Nebel erschossen; 3 starben nach der Befreiung an den Folgen der Haft.
Es brauchte drei Jahre hartnäckiger Bemühungen und vieler Diskussionen, bis im April 1987 ein sozialdemokratischer Senator in Hamburg seine Zustimmung gab, die Gesamtschule Altona in Bruno-Tesch-Schule umzubenennen. Der Arbeiterjunge war 1932 von einem ordentlichen Gericht freigesprochen worden, den Tod von SA-Männern beim «Altonaer Blutsonntag» mitverschuldet zu haben. Die Nationalsozialisten, kaum an der Macht, verhafteten Bruno Tesch und verurteilten ihn zum Tod auf dem Schafott. Im Morgengrauen des 1. August 1933 wird der 20jährige, mit drei Gesinnungsgenossen, enthauptet. Sein letzter Brief ist erhalten geblieben: «Wir sterben, wie wir gekämpft haben. Vergeßt mich nicht! Vergeßt mich nicht!»
Bruno Tesch war im Kommunistischen Jugendverband aktiv, deshalb das Zögern der SPD-Behörde, 55 Jahre nach seinem Tod. Denn immer noch ist die positive Bewertung des gesamten Widerstandes umstritten, wird nicht Gerechtigkeit geübt, sondern werden Vorurteile gepflegt und Argumente vorgetragen, die den Widerstand – immer noch – für den aktuellen politischen Alltag dienstbar machen sollen. Dabei bedeutet eine Würdigung des kommunistischen Widerstandes keineswegs, seine Fehler, Versäumnisse und Irrwege zu verschweigen. So muß diskutiert werden, ob die KPD in den ersten Jahren des NS-Regimes den Opfermut und die Leidensfähigkeit ihrer Mitglieder leichtfertig für irreale Ziele ausgenutzt hat. Aber für kommunistische wie für konservative Widerstandskämpfer müssen die gleichen Kriterien gelten: daß sie alle aus Fehlern und Erfahrungen gelernt und am Ende als deutsche Patrioten ihr Gewissen über die Interessen eines Standes oder einer Partei gestellt haben.
Der Widerstand der Männer um Stauffenberg und Goerdeler war lange zwiespältig. Doch als am Ende die Bombe gezündet wurde, wußten die Verschwörer, daß sie als Verräter enden würden und es nur noch darum ging, für die Nachgeborenen ein Zeichen zu setzen. Auch für die Opfer vom kommunistischen Teil der Arbeiterbewegung muß gelten, was als Maßstab und Motivation für die Toten des 20. Juli akzeptiert wird: daß sie für ein besseres, ein menschliches Deutschland starben und ihre Nation vor dem Verderben bewahren wollten. Gemessen am Erfolg sind Kommunisten wie Konservative gescheitert. Die einen konnten die Arbeiter nicht zum Aufstand bewegen, die anderen nicht genug Mitstreiter unter ihresgleichen in den Machtzentralen gewinnen, um den Diktator zu stürzen. Aber unbestritten muß die moralische Lauterkeit sein, mit der die einen wie die anderen das eigene Leben und die Existenz ihrer Familie riskierten, um Werte vor der Vernichtung zu bewahren, die den besten Traditionen europäischer Geschichte entstammen.
Judith Vallentin arbeitete während des Krieges in der illegalen KPD-Gruppe um Robert Uhrig in Berlin mit. Sie reiste als Kurier nach Thüringen und Sachsen und verwaltete die Gelder der Gruppe. Zum Tode verurteilt, schrieb die 39jährige Ende Oktober 1944 an ihre Tochter: «Im Augenblick mußt Du ja einen großen Schmerz tragen. Vergrab Dich nicht darin … ‹Freude schöner Götterfunken› ist Beethovens schönstes Werk, und er schrieb es in seiner elendsten Zeit … Ich muß jetzt Schluß machen, bleib stark und tapfer … Ich ertrage alles mit innerer Ruhe und Gefaßtheit.» Robert Uhrig schrieb seiner Frau Charlotte zum Abschied: «Mein letzter Gedanke gilt Dir und einer freien Menschheit.» Solche letzten Briefe sind typisch für kommunistische Widerstandskämpfer. Nicht politische Dogmen werden beschworen, obwohl diese Frauen und Männer als treue Parteigenossen gestorben sind, sondern die humanistischen Ideale einer bürgerlichen Welt, die die Arbeiterkultur sehr ernst genommen hat und ihren Söhnen und Töchtern tief ins Herz pflanzte. Es waren Arbeiter, die im «Dritten Reich» für diese Ideale starben, während die Bürger zu Zynikern wurden oder die Menschlichkeit und die Würde des einzelnen im Rausch nationaler Größe mit Füßen traten.
Die moralische Verurteilung des kommunistischen Widerstandes in der Bundesrepublik entspringt einem aggressiven Antikommunismus, der zur Zeit des «Dritten Reiches» alle Kreise umfaßte – von Ausnahmen abgesehen bis zuletzt auch die konservativen Widerstandskämpfer – und von den Nationalsozialisten geschickt ausgenutzt und geschürt wurde. In den fünfziger Jahren zur Zeit des Kalten Krieges wurde Antikommunismus dann zum Kitt der eben entstandenen Republik und mündete in die «Totalitarismusthese»: Kommunismus und Nationalsozialismus, totalitäre Ideologien, sind identisch, – wodurch jede Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Widerstand überflüssig wurde. Diese alte These ist im Historikerstreit des Jahres 1986 wieder hochgekommen, als es darum ging, ob die NS-Verbrechen den Untaten Stalins vergleichbar sind, vielleicht sogar von ihnen angeregt wurden.
Jean Améry, ein österreichischer Jude, ein Widerstandskämpfer, dem die Erfahrungen des Exils, der Folter und der Haft in Auschwitz 1978 das Leben nahmen, wehrte sich gegen solche Gleichsetzung: «Man hat uns bis zum Überdruß Hitler und Stalin, Auschwitz, Sibirien, die Warschauer Gettomauer und die Berliner Ulbrichtmauer zusammen genannt wie Goethe und Schiller, Klopstock und Wieland. Nur andeutend sei hier im eigenen Namen und auf jede Denunziationsgefahr hin wiederholt, was in einem vielbefeindeten Interview Thomas Mann einmal gesagt hat: daß nämlich der Kommunismus, wie schrecklich er sich zeitweilig auch darstellen möge, immerhin eine Idee vom Menschen versinnbildliche, während der Hitlerfaschismus überhaupt keine Idee war, sondern nur eine Schlechtigkeit.»
Es ist zu billig, mit dem Hinweis auf die Verbrechen von Hitler und Stalin Nationalsozialismus und Kommunismus über einen Leisten zu schlagen. «Erkämpft das Menschenrecht» singen die Arbeiter vieler Nationen seit Generationen. Niemals wäre solches einem Nationalsozialisten in den Sinn gekommen. Menschenrechte waren für ihn «Humanitätsduselei». Folter an einzelnen, die Versklavung ganzer Völker waren nicht Abirrungen, sondern Wesen der NS-Ideologie, die im «Rassegedanken», durch «Zuchtwahl» und «Ausrottung», ihre Vorstellungen von einer besseren Welt realisieren wollte.
Indem die deutschen Kommunisten gegen diese Ideologie kämpften, wurden sie nicht zwangsläufig zu Handlangern stalinistischer Verbrechen. Wer käme auf die Idee, Stalins westlichen Verbündeten im Weltkrieg ähnliches vorzuwerfen? Daß die deutschen Kommunisten damals in Stalin und der Sowjetunion ihr einziges Heil sahen, ist ihnen nicht anzulasten. Auf wen sonst hätten sie in KZ, Zuchthaus und Untergrund – abgeschnitten von allen ungefilterten Informationen – hoffen sollen? Eine nachträgliche kritische Auseinandersetzung mit dem Hitler-Stalin-Pakt ist dadurch allerdings nicht überflüssig geworden.
Der Widerstand der Arbeiterbewegung ist ein Schwerpunkt dieses Buches, der sich von selbst ergibt, wenn man nicht vergißt und nicht verdrängt. Darüber werden die bekannten Namen nicht vernachlässigt. Aber in einem solchen Gesamtzusammenhang verschieben sich liebgewordene Proportionen, kommen auch andere zu ihrem Recht. Es schmälert den Ruhm und den Mut der Geschwister Scholl nicht, wenn man von einer ähnlichen Gruppierung in Hamburg weiß oder von zwei Münchner Kommunisten, die zur gleichen Zeit im Alleingang Flugblattaktionen durchführten. Das Attentat vom 20. Juli 1944 ist nicht weniger verdienstvoll, wenn man im chronologischen Zusammenhang erzählt, was Stauffenberg zur Zeit der «Köpenicker Blutwoche» Ende Juni 1933 schreibt, als in diesem Berliner Arbeiterviertel rund 500 Menschen verhaftet und 91 von ihnen zu Tode gefoltert werden: «Bei aller gleichschaltung und dem gesetz der totalität: für uns ist das alles nicht neu und schon jetzt ist zu sehen: keine partei, sondern herren machen umwälzungen und jeder der für seine herrschaft einen sicheren sockel sich baut, ist ob seiner klugheit zu loben.»
Im Zusammenhang erst wird deutlich, welche treibende Kraft im Widerstand junge Menschen waren: nicht nur als einzelne oder in Jugendgruppen wie zum Beispiel in der katholischen Kirche, sondern als engagierte Genossinnen und Genossen bei SPD und KPD. Sie hielten in den ersten Jahren der Diktatur die Arbeit im Untergrund aufrecht, als die bekannten Funktionäre – vor allem bei den Kommunisten – fliehen mußten oder von der Gestapo gefaßt wurden.
Es gibt sehr unterschiedliche Meinungen über die Definition von Widerstand, und gewiß darf man mit dieser Bezeichnung nicht leichtfertig umgehen. Nicht jeder Jugendliche, der bei den Edelweißpiraten oder anderen Gruppierungen mitmachte, war ein Gegner des NS-Regimes. Doch als die Gestapo 1938 die jugendlichen «Meuten» in Leipzig entdeckte, kam der Erste Senat des Volksgerichtshofs aus Berlin in die Messestadt. Die Jugendlichen wurden in zwei Prozessen des Hochverrats angeklagt, weil sie «bei der Ablösung des nationalsozialistischen Staates durch den Kommunismus entscheidend mitwirken» wollten und zu Zuchthausstrafen zwischen einem und acht Jahren verurteilt.
Die Protestanten der Bekennenden Kirche leisteten lange einen «Widerstand wider Willen». Immer wieder beteuerten sie ihre Loyalität zum NS-Staat und zum «Führer». Ihre jungen Pfarrer drängten sich zum Wehrdienst, Pastor Martin Niemöller hat 1933NSDAP gewählt. Das hinderte die Machthaber nicht, ihn und andere Theologen ins KZ zu stecken, viele Geistliche mit Predigtverbot zu belegen und in der Bekennenden Kirche ihren Feind zu sehen.
Ob man von Widerstand spricht oder neuerdings von Resistenz, ob man Aktionen meint wie das Verschicken von Flugblättern, ob man auf die eindrucksvollen Prozessionen der katholischen Arbeiter in den Jahren 1934/35 sieht oder an das Abhören feindlicher Sender denkt, das während des Krieges meist mit dem Tode bestraft wurde – die Grenzen des Begriffs sind fließend; letztlich bestimmte die Gestapo, was Widerstand war. Jede Definition engt ein, schließt aus. Im Nationalsozialismus war jeder ein Gegner, der sich dem totalen Anspruch des Staates auf Leib und Seele entzog; der sich Hitlers Warnung «biegen oder brechen» nicht unterwarf, sondern Rechte und Werte hochhielt oder aktiv verteidigte, die nicht nur ihn selbst oder seine Gruppe betrafen, sondern ebenso den Nachbarn, den Mitmenschen.
Was über den deutschen Widerstand in Dokumenten, Interviews, Aufsätzen, Einzel- und Sammelwerken vorliegt, ist in diese Gesamtdarstellung eingegangen. Sie soll ein repräsentatives Bild ergeben, auch wenn viele Namen und viele Schicksale unerwähnt bleiben mußten und längst nicht alle Verästelungen ausgebreitet werden konnten. Die Auswahl fiel schwer, weil alle, die sich dem Unrecht nicht beugten, ein Anrecht darauf haben, daß ihre Qualen und ihre Standhaftigkeit nicht vergessen werden. Aber ein Buch, das gelesen werden möchte und nicht nur im Regal stehen soll, darf einen gewissen Umfang nicht überschreiten.
Deshalb auch können die Deutschen, die außerhalb Deutschlands den braunen Ungeist bekämpften, hier nur summarisch erwähnt werden: Rund 400000 Deutsche gingen ins Exil und verloren ihre Heimat, 40000 aus politischen Gründen, die übrigen, weil sie «rassisch» Verfolgte waren; in allen von Deutschland besetzten Ländern engagierten sich Deutsche in der dortigen Résistance, in Frankreich waren es ungefähr tausend. Das Strafbataillon 999 wurde 1942 aufgestellt, damit «Wehrunwürdige» sich «bewähren» konnten, rund 30 Prozent dieser Soldaten waren politisch Verfolgte. Auch in den Arbeitslagern und im KZ wurde unter schwierigsten Bedingungen der Widerstand organisiert. Einige Schriftsteller gingen in die sogenannte Innere Emigration. Ob ihr Rückzug und ihre Anpassung an manche Mechanismen des Regimes Kapitulation und politische Naivität waren, ist umstritten. Doch darüber darf nicht vergessen werden, daß die Schriften von Ernst Wiechert, Werner Bergengruen, die Gedichte von Oskar Loerke und Reinhold Schneider von Hand zu Hand wanderten, immer wieder neu abgeschrieben wurden und den Zeitgenossen als Ermutigung erschienen.
Wer den langen Zug der Opfer sieht, der Gequälten und Ermordeten, wird die Vokabel «Widerstand» auf andere Zeiten nur mit äußerster Vorsicht anwenden, aber um so entschiedener dafür eintreten, die allerersten Anzeichen von Menschenverachtung und Minderheitenverteufelung, von Unrecht und Gewaltanwendung zu bekämpfen. Wer die Geschichte des Widerstandes der Deutschen gegen den Nationalsozialismus in seiner ganzen Breite kennt, fragt, warum im neu entfachten Streit um die nationale Identität der Widerstand als Teil dieser Identität nicht genannt wird. Dabei könnte er Beispielhaftes aus dunkler Zeit dokumentieren und den Deutschen die Licht- wie die Schattenseiten ihrer jüngsten Geschichte in Erinnerung halten.
Viele der Opfer für eine menschliche Welt haben den letzten Gang aufrecht angetreten, weil sie überzeugt waren, daß ihr Schicksal nicht vergessen würde. Es war das Trachten ihrer Gegner, die Erinnerung an jene, die Widerstand leisteten, auszulöschen. Das galt nicht erst für die Toten des 20. Juli, deren Asche über die Rieselfelder von Berlin verstreut wurde. Die Sozialdemokratin Minna Cammens wurde im März 1933 in Breslau verhaftet, als sie Flugblätter verteilte. Nach wenigen Tagen erhielt ihr Mann per Post eine Zigarrenkiste mit Asche zugeschickt und einen Zettel, auf dem stand: «Minna Cammens, geborene Hannen, am 25.3.1933 verhaftet, starb in Schutzhaft an Herzschlag. Auf eigenen vor ihrem Tod ausgedrückten Wunsch wurde sie eingeäschert. Es ist nicht gestattet, die Öffentlichkeit von ihrem Ableben zu unterrichten.» Der Hamburger KPD-Mann Edgar André, seit März 1933 in Haft, wurde am 4. November 1936 mit dem Handbeil hingerichtet. Aus den Akten: «Die Beisetzung ist in aller Stille und unter strengster Verschwiegenheit vorzunehmen. Ferner wird gebeten, die Grabnummer dem beauftragten Beamten der Staatspolizei zu übergeben, die Eintragung in das dortige Buch so vorzunehmen, daß der Name des Toten nicht daraus hervorgeht.»
Wer die Erinnerung an diese Toten verdrängt und nicht wachhält, verschafft den Mördern einen späten Sieg. Wer jedoch der Erinnerung nicht ausweicht, sondern in ihr eine erlösende Kraft für Gegenwart und Zukunft sieht, wird allen Versuchen wehren, die Opfer mit den Tätern auf eine Stufe zu stellen.
Die Kommunisten im Untergrund wie die konservativen Verschwörer in den Hinterzimmern der Macht wußten, daß ihre Pläne und ihre Aktionen Außenstehenden sinnlos erscheinen mußten und daß direkte Erfolge fast aussichtslos waren. Im Januar 1942 schrieb Helmuth James von Moltke seiner Frau: «Ohne Mut ist gar nichts zu machen. Man muß sich nur vornehmen, daß man sich durch nichts kleinkriegen und von dem rechten Weg abbringen läßt.» Am Ende des gleichen Jahres kämpfte der Kommunist Wilhelm Knöchel in der illegalen Zeitschrift «Der Friedenskämpfer» gegen die Devise vom «Abwarten» in den eigenen Reihen: «Was heute nottut, ist Mut und nochmals Mut, Begeisterung, Kühnheit, Todesverachtung jedes einzelnen …»
Jenseits aller politischen Differenzen, die tief gingen und eine vielleicht erfolgreiche Zusammenfassung aller Kräfte unmöglich machten, und jenseits aller zeitbedingten Unterschiede, geben die Frauen und Männer des Widerstandes ein Beispiel, worauf es in extremen, scheinbar aussichtslosen Situationen ankommt. Die uralte Hoffnung, daß David den Goliath mit einem Stein besiegen kann, stirbt nicht, solange es Menschen gibt, die nicht zögern und nicht abwarten, wenn es um Gut und Böse geht; die nicht nach dem Nutzen fragen, sondern ihren Idealen und damit sich selber treu bleiben, während alle um sie herum dem Diktator zujubeln. Der Schriftsteller Primo Levi, italienischer Jude, ein Widerstandskämpfer, der zusammen mit Jean Améry in Auschwitz den Tod überlebte, der immerzu gegen das Vergessen anschrieb und sich darüber im April 1987 das Leben nahm, hat den jüdisch-russischen Partisanen des Zweiten Weltkriegs ein Lied als Denkmal gesetzt. Der Refrain heißt: «Wer für mich, wenn nicht ich? Wie, wenn nicht so? Wann, wenn nicht jetzt?»
In der Nacht vom 7. auf den 8. September 1943, Berlin war gerade bombardiert und auch das Zuchthaus in Plötzensee getroffen worden, ordnete der Reichsjustizminister eine beschleunigte Vollstreckung der Todesurteile an. In den folgenden fünf Nächten und Tagen wurden in Plötzensee 250 deutsche und ausländische Häftlinge erhängt, darunter ein katholischer Jugendführer aus dem Rheinland, ein Sozialdemokrat aus Dresden, Kommunisten aus Berlin und der tschechoslowakische Journalist Julius Fučík. Im Frühjahr 1943 war der Widerstandskämpfer Julius Fučík in Prag von der Gestapo entdeckt und verhaftet worden. Dort schmuggelte ein Aufseher aus der Zelle, was der Gefangene für die Menschen in glücklicheren Zeiten aufgeschrieben hat:
«Um eines bitte ich: Ihr, die ihr diese Zeit überleben werdet, vergeßt nicht. Vergeßt weder die Guten noch die Bösen. Sammelt geduldig Zeugnisse über alle, die für sich selbst und für euch gefallen sind. Eines Tages wird das Heute Vergangenheit sein, man wird von der großen Zeit und von den namenlosen Helden sprechen, die Geschichte machten. Ich möchte festhalten, daß es keine namenlosen Helden gab. Daß sie Menschen waren, die einen Namen, ein Gesicht, die Sehnsüchte und Hoffnungen hatten, und daß deshalb der Schmerz auch des allerletzten unter ihnen nicht geringer war als der Schmerz des ersten, dessen Name überdauert. Ich möchte, daß sie allesamt euch immer nahebleiben wie Bekannte, wie Verwandte, wie ihr selbst.»
Am 10. November 1918 erstürmte das Erste Garde-Regiment zu Fuß erfolgreich die Höhe 249 bei Sedan. Am Tag danach akzeptierte eine deutsche Delegation im Wald von Compiègne bei Paris die Waffenstillstandsbedingungen der Siegermächte. Die Waffen schwiegen. Das Reich war geschlagen. Am 11. Dezember zog das Erste Garde-Regiment blumengeschmückt, mit klingendem Spiel und silbergewirkten Fahnen in die traditionsreiche Garnisonsstadt Potsdam ein, an der Spitze eines Zuges Henning von Tresckow, Träger des Eisernen Kreuzes und mit 17 Jahren jüngster Leutnant der Armee. Einer Armee, deren oberster Kriegsherr nach Holland geflüchtet war und die seit dem 9. November 1918 einer Republik zu dienen hatte. Denn an jenem Tag war die Staatsmacht dem Parteivorsitzenden der SPD, Friedrich Ebert, zugefallen, weil die Planer und Antreiber dieses Krieges sich nun vor der Verantwortung der Niederlage drückten.
In diesen Novembertagen schrieb der 38jährige Major im Oberkommando des Heeres, Ludwig Beck, nach Hause: «Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die … von langer Hand her vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen.» Wie Beck waren von nun an Millionen Deutsche überzeugt, daß «Revolution» und «Demokratie» identisch wären und das Reich um den Sieg gebracht hätten. Die «Dolchstoßlegende» vergiftete von Anfang an das Klima in der Republik. Ebenfalls im November 1918 erhielt der pommersche Gutsbesitzer Ewald von Kleist in Schmenzin eine Vorladung des soeben gebildeten Arbeiter- und Soldatenrates. Er solle sich zur nächsten Sitzung einfinden. Der adlige Landmann zerriß das Papier. Für ihn gab es keine Demokratie, sondern war der König von Preußen wider alles Recht an der Ausübung der Regierung gehindert.
Was Gutsbesitzer und Offiziere demonstrierten, entsprach den Überzeugungen und Erwartungen der großen konservativen Mehrheit in Adel und Bürgertum. Eine Mehrheit, auf die sich das wilhelminische Deutschland bei seinem demokratiefeindlichen Kurs im Innern und seinen Expansionsversuchen hatte stützen können. Ihre Vertreter gaben nach dem äußerlichen Zusammenbruch ihrer Welt sofort die Losung aus, mit der die soeben mehr zufällig geborene Weimarer Republik fertig werden mußte und an deren trotzigem Anspruch sie schließlich scheitern sollte: Im Felde unbesiegt! Das hieß: Rache für den Frieden von Versailles, in den der Waffenstillstand von Compiègne schließlich mündete. Es bedeutete zugleich die grenzenlose Verachtung jener, die diesen Frieden akzeptierten und für die Republik standen. Als «Novemberverbrecher» und «Vaterlandsverräter» waren sie abgestempelt.
Die deutschen Kirchen, die im Krieg gepredigt hatten, daß Gott auf seiten der deutschen Bataillone stand, verbündeten sich mit den Feinden der Republik und sagten ungeniert, was sie von der Außenpolitik der jungen Demokratie hielten. Wenn der Pastor Paul Konrad im Winter 1918/19 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die Kanzel bestieg, war das Gotteshaus stets gefüllt – von Kaisertreuen, die wußten, daß sie Trost und Zuspruch erhielten. Seinen Konfirmanden gab der Pastor den Leitspruch mit ins Leben: «Evangelisch bis zum Sterben. Deutsch bis in den Tod.» Als im September 1919 in Dresden der 1. Deutsche Evangelische Kirchentag nach dem Krieg zusammenkam, sagte dessen Präsident: «In einem Weltkrieg ohnegleichen, nach einem mehr als vierjährigen heldenmütigen Ringen ohnegleichen, gegen eine ganze Welt von Feinden ist unser Volk zusammengebrochen. Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreichs, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin … Dem furchtbaren Krieg hat ein furchtbarer Friede kaum ein Ende gesetzt.»
Das traditionelle Bündnis von «Thron und Altar» hatte die deutschen Lutheraner so fest an das Schicksal des Reiches gekettet – der Kaiser war ihr oberster geistlicher Leiter –, daß mit dem Zusammenbruch dieses Reiches auch ihr Schicksal besiegelt schien. Das Leben in einer anderen Staatsform und die Absage an einen militärischen Nationalismus waren für die meisten Protestanten undenkbar. Erst im November 1918 wagten alle diejenigen evangelischen Theologen, die sich zum 400. Geburtstag Luthers im Oktober 1917 gegen den Krieg erklärt hatten, ihren Namen preiszugeben: «Wir deutschen Protestanten reichen im Bewußtsein der gemeinsamen christlichen Güter und Ziele allen Glaubensgenossen, auch denen in den feindlichen Staaten, von Herzen die Bruderhand.» Selbst dieses Minimum evangelischer Solidarität blieb weiterhin rar. Die Kirchenleitungen ordneten 1919 einen jährlichen Trauersonntag an – als Protest gegen Versailles und die «Kriegsschuldlüge». Die Anordnung wurde zehn Jahre später ausdrücklich erneuert.
Der Feuerofen des Krieges hatte nur wenige geläutert. In den Stahlgewittern an der Front, in Blut und Dreck hofften die Alteren auf ein größeres Deutschland und die ganz Jungen noch dazu auf eine Bewährung: Der Adel der Schlacht sollte sie zum Manne machen.
Zu den jungen Soldaten, die im Winter 1918/19 heimkehrten, gehörte auch Adolf Reichwein. Er war ein überzeugter «Wandervogel», Vertreter einer Generation, die in der Jugendbewegung ihren Protest gegen die verknöcherte Welt der Erwachsenen auslebte – und nach dem Abitur sofort und freiwillig in den Krieg gezogen war. Der 18jährige, der im Ausbildungslager auf etliche «Wandervögel» traf, hatte im April 1917 an seine Eltern geschrieben: «Wir Wandervögel wünschen uns natürlich nichts anders als möglichst bald einen Transport nach Frankreich, denn es wäre bitter, wenn wir das Kriegsende im Rekrutenlager erleben müßten.» Im Juli war es soweit: «… denn am 1. August gehts zur Front! Ein denkwürdiger Tag, und ein gutes Vorzeichen, am 4. Jahrestag unsres siegreichen Krieges in die Reihen der Kämpfer vorne zu treten.» Adolf Reichwein kam aus einer liberal-bürgerlichen Lehrerfamilie. Bei aller nationalen Begeisterung war ihm ein kritischer Blick auf die Schlachtfelder ringsum noch möglich. Er machte den Versuch, das Völkermorden zu analysieren, ohne ihm eine radikale Absage zu erteilen: «Der moderne Krieg wühlt derart alle Kräfte und Gegenkräfte durcheinander, daß keine Partei ohne ernste Krise ihn überstehen kann. Diese Krise birgt unwillkürlich in sich das wirkliche positive Kulturmoment des Krieges, indem sie als Heilmittel gegen sich selbst soziale Reformen auslöst.» Der Krieg nicht als Instrument, um die alten Strukturen zu bewahren, sondern im Gegenteil als Katalysator einer besseren, gerechteren Zeit.
In Darmstadt trug im November 1918 ein Flugblatt die Konsequenz solcher Gedanken der jungen Kriegsgeneration an die Öffentlichkeit. Eine Zeitschrift warb unter neuem Namen und neuem Programm um Leser: «Die ‹Dachstube› ist zu Ende. Sie hat gesammelt, gesichtet, geschult. Das ist erfüllt. Jetzt gilt es mehr, gilt den Umriß der neuen Welt aufzuzeichnen, für ihn kämpfen; Schweigen ist Verrat. Ein neues Publikum marschiert herauf. Größere Ziele gebietet uns die Zeit. Wir errichten das Tribunal. Wir stehen zu dem Neuen gegen das Verrottete.» Monatlich für 50 Pfennig sollte das «Tribunal» erscheinen, als Herausgeber zeichnete Carlo Mierendorff. Im Frühjahr 1914 hatte der Darmstädter Bürgersohn sein Abitur gemacht, im Herbst war er als Kriegsfreiwilliger in Rußland eingesetzt werden. Von der Front schickte er literarische Versuche in die Heimatstadt, wo Gymnasiasten die «Dachstube» gegründet hatten. Eine von vielen radikalen Zeitschriften, die ein Zeichen setzen wollten. Die Sprache sollte die Spießbürger aufrütteln, provozieren, als ein erster Schritt, den Lauf der Dinge verändernd zu gestalten.
An die westliche Front zurückgekehrt, bei Langemarck, wo Hunderte von jungen Freiwilligen zwecks Erstürmung einer Anhöhe in den Tod geschickt wurden, erhielt Carlo Mierendorffaus der Hand des Kaisers das Eiserne Kreuz. Trotzdem kam er zurück aus dem Krieg mit der Überzeugung: Nie wieder. Der gleichaltrige Carl Zuckmayer wurde Autor für das «Tribunal» und Mierendorffs Freund: «Wir waren vom Krieg geprägt und gezeichnet, aber wir fühlten uns vom Krieg nicht zerstört. Wir hatten ihn überlebt und überwunden, wir hatten unsere heile Haut heimgebracht, jetzt wollten wir vorwärts, in ein anderes Stadion, wo es galt, neue, kühnere Kämpfe zu wagen. Wir blickten auf die Kriegszeit zurück, ohne verklärende Romantik, aber auch ohne Selbstmitleid, Bitterkeit oder Klage.»
Es war die Einsicht der Außenseiter. Den meisten Kriegsteilnehmern, auch den jüngeren, ging es in diesem November 1918 wie dem 29jährigen Gefreiten Adolf Hitler, der sich wegen einer Gasvergiftung im Lazarett befand und das Ende des Krieges als «die entsetzlichste Gewißheit» seines Lebens empfand: «Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen. Seit dem Tage, da ich am Grabe der Mutter gestanden, hatte ich nicht mehr geweint … Nun aber konnte ich nicht mehr anders.» Die Zeitgenossen am Ende des Ersten Weltkrieges sahen voller Ängste in die Zukunft; verzweifelt klammerten sie sich an das Vergangene; trauerten, ohne nach der eigenen Schuld zu fragen; blieben überzeugt, daß im Kampf die Lösung für alle Probleme zwischen den Menschen und den Völkern liege. Die militärischen Kategorien von «Freund und Feind» wurden als Richtschnur in die Demokratie übernommen.
Das trotzige Aufbäumen der Mehrheit gegen alles Neue, die Verweigerung jeden Dialogs mit denen, die Erben der Niederlage geworden waren, werden um so schwerer begreifbar, wenn die Scheinwerfer sich auf die neuen Repräsentanten staatlicher Macht richten: An ihrer Spitze Friedrich Ebert, erst Übergangskanzler, dann Präsident der verfassunggebenden Versammlung in Weimar und schließlich bis zu seinem Tod 1925 vom Volk gewählter Präsident der Republik. Niemand konnte diesem Sozialdemokraten vorwerfen, Wegbereiter der Revolution zu sein. «Verlaßt die Straßen! Sorgt für Ruhe und Ordnung!» lautete sein erster Aufruf am 9. November 1918. Und gemäß dieser Maxime hat er stets versucht, Politik zu betreiben, mochten die Zeiten auch noch so verworren sein. Friedrich Ebert war ein Sozialist und Demokrat, und nichts konnte ihn in seiner Überzeugung wankend machen, daß die parlamentarische Demokratie die sozialistische Gesellschaft bringen würde – ohne blutige Revolution.
Damit war er nicht allein. Die Arbeiter- und Soldatenräte, die im Winter 1918/19 überall als Organe der Selbstverwaltung entstanden, waren keineswegs Horte von Radikalität und Anarchie. Nur ihre Gegner haben sie so diffamiert und Geschichtsschreiber diese Verzeichnung allzu lange übernommen und als historische Wahrheit ausgegeben. In fast allen Räten hatten gemäßigte Sozialisten die Mehrheit, und auch Rosa Luxemburg vom radikalen linken Flügel war überzeugt: «Die Revolution braucht keinen Terror.» Die sozialistische Front hatte sich allerdings gespalten und viele Arbeiter waren an ihrer SPD irre geworden. Im August 1914 hatte Karl Liebknecht als einziger SPD-Abgeordneter im Reichstag gegen die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt, im Dezember 1915 waren es schon 43 Abgeordnete. Ab 1916 kam es zu immer größeren Streiks gegen den Krieg und für einen baldigen Frieden. Als der Rausch der Kriegsbegeisterung verflog, waren es die Arbeiter, die als erste zur Besinnung kamen und von ihrer Partei eine andere Politik forderten. Als diese Politik ausblieb, verließ eine beachtliche Minderheit die SPD und fand sich 1917 in der Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutschlands (USPD) zusammen. Ganz links im sozialistischen Spektrum stand der Spartakusbund, der trotz seiner geringen Anhängerschaft durch die politische Begabung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Aufsehen erregte. Die Abspaltungen und Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung waren auch deshalb so bitter, weil sich alle Fraktionen selbstverständlich weiterhin zur sozialistischen Familie zählten. Ihr Traum von einer besseren Welt war der gleiche geblieben, mochten sich auch die Wege dorthin getrennt haben. Alle hatte die Arbeiterkultur tief geprägt.
Der Münchner Robert Eisinger war 1918 mit 18 Jahren in die USPD eingetreten. Von seinem Vater – einem kleinen Angestellten und SPD-Mann – beeinflußt, hatte er die Haltung der SPD zum Krieg als Verrat empfunden. Sein Ideal war ein internationaler Sozialismus und Pazifismus. Der junge Eisinger war Marxist. Aber seine Vorstellung von der «Diktatur des Proletariats» trug wenig klassenkämpferische Züge: «Ich dachte dabei keineswegs an die Verstaatlichung aller Industriezweige, sondern vielmehr an deren Übergang in den Allgemeinbesitz eines Volkes. Ich dachte auch niemals bei diesem Gedanken an das sogenannte Proletariat als nur einer Klasse der Arbeiterschaft, sondern immer an das Volksganze, an die Herrschaft des Volkes im Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals.» Es ging Eisinger, der im Dezember 1918 Kurier für die Münchner Räteregierung wurde, um ein großes allgemeines Ziel. Und der Münchner hätte sicherlich unterschrieben, woran der Bochumer Arbeitersohn Heinrich König, der schwer verletzt aus dem Krieg heimkehrte und wie sein Vater aktives SPD-Mitglied war, 1918 felsenfest glaubte: «Die Idee des Sozialismus wird alle Stürme und Krisen siegreich überstehen.»
An den Realitäten gemessen, schien solche Überzeugung naiv. Ein Aufstand der Spartakisten im Januar 1919 in Berlin gegen die Regierung Ebert endete im Desaster. Rosa Luxemburg, die von der Weisheit dieses Kampfes keineswegs überzeugt war, und Karl Liebknecht wurden brutal ermordet. Ihre Mörder gehörten zu den sogenannten Freikorps, Freiwilligenverbände, die alle aufnahmen, die dieser Republik den Kampf geschworen hatten. Es waren Männerbünde, in denen ehemalige Berufssoldaten und Bürger, die sich nach dem Krieg nicht mehr in die zivile Ordnung fügen konnten, hemmungslos ihren Haß auf das «rote Gesindel» auslebten. Haus für Haus durchkämmten sie in Berlin die Bezirke, in denen die Spartakisten kämpften. Die Männer der Freikorps jagten die Aufständischen wie Tiere in die Hinterhöfe und erschossen sie dort in Gruppen zu 15 oder 20 Mann.
Eine Mehrheit in der SPD war bereit, den angeblichen Teufel mit Beelzebub auszutreiben. «Einer muß halt den Bluthund machen», sagte Gustav Noske, ein alter SPD-Kämpfer, der nicht zögerte, wenn einmal eine Entscheidung gefallen war. Und für ihn hieß die Entscheidung in diesem Winter 1919: gegen die radikalen linken Brüder und Schwestern, die ihre Utopien auch mit Gewalt durchsetzen wollten, ist jeder Verbündete recht. Männer wie Ebert und Noske waren eher bereit, den traditionellen Machteliten aus den Zeiten des Kaiserreiches – und Feinden der SPD – zu trauen, als den Abweichlern aus den eigenen Reihen. Bei den Funktionären der Partei war die Angst vor der Spontaneität der Massen und vor ungewohnten Situationen größer als die Risikofreude, die Chance zu einem wirklichen Neuanfang in Staat und Gesellschaft wenigstens auszuloten und Reformen zu wagen, statt bestehende Strukturen um jeden Preis zu bewahren. Man darf nicht die Augen verschließen vor dem Haß, mit dem die verschiedenen Lager der Arbeiterbewegung gleich zu Beginn der Republik einander tiefe Wunden schlugen. Die Spartakisten gingen mit ihren Waffen gegen Sozialisten vor, als sie das Regierungsviertel stürmten. Der sozialdemokratische «Vorwärts» schrieb nach dem Mord über Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht: «Sie haben sich selbst bekannt als Bürgerkriegshetzer, als Proletariermörder, Brudermörder, und ewig muß ihnen das furchtbare Wort in den Ohren gellen: Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.»
Die Art, wie Gustav Noske mit den Spartakisten fertig wurde, imponierte einem Mann, der aus ganz anderem Holz geschnitzt war. Als Noske während des Aufstands im Berliner Süden Quartier nahm und dann mit den kämpfenden Truppen in die Stadt marschierte, wich der Kapitänleutnant Wilhelm Canaris nicht von seiner Seite. Er hatte Noske schon in Kiel assistiert, wo der SPD-Mann beim Arbeiter- und Soldatenrat für Ordnung sorgte. Canaris war in einer großen Villa in Duisburg mit Kindermädchen, Gärtner und Chauffeur aufgewachsen und Marineoffizier geworden. Mit der Demokratie konnte er sich kein Leben vorstellen. Führernaturen faszinierten den zierlichen, nervösen Canaris ebenso wie das verschwörerhafte Tun der rechtsradikalen Freikorps, unter denen er bald viele Freunde gewann.
Den Gegnern der Republik blieb nicht verborgen, in welchem Dilemma die SPD aufgrund der Regierungsverantwortung steckte. Rücksichtslos versuchten sie, der Demokratie von Weimar den Todesstoß zu versetzen. Im März 1920 wurde wieder das Regierungsviertel gestürmt, diesmal von der rechtsradikalen Freiwilligenbrigade Ehrhardt, die Wolfgang Kapp zum Reichskanzler ausrief. Ewald von Kleist, auf seinem pommerschen Besitz gut unterrichtet, gehörte zu denen, die sofort auf Kapps Seite traten. Eigenmächtig ließ er den Landrat in die Kaserne sperren und übernahm selbst die Amtsgeschäfte. Es ist fast ein Wunder: Der Putsch von rechts scheiterte, obwohl die Regierung von Berlin nach Stuttgart flüchten mußte und die Reichswehr sich weigerte, gegen die Putschisten vorzugehen.