Cover

Jenny-Mai Nuyen

Noir

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Jenny-Mai Nuyen

Jenny-Mai Nuyen wurde 1988 als Tochter deutsch-vietnamesischer Eltern in München geboren. Geschichten schreibt sie, seit sie fünf ist, mit zehn folgte das erste Drehbuch, mit dreizehn ihr erster Roman. Seit ihrem literarischen Debüt «Nijura – das Erbe der Elfenkrone» gilt sie als eine der größten Entdeckungen der letzten Jahre.

Nach einem abgebrochenen Filmstudium an der New York University lebt die Autorin heute in Berlin und widmet sich ganz dem Schreiben.

 

«Jenny-Mai Nuyen gehört in die oberste Riege deutscher Fantasy-Autoren.»

Bild am Sonntag

 

«Jenny-Mai Nuyen schreibt sehr sinnlich, eine ihrer Stärken liegt im Beschreiben des Atmosphärischen.»

Tages-Anzeiger

Über dieses Buch

Nino Sorokin ist dabei, als der Unfall geschieht. Seine Eltern sterben, ihm bleibt eine besondere Gabe: Er sieht den Tod eines jeden Menschen voraus. Auch den eigenen. Von nun an ist er besessen von der Frage, wie man das Schicksal überlisten kann. Er weiß, er wird nur 24 Jahre alt – und sein Geburtstag rückt immer näher. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Ninos Suche führt ihn zu einem geheimen Zirkel von Mentoren, die Seelen sammeln. Und er begeht den größten Frevel, den der Zirkel kennt: Er verliebt sich in eine der Seelenlosen. In die geheimnisvolle Noir, die bereits auf der Schwelle zum Jenseits steht …

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

(Abbildung: plainpicture/Anja Weber-Decker)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-86252-028-2 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-90211-4

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-90211-4

Prolog I JETZT

Die Wirklichkeit, das ist ein Doppelzimmer in einem heruntergekommenen Business-Hotel, in dem du einen Mann erschossen hast. Gerade eben. Erinnere dich, es riecht noch nach dem Rauch seiner Zigarre.

Im Bett liegt Noir, oder vielmehr ihr Körper. Noir selbst ist in ihren Träumen, in einer Welt, die es damals oder auch nie gegeben hat. Irgendwo anders jedenfalls, nicht hier. Während du sie betrachtest, scheint sie in ihrer Nacktheit immer geisterhafter zu werden. In diesem Moment bist du dir sicher, dass sie nicht real ist. Aber genauso sicher bin ich, dass ich sie liebe.

Der Verkehr draußen ist so laut, dass es fast unmöglich ist, nachzudenken. Das musst du aber. Du musst verstehen, wo es angefangen hat. Wirf deine Gedanken aus wie eine Angel, weit in die Vergangenheit. Wie silbrige Fische werden Erinnerungen danach schnappen, in dem Geschillere musst du den einen Zeitpunkt finden, wo deine Geschichte beginnt. Als du noch Er warst. Bevor Noir kam, und mit ihr das Träumen.

Der Lärm der Autos sirrt dir durch den Kopf, du riechst Benzin, spürst zwei Stockwerke tiefer die Gullys scheppern, fühlst den Strom, das Vibrieren, das Herzhämmern der Menschen, und da findest du ihn: deinen Anfang.

Prolog II Das Sterben

Alexej Sorokin hatte eine Kindheit mit fünf älteren Brüdern und einem trinkenden Vater überstanden, drei Magengeschwüre, eine fehlgeschlagene Flucht aus der DDR und zwölf Jahre mit seiner ehemaligen Schwiegermutter, und nach all diesen Schicksalsschlägen hätte er nie gedacht, dass er an einem sonnigen Juninachmittag in einem Auto sterben würde. Er hatte noch nie einen Unfall gebaut. Nicht einmal in den fünf Jahren, die seine zweite Frau nun schon neben ihm saß.

«Musst du ewig provozieren! Weißt du genau, Katjuscha ist VE-GE-TA-RI-ER-IN!» Lucia schlug bei jeder Silbe die flache Hand auf ihren Oberschenkel. Sie war Opernsängerin, ihre Stimme war auf Lautstärke trainiert und besaß den Nachdruck eines Schlaghammers. In solchen Augenblicken dachte er manchmal an die Affäre, die er kurz nach seiner Scheidung gehabt hatte, eine anämische Violinistin von asiatisch anmutender Schweigsamkeit, die nicht einmal etwas gesagt hatte, als er sie für den Westen verließ. Sie hatte ihm bloß eine Grußkarte gegeben, mit ihrer sorgfältigen Unterschrift unter dem Abschiedsgedicht. Die Reize ihres Charakters offenbarten sich ihm erst viele Jahre später.

«Deine Tochter wird das nicht essen, was du da –»

Alexej bremste scharf ab, als ein Mercedes ohne zu blinken die Spur wechselte. Entrüstet über den Mercedesfahrer, entrüstet, dass so jemand ein solches Gefährt besaß, während sein eigenes Pianistengehalt kaum für das Benzin des gebraucht gekauften Fiats reichte, und entrüstet über Lucia, die ausgerechnet jetzt seine Vaterqualitäten diskutieren musste, fluchte er ausgiebig und überholte den Mercedes mit einem waghalsigen Schlenker.

«Mein Gott!» Lucia presste sich eine Hand auf die Brust und drehte sich demonstrativ zu Nino um. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte Alexej jedoch, dass ihr Sohn völlig unbeeindruckt vom Geschehen aus dem Fenster blickte. Dass im Auto gestritten wurde, war schon so etwas wie Familientradition.

«Lass deine Wut bitte nicht auf die Straße raus.»

«Welche Wut? Ich bin ruhig!»

Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Eine Weile knirschte Alexej mit den Zähnen. Es war hoffnungslos, mit Lucia zu streiten. Sie verstand es nicht. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, die eigene Tochter erwachsen werden und ins Verderben stürzen zu sehen. Dennoch konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen: «Ich habe jedes Recht, wütend zu sein. Mein Kind ist einer Sekte zum Opfer gefallen.»

«Es ist keine Sekte, es ist eine Wohngemeinschaft.» Sie bohrte ihren Finger in das heiße, in Alufolie gewickelte Paket auf seinem Schoß. «Und da will niemand Pelmeni mit Schweinefleisch!»

«Kein Fleisch, als wäre das ihre Idee gewesen, die reinste Gehirnwäsche!»

«Wie kommst du bloß darauf, dass es eine Sekte ist?»

«Hast du mal diese Ketten gesehen, die die tragen? Diese, diese Muscheln und Steine?»

«Ja, und? Das ist jetzt Mode so.»

Er schlug die Handfläche aufs Lenkrad, dass ein Hupen erklang. «Tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass es Lesben sind!»

Stille trat ein. Alexej schoss das Blut ins Gesicht. Er hatte es bis jetzt nicht ausgesprochen. Dabei hatte er doch überhaupt nichts gegen diese Leute, wirklich nicht. Nicht mehr als gegen die pubertierenden Lüstlinge, die seiner Tochter bisher nachgestiegen waren.

Lucia reckte sich auf ihrem Sitz. Mit eisiger Stimme befahl sie: «Halt jetzt an. Wir kaufen einen Strauß Blumen e Dolci und werfen das Fleisch weg, basta.»

«Darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass Katjuscha in diesem Alter noch nicht – jetzt lass – lass die Pelmeni –»

Während Lucia und Alexej um die gefüllten Teigtaschen kämpften, entdeckte ihr Sohn auf dem Rücksitz die Welt.

Nino war fast fünf Jahre alt, das wusste er, auch wenn er das Ausmaß dieser Zeit nicht begriff. Sonst hätte er sich womöglich gewundert, so wenig von seinem bisherigen Leben mitbekommen zu haben. Aber er dachte nicht an die Vergangenheit, die Gegenwart war viel spannender.

Seine blaue Jacke hatte einen grauen Reißverschluss, der exakt dieselbe Farbe hatte wie der Gurt des Kindersitzes. Er hatte nach weiteren farblichen Übereinstimmungen zwischen ihm und seiner Umgebung gesucht und mehr Beweise für die schicksalhafte Richtigkeit seiner Existenz entdeckt: Der Stadtplan, der aus der Sitztasche vor ihm lugte, hatte eine Vorderseite im selben Rotton wie seine Schnürsenkel – wenn er die Beine ausstreckte, konnte er seine Schuhe fast daranhalten –, und vielleicht hatten die Ohrringe seiner Mutter genau dieselbe Farbe, aber sicher war er nicht, denn ihre krausen blonden Haare flogen nach allen Seiten, während sie seinem Vater das Paket mit den Pelmeni entriss.

Nino wandte sich dem Fenster zu. Alles wischte in großer Geschwindigkeit an der Scheibe vorbei, sodass er den Kopf schräg halten und nach vorne spähen musste, um überhaupt etwas zu erkennen.

Draußen gab es noch viel mehr farbliche Zusammenhänge. Ja, wenn er sich nur auf die Farben konzentrieren und übersehen könnte, dass die Kleckse zu Menschen, Geschäften und Autos gehörten, dann würde er gewiss ein Muster erkennen, das irgendetwas Sinnvolles ergab. Ein Zeichen, ein Bild hinter Werbeplakaten und Jacken und Müll und in Schaufenstern ausgestellten Kleidern, Staubsaugern und Fernsehgeräten. Alles hing zusammen, alles wurde erst im Zusammenhang bedeutsam, auch wenn er nicht hätte sagen können, warum. Vielleicht, weil ihm die Worte für eine so große Erkenntnis fehlten. Ihm fehlten viele Worte. Wenn seine Eltern nicht gerade stritten, sagten sie ihm die Namen der Dinge. Alles hatte einen Namen. Hubschrauber und Schraubenzieher und Ziehharmonika und Monika-von-Nebenan und, und, und. Sogar Sachen, die eigentlich nur Teil anderer Sachen waren, so wie … wie … Fensterscheibe. Er betrachtete seine Hände und fragte sich, warum Finger nicht Handstückchen hießen, denn sie gehörten doch eigentlich zur Hand. Aber dann müssten auch seine Hände nur Armstücke heißen und seine Arme Ninostücke. Manche Sachen hatten gleich mehrere Namen. So wie Auto auch Schlitten und Schrottkiste hieß. Und dann gab es ja noch verschiedene Sprachen – Deutsch, Russisch und Italienisch, gleich drei! –, und in jeder gab es wieder mehrere verschiedene Begriffe. Das alles war sehr kompliziert, das mit den Namen, und er stellte sich mit Ehrfurcht vor, wie er eines Tages alle im Kopf haben würde, so wie seine Eltern.

Seufzend ließ er die Hände sinken. Menschen bevölkerten den Bürgersteig, und noch mehr mussten in den Häusern sein: eine Fensterreihe über der anderen, ein Wohnblock neben dem nächsten, so unermesslich viele Wohnungen mit Leben darin, dass einem ganz schwindelig werden konnte. In einer dieser Wohnungen war seine Halbschwester Katjuscha, die bunte, glitzernde, klimpernde Kleider trug und ihm zu seinem Geburtstag ein Auto geschenkt hatte, das unter Schränke raste, wenn man es aufzog. Was seine Eltern über sie sagten, dass sie Vegetarierin war und so weiter, klang beunruhigend, aber hatte doch nichts mit der echten Katjuscha zu tun, die mit ihm Verstecken spielte. Auch das war so eine Sache mit Namen. Sie schienen manchmal wichtiger zu sein als das, was sie eigentlich beschrieben.

Nino glaubte einen Schwarm Fische zu sehen, der aus einem Haus an der Kreuzung weiter vorne ausbrach. Doch es waren keine Fische. Es war ein Regen blitzender Scherben. Und dann flog etwas Größeres hinterher, ein –

Seine Mutter schrie. Sein Vater riss das Lenkrad herum, Arme und Beine schlugen mit bösartigem Krachen auf die Heckscheibe. Ein blutiges Gesicht zertrümmerte die Scheibe. Seine Eltern zersprangen in Glassplitter und Farbspritzer und reifenquietschenden, zähnefletschenden Schmerz.

 

Stille, so tief wie ein Sahnekuchen mit vielen, vielen Schichten. Wenn man genau hineinlauschte in diese Stille, erkannte man, dass sie aus Abermillionen feiner Stimmen bestand, so wie das Nichts genauso gut voller Schneeflocken sein konnte. Stille und Lärm, das Nichts und das Alles waren im Grunde nicht auseinanderzuhalten.

Er blickte auf einen Fluss, hinter dem nichts war. Auch davor war nichts Wahrnehmbares, nur er, und er nahm sich eigentlich nicht wahr.

Der Fluss hatte gar kein richtiges Aussehen, und doch wusste er, dass es ein Fluss war, so wie Erwachsene in den Buchstaben eines Buches Dinge erkannten, die es gar nicht gab.

Seine Eltern gingen über das Wasser und wurden immer durchsichtiger, bis ihre Stimmen in der Stille versanken und das Nichts sie aufgenommen hatte. Er wollte ihnen hinterher, aber er konnte den Fluss nicht betreten. Andere Leute waren da, unzählige Leute, und alle schritten über die stillen Fluten. Seine Eltern waren längst verschwunden, doch er sah ihre Gesichter auf der Oberfläche des Flusses davonfließen, immer wieder, so flüchtig und endlos, wie die Häuser und Passanten am Autofenster vorbeigeströmt waren.

Er merkte, dass er nicht der Einzige war, der am Ufer stand. Neben ihm war das blutige Gesicht, das die Heckscheibe zertrümmert hatte.

Das Gesicht war sehr schön. Er sah die Augen wie durch ein Mikroskop vergrößert, die Lichtgebirge der Iris, die pulsierenden Pupillen mit ihrer weltalltiefen Finsternis, und eine sonderbare Erregung durchspülte ihn, so als würde er in diesen Augen versinken wie in den Armen seiner Mama, nur noch tiefer.

Die Frau, der die Augen gehörten, machte einen Schritt, um über den Fluss zu gehen. Die Fluten verwandelten sich in einen gierigen Strudel, packten ihren Fuß und zogen sie hinab. Sie warf Nino einen entsetzten Blick zu. Lauter wichtige, drängende Fragen rasten ihm durch den Kopf, aber er brachte kein Wort hervor.

«Julie!», japste sie.

Er begriff, dass das ihr Name war.

Er wollte ihr auch seinen Namen nennen, aber er erinnerte sich plötzlich nicht an ihn, er wusste ja gar nicht richtig, wer er war. Schon hatte das schwarze Wasser sie verschlungen. Tropfen spritzten ihm auf die Stirn und er spürte, wie auch über ihn eine taumelnde Schwerkraft hereinbrach und ihn vom Fluss fortzog, durch die Stille, bis die Stimmen auseinanderfädelten, wieder zu Lärm wurden, Er wacht auf! Wir haben ihn! Wir haben ihn!, und im Lärm das Piepen seines Herzschlages, blendende Lichter, Menschen in grünen Anzügen, die sich über ihn beugten, seinen Körper an Schläuche anschlossen und am Leben hielten.

1.

Ein monströser Puls, begleitet vom Kammerflimmern elektronischer Beats, schwappte aus dem grün beleuchteten Eingang in die Dunkelheit. Für ihn klang es wie Sirenengesang.

Nino Sorokin zündete sich an seinem Zigarettenstummel gleich die nächste Zigarette an, obwohl er eigentlich Nichtraucher war. Aber er hatte die Marlboros gerade erst gekauft und hielt eine volle Schachtel immer für ein verräterisches Indiz dafür, dass man nur aus sozialen Gründen rauchte – und wer wollte sich schon zu jener prätentiösen Gruppe von Menschen bekennen, die sich zu schade war für echte Sucht? Gesundheitsbewusstsein war angesichts dieser Umgebung auch geradezu lächerlich. Nervös nahm er zwei Züge. Er kannte die meisten Clubs der Stadt, die Technotempel voller Touristen, die versteckten Drogenhöhlen, die jedes halbe Jahr geschlossen und anderswo neu eröffnet wurden, die Schickimickiläden, wo alterslose Frauen nach dem Mann mit der größten Champagnerflasche Ausschau hielten. Aber das hier war selbst für ihn neu: ein heruntergekommenes Fabrikgebäude mit eingestürztem Dach, in dem nur diese eine Nacht etwas stattfinden würde, ohne Regeln und Tabus. Und natürlich ohne Genehmigung. Philip hatte ihm vor einigen Wochen die Adresse eines Internetblogs gegeben, auf der man die süßesten Katzenbabyfotos fand – und alle paar Monate ein weißes Kaninchen, das einem die Zeit und den Ort der Party der Stadt verriet. Diesmal in einem verfallenen Chemiewerk am Ende der Welt, das hieß zehn Minuten von der letzten S-Bahn-Station und gefühlte 30000 Kilometer von der Realität entfernt.

Gut vierzig Leute standen Schlange vor dem Eingang. Nino ließ den Blick über die von Zigarettenglut umschwärmte Menge schweifen: die üblichen androgynen Mädchen und Jungen in Klamotten vom Flohmarkt, sorgfältig mit nostalgischen Fuchsschwänzen und Fellmützen bestückt, obwohl es August war und auch nachts warm genug, um ohne Jacke auszugehen, ganz zu schweigen von Mützen. Hier und da erblickte er ältere Typen in Jogginganzügen mit verlebten Gesichtern, die besoffen waren oder sich ganz bewusst zum Clown machten. Restposten der Rave-Ära, die den Zug ins Erwachsenwerden verpasst hatten. Aber sie wussten immer, wo es etwas zu feiern gab.

Er zückte sein Handy und rief Philip an. Zwei Versuche waren erfolglos geblieben, aber jetzt ging er endlich dran. Aus dem Hörer dröhnte verzerrte Musik, dann ein Brüllen: «Wo steckst du!»

«Ich bin draußen! Da ist eine Schlange!» Eine Schlange vor einer illegalen Party, bei Gott.

«Warte! Ichhrchschmrchschaaai!» Die Verbindung brach ab. Nino war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte, dass Philip rauskam. Er fingerte eine weitere Zigarette aus der Schachtel. Ein Mädchen entdeckte ihn im Schatten des Schrottberges, wo er stehen geblieben war, und torkelte auf ihn zu. Auf Englisch, mit einem starken schwedischen Akzent, bat sie ihn um eine Kippe. Er gab ihr seine. Sie hob ihre Bierflasche als Zeichen des Dankes und blieb einen Moment länger als nötig vor ihm stehen. Dreiundvierzig. Mit dreiundvierzig multiple Sklerose. In der Nacht heimlich weinend, wenn die Kinder es nicht mitbekommen. Als er seinem Blick keine Worte folgen ließ, verzog sie sich mit einem «Byeee» wieder in die grün verträumte Dunkelheit.

Eine Minute verstrich. Er lehnte sich an ein Metallfass und wartete, dass der Eingang Philip ausspuckte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Schwedin zu ihm herüberspähte, aber er ignorierte sie lieber. Dreiundvierzig, sie hatte noch viel Zeit und würde hundert andere Männer so ansehen wie ihn, die ihr Interesse auch erwiderten. Das Handy begann in seiner Hand zu vibrieren.

«Philip?»

Die Musik klang jetzt wie durch Butter gedämpft, Philip musste in einem engen Raum sein, vermutlich auf der Toilette. «Nino, kann ’d mich hörn?»

«Ja!»

«Sag anner Tür, du bisn Freun’ von Miösdi!»

«Wem?» Nino musste lachen. «Mösi?»

«Mesösamdi!»

«Buchstabier’s mir.»

«M-I-S-I-Ö-S-A-M-D-I!»

«Monsieur Samedi? Wer ist das?»

«Komm rein! Treppe hoch zu Bar!»

«Bis gleich.» Nino steckte das Handy ein und ging an der Schlange vorbei. Glasscherben knirschten unter seinen Schuhen. Hungrige Gesichter blickten ihm nach, hungrig auf etwas Verbotenes, etwas Echtes. Alle suchten sie dasselbe, nur dass er besser als die anderen wusste, was das war. Zwei Türsteher bewachten das grüne Maul, ein muskelbepackter Glatzkopf und ein Kerl mit Hornbrille, nacktem Oberkörper und einer Bulldogge an der Leine. Der Glatzkopf bedeutete Nino, stehenzubleiben.

«Nur Freunde von Freunden.»

«Ich bin ein Freund von Monsieur Samedi», rief er gegen den herausschwemmenden Lärm.

Nino bemerkte, dass die Augen hinter den Brillengläsern, die ihn musterten, fast nur aus Pupillen bestanden.

«Wie heißt du denn, Freund?»

«Philip», log er, ohne genau zu wissen, warum.

«Bist du denn schon achtzehn?», fragte die Hornbrille neckend, während der Glatzkopf ihn bereits an der Schlange vorbei nach drinnen winkte. Die Frage nach seinem Alter versetzte Nino einen Stich. Er war fast vierundzwanzig, wurde aber immer noch an Clubtüren und Kinokassen nach seinem Ausweis gefragt. Den hätte er hier natürlich nicht zeigen können, immerhin lautete sein Vorname darauf nicht Philip. Andererseits hätte es ihn schwer verwundert, wenn die Türsteher daran interessiert gewesen wären, ob die Gäste volljährig waren. Oder überhaupt Papiere besaßen.

Die Nachdrängenden schoben ihn tiefer ins grüne Licht. Es gab keine Kasse, nur eine gepiercte Frau mit einer Kiste zwischen den Beinen, auf der mit Filzstift geschrieben stand: Feier ohne Ende – Spende!

Er warf ein zusammengeknülltes Kaugummipapier in den Schlitz und gab der Frau eine Zigarette. Ihr Lächeln begleitete ihn durch den Plastikvorhang ins Innere des Lärms.

Für Millisekunden herrschte abgrundtiefe Finsternis. Dann blitzten Lichter auf: silbernes Weiß, Grün, Grün, Weiß. Finsternis, schwer wie die Paukenschläge aus den Boxen, zerrissen von giftigem Grün. Die Musik pumpte die Halle bis zum Bersten mit Körperhitze, Schweiß und Jubelschreien auf. Zwei DJs standen auf einem Vorsprung über dem Meer wogender Köpfe und dirigierten den Schwarm. Betonerhöhungen dienten den Leuten als Podest, ein Greis mit Federboa und Vollbart pustete riesige Seifenblasen über die Menge. Wie war er überhaupt auf die Empore gekommen? Es gab keine sichtbare Leiter oder Treppe nach da oben. Die einzige Stahltreppe, die Nino entdeckte, führte auf einen Balkon, der rote Lichtschwaden ausdünstete. Er schob sich durch die zuckende Menge darauf zu und erklomm die Stufen, vorbei an noch mehr Leuten, die sich irgendetwas in die Ohren schrien. Jemand packte seine Schulter, er drehte sich um und sah unter den Herumstehenden Freddie, oder Teddy? Nino konnte sich nie an seinen Namen erinnern. Jedenfalls gehörte er zu den Gesichtern, die man an zwei von drei Abenden beim Weggehen wiedersah. Nino traf ihn bestimmt einmal im Monat, trotzdem hatten sie sich nie mehr zu sagen als: «Hallo, wie geht’s?» Was sicher auch daran lag, dass Eddie fast immer auf Ketamin oder Schlimmerem war und dann die lächelnde Wortkargheit eines Siddhartha besaß. Ob er daran sterben würde, dass er so achtlos mit seiner Gesundheit umging, wusste Nino nicht. Er sah es nicht bei jedem.

Er schüttelte die schweißnasse Hand des Jungen und ging weiter. Die Treppe mündete auf einen von Stahlgeländern umgebenen Anbau, der rund um die Halle verlief. Fenster und Türöffnungen klafften im rohen Beton der Wände. Er stieg durch einen von Plastikstreifen verhängten Durchgang und kam in einen brutkastenroten Raum, in dem zwei Männer Bierflaschen aus der Kiste, Wodka, Club Mate und Wasser verkauften. Auf den Überresten einer Couch neben der Bar saß Philip.

Er unterhielt sich gerade mit zwei Mädchen, seinem Mitbewohner Jurek Itschik, den alle Itsi nannten, und einem jungen Mann, den Nino nicht kannte. Als Philip ihn entdeckte, stand er auf und begrüßte ihn.

«Schön, dass du gekommen bist. Du hattest keinen Stress an der Tür.» Philip pflegte seine Fragen wie Feststellungen klingen zu lassen. Er war fast einen Kopf kleiner als Nino und wirkte in seinem Feinrippunterhemd dürr wie ein Kobold, trotzdem strahlte er die Autorität eines Mannes aus, der für seine Umgebung unentbehrlich ist. Er nahm die Planung und Ausführung seines Privatlebens so ernst wie ein Geschäftsmann seine Finanzen, vielleicht, weil er außer seinem Privatleben kein anderes hatte. Nino kannte ihn von der Kunsthochschule, die Philip nach nur einem Semester geschmissen hatte, um das echte Leben in seine Kunst zu lassen. Was für ihn ein und dasselbe war: Nächte wie diese.

«Hat alles funktioniert», bestätigte Nino und tauschte einen Handschlag mit Itsi, der fast immer an Philips Seite war. Obwohl er ein auffällig schönes Gesicht mit markanten Zügen hatte, bekam er höchstens die Freundinnen der Mädchen ab, die Philip auflas. Aus irgendeinem Grund war er schüchtern.

Philip stellte ihm die beiden Mädchen vor. Die Dunkelhäutige hieß Mona, die große Blonde Julia.

«Der Typ arbeitet für Monsieur Samedi», sagte Philip ihm, ohne auf den jungen Mann zu zeigen, der mit übergeschlagenen Beinen danebensaß. Trotz der Hitze war er von Kopf bis Fuß in dunkle Kleidung gehüllt. Auf seinem Schoß lag ein Stoffbeutel, den er mit einer Hand an sich drückte.

Philip beugte sich zu ihm vor. «Das ist Nino, ein guter Freund von mir!»

Der Mann gab ihm flüchtig die Hand. Er trug schwarze Lederhandschuhe, eine Zigarette klemmte zwischen Zeige- und Mittelfinger. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Mehr registrierte Nino nicht. Irgendwie fiel es ihm schwer, den Fremden anzusehen; er vergaß die Merkmale seines Gesichts in dem Moment, in dem er ihn sah.

Er fegte die Plastikbecher von einem Sessel und setzte sich dazu. Philip nahm sein Gespräch mit dem farblosen Mann wieder auf, wobei er sich mehrmals über Mund und Kinn fuhr, eine Geste der Nachdenklichkeit, die man an Philip selten sah.

Itsi zückte seine Brieftasche, holte ein kleines Plastiktütchen hervor und schüttete den Inhalt auf seinen Ausweis. Nachdem er sich ein wenig vom glitzernden Pulver mit dem Finger in den Mund geschoben hatte, zerkleinerte er die Kristalle mit einer Kreditkarte. Die Mädchen fummelten einen Fünf-Euro-Schein aus einer Handtasche und rollten ihn zusammen. Als Itsi das Pulver in mehrere Lines aufteilte, blickte er zu Nino auf.

«Willst du auch?»

«Danke, später.» Er lächelte, obwohl er auch später ablehnen würde. Er suchte etwas Exklusiveres als Amphetamine.

Itsi machte vier großzügige Lines und ließ den Mädchen den Vortritt, ehe er selbst den gerollten Geldschein an die Nase setzte und ihn an Philip weitergab.

Nino beobachtete den farblosen Mann aus den Augenwinkeln, der wiederum tat, als würde er den Konsum nicht bemerken. Plötzlich schien sich der Beutel auf seinem Schoß zu bewegen. Er drückte ihn fester an sich. Nino blinzelte irritiert.

Die Blonde begann zu lachen und zerrte an Philips Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. «Weißt du, was Mona gerade gesagt hat?»

«Ladys, ich bin in einer Sekunde für euch da. Jetzt rede ich mit Monsieur Samedis Assistenten.»

Itsi, der immer wusste, wann er gebraucht wurde, bot den beiden gackernden Mädchen Zigaretten an. Ruhig inhalierte die Blonde den ersten Zug und richtete ihre Aufmerksamkeit dabei auf Nino.

«Ich hab dich schon mal gesehen.»

«Gut möglich», sagte Nino und blinzelte sich ihren Rauch aus den Augen. Sie war noch nicht lange in der Stadt, seit ein paar Monaten vielleicht, fürs Studium. Ihr Tod … die Folgen einer psychischen Erkrankung. Magersucht? Irgendwas in der Art.

Ein nackter dunkler Arm schlang sich von hinten um ihren Hals. «… ich muss tanzen, Julia, lass uns tanzen!»

«Kommst du mit?», fragte die Blonde, an ihre Freundin geschmiegt.

«Später», sagte Nino.

«Du machst alles später, was?»

«Außer den Dingen, die ich jetzt mache.»

«Was machst du denn jetzt?»

«Ich bewundere dein Dekolleté», sagte Nino so leise, dass sich die Blonde noch weiter vorbeugte und sich zwischen ihren kleinen, hochgedrückten Brüsten fast ein Schlitz bildete.

«Was?»

«Ich erkunde die Szenerie.»

«Waaas?» Sie lächelte verständnislos.

Nino schielte zu Monsieur Samedis Assistenten hinüber und fragte sich, ob dieser Monsieur Samedi das sein könnte, was er hoffte. Auf jeden Fall war er ein so hochrangiger Drogendealer, dass er andere für sich arbeiten ließ.

«Alles klar, wir tanzen!», rief Philip, packte die beiden Mädchen an den Händen und zog sie hoch. Itsi und Nino folgten ihnen.

«Wer ist eigentlich Monsieur Samedi?», rief Nino Itsi ins Ohr, als sie durch den Plastikvorhang auf den Balkon traten.

«Er ist Araber, hab ich gehört. Hat ein Labor irgendwo. Designt eigene Sachen.»

Nino runzelte die Stirn. «Und der Name?»

«Der was?», brüllte Itsi zurück. Sie standen am Rand der Tanzfläche.

«Sein Name! Wie Baron Samedi, der Voodoo-Gott!»

«Ja? Keine Ahnung!» Itsi lächelte breit, wohl wissend, dass die Mädchen zu ihnen herüberspähten. Beim Tanzen fiel auf, wie groß die Blonde war. Ihre spindeldürren Arme wogten wie Luftschlangen über den Köpfen der anderen und bewegten sich nicht gerade synchron mit dem Rest ihres Körpers. In ihrer Unbeholfenheit lag durchaus etwas Reizvolles. Eine Aufforderung, sie zu packen und ihre zappelnden Glieder in Einklang zu bringen.

Itsi holte seine Zigaretten heraus, bot Nino eine an und suchte den Blick der Blonden, um sie damit anzulocken. Wie erwartet trabte sie an und nahm sich eine Kippe. Nino gab den anderen beiden Feuer und wollte gerade seine eigene Zigarette anzünden, als er Monsieur Samedis Assistenten mit einer kleinen Gefolgschaft auf der Treppe entdeckte. Noch immer hielt der farblose Typ seinen Beutel fest an die Brust gedrückt. Philip ließ die Mädchen stehen und schloss sich ihnen an, als sie sich einen Weg durch die tanzende Menge bahnten. Sie näherten sich einem Eingang, der hinter vermoderten Fließbändern kaum zu entdecken war, und verschwanden in der Dunkelheit.

«Ich komm gleich», sagte Nino, klemmte sich die Zigarette hinters Ohr und drängte sich an Schultern und Ellbogen vorbei zur Türöffnung. Erst auf halbem Weg merkte er, dass die Blonde ihm folgte. Sie hielt ihn fest und versuchte mit ihm zu tanzen.

«Jetzt nicht! Ich will wohin!»

«Wohin?»

Er deutete vage in die Richtung. Die Blonde nahm seine Hand. Sie wird nicht alt.

«Ich komm mit», beschloss sie.

Er sah in ihre schwarz geschminkten Augen. Warum Frauen ihn mochten, war ihm selbst ein Rätsel. Sarah, seine Affäre vor ein paar Monaten, hatte gesagt, es sei die Art, wie er sich bewegte. Er bewege sich gelassen und trotzdem entschlossen, so wie jemand, der weiß, was er tut. Dabei wusste er das – gerade wenn es um Frauen ging – so gut wie nie.

Sie warf ihre aufgerauchte Zigarette auf den Boden und pflückte die hinter seinem Ohr hervor. Er gab ihr Feuer. Dann folgte sie ihm zum Eingang.

2.

Der Durchgang, in dem Philip und Monsieur Samedis Assistent verschwunden waren, wurde nur von ein paar Teelichtern auf dem Boden beleuchtet. Nino zog sein Handy aus der Hosentasche und hielt es vor sich, um etwas zu erkennen. Sie waren in einem Korridor mit gekachelten Wänden, die mit feuchtem, grünem Moder bedeckt waren. Es roch nach Chemikalien.

«Ich glaub nicht, dass du mitkommen willst», begann er, doch die Blonde schob sich an ihm vorbei und bog nach links in einen weiteren Flur ab. An manchen Stellen waren die Teelichter von Füßen umgestoßen oder herabtropfendem Wasser gelöscht worden, sodass es vollkommen finster war und Nino sich nur an den Schritten des Mädchens orientieren konnte, das besser als er zu wissen schien, wohin sie wollten. Schließlich tauchte eine Tür auf, durch deren Ritzen ein matter Schimmer drang. Das Mädchen bot ihm den letzten Zug der Zigarette an.

Er ließ den Stummel fallen. «Weißt du überhaupt, um was es hier geht?»

«Nö. Du?» Ohne seine Antwort abzuwarten, öffnete sie die Tür.

Eine Flut aus Licht empfing sie. Der gesamte Raum war voller Teelichter und Grabkerzen. Und Menschen.

Es waren gut zwanzig Leute. Als sie Philip entdeckten, wich er ihren Blicken aus und blinzelte nervös zu einem untersetzten Mann hinüber, der mit entblößtem Oberkörper in der Mitte stand.

Er war kräftig wie ein Bär und fast genauso behaart. Schwarze, schweißgetränkte Löckchen fielen ihm in den Nacken, über der Stirn bildete sich bereits eine Glatze. Sein breites, braunes Gesicht wurde von einer seltsamen Traurigkeit, einer beinahe weiblichen Sanftheit überstrahlt. Langsam ließ der Araber die Arme sinken.

«Hi!», sagte Julia.

Ein Mann kam auf sie zugeeilt, dessen Gesicht eine übergroße Brille etwas Außergewöhnliches zu verleihen versuchte. Sein Hemd war bis oben hin zugeknöpft und die Cordhosen so eng, dass seine Männlichkeit ungesund gequetscht wirkte. Er wischte sich die Haare aus der Stirn und sah Julia mit freudiger Überraschung an, Nino warf er nur einen flüchtigen Blick zu.

«Äh, ich hab sie eingeladen», sagte er an die Gruppe gewandt. «Das ist eine Freundin von mir …»

«… Julia», sagte Julia selbstbewusst wie bei einem Bewerbungsgespräch.

Nur der ferne Technobeat wummerte durch die Wände. Von der Decke rieselte ein wenig Schutt. Sie zog Nino neben sich. «Ich hab noch einen Kumpel mitgebracht.»

Nino beließ es bei einem kleinen Gruß mit der Hand.

Der Araber wandte sich an den Brillenmann. «River?»

«Sie ist so drauf wie wir, also ich kenn die Frau.» Der Brillenmann wischte sich wieder die Haare aus dem Gesicht. «Sie wollte dich kennenlernen.»

«Kommt her», befahl der Araber mit weicher, akzentfreier Stimme.

Gehorsam traten Julia und Nino vor ihn. Eine Gänsehaut schoss Ninos Rücken herauf, als er ihm in die Augen sah. Mord. In Wahnsinn, in Feuer. In einem Albtraum. Erst jetzt bemerkte er, dass Monsieur Samedi einen Dolch in der Faust hielt.

«Was sucht ihr?» Obwohl seine Stimme sanft blieb, schwang eine unüberhörbare Drohung darin mit.

Nino schluckte. Abgesehen von Zeit hatte er nichts zu verlieren. Ein paar Zähne vielleicht. So gelassen wie nur möglich begann er: «Ich suche jemanden, der …»

«Ihr macht doch Gläserrücken und so Zeug! Das soll wie ein Trip sein, oder?» Erwartungsvoll sah sich Julia nach dem Brillenmann um.

Ein Zucken ging um Monsieur Samedis Mund. Seine dicken Zähne erschienen zwischen den Lippen wie Knochenstümpfe.

«Ihr seid auf der Suche nach dem neusten Kick … ja? Und traut euch, zu mir zu kommen.» Sein Lächeln blieb liebevoll.

«Was ich sagen wollte», erwiderte Nino und berührte Julia am Arm, damit sie ihn aussprechen ließ, «ist, dass ich bei eurem … also, dass ich mitmachen will. Ich habe Fragen.»

Monsieur Samedis Lächeln war unerschütterlich. Aber er zog nur eine Show vor seinen Anhängern ab. Und wenn Nino sich umsah, bekam er nicht den Eindruck, als ließe der Araber nur die erlesensten Teilnehmer zu. Ein paar waren ganz offensichtlich auf Drogen. Die übrigen sahen aus wie frischgebackene Penner, die den Vorteil genossen, mit besonders wagemutigen Modefreaks verwechselt zu werden.

Als fühlte Monsieur Samedi sich ertappt, hielt er ihnen die offene Hand hin. «Dreißig Euro. Pro Kopf.»

«Dreißig?» Julia drehte sich ungläubig zu ihrem Freund um. River kramte zwei zerknitterte Fünfer und einen Zwanziger aus der Hosentasche und bezahlte für das Mädchen.

Nino klimperte mit den Wimpern. «Ich bin auch naturblond.»

Offenbar verstand River keinen Spaß. Er glotzte ihn feindselig durch seine Brille an. Nino akzeptierte die Niederlage seines Charmes, zog seine Brieftasche aus der Hosentasche und nahm alles raus, was er noch hatte: 15 Euro in Scheinen und drei Euro Kleingeld.

«Gibt es Gruppenrabatt?»

Monsieur Samedi antwortete nicht einmal darauf. Nachdenklich ruhte sein leerer Blick auf Nino.

«Warte, ich hab noch was», murmelte Julia und gab ihm das restliche Geld.

«Danke», flüsterte er und suchte dabei Philip in der Menge. Offenbar hatte er nicht vor, sich zu seinen Freunden zu bekennen. «Du hast was bei mir gut.»

Hinter dem Araber tauchte eine Gestalt mit Käppi auf, nahm das Geld und reichte Monsieur Samedi zwei weißgelbe Vitaminkapseln, die aufgebrochen und mit neuem Inhalt gefüllt worden waren.

«Was ist das?»

Wieder bekam Nino eine Gänsehaut. Irgendetwas beunruhigte ihn schrecklich, aber er kam nicht darauf, was. Jedenfalls waren es nicht nur die Pillen.

«Das», der Araber hob die beiden Kapseln, um sie ihm und Julia in den Mund zu schieben, «ist euer Eintritt in eine andere Realität.»

«Ich will wissen, was da drin ist.»

«Ein Abenteuer!» Julia beugte sich vor und saugte die Kapsel aus Monsieur Samedis Fingern. Nino zögerte.

«Du bist blind, mein Freund», sagte Monsieur Samedi. «Deine Augen müssen sich zuerst öffnen.»

Irgendein halluzinogener Scheiß also. Halluzinationen waren das Letzte, wovon er mehr brauchte. Trotzdem öffnete Nino folgsam den Mund und ließ sich von dem Araber die Pille verabreichen.

«Hat jemand was zum Runterspülen?» Lasziv balancierte Julia die Pille auf der Zunge und drehte sich um.

River reichte ihr eine Bierflasche. Sie nahm einen Schluck und gab sie an Nino weiter. Er wischte die Öffnung ab und trank, wobei er die Kapsel unauffällig in die Flasche spuckte. Hoffentlich hatten sie das Geld nicht nur dafür hingeblättert. Aber dass der Araber sie vor dem Ritual unter Drogen setzen wollte, war kein gutes Zeichen.

Jetzt erst hob Philip diskret eine Hand, um sie zu sich zu winken. Während er und Julia zu ihm gingen, um alles Weitere abzuwarten, kam ihm die Erinnerung an seine vergangenen Misserfolge. Einmal hatte er sich mit einem Haufen Midlife-Crisis-erschütterter Esoteriker angefreundet, Begeisterung für Yoga geheuchelt und kindische Zeremonien abgehalten – völlig umsonst. Noch schlimmer war Clara gewesen, eine Wicca praktizierende Ökohexe aus dem Kunststudium, der er viele Abende lang beim Geschlechtsteilezeichnen und Ausheulen über ihre Kindheit Gesellschaft geleistet hatte, nur um schließlich zu erfahren, dass ihr Vater überhaupt kein Satanist war, sondern ein pensionierter Religionslehrer aus Köpenick. Clara rief ihn immer noch manchmal an, obwohl er das Studium längst abgebrochen hatte, ebenso wie die fruchtlose Freundschaft zu ihr. Als er vor ein paar Monaten gehört hatte, dass es eine okkulte Bewegung in der Drogenszene gab – Leute, die angeblich von Gläserrücken berauscht wurden –, hatte das seine Neugier geweckt. Wer der konkreten Wirkung wegen und nicht aus spiritueller Überzeugung solche Rituale betrieb, hatte keinen Grund, sich etwas einzubilden. Andererseits war es gut möglich, dass Gläserrücken deshalb in der Szene funktionierte, weil hier sowieso jeder zugedröhnt war. Wenn sich alles nur als ein Reinfall erwies, hatte er eine Menge Zeit verschwendet. Und genau davon blieb ihm nicht viel.

Monsieur Samedi hob wieder die Arme, verdrehte die Augen und begann in einer fremden Sprache zu sprechen. Erst hielt Nino es für Arabisch, dann merkte er, dass es genuscheltes Französisch war. Es klang wie ein Gebet, endlos und monoton. Die Teilnehmer lauschten bedächtig.

«Woah», hauchte Julia. Vielleicht tat die Tablette schon ihre Wirkung.

«Woher kennst du diesen River?», zischte Nino ihr zu.

«Er hat uns MDMA verkauft.»

Monsieur Samedis Stimme schwoll zu einem wortlosen Brüllen an. Julia zuckte zusammen, als gelte der Wutausbruch ihr. Doch Monsieur Samedi hatte jetzt die Augen geschlossen und schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen. Als er wild mit dem Dolch durch die Luft zu schneiden begann, entfuhr ihr ein Kichern. Nino hielt ihr erschrocken die Hand vor den Mund. Falls der Araber sie gehört hatte, ignorierte er den Spott so professionell wie ein Schauspieler auf der Bühne.

Julia bekam einen hysterischen Lachanfall. Er legte einen Arm um sie. «Oh Gott», japste sie. «Fuck.» Und bebte weiter vor Lachen. Zugegebenermaßen war das Ganze lächerlich, aber wenn es wirklich funktionierte, dann hätte er Monsieur Samedi auch dabei zugesehen, wie er sich mit dem Dolch rituell die Fußnägel säuberte.

Der farblose Mann erschien neben dem Araber – Nino erkannte ihn mehr an den Handschuhen und dem Pferdeschwanz als an seinem Gesicht. In der einen Hand hielt er eine brennende Zigarette, in der anderen seinen Beutel. Irgendetwas bewegte sich jetzt ganz deutlich darin.

«C’est pour toi, pour l’esprit de samedi …»

Monsieur Samedi tauchte seine Hand in den Beutel und zog ein lebendiges Huhn hervor. Das krakeelende Tier versuchte sich aus seinem Griff freizukämpfen und verteilte schneeweiße Federn in der Dunkelheit.

«De cette vie en l’au-delà … une offre!»

«Was –» Julia krallte sich in sein T-Shirt.

Monsieur Samedi hob den Dolch und schlitzte das Huhn von der Kehle bis zum Bauch auf.

Julia lachte nicht mehr. Starr vor Schreck klammerten sie sich aneinander, während das Huhn panisch gackerte und mit den Flügeln schlug und sein Blut den Zuschauern auf die Schuhe spritzte. Kerzen erloschen fauchend unter dem Regen.

Als das Tier sich kaum noch bewegte, schüttelte Monsieur Samedi es weiter, verteilte das Blut auf dem Boden, den Wänden. Eingeweide quollen aus dem aufgeschnittenen Bauch. Nino versuchte seine Übelkeit niederzukämpfen. Katjuscha war Vegetarierin, er war praktisch fleischlos aufgewachsen, abgesehen von den heimlichen Besuchen bei McDonald’s mit seinen Schulfreunden.

Monsieur Samedi zog einen Holztisch aus einer Ecke und ließ das tote Tier darauffallen.

«Mit Blut breche ich den Wall von hier nach dort … Ewiger Fluss, nimm dieses Leben auf. Teile deine Macht!»

Er drehte das Huhn um, öffnete den Leib und zerrte mehrere blutige Klumpen heraus. Die Organe arrangierte er auf dem Tisch zu einem Kreis, den Kadaver warf er gegen die Wand, wo er, Spuren über die Kacheln ziehend, zur Erde sank. Dann streckte er die Hand aus und ließ sich von dem farblosen Mann ein Glas geben, das er umgekehrt in die Mitte knallte.

Zum ersten Mal seit Beginn der Zeremonie richtete er den Blick auf sein Publikum. Einem nach dem anderen sah er ins Gesicht. Bei Nino schien ein fragendes Lächeln um seine Augen zu zucken.

«Der Tod ist immer hungrig, der Tod ist niemals satt, sein Tisch ist reich gedeckt, und heute teilt er ihn mit euch. Wer traut sich her?»

3.

Zögerlich traten die Zuschauer näher. Die, die bereits wussten, was sie erwartete, streckten Monsieur Samedi ihre Hand hin, um sich von ihm mit dem Dolch in den Zeigefinger stechen zu lassen.

«Gott», murmelte Julia, aber auch sie näherte sich wie hypnotisiert dem Tisch. Blutige Fingerspitzen wurden auf das Glas gelegt, bis darauf kaum noch Platz war. Dieselbe Klinge für alle. Da konnte man genauso gut mit fünfzehn Junkies die Spritze teilen. Nino tastete seine Jeans ab und zog seinen Schlüsselbund heraus, an dem ein kleines Taschenmesser hing. Als Julia ihre Hand schon dem Araber reichen wollte, zog Nino sie zurück.

«Willst du das wirklich machen?»

Sie sah ihn verständnislos an. «Du blamierst uns!»

Er atmete tief aus, dann stach er zuerst sich und dann ihr mit seinem Taschenmesser in den Zeigefinger. Sie gab ein Wimmern von sich, presste aber ihren Finger auf die letzte freie Kante des Glases. Nino hielt seinen Finger neben ihren, ohne das blutverschmierte Glas zu berühren. Wahrscheinlich war er der einzig Nüchterne in der Runde. Er versuchte, nicht auf die glänzenden Hühnerorgane zu blicken, und bemerkte, dass die Buchstaben von A bis Z und alle Zahlen von Null bis Neun in den Tisch eingekerbt waren. Ein Ouija-Brett.

Monsieur Samedi hielt seine triefende Hand über das Glas. An jedem Finger trug er einen Ring. «Wir beschwören dich, Geist! Zeige dich!»

Nino wollte fast den Kopf schütteln. Er hatte schon geglaubt, es könnte ihn nichts mehr überraschen. Aber es gab immer noch eine Nische, die dunkler und dreckiger war als alles, was man kannte.

Die anderen begannen einzustimmen: «Zeige dich! Zeige dich!»

«Durchströme uns, ewiger Fluss des Lebens und des Todes. Erfülle uns, nimm das Tote an und gib dafür Leben …»

Das Glas wackelte. Die Leute hielten den Atem an. Nur Nino wunderte sich nicht, dass ein Glas unter fast fünfzehn Fingern zu beben begann.

Monsieur Samedi stieß ein zufriedenes Seufzen aus. Das Glas rutschte so plötzlich zu einer Seite, dass Julia ein Schreckenslaut entfuhr. Nino behielt die bebende Hand des Arabers im Auge. Vielleicht waren Magnete an den Ringen angebracht.

«Ja», flüsterte Monsieur Samedi. «Es ist hier, meine Freunde. Wer will mit ihm sprechen?»

«Wie heißt du?», stammelte ein hagerer junger Mann, der heftig zitterte. Gebannt starrten alle auf das Glas.

Nino konnte nicht sagen, ob Monsieur Samedis Hand dem Glas folgte oder umgekehrt, jedenfalls setzten sich beide in Bewegung und wanderten von einem Buchstaben zum nächsten. Alle sprachen mit:

«S … A … T … A … N.»

Elektrisierendes Schweigen trat ein. Das Glas ruckelte auf der Stelle – einmal erbebte es ganz deutlich im Takt der Musik, die hinter den Wänden donnerte.

«Herz», wimmerte einer. «Das Herz, es bewegt sich!»

Die anderen keuchten und starrten fasziniert auf die Hühnerorgane.

«Die Buchstaben fliegen», murmelte ein anderer.

Nino konnte keine Bewegung feststellen, weder in den blutigen Klumpen noch in den eingravierten Buchstaben. Nur das Glas begann holprig im Kreis zu fahren.

«Darf ich eine Frage stellen?» Nino fuhr sich über die Lippen. Unmöglich zu sagen, ob das Glas von den Fingern geschoben wurde oder einem Magnet an Monsieur Samedis Hand folgte oder tatsächlich einer übersinnlichen Macht gehorchte, die sich soeben als Satan vorgestellt hatte.

«Wann», fragte er, «werde ich sterben?»

«Spinnst du?», fauchte jemand.

«Das darf man nicht fragen!»

«So ein Idiot …»

Nino achtete nicht auf das Gemurmel am Tisch. Das Glas begann sich verschiedenen Buchstaben zu nähern, doch diesmal sprach keiner mit. Gebannt las er: H … E … U … T … E.

Er blickte auf. Alle starrten ihn an. Julia hyperventilierte. Monsieur Samedis Augen lächelten trüb.

Nino reckte sich und zog den Finger zurück. Es war also doch nur Betrug. Nun gut, so war seine letzte Hoffnung dahin. Und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu schmunzeln.

«Vielen Dank, dass ich mitmachen durfte.» Mit einem Kloß im Hals nickte er Monsieur Samedi zu, der zum ersten Mal halbwegs überrascht aussah, und sagte zum Rest der Gruppe gewandt: «Ich würde Satan nicht nach den Lottozahlen fragen, falls jemand das vorhatte. Trotzdem viel Spaß noch.» Er klopfte Julia auf die Schulter, drehte sich um und ging aus dem Zimmer.

Blicke folgten ihm. Philip zischte irgendwas, aber er reagierte nicht mehr darauf. Ja, es lag sogar eine gewisse Befriedigung darin, seine Meinung zu dem Ganzen so offen zu demonstrieren. Er drückte die Türklinke herunter – für eine irrwitzige Sekunde rechnete er damit, dass sie verschlossen sein würde, doch sie ließ sich problemlos öffnen. Als er die Tür hinter sich wieder schließen wollte, bemerkte er eine junge Frau, die ihm folgte.

Er konnte sich nicht daran erinnern, sie schon vorher gesehen zu haben. Sie war komplett schwarz gekleidet und hatte ein Käppi so tief in die Stirn gezogen, dass man das Gesicht nur erahnen konnte. Am merkwürdigsten aber war, dass sie schwarze Lederhandschuhe trug. So wie der farblose Typ vorhin …

Er wartete, bis sie aus dem Raum getreten war, ehe er die Tür schloss. Dunkelheit fiel über sie. Nino nahm sein Handy heraus und ließ das bläuliche Licht in den Flur strahlen.

«Ich wollte auch nicht da drinnen bleiben», sagte er, nur um irgendwas zu sagen.

Sie stand reglos da. Er ließ das Licht auf ihr Gesicht fallen – und erschrak vor etwas Namenlosem. Ein Schreck schien auch in ihren Augen aufzuglimmen. Stumm, fast entsetzt starrten sie sich an. Sie war keine Frau. Das war alles, was er wusste, und er wusste es: Sie war keine Frau.

Natürlich auch kein Mann, sie war schlichtweg – kein Mensch?

«Du siehst mich.» Ihre Stimme klang vertraut wie etwas, an das sein Gehör sich vor langer Zeit gewöhnt hatte. Diese Tatsache verwunderte ihn so sehr, dass er nicht gleich verstand, was sie eigentlich sagte.

«Wie bitte?»

«Wer bist du?», fragte sie, als sei nicht genug Zeit für Wiederholungen.

«Nino, und du?»

«Deinen ganzen Namen.»

«Nino Sorokin.» Noch während er es aussprach, verfluchte er sich für seine Einfallslosigkeit. Normalerweise hätte er genau hier eine witzige Erwiderung gebracht, um einen Flirt einzufädeln. Aber er war gar nicht sicher, ob er mit ihr flirten wollte. «Wie heißt denn du?»

Das Handydisplay erlosch. Sein Daumen musste erst wieder den Knopf finden, um Licht zu machen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er sie ganz nah vor sich zu haben, dann war der Gang leer. Irgendwo tropfte Wasser und klang wie davoneilende Schritte.

Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Sie war weggelaufen. Ganz langsam formten sich die Worte in ihm: Wer – war – das? Stockend setzte er sich in Bewegung, ihr zu folgen. Die Musik wurde lauter. Schließlich bog er um die Ecke und sah wieder das Lichtgewitter der Tanzfläche. Erleichterung überkam ihn, wieder in einer normalen Umgebung zu sein, verhältnismäßig normal jedenfalls, und er steckte sein Handy ein. Obwohl er nichts getrunken hatte, fühlte er sich benommen.

Sie war nicht unter den Tanzenden. Vielleicht war sie oben. Oder draußen. Eher draußen.

Er schob sich durch das Gedränge Richtung Ausgang. Vor dem Plastikvorhang lag ein verschlungenes Paar auf dem Boden und wälzte sich über weggeworfene Plastikbecher. Wer wen zu vergewaltigen versuchte, ließ sich kaum mehr erkennen. Jedenfalls schienen beide, willentlich oder nicht, K.-o.-Tropfen genommen zu haben. Nino stieg über sie hinweg, dachte nicht länger über den Tod der beiden nach – ziemlich zeitgleich, womöglich gemeinsam? – und rannte beinahe die letzten Schritte bis nach draußen. Die Bulldogge des Türstehers kläffte. Dann empfing ihn die Ruhe einer alt gewordenen Nacht.

Hinter den Fabrikdächern dünnte die Finsternis bereits aus. Die Musik war kaum mehr als ein Pochen im Boden. Hier und da klirrten Scherben. Er hatte Durst.

«Nino! Jetzt warte doch mal!»

Er drehte sich um und erblickte Julia. Obwohl sie besorgt klang, wirkte ihr Gesichtsausdruck eher wütend. Die zerlaufene Wimperntusche hatte ihr schwarze Tränen über das Gesicht gezogen. Sie sah aus wie aus einem Zombiefilm. «Ich hab dich die ganze Zeit gerufen, Mann!»

«Ich hab dich nicht gehört. Entschuldige.»

Sie taumelte noch näher. «Du stirbst! Du wirst heute sterben, hat er gesagt!»

«Ich sterbe frühestens in drei Tagen.»