Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «The Moth Catcher» bei Pan Macmillan, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Moth Catcher» Copyright © 2015 by Ann Cleeves
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Umschlaggestaltung any.way, Hamburg, nach der Originalausgabe von Pan Macmillan
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ISBN 978-3-644-56981-2
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-56981-2
Für Brenda, in Dankbarkeit
Lizzie Redhead spitzte die Ohren. Hier im Gefängnis war es nie vollkommen still. Nicht einmal jetzt, mitten in der Nacht. Die anderen Frauen bewegten sich im Schlaf und schnauften wie kleine Tiere. Hier waren sie nicht in Zellen untergebracht. Sie lagen in Schlafsälen, die Lizzie an ihre Schulzeit erinnerten. Privatsphäre gab es hier nicht. Und es war auch nie richtig dunkel. Durch den Spalt unter der Tür schimmerte das Licht vom Korridor, und obwohl dies eine Einrichtung auf niedrigster Sicherheitsstufe war, gab es doch überall Scheinwerfer an der Fassade und vorne am Tor, und die Vorhänge an den Fenstern waren dünn. Jetzt hörte sie Schritte vor der Tür. Die Wärterin, die nach diesem selbstmordgefährdeten Mädchen sah. Es war zwei Uhr morgens.
Lizzie arbeitete im landwirtschaftlichen Betrieb der Anstalt, was zwar bedeutete, dass sie an die frische Luft kam und sich ausreichend körperlich betätigte, um in Form zu bleiben, jedoch nicht, dass sie gut schlief. Sie hatte noch nie viel Schlaf gebraucht. Sie war immer der Überzeugung gewesen, dass sie nicht zu ihren Eltern gehörte; und bereits als kleines Mädchen war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie ein Findelkind sein musste, das unter der Hand adoptiert worden war. Was hatten sie und ihre Eltern denn schon gemein? Sie selbst besaß viel zu viel Energie und langweilte sich schnell. Annie und Sam dagegen waren sanft und nachgiebig und wollten einen immer umarmen und abknutschen. Lizzie hielt sich selbst für so gefühllos wie Stein. Und als sie dann erwachsen war, hatte sie sich Männer ausgesucht, die hart waren wie sie. Feuersteine. Wenn man Steine gegeneinanderschlug, entstanden Funken. Und Jason Crow hatte sie in Flammen aufgehen lassen.
In einer Woche sollte sie entlassen werden, und nun schmiedete sie Pläne. Das Gefängnis hatte ihrer Gesundheit gutgetan. Ihr war klargeworden, dass es bessere Möglichkeiten gab, sich in einen Rausch zu versetzen, als zu saufen und Drogen zu nehmen. Das hatte Jason ihr auch schon gepredigt, aber damals hatte sie ihm nicht glauben wollen. Doch nach allem, was er ihr erzählt hatte, wusste sie, dass sie Glück gehabt hatte, in einer offenen Einrichtung zu landen.
Ihre Zerstreuungen hier in der Anstalt waren schlichter Natur gewesen. Sie war in die Bücherei gegangen und hatte den Kurs für kreatives Schreiben besucht. Immerhin hatte sie einiges zu erzählen und wollte dafür die richtigen Worte finden. In der Bücherei war sie auf einen vom National Geographic herausgegebenen Bildband gestoßen, dessen Leihfrist sie so oft verlängert hatte, dass sie schließlich glaubte, er gehöre ihr. Sie hatte auf dem Bett gelegen und Bilder von Orten betrachtet, die sie einmal mit eigenen Augen sehen wollte; der Gedanke ans Reisen hatte sie ganz schwindelig gemacht, und in der Nase hatte sie schon den Geruch des Regenwalds, die salzige Luft weit entfernter Meere gespürt. Raue, imposante Gegenden, die spektakulär genug waren, ihren Lebenshunger zu stillen. Ihre Eltern waren ihr ganzes Leben lang nicht weiter als zehn Meilen aus jenem Tal herausgekommen, in dem ihr Vater geboren worden war. Lizzie sehnte sich nach schroffen, feindlichen Orten, gegen die sie sich behaupten musste, nach Felsen, die so scharfkantig waren, dass sie ihr ins Fleisch schnitten.
Als Teenager hatte sie sich geritzt, hatte sich den Arm mit einer Rasierklinge aufgeschnitten, wie berauscht vom Geruch nach Blut und Metall. Noch immer gab sie sich manchmal Träumen nach blanken, scharfen Klingen hin, nach Blut, das in perfekt geformten, runden Tropfen aus sauberen Schnitten sickerte. Ihre Mutter hatte nie etwas gemerkt. Lizzie war schon immer gut darin gewesen, ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Und jetzt bewahrte sie auch die Geheimnisse von Jason Crow. Sie hetzten und sie quälten sie, doch Lizzie wartete auf den Augenblick, in dem sie ihr vielleicht einmal von Nutzen sein konnten.
Percy lenkte den Mini vom The Lamb, dem hiesigen Pub, die schmale Straße hinunter zu dem Bungalow, den er mit seiner Tochter bewohnte. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Madge, ein Collie-Mischling und die beste Hündin, die er je gehabt hatte. Wenn er sich nur dazu aufraffen könnte, regelmäßig mit ihr zu trainieren, würde sie bei den Wettbewerben für Hütehunde bestimmt sämtliche Preise gewinnen. Percy sah nicht mehr so gut, weshalb er beim Fahren mit der Nase an der Windschutzscheibe klebte und auf die Straße vor sich spähte. Seine Tochter meinte, er solle überhaupt nicht mehr Auto fahren, doch sie hielt ihn auch nicht davon ab. Sie genoss die zweistündige Auszeit, die ihr seine Besuche im The Lamb verschafften. Außerdem führte die kleine Straße nirgendwohin außer zum Herrenhaus von Gilswick und zu dem zu schicken Eigenheimen umgebauten ehemaligen Gehöft der Valley Farm, und zu dieser Tageszeit betranken sich die Leute, die dort wohnten, schließlich auch schon. Susan, seine Tochter, ging regelmäßig dort putzen, und sie hatte erzählt, dass die Altglascontainer jede Woche voll seien. Und Major und Mrs Carswell vom Herrenhaus besuchten derzeit ihren Sohn in Australien, die waren jetzt also auch nicht unterwegs. Sonst gab es nichts und niemanden, den er umfahren könnte, und der Wagen fand inzwischen auch allein nach Hause.
Percy merkte, dass seine Gedanken abschweiften. Das Bier im Pub war stark, und einer von diesen Jungspunden, die vor kurzem in den Ort gezogen waren, hatte ihn zu einem dritten Pint überredet. Er war spät dran. Bestimmt wartete Susan schon auf ihn, den Blick auf die Uhr geheftet, und hielt das Abendessen für ihn im Ofen warm. Sie legte Wert darauf, dass der Abwasch erledigt und die Küche sauber und aufgeräumt war, bevor im Fernsehen die EastEnders anfingen. Ihr Mann hatte sich mit einer Jüngeren aus Prudhoe aus dem Staub gemacht, kaum dass die Kinder aus dem Haus waren, und Susan war zu Percy gezogen. Um sich um ihn zu kümmern, sagte sie. Um jemanden zu haben, den sie herumkommandieren konnte, glaubte er. Doch mittlerweile hatte er sich an sie gewöhnt und würde sie wohl vermissen, wenn sie auszöge.
Die kleine Straße schlängelte sich durch die Talsohle. Zu beiden Seiten stiegen die Hügel steil an, erst zu mit Mauern aus Bruchstein voneinander abgegrenzten Weiden, auf denen Schafe grasten, dann ins offene Heidemoor. Neben der Straße standen Bäume, ein schmaler Streifen Wald, in dem jetzt die Primeln aus der Erde schossen und jene grünen Stängel, aus denen später Glockenblumen würden. An den Bäumen zeigte sich das erste, zarte Grün, und die niedrig stehende Sonne warf Schatten über die Straße. Percy war inzwischen in Rente, doch er hatte sich seinen Lebensunterhalt stets auf Höfen verdient und konnte jede dort anfallende Arbeit erledigen. Die Arbeit mit den Schafen hatte ihm immer am besten gefallen, und dies war ihm die liebste Zeit im Jahr. Auf den Hügeln überall Lämmer und auf den Wegen der Geruch nach Sommer. Eine Sonne, deren Wärme man langsam wieder spürte.
Das dritte Pint drückte ihm unangenehm auf die Blase. Das war auch so eine Sache, weshalb Susan ihm ständig in den Ohren lag, er solle endlich mal zum Arzt. Nachts musste er mittlerweile mehrmals aufstehen und aufs Klo gehen. Und manchmal, wenn er unterwegs war, musste er so nötig, dass er sich in die Hose machte wie ein kleines Kind, das gerade den Windeln entwachsen war. Es machte einfach keinen Spaß, alt zu werden, ganz egal, was er den Jungs da unten im Pub immer erzählte von wegen, er habe das perfekte Leben. «Ich? Ich habe keine Sorgen mehr», pflegte er zu sagen. Aber je älter man wurde, desto mehr Sorgen machte man sich darum, seine Würde einzubüßen und sterben zu müssen. Er fuhr den Wagen so nahe an den Straßengraben wie möglich und sprang heraus. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den Reißverschluss zu öffnen, dann vermischte sich das Plätschern des Wassers in dem kleinen Bach mit dem Geräusch seines eigenen Wasserstrahls, den er in den Graben lenkte. Als er die Hose wieder zumachte, fühlte er sich einen Moment lang erleichtert und dachte: Vielleicht sollte ich doch mal einen Termin beim Arzt vereinbaren. So konnte es jedenfalls nicht weitergehen.
Und dann sah er das Gesicht des jungen Mannes, halb verdeckt vom Wiesenkerbel. Die Augen standen weit offen, und das helle Haar trieb im Wasser des Grabens wie Grashalme. In letzter Zeit war es sehr trocken gewesen, und der Graben war nicht einmal halb voll, sodass das Gesicht größtenteils aus dem Wasser herausragte. Es sah ganz glatt aus. Keine Falten, keine Wunden. Das hier war ein junger Mann, der wirkte, als hätte er sich gerade schlafen gelegt. Er trug einen Wollpullover und eine gewachste Jacke, und der Teil seiner Kleider, der nicht vom Schlamm des Grabens bedeckt war, sah sauber und trocken aus. Percy jagte der Tod keinen Schrecken ein. Er hatte genügend Tiere getötet und tote Menschen gesehen. Um in den Krieg zu ziehen, war er damals noch zu jung gewesen, doch in seiner Kindheit war es ganz normal gewesen, dass die Leute zu Hause starben. Heutzutage machten sich immer alle über die Arbeitsschutzvorschriften lustig, aber damals hatte es auch mehr Arbeitsunfälle gegeben. Landmaschinen ohne Schutzvorrichtung oder Bremse, Idioten, die sich aufspielen wollten. Und als seine Frau starb, hatte er ihre Hand gehalten. Natürlich war es ein Schock, den jungen Mann hier liegen zu sehen, und der Anblick machte ihn mit einem Schlag wieder nüchtern, aber er hatte nicht das Bedürfnis, sich zu übergeben.
Nun sah er sich das Gesicht etwas genauer an, und es brauchte ein paar Sekunden, bis er sich daran erinnerte, wann er es zuletzt gesehen hatte. Vergangene Woche, in der Lounge des The Lamb. Der junge Mann hatte eine von Glorias Rindfleischpasteten gegessen. Allein. Percy hatte seinen Kumpel Matty gefragt, wer der junge Kerl wohl sei, aber Matty hatte sich nicht dafür interessiert und ihm nicht mal eine Antwort gegeben. Und dann hatte Percy ihn noch einmal gesehen, vor kurzem erst. Gestern früh, als der junge Mann auf der Straße in Richtung Dorf geschlendert war. Percy hatte Madge gerade auf den Hügeln Gassi geführt und eigentlich vorgehabt, Susan später nach dem Fremden zu fragen. Susan war sogar noch neugieriger als er selbst und wusste immer, was gerade so geklatscht wurde.
Percy ging zurück zum Wagen und nahm das Handy aus dem Handschuhfach. Um ihn herum sangen sich die Amseln die Seele aus dem Leib. Das lag an der Jahreszeit. Alle markierten ihr Revier und balzten um Weibchen. Im Frühling vermisste er seine verstorbene Frau immer am stärksten. Und dabei ging es ihm nicht nur um die Vertrautheit zwischen ihnen, sondern auch um den Sex.
Susan hatte ihm das Handy besorgt, damit sie immer wusste, wo er war. Sie hatte ihn vorhin angerufen, um ihn daran zu erinnern, dass er eigentlich schon auf dem Heimweg sein sollte, und deshalb war er ja auch direkt vom Pub zum Wagen gegangen, ohne vorher noch einmal die Herrentoilette aufzusuchen. Es brachte nichts, seine Tochter zu verärgern. Er hatte das Handy noch nie selbst benutzt, aber als Susan es ihm gegeben hatte, hatte sie ihm erklärt, wie es funktionierte. Die Ziffern auf den Tasten waren so groß, dass er sie mühelos erkennen konnte. Zuerst rief er daheim an. Susan brauste schnell auf; es konnte passieren, dass sie sein Abendbrot in den Müll schmiss, wenn er zu spät kam, und jetzt, wo er wieder nüchtern war, hatte er Hunger bekommen. Dann wählte er die 999. Die Stimme am anderen Ende der Leitung wies ihn an, dort zu bleiben, wo er war. Percy fand in seiner Jackentasche einen Schokoriegel und wartete. Womit er ausnahmsweise tatsächlich einmal genau das tat, was man ihm aufgetragen hatte.
Eigentlich hatte er ein Polizeiauto oder einen Krankenwagen erwartet. Ohne Sirene. Schließlich herrschte keine Eile; der Kerl war ganz offenkundig kalt und tot. Darüber hatte Percy mittlerweile nachgedacht. Zunächst hatte er einen Unfall vermutet. Doch wenn der junge Mann von einem Auto in den Graben gestoßen worden wäre, hätte er doch auf dem Gestrüpp gelegen und nicht darunter verborgen. Das Gleiche träfe auch zu, wenn er sich plötzlich schlecht gefühlt hätte. Und selbst, wenn er am Straßenrand langgegangen wäre, um einem Auto oder Traktor auszuweichen, hätte er sich doch bestimmt nicht so dicht am Graben gehalten. Percy war zu dem Schluss gelangt, dass jemand den Toten dort abgelegt haben musste. Und versteckt. Selbst ein Spaziergänger hätte die Leiche nicht bemerkt, außer er wäre durchs Dickicht geklettert wie Percy, der versucht hatte, wenigstens einen kleinen Rest Würde zu bewahren, indem er sich ein Stück abseits der Straße erleichterte. Dann hörte er plötzlich einen Wagen, einen alten Wagen, dessen Motor stotterte und spuckte. Madge, die geschlafen hatte, wachte auf und knurrte leise, bis Percy ihr die Hand auf den Nacken legte. Es war ein Land Rover, so verdreckt und zerbeult, dass man seine ursprüngliche Farbe gar nicht mehr erkennen konnte, und am Steuer saß eine Frau. Percy stieg aus dem Auto, um ihr zu sagen, dass sie sich verfahren habe und dies hier eine Sackgasse sei, und dass sie mit dem Land Rover ohnehin nicht an ihm vorbeikomme, doch sie hielt an und stieg ebenfalls aus. Während sie von dem hohen Fahrersitz herabkletterte, fragte er sich, wie ihre Knie das Gewicht bloß aushielten. Sie war ziemlich dick. Keine Schönheit. Schlechte Haut und hässliche Klamotten, aber sehr hübsche Augen. Braun wie Kastanien.
«Percy Douglas?» Dem Akzent nach kam sie von hier.
Er glaubte, sie schon mal im The Lamb gesehen zu haben. Nicht regelmäßig, aber hin und wieder. Bei der Figur konnte man sie ja gar nicht übersehen, selbst wenn sie für sich in einer Ecke saß.
«Aye.» Noch immer kam ihm nicht in den Sinn, dass sie wegen der Leiche hier sein könnte.
«Ich heiße Vera Stanhope. Detective Inspector. Zurzeit komme ich nicht oft aus dem Büro, aber ich wohne nicht weit von hier, also dachte ich, ich komme gleich selbst vorbei.» Sie kramte einen Augenblick lang in ihren Taschen, als wollte sie ihm einen Ausweis zeigen, doch am Ende förderte sie weiter nichts zutage als eine halb leere Packung Pfefferminzbonbons. «Lassen Sie mich Ihre Leiche mal sehen?»
«Ich habe damit nichts zu tun.» Dennoch setzte er sich in Bewegung.
«Warten Sie. Ich zieh mir lieber noch den Kram hier an, sonst schneiden die von der Spurensicherung mich in feine Scheiben und legen mich unter eins ihrer teuren Mikroskope.» Sie griff in den Land Rover und zog ein in Plastik gewickeltes Päckchen hervor. Darin waren ein weißer Spurenschutzanzug mit Kapuze sowie weiße Überschuhe, die sie nun überstreifte. «Ich weiß», sagte sie, als sie fertig angezogen war, «ich sehe aus wie der Yeti.»
Sie bat ihn, auf der Straße stehen zu bleiben und ihr zu zeigen, wo genau die Leiche lag. Dann stand sie an der Böschung und blickte in den Graben hinab. «Wie haben Sie ihn entdeckt? Selbst von hier aus kann man ihn ja kaum sehen.»
Percy merkte, wie er rot wurde.
«Der Ruf der Natur, hm?»
Er nickte.
«Ich muss mittlerweile auch immer öfter. Gar nicht so leicht für eine Frau. Sie sollten Ihrem Glücksstern danken.»
Er merkte, dass ihre Gedanken nicht bei dem waren, was sie sagte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem jungen Mann dort im Graben.
«Kennen Sie ihn?»
Er schüttelte den Kopf. «Ich hab ihn aber schon ein paarmal hier in der Gegend gesehen. Einmal im Pub unten im Dorf. Und gestern Morgen ist er die Straße hier entlanggegangen.»
«Wo wohnen Sie?» Ihre Stimme klang freundlich, interessiert.
«In dem Bungalow, der etwas weiter die Straße hoch steht. Den habe ich gebaut, als ich frisch verheiratet war. Major Carswell hat mir ein Stück Land überlassen. Den größten Teil meines Lebens habe ich auf seinem Anwesen gearbeitet.»
Sie nickte, als wüsste sie, wie so etwas ablief. «Das ist ein bisschen seltsam – dass Sie den Mann nicht kennen. Wenn er aus dem Dorf kommt.»
«Der kommt nicht hier aus dem Tal.» Da war Percy sich ganz sicher. «Vielleicht hat er ja jemanden besucht.» Er schwieg kurz. «Susan weiß bestimmt mehr darüber.»
«Susan?»
«Meine Tochter. Sie wohnt bei mir.»
Jetzt hörte man ein weiteres Auto heranfahren. Diesmal war es ein Polizeiwagen, in dem zwei uniformierte Beamte saßen. Vera Stanhope kletterte wieder zurück auf die Straße. «Die Kavallerie», sagte sie. «Gerade zur rechten Zeit. Ich brauche jetzt dringend eine Tasse Tee, und Sie sind bestimmt am Verhungern. Warum fahren Sie nicht nach Hause, und ich komme nach, sobald ich mit der Truppe hier gesprochen habe. Dann kann Ihre Susan mir erzählen, was sie über den Kerl da unten im Graben weiß.»
Eine halbe Stunde später tauchte sie auf. Percy und Susan saßen noch am Tisch, den Cottage Pie hatten sie bereits gegessen und waren nun bei Tee und selbstgebackenem Kuchen angelangt. Seine Susan war schon immer eine phantastische Bäckerin gewesen. Doch ihr Naturell hatte mit den Jahren all seine Süße eingebüßt, und Percy kam der plötzliche Gedanke, dass diese Süße vollständig in Susans Kuchen und Torten aufgegangen war. Die Kommissarin klopfte an die Tür, wartete aber nicht darauf, dass man ihr aufmachte. Als sie im Haus war, zog sie gleich die Schuhe aus. Das hielt Percy für einen klugen Schachzug. Susan ertrug es nicht, wenn jemand Schmutz ins Haus brachte.
«Ich hoffe, ich störe Sie nicht.» Und damit saß die Kommissarin schon am Tisch, und Susan holte noch ein frisches Gedeck. Der Tee wurde eingeschenkt und ein Stück Kuchen abgeschnitten. Die glänzenden, kastanienbraunen Augen blickten die beiden an.
«Percy meinte, Sie wüssten bestimmt alles über den Toten, den er im Graben gefunden hat. Wenigstens wissen wir jetzt, wie er heißt. In seiner Jacke war eine Brieftasche mit einer Kreditkarte. Und einem Führerschein. Patrick Randle. Sagt Ihnen der Name irgendetwas?» Sie biss in ihr Stück Kuchen.
Susan genoss jede Minute. Nachdem Brian sie verlassen hatte und die Kinder ausgezogen waren – Karen zum Studieren und Lee zur Armee –, erweckten nur Klatschgeschichten sie noch zum Leben. Boshaften Klatsch mochte sie am liebsten, und die meisten Frauen des Ortes hatte sie schon gegen sich aufgebracht. Percy bereitete es Kummer, dass sie so wenige Freundinnen hatte. «Patrick», sagte Susan, «so heißt doch der Housesitter oben im Herrenhaus.»
Vera blickte sie an, ohne sie zu unterbrechen, und Susan fuhr fort.
«Wenn der Major und seine Frau ihren Sohn in Australien besuchen, stellen sie immer jemanden an, der nach dem Haus sieht. Na ja, eigentlich geht es mehr darum, nach den Hunden zu sehen, aber die beiden sind beruhigt, wenn sie wissen, dass nachts jemand im Haus ist. Während sie auf Reisen sind, gehe ich zwar immer ein paarmal die Woche dort vorbei – das ist eine gute Gelegenheit, das Haus mal so richtig durchzuputzen –, aber da schlafen würde ich nicht wollen und erst recht nicht diese riesigen, sabbernden Labradore ausführen.»
«War es schon immer Patrick, der auf das Haus aufgepasst hat, wenn die beiden unterwegs sind?» Vera hatte ihr Stück Kuchen aufgegessen. Ohne zu fragen, schnitt Susan ihr noch ein zweites ab.
«Nein, sonst ist es immer eine ältere Frau, so Ende fünfzig, Anfang sechzig. Heißt Louise. Dieses Mal konnte sie aber nicht, und da hat die Agentur ihnen den jungen Kerl geschickt. Ich war nicht böse drum. Louise spielt sich immer auf, als wäre sie die Dame des Hauses, mit ihrem gezierten Getue. Dabei ist sie auch bloß eine Angestellte, genau wie ich.» In den Worten wurde Susans Verbitterung spürbar.
«Wie lange war Patrick denn schon dort im Haus?» Vera griff nach der Teekanne.
«Gerade mal zwei Wochen. Er kam an einem Dienstag an, und dienstags putze ich da oben immer. Mrs Carswell hatte mich gebeten, ihm alles zu zeigen und ihm beim Eingewöhnen zu helfen. Oben unterm Dach ist eine kleine Wohnung, in der Nicholas, ihr Ältester, wohnte, bevor er nach Australien ging, und jetzt wohnen da immer die Housesitter drin.»
«Und wie war er so, dieser Patrick?»
Percy war versucht, die Frauen in der Küche allein zu lassen. Zu dieser Zeit am Abend sah er gewöhnlich fern, und es behagte ihm gar nicht, wenn seine Gewohnheiten durcheinandergebracht wurden. Außerdem befürchtete er, dass Susan sich bloßstellen und etwas Hässliches sagen würde. Doch zwischen den beiden Frauen herrschte eine solche Intensität, eine solche Konzentration, dass er sich kaum zu rühren wagte, um das nicht zu zerstören.
«Er wirkte sehr nett», sagte Susan. Percy war erleichtert. «Man konnte gut mit ihm plaudern. Er war unkompliziert. Ich fragte ihn, weshalb er den Housesitting-Job machte. Für einen intelligenten jungen Mann ist das doch eine komische Art, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.»
«Und, was meinte er dazu?»
«Dass es ihm zurzeit einfach gut reinpasse. Er befinde sich zwischen verschiedenen Projekten und es mache ihm Spaß, das Land besser kennenzulernen.»
«Projekte?» Vera schaute Susan mit zusammengekniffenen Augen an. «Was meinte er damit?»
«Keine Ahnung. Aber so hat er es gesagt.»
«Woher stammte er?» Jetzt folgten die Fragen schnell aufeinander. Percy, der dachte, dass die dicke Kommissarin doch bestimmt wusste, wo der Tote herkam, wenn sie seinen Führerschein gefunden hatten, wunderte sich, weshalb sie das fragte.
«Das hat er nicht gesagt.» Susan klang enttäuscht. Er erkannte, dass Vera Stanhope ihr ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte, und das geschah heutzutage nicht mehr oft.
«Aber vielleicht können Sie es ja erraten», sagte Vera. «Aufgrund seines Akzents, der Art, wie er sprach.»
Einen Moment lang dachte Susan nach. «Er klang wie ein Nachrichtensprecher im Fernsehen. Etwas hochgestochen.»
«Dann kam er also aus Südengland?»
Susan nickte.
«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»
«Gestern Nachmittag. Heute habe ich bei den Leuten auf dem umgebauten Gehöft gearbeitet. Das sind die drei Häuser am Ende des Tals.»
«Wann genau gestern?» Auch das kam wie aus der Pistole geschossen. Percy hatte den Eindruck, dass die Fragen der Kommissarin Schwierigkeiten hatten, mit ihrem Verstand Schritt zu halten.
«Etwa um vier Uhr. Ich war gerade in der Küche, und er kam mit den Hunden zurück.»
«Wirkte er normal? Nicht irgendwie unruhig oder besorgt?»
Susan schüttelte den Kopf. Wieder sah sie enttäuscht aus, weil sie so wenig Hilfreiches wusste. Sie hatte keinen saftigen Happen Klatsch zu bieten. Die Kommissarin stand auf, und das schien eine Art Zauberbann zu brechen, denn Percy merkte, dass nun auch er wieder aufstehen konnte. An der Tür schwankte sie beim Versuch, sich die Schuhe anzuziehen, aufgrund ihres Gewichts ein wenig hin und her, und Percy streckte die Hand aus, um ihr Halt zu geben.
Dann wandte sie sich an Susan und lächelte. «Haben Sie einen Schlüssel für das Herrenhaus? Dürfte ich mir den mal ausborgen?»
Eine Sekunde lang war Susan ganz aus der Fassung; sie war noch nie gut darin gewesen, Verantwortung zu übernehmen. «Ich weiß nicht recht. Vielleicht sollte ich erst die Carswells anrufen und deren Erlaubnis einholen. Sie haben mir eine Telefonnummer dagelassen, für Notfälle.»
«Warum geben Sie mir die Nummer nicht einfach zusammen mit dem Schlüssel, und ich erledige das dann für Sie?»
Also übergab Susan ihr den Schlüsselbund sowie das Stück Papier, auf dem fein säuberlich eine Telefonnummer notiert war, und die Kommissarin ging hinaus.
Percy und Susan blieben am Fenster stehen und sahen ihr nach, wie sie zu dem Land Rover stapfte.
«Nette Frau», bemerkte Susan. «Aber man hat schon das Gefühl, sie könnte etwas abnehmen.»
Als Vera wieder am Leichenfundort eintraf, war Joe Ashworth bereits dort. Er sprach gerade mit Billy Wainwright, dem Leiter der Spurensicherung, und die Polizei hatte die Straße inzwischen mit Absperrband gesichert.
«Sie sind auch schon da, Vera?», meinte Wainwright. «Das ist schon ein bisschen makaber, dass Ihr Beruf Ihnen so viel Spaß bereitet.»
Wahrscheinlich hat er sogar recht, dachte sie, ließ sich aber nicht zu einer Antwort herab.
«Was können Sie mir bislang sagen, Billy? Erste Eindrücke?» Zwar stimmte es, dass Billy zu sehr hinter den jungen Mädchen her war, doch seinen Job machte er dessen ungeachtet gut.
«Hier wurde der Junge jedenfalls nicht umgebracht. Nach Ihrem Tatort müssen Sie woanders suchen.»
«Dann handelt es sich also tatsächlich um einen Mord?»
«Das festzustellen, meine liebe Vera, fällt nicht in meinen Bereich. Paul Keating ist schon unterwegs.» Keating, ein wortkarger Nordire, war der leitende Gerichtsmediziner. «Aber dass es ein Unfall war, glaube ich nicht. In den Graben hier hat ihn jemand gelegt, weil das nahe genug an der Straße ist, um die Leiche ohne Schwierigkeiten aus einem Auto zerren zu können. Und versteckt wurde der Tote auch. Er hätte wochenlang hier liegen können, ohne dass jemand ihn bemerkt hätte.»
Wenn Percy Douglas nicht dringend mal gemusst hätte, dachte Vera. Und bis man die Leiche dann gefunden hätte, hätten sich die Ratten und Füchse schon darüber hergemacht, und das hätte uns das Leben deutlich erschwert.
«Gibt es Reifenspuren am Straßenrand?»
«Ja, ganz frische sogar, aber die gehören alle zum selben Wagen und damit höchstwahrscheinlich zu dem Kerl, der die Leiche gefunden hat.»
Sie nickte und glaubte, hier momentan nicht mehr viel ausrichten zu können, solange die Fachleute noch am Herumstochern und Spurensichern waren. Außerdem war sie hibbelig. Tatenlos irgendwo herumzuhängen war noch nie ihre Stärke gewesen. Mangelnde Geduld. «Joe, Sie kommen mit mir. Ich weiß, wo unser Opfer gewohnt hat oder wo er jedenfalls in den letzten zwei Wochen wohnte.»
Ashworth wollte schon auf den Beifahrersitz des Land Rover klettern, doch sie rief ihn zurück. «Lassen Sie uns zu Fuß gehen, ja? Es ist nicht weit, und etwas Bewegung kann mir nicht schaden.»
Er wirkte überrascht, hütete sich aber, ihren Vorschlag in Frage zu stellen. Das gefiel Vera so an Joe. Er konnte genauso sturköpfig sein wie alle anderen in ihrem Team, doch er beschränkte sich aufs Wesentliche und machte kein großes Trara um all den unbedeutenden Kram. Das ließ sie an Holly denken, die immer alles groß aufbauschte. «Hat schon jemand Detective Constable Clarke über das Geschehen hier in Kenntnis gesetzt?»
«Aye, ich habe sie gleich informiert, als uns der Anruf erreichte. Sie meinte, es würde noch etwas dauern.»
Ein paar Minuten lang gingen sie schweigend nebeneinanderher. Vera war froh, mit Joe allein zu sein. Dies waren ihr immer die liebsten Augenblicke. Es fühlte sich beinahe so an, als wäre er ihr Sohn. In der Mitte der Straße wuchsen Grasbüschel durch den Asphalt, und als sie außer Hörweite von Billy und seinem Team waren, herrschte tiefe Stille.
«Wo genau sind wir hier eigentlich?» Joe kam nicht vom Land, und Vera merkte, dass er sich nicht besonders wohlfühlte. Ihr Sergeant strebte nach einem neu gebauten Häuschen in einem wohlhabenden Vorort der Stadt, wo man die Kinder gefahrlos draußen spielen lassen konnte. Seine ideale Nachbarschaft setzte sich wahrscheinlich aus Lehrern und mittelständischen Unternehmern zusammen. Ehrbar, aber nicht zu abgehoben. Veras Nachbarn waren durchgeknallte Aussteiger, die Dope rauchten und guten Rotwein tranken. Und sich auf einem kleinen Bauernhof in den Hügeln, der kaum genug zum Leben abwarf, abrackerten.
«Ich weiß auch nicht genau, wie das Tal hier heißt. Das nächste Dorf liegt ein Stück hinter uns an der Hauptstraße. Gilswick. Und das besteht auch bloß aus einer Handvoll Häuser, einer Kirche und einem Pub. Vielleicht hat dieses Tal nicht mal einen eigenen Namen.»
Sie gingen um eine Kurve und standen vor den Ecksteinen einer Auffahrt. Abbröckelnde Pfeiler, vom Efeu halb zugewachsen. Kein Tor. Kein Schild. Vera hatte die Auffahrt schon gesehen, als sie zu Percy fuhr, um mit ihm und Susan zu reden, hatte aber nicht angehalten. Der Weg führte durch eine verwilderte Waldung, wo gelbe Narzissen wuchsen, und ein Haus war von dieser Stelle aus nicht zu sehen.
«Ganz schön stattliches Anwesen für einen jungen Mann.» Joe klang angespannt, beinahe verunsichert. Sein Vater war Bergarbeiter und methodistischer Laienpriester gewesen. Joe war zwar in der Überzeugung erzogen worden, alle Menschen seien gleich, doch so recht hatte er nie daran geglaubt.
«Das hat doch nicht ihm gehört!» Vera lachte auf, doch wenn sie darüber nachdachte, hatte Susan ihr den Eindruck vermittelt, Patrick Randle könnte durchaus aus ähnlichen Verhältnissen stammen. Ein junger Müßiggänger, der es sich leisten konnte, seine Zeit in den Häusern anderer Menschen zu vertändeln. Der genug Geld hatte, um sich keinen richtigen Job suchen zu müssen. «Er war der Housesitter.»
«Was ist das denn?»
«Jemand, der sich ums Haus kümmert, solange die Eigentümer auf Reisen sind.»
Wieder bogen sie um eine Ecke, und da stand das Haus direkt vor ihnen. Kein imposantes Schloss mit Säulen und Türmchen. Dieses Haus war solide und schnörkellos. Alt. Aus massivem Stein. An der einen Seite besaß es einen Wachturm, der aber schon längst nutzlos geworden war. Es war eines jener befestigten Landhäuser, die man damals an der Grenze zu Schottland errichtet hatte, um die schottischen Eindringlinge abzuwehren. Im letzten Sonnenlicht des Tages strahlten die Steinmauern Wärme aus. «Hübsch», meinte Vera und verspürte einen kurzen, neidischen Stich. Hector, ihr Vater, war in einem ganz ähnlichen Haus aufgewachsen. Doch als drittgeborener Sohn hatte er keinen Anspruch auf den Besitz gehabt, und davon abgesehen hatte er sowieso jedes einzelne Mitglied seiner Familie gegen sich aufgebracht, und am Ende hatte niemand mehr mit ihm zu tun haben wollen. Dann aber dachte sie an ihr kleines Haus in den Hügeln – sie schaffte es ja nicht einmal, das halbwegs in Schuss zu halten; bei einem so großen Haus wie diesem hier hätte sie nicht den Hauch einer Chance.
Neben dem Anwesen erstreckte sich ein alter Küchengarten. Mit Netzen bedeckte Obststauden grenzten an Beetreihen, in denen die ersten Gemüsesorten durch die Erde brachen. Alles sehr gepflegt. Susan hatte keinen Gärtner erwähnt, und Vera glaubte, dass sie das getan hätte, wenn die Familie einen beschäftigte. Demnach musste dies das Werk der Carswells selbst sein. Ganz offensichtlich liebten sie ihren Besitz, und sicher waren sie bereits im Ruhestand, wenn sie ihm so viel Zeit widmen konnten. Hinter dem Garten stieg der Hügel steil an bis zu einer schroffen Felsnase. Joe und Vera blieben einen Moment lang still stehen; sie hörten nur Schafe und Wassergeplätscher.
Susans Schlüssel gewährte ihnen Einlass in eine große Küche. An einer Wand stand ein cremefarbener alter Herd, das darüber angebrachte Trockengestell war leer bis auf ein paar Geschirrtücher. In einem Korb lag ein fetter schwarzer Labrador, und daneben noch ein zweiter, etwas schlankerer Hund auf einer Decke.
«Verdammt!», sagte Vera. «Wir müssen jemanden finden, der sich um die Tiere kümmert.» Sie überlegte, ob sie wohl Percy dazu bringen konnte, die Hunde zu sich zu nehmen, bis ihre Besitzer wieder nach Hause kamen. Obwohl es vermutlich eher darum ging, Susan zu überreden.
In der Küche stand ein großer, blank geschrubbter Tisch aus Kiefernholz. Alles war blitzsauber und aufgeräumt, aber ganz so wie in Homes & Gardens war es doch nicht. Kein Stuhl passte zum anderen, das Geschirr in der Anrichte war alt und teilweise angeschlagen. Auf dem Fliesenboden lag eine Binsenmatte. Dass alles so sauber war, war vermutlich Susans Werk. Wenn Randle in der Wohnung unterm Dach gewohnt hat, dachte Vera, hatte er dort bestimmt eine eigene Küche.
Sie betraten ein bieder eingerichtetes Esszimmer, das kalt wirkte und aussah, als würde es kaum je genutzt. An den Wänden Porträts viktorianischer Landedelmänner in düsteren Farben und mattgoldenen Rahmen. Eine Terrassentür führte auf eine Veranda aus Steinplatten, an die sich eine Rasenfläche anschloss. Vera fragte sich, ob das Rasenmähen wohl auch zur Jobbeschreibung eines Housesitters gehörte. Dann kamen sie ins Wohnzimmer der Familie. Die Nischen zu beiden Seiten des offenen Kamins waren mit Bücherregalen vollgestellt, die alten Sofas von Generationen von Hunden zerkratzt, und auf dem Kaminsims standen Fotos. Auf einem davon war ein gutaussehender junger Mann in Uniform neben einer jungen Frau in einem geblümten Kleid zu sehen; andere zeigten dasselbe Paar, wie es langsam älter wurde: mit zwei Kindern am Strand, vor der Universität bei der Abschlussfeier des Sohnes, festlich gekleidet auf der Hochzeit der Tochter. Das jüngste Foto war wohl erst kürzlich aufgenommen worden und zeigte die beiden auf einer weißen Bank vor dem Herrenhaus sitzend. Sie mussten etwa Mitte siebzig sein, wirkten aber drahtig und gesund. Der Mann sah die Frau mit dem gleichen liebevollen Blick an wie auf dem allerersten Foto.
«Das Bildnis einer glücklichen Ehe», sagte Joe.
«Mann, das ist aber einen Tick zu tiefgründig für Sie.» Vera bemühte sich, leichthin zu klingen, aber auch sie war bewegt. Und ein klein bisschen eifersüchtig. Sie selbst hatte keine Erfahrung mit glücklichen Familien. «Es passiert leicht, dass man auf den äußeren Anschein reinfällt.»
Eine ausladende Treppe führte auf frisch gebohnerten Stufen in den ersten Stock. Die Schlafzimmer dort waren groß und hell. Alte Möbel und geblümte Steppdecken. Ohne den ganzen Zierkram, diese Berge von Kissen auf dem Bett, die man vor dem Schlafengehen ja doch nur wieder auf den Boden werfen musste. In zwei Schlafzimmern standen Doppelbetten, in den anderen beiden Einzelbetten – die Letzteren waren immer noch für Kinder hergerichtet. In einem stand eine Modelleisenbahn auf einem großen Tisch, daneben ein mottenzerfressenes Schaukelpferd. Vera überlegte, ob es wohl Enkelkinder gab. Aber von denen hätten mit Sicherheit auch Fotos herumgestanden, und die hatten sie unten nicht entdeckt. Vielleicht warteten die Carswells ja ab, in der Hoffnung, ihre Kinder würden noch Nachwuchs produzieren. Dann gab es ein Badezimmer für die ganze Familie, in dem eine hohe, alte Badewanne mit Emailleüberzug stand, und ein etwas neueres mit einer Dusche, das man nachträglich dort eingebaut hatte, wo früher einmal die Wäschekammer des Elternschlafzimmers gewesen sein mochte. Aber das war das einzige Zugeständnis an die modernen Zeiten. Und weder in dem einen noch in dem anderen Bad lagen Toilettenartikel herum, die ein junger Mann hätte benutzt haben können. Außerdem herrschte nirgends auch nur das geringste Durcheinander, nichts, was darauf hätte hinweisen können, dass hier ein Mord geschehen war.
«Wo hat unser Opfer denn nun gewohnt?» Joe wurde langsam ungeduldig, aber Vera machte es nichts aus, sich in diesem Stadium der Ermittlung Zeit zu lassen. Es ging darum, ein Gefühl für die Räumlichkeiten zu bekommen. Als würde man den Schauplatz eines Romans entwerfen. Wenn man sah, wie die Leute wohnten, konnte man eine Menge über sie erfahren, und auch wenn die Carswells zum Zeitpunkt des Mordes an dem jungen Mann am anderen Ende der Welt gewesen sein mochten, so hatte er doch in ihrem Haus gewohnt.
Joe spähte übers Treppengeländer nach oben und dann in die unter ihm liegende Eingangshalle. «Ich meine, Sie sagten zwar, er würde unterm Dach wohnen, aber ich sehe nirgends eine Treppe, die hinaufführt.»
Er hatte recht. Vom ersten Stock aus führten keine Stufen nach oben. Aber ein Dachgeschoss gab es definitiv. Vera hatte von draußen die Fenster im Dach gesehen. «Bestimmt geht die Treppe von der Küche ab», sagte sie nach kurzem Nachdenken. «In den Dienstbotentrakt. Schließlich wollte man die Untergebenen doch nicht durch den herrschaftlichen Bereich des Hauses gehen sehen. Jedenfalls damals nicht, als das hier ein Herrensitz wurde.» Sie hoffte, dass die Carswells nicht mehr so dachten. Ihr gefiel dieses Haus, und sie stellte sich seine Eigentümer als nette Leute vor. Aufgeschlossen. Obwohl der erste Eindruck trügerisch sein konnte, ganz wie sie gerade zu Joe gesagt hatte, und auch sie selbst immer auf alles Mögliche gefasst bleiben sollte.
Tatsächlich fanden sie die Treppe in der Küche hinter einer Tür, die sie zuvor für einen Schrank gehalten hatten. Sie war weiß gestrichen, genau wie die Tür, die auf der anderen Seite des Herds in die Speisekammer führte. Hinter der Tür wanden sich sehr schmale Stufen steil nach oben. Es gab einen Schalter, und eine an die Wand geschraubte nackte Glühbirne diente als einzige Lichtquelle. Früher hatte es vermutlich auch eine Tür zum ersten Stock gegeben, aber die war offenbar zugemauert worden. Vera glaubte, dass man das zur selben Zeit erledigt hatte, als auch die Dusche in der Wäschekammer des Elternschlafzimmers installiert worden war. Doch heute führten die Stufen daran vorbei immer weiter in die Höhe, und das Licht der Glühbirne reichte kaum noch bis hier oben. Das Treppenhaus war jetzt etwas breiter, doch wegen ihrer schieren Masse ging Vera die grauenvolle Vorstellung nicht aus dem Kopf, sie könnte in einer der engen Windungen stecken bleiben und müsste es über sich ergehen lassen, dass Joe sie in einer entwürdigenden Prozedur aus der Klemme zog.
Sie spürte, wie Panik und Platznot in ihr hochstiegen, als sie endlich die oberste Stufe erreichte. Der Spurenschutzanzug war auch nicht gerade hilfreich. Hinter sich hörte sie Joes gleichmäßige Atemzüge, doch sie selbst japste schon nach Luft. Noch eine weiß getünchte Holztür. Vera stieß dagegen, aber nichts tat sich. Dann zog sie daran und musste sich gegen die Wand quetschen, denn die Tür ging nach außen auf.
«Die Hausmädchen damals müssen ganz schön dürre Dinger gewesen sein.» Sie lachte kurz, versuchte ihr Unbehagen herunterzuspielen, dann trat sie in einen winzigen Korridor und streckte sich. Nackte, weiß getünchte Wände. Ein Paar Gummistiefel. Auf einem Haken ein Schal und ein Dufflecoat. Das einzige Licht fiel durch ein kleines Dachfenster. Jetzt trat Joe neben Vera, und damit war der Korridor voll. Die Kommissarin wartete eine Sekunde, dann machte sie die Tür zu Patrick Randles Wohnung auf.
Diese war groß und hell und musste sich über eine ganze Haushälfte erstrecken. Hier oben glaubte man sich eher in einem Loft in der Stadt als in einem alten Haus auf dem Lande. Trotz der Dachschrägen war es nicht düster, denn große Fenster ließen das letzte Abendlicht in die Wohnung fluten. Die Dielen waren abgezogen worden, und alle Türen standen offen, sodass Vera bis zum Ende des Giebels blicken konnte. Dort stand ein Fenster offen, und von draußen drangen der Gesang der Ringeltauben und Wassergeplätscher herein. Neben der Eingangstür befand sich ein kleines Badezimmer. Über dem Wannenrand hing ein zusammengeknülltes Handtuch. Auf dem Bord über dem Waschbecken lag ein elektrischer Rasierapparat. Vera erblickte ihr Spiegelbild und wandte sich rasch ab.
Der restliche Raum wurde durch eine hohe Wand geteilt. Eine große, offene Küche und ein Wohnbereich nahmen den größeren Teil ein. In der Küche standen ein Kühlschrank sowie ein schmaler Herd. Auf dem Abtropfbrett neben der Spüle sah Vera eine abgewaschene Tasse und zwei Teller, in der Spüle selbst lagen zwei weitere, noch schmutzige Tassen. Hieß das, Patrick Randle hatte einen Besucher gehabt? Im Wohnbereich standen die ausrangierten Möbel aus dem ersten Stock: ein durchgesessenes Sofa und ein zerkratzter Esstisch. Es herrschte nicht gerade völliges Durcheinander, aber doch eine gepflegte Unordnung. Über der Lehne eines Sessels hing der Observer der vergangenen Woche, und auf dem Tisch stapelten sich ein paar Bücher.
Vera ging weiter zu der offen stehenden Tür, die ins Schlafzimmer führte. Dieser Raum lag nach Westen hinaus und wirkte hell und einladend; er leuchtete regelrecht. Vera blieb in der Tür stehen, wobei sie sich der Tatsache bewusst war, dass Joe im Zimmer hinter ihr alle Schubladen aufzog. Sie wollte sich einen ersten Überblick über Randles Habseligkeiten verschaffen. Mitten im Raum stand ein niedriges Doppelbett. Die Matratze war ziemlich dünn, und die Kommissarin glaubte nicht, dass man besonders gut darauf schlafen konnte. In einer Ecke stand ein gewaltiger, schwerer Kleiderschrank. Den, dachte Vera, müssen sie hier oben aufgebaut haben; der geht doch niemals durch dieses enge Treppenhaus. Im Grunde mussten alle Möbel schon hier oben gestanden haben, bevor die Tür zum Schlafzimmer im ersten Stock zugemauert worden war.
Und dann sann Vera darüber nach, wie wunderlich der Verstand des Menschen doch arbeitete, denn schon beim ersten Blick, den sie ins Zimmer geworfen hatte, hatte sie den Mann auf dem Boden unter dem Fenster liegen sehen. Warum also hatten sich ihre Gedanken mit einer so trivialen Sache wie den Möbeln beschäftigt? Warum hatte ein monströser Kleiderschrank ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Sie zwang sich, wieder auf den Fußboden zu schauen. Sich zu konzentrieren, denn manchmal war der erste Eindruck der wichtigste. Im allerersten Schock bemerkte man Einzelheiten, die einem später womöglich entgingen.
Dieser Mann hier war älter als Patrick Randle. Anfang, Mitte fünfzig. Graues Haar und grauer Anzug. Typ Beamter. Er lag auf dem Rücken, und seine Brille saß ihm immer noch auf der Nase, jedoch ein wenig verrutscht, sodass er nur noch durch eins der Gläser hätte sehen können. Sein weißes Hemd war vom denkbar schärfsten aller Messer in Streifen geschlitzt worden, und das Hemd selbst war auch nicht mehr weiß, sondern rötlich braun, und etwas, das aussah wie Blut, war zwischen die abgeschliffenen Holzdielen neben und unter ihm gesickert.
Joe musste gespürt haben, dass ihr etwas einen Schock versetzt hatte, denn nun tauchte er hinter ihr auf.
«Bleiben Sie bloß, wo Sie sind!» Das entschlüpfte ihr mit einem Schrei, was sie nicht beabsichtigt hatte. Doch diese Szenerie war wie in einem Albtraum. Sie und Joe waren von einer Leiche zur nächsten spaziert, und jeder Verteidiger würde Purzelbäume vor Freude schlagen, sobald die Sprache auf eine Kontamination des Tatorts käme. Wenigstens hatte Joe dafür gesorgt, dass sie frische Spurenschutzanzüge angelegt hatten, bevor sie ins Haus gegangen waren.
Und während all diese Gedanken Kapriolen in ihrem Kopf schlugen, konnte sie daneben noch etwas ganz anderes spüren: den Kitzel der Aufregung. Denn dies hier war ein vollkommen neuartiger Fall, anders als alles, woran sie bisher gearbeitet hatte. Zwei Leichen, die zusammengehörten, aber nicht am selben Ort lagen. Und nichts vermittelte ihr ein solches Gefühl von Lebendigkeit wie Mord.
Vera saß vor dem Herrenhaus und wartete auf Paul Keating. Sie hatte ihre Befehle ausgegeben, hatte sie Joe Ashworth mit einer solchen Geschwindigkeit diktiert, dass er am Ende ganz verwirrt war und sie noch einmal von vorn beginnen musste, langsamer diesmal. Danach hatte sie Holly angerufen.
«Wo stecken Sie, Holly?»
«Bin schon unterwegs, Ma’am.» Ihre Stimme klang, als würde sie durch ein Stück Gartenschlauch sprechen. Bestimmt benutzte sie die Freisprechanlage ihres Wagens. Doch auch so verspürte Vera einen Anflug von Verärgerung. Warum hörte sich dieses «Ma’am» immer so an, als würde ihre junge Mitarbeiterin sich über sie lustig machen? Es klang ebenso kess wie gereizt.
«Gut, dann halten Sie sich nicht bei der Absperrung an der Straße auf. Ich werde die Leute dort anweisen, Sie durchzulassen. Fahren Sie noch ein Stück weiter ins Tal hinein bis zu dem Herrenhaus. Wenn Sie am Fundort der Leiche im Graben vorbei sind, ist es die erste Einfahrt auf der linken Seite. Ich erwarte Sie da.»
«Wollen Sie denn nicht, dass ich mich am Leichenfundort nützlich mache?» Das klang beleidigt. Es brauchte nicht viel, um Holly zu kränken.
«Nicht bei der Leiche im Graben. Es gab einen zweiten Mord, und ich brauche hier eine frische Kraft. Wir wollen ja nicht, dass noch mehr Spuren verwischt werden.» Und das brachte Holly zum Schweigen.
Vera wartete vor dem Haus, sie saß auf der weißen Bank, wo das Foto der beiden Hauseigentümer aufgenommen worden war. Inzwischen war es kühler geworden, und die Sonne schwebte nur noch knapp über dem Horizont, doch es roch nach frisch gemähtem Gras, und das ließ sie immer an den Sommer denken. Sie liebte diese Jahreszeit. Joe hatte sie zurück ins Revier geschickt, er sollte sich ans Telefon hängen und die ersten Informationen zusammenstellen. Und all die zusätzlichen Leute auftreiben, die sie für den nächsten Tag brauchen würden. Mit Billy Wainwright hatte sie selbst schon übers Handy gesprochen. Sie brauchten für jeden der beiden Leichenfundorte ein gesondertes Team, und sie wollte, dass Wainwright die Leitung für alle beide übernahm, weshalb er sich nun sowohl um einen Teamchef für das abgesperrte Stück Straße als auch um einen fürs Herrenhaus kümmern musste. Was die Gerichtsmedizin in Kimmerston betraf, war Paul Keating als Einziger verfügbar. Zwar wollte er versuchen, bei den Obduktionen einen Kollegen hinzuzuziehen, doch die Fundorte der Leichen musste er sich selbst anschauen. «Keine Angst, Inspector. Bevor ich zu Ihnen komme, ziehe ich mich noch einmal um. Wir sind uns der Gefahren einer wechselseitigen Kontamination der Fundorte durchaus bewusst.» Sie kannte ihn nun schon seit Jahrzehnten, aber noch nie hatte er sie mit Vornamen angesprochen.
Jetzt hörte man einen Wagen die Auffahrt hochkommen. Hollys Nissan. Funkelnagelneu und durch und durch zweckmäßig. Kein Auto fürs Vergnügen. Die junge Frau stieg aus, die schlanken Beine zuerst.
Bin ich vielleicht nur neidisch?, ging es Vera durch den Kopf. Weil sie jung ist und hübsch und alles auf die Reihe kriegt? Bin ich ungerecht?
«Sie sagten, es hätte einen zweiten Mord gegeben.» Holly zwängte sich bereits in den Spurenschutzanzug, schlüpfte in die Überschuhe und stopfte sich das Haar unter die Kapuze.
«Ein Mann um die fünfzig in der Wohnung, wo der Housesitter untergebracht war. Sieht aus, als wäre er erstochen worden, obwohl ich auf den ersten flüchtigen Blick nichts entdeckt habe, was wie ein Messer aussieht. Anzeichen für einen Einbruch gibt es auch nicht, es ist also möglich, dass er und unser erstes Opfer sich kannten.» Vera glaubte nicht, dass ein Einbrecher einfach so in die Wohnung unterm Dach marschiert wäre, ohne vorher den Grundriss des Hauses zu kennen. Falls es Wertsachen gab, befanden die sich doch bestimmt im Hauptteil des Hauses, und selbst sie und Joe hatten ein Weilchen gebraucht, bis sie den Zugang zu der Dienstbotentreppe in der Küche gefunden hatten. Aber für solche Vermutungen war später noch Zeit genug.
«Um wen handelt es sich?»