Wurst und Wahn

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Inhaltsverzeichnis

Entgegen dem in einer Randnotiz am Manuskript vermerkten Wunsch des Autors haben wir uns gegen eine Ausgabe des Werks in Ziegenleder entschieden, um es so einer breiteren Leserschaft zugänglich machen zu können.

Sie haben mir zu einem umfassenden Geständnis geraten und ich will Ihrer Bitte gern entsprechen. Ich werde Ihnen alles erzählen, so wie es war. Aber um den ganzen Sachverhalt zu erläutern, muss ich etwas weiter ausholen. Meine Absicht ist es nicht,

 

Warum ich damals Vegetarier geworden bin, kann ich heute nur noch rekonstruieren, nicht mehr verstehen, Herr Kommissar. Ein paar Jahre vorher war es noch ganz harmlos mit ein paar Filmen und Büchern losgegangen. Die Filme liefen spät nachts, und die Bücher hat kaum jemand gelesen. Die Zeitungen griffen das Thema auf, es gab Berichte und Interviews. Zunächst ging ich davon aus, dass es bald ein anderes Modethema geben würde und alle bald wieder Fleisch essen würden wie vorher. Aber es kam leider anders. Eines Tages aß fast niemand mehr Fleisch. Die Zeiten hatten sich geändert. Die Leute rauchten jetzt auch nicht mehr und tranken immerzu koffeinhaltige Getränke. Ob sie noch Sex hatten, wage ich nicht zu beurteilen. Alles war freudlos und grau. Ständig wurde über die Spuren gesprochen, die man auf dem Planeten hinterlassen würde. Nicht

Ich meine, leichte Verachtung in Ihrem Blick zu erkennen, Herr Kommissar. Sicher sind Sie nicht gleich bei jeder Mode dabei und kennen auch das Gefühl beim Schwimmen, wenn Ihnen das Wasser des Flusses entgegenfließt. Ich meine, Sie sind Polizist geworden, das ist ja nicht gerade ein populärer Beruf. Aber ich bin da anders. Es war mir immer wichtig gewesen, nicht aus der Reihe zu tanzen, dabei zu sein. Als die Schlaghosen aus der Mode kamen, begann ich eben Karottenhosen zu tragen. Mit diesen freundete ich mich rasch an, weil sie einen hohen Tragekomfort mit einer großen Gnade gegenüber dem Körper des Trägers verbanden. Ich beschloss sogar, nie wieder etwas anderes zu tragen, und erklärte Karottenhosen zu meinem Stil. Doch schon die nächste Verkäuferin in einem Jeansshop hob diesen Beschluss mit einem indignierten Heben der linken Augenbraue wieder auf. Bald gab es keine Karottenhosen mehr zu kaufen und ich quälte mich wie alle anderen in Röhrenhosen und kämpfte allmorgendlich mit den drei Metallknöpfen.

Als die Fleischerei Hess zumachte, habe ich mich das erste Mal ernsthaft gewundert. Seit Jahrzehnten

Aber es war nicht nur das. Es gab im ganzen Viertel überhaupt kein Fleisch mehr. Die Restaurants hatten alle auf vegetarisch umgestellt, die letzten Imbisse verkauften Falafel und mit Käse oder Hummus beschmierte Brote, im Supermarkt richteten sie einen abgetrennten Bereich für den Fleischverkauf ein, den nur Erwachsene betreten durften. Ich fragte den Verkäufer, was denn passiert sei.

»Neue Vorschriften«, erklärte er achselzuckend. »Der Anblick von toten Tieren darf Minderjährigen und Vegetariern nicht mehr zugemutet werden. Aber es traut sich ohnehin keiner mehr, so was zu kaufen, und mit diesen abgetrennten Verkaufsbereichen wird

Hätten Sie mich vor dieser Zeit gefragt, ob ich gern Fleisch esse oder nicht, ich hätte es Ihnen nicht sagen können, so wie ich Ihnen nicht sagen kann, ob ich gern atme oder nicht. Beides war für mich eine Selbstverständlichkeit, etwas, das ich täglich mehrmals tat und nie hinterfragte. Ich weiß seitdem, dass ich gern Fleisch esse. Wurst, Buletten, Schnitzel, Koteletts, Filets, Gehacktes, Geschnetzeltes und Geselchtes, Muskelfleisch und Innereien – alles schmeckt mir. Ich habe es gern, wenn der Geruch von Bratenfett schwer in der Wohnung liegt, weil ein Stück Kurzbratfleisch in der Pfanne liegt, ich schwärme für den Duft von Schweinebraten aus der heißen Backröhre.

Ich habe Kindheitserinnerungen daran, dass mein Vater alle paar Wochen samstags saure Nierchen machte. Den ganzen Freitag über wässerte er die Nieren und schmorte sie in Vorfreude pfeifend am nächsten Tag mit Zwiebeln und saurer Sahne. Dazu machte er Salzkartoffeln und Krautsalat. Obwohl an diesen Tagen ein strenger Uringeruch in der Wohnung lag, ist meine Erinnerung daran schön und sonnig.

Es begann eine anstrengende Zeit. In unserer Gegend gab es frei verfügbares Fleisch überhaupt nur noch im Imbiss auf dem Mittelstreifen, der im Volksmund schon immer liebevoll Die Fettlukehieß. Weil im Rahmen der Ausnahmeregelung für Kleinunternehmer Ein-Personen-Betriebe ja von den strengsten Auflagen befreit sind, aber das muss ich Ihnen nicht erklären, Herr Kommissar. Wenn ich da stand und im Abgasgeruch der vorbeifahrenden Autos meine Currywurst aß, fühlte ich mich wie ein Tier im Zoo, ausgestellt auf einer künstlich errichteten Insel den Blicken der Besucher ausgeliefert. Während der Rotphase starrten mich die Fußgänger ausdruckslos an, durften sie überqueren, schauten sie kaum zu mir herüber, bei dem einen oder anderen schien ich ein angedeutetes Kopfschütteln zu erkennen. Ich konnte mir da nichts vormachen: Fleisch essen hieß nun definitiv gegen den Strom zu schwimmen.

Der Verkäufer im Supermarkt hatte recht behalten, praktisch niemand traute sich in den separaten Fleischverkaufsbereich. Entspannt konnte man Fleisch nur noch im schlimmen Viertel unserer Stadt kaufen. Hier gab es sie noch: die Grillteller in den

Wer Fleisch kaufen wollte, hatte also nur die Wahl zwischen sozialem und tatsächlichem Harakiri. So weit war es gekommen.