Entgegen dem in einer Randnotiz am Manuskript vermerkten Wunsch des Autors haben wir uns gegen eine Ausgabe des Werks in Ziegenleder entschieden, um es so einer breiteren Leserschaft zugänglich machen zu können.
Das vorliegende Protokoll ist uns über Mittelsmänner zugespielt worden. Autor und Herkunft müssen aus Gründen des Quellenschutzes anonym bleiben. Wir wissen, dass wir uns mit seiner Veröffentlichung nicht nur Freunde machen. Insbesondere einigen Herrschaften aus den oberen Etagen der großen Tofu-Kartelle wird dieses Buch sicher nicht gefallen. Im Dienst der Wahrheit haben wir uns dennoch für eine Publikation entschieden.
Ausgerechnet einen Vegetarier in seinem Blut liegen zu sehen, war verwirrend und seltsam. Aber ich bin froh, Herr Kommissar, froh und erleichtert, dass es vorbei ist. Sie verstehen, für mich war er ja immer Vegetarier gewesen, so wie ich selbst einer gewesen war, und Vegetarier sind nun mal Menschen, die Obst, Gemüse und Getreide in sich hineinstopfen. Sein totes Fleisch und das rot fließende Blut passten da nicht ins Bild. Aber wie gesagt, ich bin froh, dass es endlich vorbei ist; dass das Ganze zu Mord und Totschlag führen würde, war nun wirklich nicht abzusehen gewesen und ich frage mich erschrocken, wohin es noch hätte führen können.
Sie haben mir zu einem umfassenden Geständnis geraten und ich will Ihrer Bitte gern entsprechen. Ich werde Ihnen alles erzählen, so wie es war. Aber um den ganzen Sachverhalt zu erläutern, muss ich etwas weiter ausholen. Meine Absicht ist es nicht, mich herauszureden, und ich will Sie auch nicht langweilen, aber ich kann das eine nicht erzählen, ohne das andere zu erwähnen, und ich kann versprechen, dass Sie am Ende Ihr Geständnis haben werden. Aber dazu muss ich von vorn anfangen, bei Adam und Eva sozusagen. Kein ganz schlechter Vergleich, denn der Griff nach dem Apfel ist gewissermaßen auch der Sündenfall in meiner Geschichte.
Warum ich damals Vegetarier geworden bin, kann ich heute nur noch rekonstruieren, nicht mehr verstehen, Herr Kommissar. Ein paar Jahre vorher war es noch ganz harmlos mit ein paar Filmen und Büchern losgegangen. Die Filme liefen spät nachts, und die Bücher hat kaum jemand gelesen. Die Zeitungen griffen das Thema auf, es gab Berichte und Interviews. Zunächst ging ich davon aus, dass es bald ein anderes Modethema geben würde und alle bald wieder Fleisch essen würden wie vorher. Aber es kam leider anders. Eines Tages aß fast niemand mehr Fleisch. Die Zeiten hatten sich geändert. Die Leute rauchten jetzt auch nicht mehr und tranken immerzu koffeinhaltige Getränke. Ob sie noch Sex hatten, wage ich nicht zu beurteilen. Alles war freudlos und grau. Ständig wurde über die Spuren gesprochen, die man auf dem Planeten hinterlassen würde. Nicht einmal mehr das kleine Vergnügen einer Wochenendreise nach London oder einer nächtlichen Spritztour auf der Autobahn wurde einem gegönnt.
Ich meine, leichte Verachtung in Ihrem Blick zu erkennen, Herr Kommissar. Sicher sind Sie nicht gleich bei jeder Mode dabei und kennen auch das Gefühl beim Schwimmen, wenn Ihnen das Wasser des Flusses entgegenfließt. Ich meine, Sie sind Polizist geworden, das ist ja nicht gerade ein populärer Beruf. Aber ich bin da anders. Es war mir immer wichtig gewesen, nicht aus der Reihe zu tanzen, dabei zu sein. Als die Schlaghosen aus der Mode kamen, begann ich eben Karottenhosen zu tragen. Mit diesen freundete ich mich rasch an, weil sie einen hohen Tragekomfort mit einer großen Gnade gegenüber dem Körper des Trägers verbanden. Ich beschloss sogar, nie wieder etwas anderes zu tragen, und erklärte Karottenhosen zu meinem Stil. Doch schon die nächste Verkäuferin in einem Jeansshop hob diesen Beschluss mit einem indignierten Heben der linken Augenbraue wieder auf. Bald gab es keine Karottenhosen mehr zu kaufen und ich quälte mich wie alle anderen in Röhrenhosen und kämpfte allmorgendlich mit den drei Metallknöpfen.
Als die Fleischerei Hess zumachte, habe ich mich das erste Mal ernsthaft gewundert. Seit Jahrzehnten hatte Hess seinen Laden bei uns auf der Allee. Hinter der Glasvitrine standen wohlgenährte Frauen mit blassrosa Blutflecken auf den weißen Kittelschürzen, da, wo sie sich die Hände nach jedem Kunden kurz abwischten. Hess war eine Institution bei uns im Viertel, die Allee war ohne den Laden praktisch nicht denkbar, und dann war er zu. Umzingelt von Biomärkten, Gemüseläden und Läden mit selbst gepressten Säften und fair gehandelten Kaffeegetränken konnte Hess nicht mehr existieren. Ein paar Wochen stand der Laden leer, dann zog ein Wellness-Tempel ein. Das machte das Ende endgültig. Plötzlich gab es keinen Fleischer mehr bei uns.
Aber es war nicht nur das. Es gab im ganzen Viertel überhaupt kein Fleisch mehr. Die Restaurants hatten alle auf vegetarisch umgestellt, die letzten Imbisse verkauften Falafel und mit Käse oder Hummus beschmierte Brote, im Supermarkt richteten sie einen abgetrennten Bereich für den Fleischverkauf ein, den nur Erwachsene betreten durften. Ich fragte den Verkäufer, was denn passiert sei.
»Neue Vorschriften«, erklärte er achselzuckend. »Der Anblick von toten Tieren darf Minderjährigen und Vegetariern nicht mehr zugemutet werden. Aber es traut sich ohnehin keiner mehr, so was zu kaufen, und mit diesen abgetrennten Verkaufsbereichen wird es bestimmt nur noch schlimmer, da traut sich doch kaum jemand rein. Fleisch verkaufen wir praktisch nur noch als Tierfutter. Eigentlich schade drum.«
Hätten Sie mich vor dieser Zeit gefragt, ob ich gern Fleisch esse oder nicht, ich hätte es Ihnen nicht sagen können, so wie ich Ihnen nicht sagen kann, ob ich gern atme oder nicht. Beides war für mich eine Selbstverständlichkeit, etwas, das ich täglich mehrmals tat und nie hinterfragte. Ich weiß seitdem, dass ich gern Fleisch esse. Wurst, Buletten, Schnitzel, Koteletts, Filets, Gehacktes, Geschnetzeltes und Geselchtes, Muskelfleisch und Innereien – alles schmeckt mir. Ich habe es gern, wenn der Geruch von Bratenfett schwer in der Wohnung liegt, weil ein Stück Kurzbratfleisch in der Pfanne liegt, ich schwärme für den Duft von Schweinebraten aus der heißen Backröhre.
Ich habe Kindheitserinnerungen daran, dass mein Vater alle paar Wochen samstags saure Nierchen machte. Den ganzen Freitag über wässerte er die Nieren und schmorte sie in Vorfreude pfeifend am nächsten Tag mit Zwiebeln und saurer Sahne. Dazu machte er Salzkartoffeln und Krautsalat. Obwohl an diesen Tagen ein strenger Uringeruch in der Wohnung lag, ist meine Erinnerung daran schön und sonnig.
Nein, ich musste mir da nichts vormachen: Ich aß gern Fleisch.
Es begann eine anstrengende Zeit. In unserer Gegend gab es frei verfügbares Fleisch überhaupt nur noch im Imbiss auf dem Mittelstreifen, der im Volksmund schon immer liebevoll Die Fettlukehieß. Weil im Rahmen der Ausnahmeregelung für Kleinunternehmer Ein-Personen-Betriebe ja von den strengsten Auflagen befreit sind, aber das muss ich Ihnen nicht erklären, Herr Kommissar. Wenn ich da stand und im Abgasgeruch der vorbeifahrenden Autos meine Currywurst aß, fühlte ich mich wie ein Tier im Zoo, ausgestellt auf einer künstlich errichteten Insel den Blicken der Besucher ausgeliefert. Während der Rotphase starrten mich die Fußgänger ausdruckslos an, durften sie überqueren, schauten sie kaum zu mir herüber, bei dem einen oder anderen schien ich ein angedeutetes Kopfschütteln zu erkennen. Ich konnte mir da nichts vormachen: Fleisch essen hieß nun definitiv gegen den Strom zu schwimmen.
Der Verkäufer im Supermarkt hatte recht behalten, praktisch niemand traute sich in den separaten Fleischverkaufsbereich. Entspannt konnte man Fleisch nur noch im schlimmen Viertel unserer Stadt kaufen. Hier gab es sie noch: die Grillteller in den Restaurants, das Lamm vom Rost, die mit Hackfleisch gefüllten Blätterteigstücke beim Bäcker, das Formfleisch am Spieß. Allerdings lungerten da überall mediterran aussehende Gestalten herum: Kopftuchmädchen, Drogendealer, Wasserpfeifenraucher, Klappmesserschwinger. So gern ich mir dort ein paar Scheiben Lamm geholt hätte, waren mir die Ausflüge in diese brandgefährliche Zone doch zu riskant, denn man wusste nie, ob man dort Fleisch vom Spieß bekommen oder als Fleisch auf dem Spieß enden würde.
Wer Fleisch kaufen wollte, hatte also nur die Wahl zwischen sozialem und tatsächlichem Harakiri. So weit war es gekommen.