Eleanor Bardilac
Knochenblumen
welken nicht
Roman
Knaur e-books
Eleanor Bardilac wurde 1994 in Wien geboren, wo sie nach wie vor lebt und arbeitet. Nach zwei abgeschlossenen Bachelorstudien in Germanistik und Komparatistik brütet sie gerade über ihrer Masterarbeit in Älterer Deutscher Literatur. Unter ihrem Klarnamen erfolgten mehrere kleine Veröffentlichungen mit Essays, Kurzgeschichten und Gedichten im Rahmen von Anthologien. Wenn sie nicht gerade schreibt, baut sie ihren Stapel ungelesener Bücher ab und lernt fleißig viel zu viele Sprachen.
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Silvana Dorothea Schmidt
Abbildung im Innenteil: Flaffy / Shutterstock.com
Covergestaltung: Sabine Schröder
Coverabbildung: Collage von Sabine Schröder unter Verwendung von Bildern von iStock und Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46069-6
Geneigte Lesende!
In einer Welt, in der göttliche Wesen unter den Sterblichen wandeln und Magie sich in all ihrer Schönheit, aber auch all ihrem Terror zeigt, heißt es mitunter mit Vorsicht voranschreiten.
Doch fürchtet euch nicht: Die Futurix sehen, was kommen wird, und teilen ihre Weisheit mit euch. Wer sich auf die Geschichte, die hier erzählt wird, vorbereiten will, möge einen Blick auf die Notizen am Ende dieser Erzählung werfen, um vor den größten Gefahren der folgenden Seiten gewarnt zu sein.
Und nun folgt Marius Cinna auf den Wegen der Herrin, die sich blutig durch Vhindonas geschäftige Straßen ziehen …
Vhindona, 20 Jahre zuvor
Marius war erschöpft.
Mit einem Pochen hinter den Schläfen, das es ihm beinahe unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen, wanderte er durch das Haus, das er vor zwei Tagen in dieser fremden Stadt erworben hatte. Müde lauschte er dem Knacken in den Wänden und dem Holzboden, dem Heulen des Windes durch die Fensterfugen. Die Heimat, die er blind vor Tränen zurückgelassen hatte, kam gelegentlich in Fetzen zu ihm zurück: Die Sommer, in denen der Wind heißen roten Sand aus der Wüste nach Bycaea brachte. Der Tempel der Herrin, auf dessen Stufen er oft geschlafen hatte, so unendlich jung und sorgenlos. Die Geschichten der Toten, die deren Geister ihm zugeflüstert hatten, betrunken von einigen wenigen Tropfen seines Blutes. Und Leon, immer wieder Leon mit seinen sanften Augen und seiner warmen Stimme und dem Blut an seinen Händen. Bycaea war weit weg von Vhindona, getrennt von ihm durch Land und Meer, und der Tempel seiner Jugend war längst untergegangen. Leon aber lebte, trotz allem lebte er, und trotz allem war Marius froh darüber.
Er verwünschte sich und ihn dafür.
Die Lichter in den eisernen Haltern entlang der Korridorwände flackerten. Marius hielt inne und sah ihnen zu, dann wanderte er weiter, weiter. Zimmer um Zimmer durchwanderte er, Räume und Gänge, die staubbedeckt und vergessen auf Besuch warteten. Die Stiege ächzte wie ein altes Weib, als er in den nächsten Stock stieg und auch dort wanderte, unruhig und verwundet wie ein sterbendes Tier. Er konnte nicht beten, weil die Worte nicht zu ihm fanden. Er war hierhergekommen, um sich nicht noch mehr zu verlieren. Er war hierhergekommen, um sich selbst wiederzufinden. Er war zu alt, zu müde für beides davon. Es war zu spät.
Funkelnde Lichter wie von einem Windspiel glitzerten über eine Zimmerwand, von der die Tapete in einem sinnlosen Fluchtversuch Stück für Stück abblätterte. Es befand sich kein Windspiel im Raum. Marius atmete langsam ein und streckte die Hand aus. Er konnte nicht schlafen, nicht loslassen und nicht zurückgehen, aber sein Können hatte ihn noch nicht verlassen. Seine Augen sahen noch immer mehr als die der meisten anderen.
»Ich bin nicht dein Feind«, sagte er leise in die Leere hinein. Es hatte einen Grund gegeben, warum dieses Haus trotz seiner Größe so billig gewesen war und warum niemand anderes es haben wollte. Die meisten Leute wollten nicht in alten Häusern leben, in denen unschuldiges Blut vergossen worden war. Sie fürchteten sich vor dem, was zurückgeblieben war und sie an ihre eigene Sterblichkeit erinnerte.
Marius war nicht wie die meisten Leute. Der Tod war der Punkt, an dem sein Dienst erst begann.
Er folgte den Lichtern die nächste Stiege hinauf, wo es nur einen einzigen weiteren Raum gab. Buntes Licht ergoss sich durch eine farbige Rosette vielfach gebrochen wie ein zerfließender Regenbogen über das staubige Parkett. Marius aber hatte nur Augen für die Standuhr, die schweigend als einziges Möbelstück in einer Ecke stand. Anstatt hinzugehen, kniete er sich auf den Boden. Nach Jahrhunderten im Dienst der Herrin waren die nächsten Schritte so einfach wie Atmen: Das Ritenmesser am Handgelenk, die Blutstropfen am Boden keine Opfergabe, sondern eine Einladung, ein Geschenk. Er setzte sich im Schneidersitz davor und wartete, während sich das Pochen hinter seinen Schläfen verstärkte.
Als er sah, wer sich vor ihm manifestierte, atmete er aus. Dann lächelte er zum ersten Mal, seit Meriwa ihn in dieser Stadt begrüßt und ihm neue Möglichkeiten zur Beseitigung seiner schweren, schweren Schuld eröffnet hatte.
»Hast du Angst?«, fragte er.
Der kleine, dünne Junge, gekrümmt auf allen vieren mit herausgestrecktem Buckel wie ein angstvolles Tier, wich ein wenig zurück. Seine Form war schemenhaft und undeutlich wie halb geformter Nebel, aber Marius konnte die dunklen Flecken auf seinem eingesunkenen Schädel und seinem Hals erkennen. Seine Augen glühten wie zwei Lichter. Hast du keine?
»Nein«, sagte Marius sehr sanft. Er sagte nicht: Nicht vor dir. Vor vielem, aber nicht vor dir.
Der Junge zögerte. Dann kroch er langsam näher, bis seine kleinen, durchscheinenden Finger kühl Marius’ Knie berührten. Bisher hat mich niemand entdeckt. Ich habe so laut geschrien, aber nie hat mich jemand entdeckt. Und wenn sie die Lichter gesehen haben, dann sind sie meistens weggelaufen.
»Die meisten schauen nicht genau hin«, murmelte Marius. »Weißt du, wie du hierhergekommen bist? Weißt du, wer du warst?«
Nein, sagte der Junge verzagt. Einen Moment lang schwiegen sie sich an, dann neigte der Junge ein wenig seinen Kopf und fragte so leise wie ein Windhauch: Weißt du es?
Marius war still, dann öffnete er den inzwischen wieder verheilten Schnitt in seinem Handgelenk und tropfte etwas mehr auf die durchscheinenden Finger des kleinen Jungen. Die Ironie war, dass er es tatsächlich wusste. Er wusste alles über die Toten, die er mit seinem Blut berührte, wusste um die wichtigsten Ereignisse in ihren Leben und ihre letzten Augenblicke, während der Kontakt mit den Lebenden ihm nur eingeschränkt möglich war. Es gab immer einen Preis zu bezahlen. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
Der Junge horchte auf. Welche?
»Deine. Vom Anfang bis zum Ende. Und dann kannst du gehen, in die nächste Welt.« Marius lächelte behutsam. »Es ist schön dort, schöner als hier.«
Der Junge zögerte.
In Ordnung, sagte er dann. Aber beginn am Anfang und erzähle mir noch nicht das Ende. Ich bin noch nicht so weit … ich möchte noch hierbleiben, nur noch eine kleine Weile.
Ein letztes Mal noch dienen, schoss es Marius durch den Kopf. Ein letztes Mal noch, und dann heimgehen und in die Arme der Herrin sinken. Aber noch war es nicht so weit.
»Ja«, erwiderte Marius langsam. »Ich kenne das Gefühl.«
Der Tag, an dem Aurelia befreit wurde, war auch der Tag, an dem ihr die Rückkehr in ein normales Leben für immer verwehrt wurde.
In gewisser Weise hatte sie bereits gewusst, dass ihr Platz als Erbin ihres Vaters und ihre Stellung in der vhindonischen Gesellschaft unwiederbringlich verloren waren, seit zum ersten Mal etwas um sie herum explodiert war. Aber es war einfach gewesen, die Augen davor zu verschließen. Ja, man ließ sie nicht mehr aus dem Haus, weil sie angeblich anderen Schaden zufügen konnte. Ja, ein Arzt und Freund der Familie hatte ihr unter höchster Verschwiegenheit Tabletten verschrieben, die ihren Kopf wattig und schwer machten und die Explosionen wie alles andere auf ein Minimum reduzierten. Sie schlief viel. Aber das war ein Segen, weil sie nicht darüber nachdenken musste, dass sie unglücklich war. Was hatte es auch zum Unglücklichsein gegeben? Ihr Vater hatte immer noch mit ihr gesprochen, sie immer noch unterrichten lassen. Ihre Mutter hatte mit glänzenden Augen von einer Zukunft geredet, in der sie geheilt war und das Erbe antreten konnte. Abends war sie in den Arm genommen, ins Bett gebracht worden, man hatte ihre dunklen Haare gebürstet und ihre Kleidung zurechtgelegt. Als ob sie eine wertvolle Puppe war, und war es nicht eine gute Sache, von Wert für jemanden zu sein? Aurelia hatte wirkliches Unglück nicht gekannt, bis sie vor einigen Stunden in die Bibliothek gestolpert war.
Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Blut kleben konnte.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte ihre Mutter, aber ihre Lippen waren fast bläulich und bebten beim Sprechen so stark, dass die Worte in zittrigen, unscharfen Linien aus ihr herauskamen. Aurelia sah sie an – sah den winzigen roten Fleck auf der perfekt gepuderten Wange ihrer Mutter, wo Aurelia sie mit ihren Fingern nur Augenblicke zuvor berührt hatte – nur ein Streifen, doch ihre Mutter war sehr schnell zurückgewichen, die Augen voll Angst.
Da war etwas in Aurelia, etwas Hartes und Bitteres, das ihre Eltern am liebsten gepackt hätte, um zu fragen: Warum habt ihr Angst? Warum, wenn sie nie etwas anderes versucht hatte, als ihre Eltern glücklich zu machen, und dafür in Kauf genommen hatte, dass sie seit Jahren nicht wirklich gelebt hatte?
»Wir bekommen das schon hin«, versprach ihr Vater, aber auch er war zu blass, die dunklen Augen zu groß in seinem Gesicht. Zum ersten Mal sah er alt aus, richtig alt, als er im Türrahmen ihres Hauses stand und reglos zusah, wie man seine älteste Tochter in eine ungewisse Zukunft davonbugsierte. »Ich … ich werde meinen Anwalt einschalten … schauen, ob du noch unter das normale Gesetz fällst … irgendwas muss man ja tun können. Wenn du eine Bäuerin wärst, nun ja, aber man kennt uns ja – ich hätte vielleicht schon viel früher versuchen sollen, unseren Namen einzusetzen.«
Das ›normale‹ Gesetz. Aurelia, mit schwerem, runenversehenem Eisen um den Hals und schwerem, runenversehenem Eisen um die schmalen Handgelenke, nickte nur wie betäubt und mit zugeschnürter Kehle, als die dunkel gekleidete Exekutive des Senats – eine magische Gardistin und ein nichtmagischer Ritter – sie mit sich führte. Ihre Haut schien dort zu brennen, wo das Blut mittlerweile darauf getrocknet war. Kam überhaupt irgendjemand wieder zurück, den die Senatsexekutive mit sich genommen hatte? Entfernt erinnerte sie sich an geflüsterte Unterhaltungen über einige wenige Söhne und etwas mehr Töchter der mit ihren Eltern befreundeten Familien, die das Magiestrat nach dem Ausbruch ihrer magischen Fähigkeiten für sich behalten hatte. Waren sie jemals zurückgekommen? Nachdem Magiebegabte in eigenen Stadtteilen lebten und viele von ihnen zur Schlacht an der Seite der Dunklen Königin – die aggressive Gottheit, die sich vor zwanzig Jahren wie aus dem Nichts aus den Schatten erhoben hatte – gerufen wurden, lautete die Antwort wohl »Nein«. Bei all der Schande, die ein magisches Kind in der nichtmagischen Gesellschaft Vhindonas gemeinhin bedeutete – wurden sie von ihren Eltern vermisst? Nicht alle waren mit den diskriminierenden Gesetzgebungen einverstanden, sprachen sich seit Jahren dagegen aus, und doch: Was hatten sie denn wirklich getan, um ihren Kindern zu helfen? Man hatte nicht mehr über sie gesprochen, nachdem sie als Magiebegabte, als anders eingestuft worden waren. Woher kam die Scham? Aurelia wusste es nicht. Aber sie klebte an ihren rostigen Händen, ihrem Hals, der Front ihres Kleides wie ein einziges Rufzeichen. Und sie war in den Augen ihrer Eltern, dem Schloss an ihrer Schlafzimmertür, den versiegelten Haustoren, die ihr zum ersten Mal seit drei Jahren wieder geöffnet wurden.
So hell dieser Gedanke einen Moment lang durch den trägen Sumpf ihres Verstandes gezuckt war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Aurelia ergab sich der Abgestumpftheit, die sie schon seit Jahren begleitete und dazu führte, dass sie für jeden Gedanken, jede etwas komplexere Handlung doppelt so lang brauchte. In diesem Fall half es aber sogar, dass sie sich nach wie vor betäubt und schwer fühlte, als sie hinausgeführt wurde. Sie konzentrierte sich für den Moment einzig darauf, in die Kutsche zu klettern, deren Tür ihr geöffnet wurde, und sich möglichst gerade hinzusetzen. Haltung, betonte ihre Mutter immer, Haltung machte Leute. Wie man saß, wie man ging, all das floss in die unterbewusste Beurteilung anderer Personen über einen ein und konnte wie in diesem Fall über Leben und Tod entscheiden. Ihre Mutter gab viele Dummheiten von sich, aber in dieser Sache hatte Aurelia ihr immer zugestimmt. Nur entfernt merkte sie, wie kalt ihre Hände waren.
Während die schwarze Kutsche anrollte, begannen zarte Regentropfen gegen die Scheibe zu schlagen. Aurelia wünschte sich, eine Statue zu sein oder zumindest mit dem dunkelbraunen Innenraum der Kutsche zu verschmelzen und zu verschwinden. Aber vermutlich konnte zumindest die Gardistin auch dagegen vorgehen. Die Garde, jene vor einigen Jahrzehnten ins Leben gerufene Spezialeinheit in magischen Angelegenheiten, hatte ganz besondere Mittel und Wege, um Magiebegabte auszuschalten. Ohne Näheres zu wissen, sagte etwas Aurelia, dass sie sich dem nicht entgegenstellen wollte. Nicht jetzt.
Die Gardistin lehnte sich in die etwas abgewetzten Lederbezüge der Kutsche zurück, seufzte tief und blickte aus dem Fenster. Die Garde bestand selbst aus Magiebegabten, und Aurelia hatte sich immer gefragt, was solche Leute antreiben mochte, dass sie Geld und Anerkennung verdienten, indem sie Kontrolle über ihresgleichen ausübten. Vielleicht war es auch die Aussicht, dafür nicht an die Front geschickt zu werden.
Der Ritter sah Aurelia unverwandt an, was diese erst nach einer kleinen Weile bemerkte, da sie zu beschäftigt damit war, in einem vernünftigen Rhythmus weiterzuatmen. Sie war dankbar um den Halt durch das Korsett, in das sie noch an diesem Morgen eingeschnürt worden war. Der Ritter hatte ein junges, weiches Gesicht, das von blonden Locken umspielt wurde und an einige der Gemälde erinnerte, die in den Hallen von Aurelias Elternhaus hingen. Die Augen, mit denen er sie musterte, waren kühl und teilnahmslos.
Aurelia wich dem Blick des Ritters aus und zwang sich, die unwillkürlich hochgezogenen Schultern wieder zu senken, bevor sie die Hände im Schoß faltete. Der Regen, zart und unsicher, tippte gegen die Fensterscheibe wie ein fragendes Kind. Aurelia schloss die Augen mit dem stummen, sinnlosen Wunsch, dass die Welt aufhören mochte, sich so schnell zu drehen. Regen, dachte sie unwillkürlich. Straßen. Leute. Kutschen. Wie lange hatte sie sich gewünscht, wieder die Außenwelt zu sehen? Und jetzt wünschte sie sich fiebrig wieder zurück in die weiche Dunkelheit ihres Schlafzimmers, in der alles so viel einfacher war.
»Frag mich, was Beilschmidt mit ihr machen wird«, murmelte die kleine Frau dem Ritter mit den blonden Locken zu und hielt sich an einer Armlehne fest, als die Kutsche über ein Loch in der Straße polterte. »Ich sag, entweder behält Beilschmidt sie so lange in Untersuchungshaft, bis sie irgendwas gesteht, nur um rauszukommen, oder der Senat schickt sie nach ihrem Geständnis als Kanonenfutter an die Front. Was sagst du dazu, Parcis? Eh?«
Parcis sagte nichts, zumindest nicht sofort. Der Regen trommelte weiter mit sanfter Beharrlichkeit gegen die Scheiben, während die Kutsche dermaßen unbeholfen über das Kopfsteinpflaster rumpelte, dass die Gardistin neben Parcis mehrmals leise fluchte.
Beilschmidt. Aurelia hatte von ihm gehört. Ihr Kopf war nicht immer ganz so wattig, und sie verbrachte genügend Zeit in der Anwesenheit ihrer Eltern, die sie manchmal vergaßen und dann freiheraus miteinander sprachen. Beilschmidt war ein Mann, der sich im Krieg als einer der wenigen, hochgeschätzten Drachenreiter einen Namen gemacht hatte, bis er aufgrund einer schweren Verwundung durch einen Sturz der Front den Rücken zukehren hatte müssen. Er war nach seiner Rückkehr und Genesung erstaunlich schnell zum Oberspäher ernannt worden. Das Amt war wenig dankbar, aber dafür umso bedeutsamer, da Personen, die es bekleideten, die wichtigsten Ermittlungen leiteten und auch auf die Aufstellung der städtischen Schutzkräfte einen nicht unerheblichen Einfluss besaßen.
In den Jahren seit Beilschmidts Ernennung hatte die Kriminalitätsrate der Stadt drastisch abgenommen, aber in der Gesellschaft blieb er eine seltene Erscheinung, mischte sich kaum unter die Leute und schien mit seinem Amt verheiratet. Manche sagten, dass er zu weich sei, zu beeinflusst von einem Magiebegabten, der wie ein langer Schatten hinter ihm stünde. Andere sprachen von einer eisernen Faust und einem glasklaren Verstand, von einem Mann, der bereit war, alles zu tun, was nötig war. Und diesen Mann hatte man mit der Aufklärung einer Mordserie betraut, die seit einigen Jahren die hohe Gesellschaft von Vhindona in Atem hielt. Selbst Aurelia, mit der man kaum direkt über politische Dinge sprach, war zu Ohren gekommen, dass ein Sitz im Senat in diesen Tagen eine gefährliche Ehre war.
»Wir sollten das Oberspäher Beilschmidt entscheiden lassen«, sagte Parcis unvermittelt, die Stimme heller, als Aurelia angenommen hatte, und gleichzeitig erfüllt von derselben Teilnahmslosigkeit, mit der er sie auch in Gewahrsam genommen hatte. »Wer weiß, wenn beim Verhör rauskommt, dass sie wirklich den Mord begangen hat – und die anderen auch –, dann hat sich die Sache sowieso von selbst erledigt. Aber sie ist noch ein halbes Kind. Kann mir nicht vorstellen, dass sie dahintersteckt.«
»Unterschätz die Jugend von heute nicht, besonders diese hochnäsigen Adelstöchter.«
»Adel?« Parcis schnaubte. »Die Franks sind kein Adel. Die haben Geld, das ist alles. Die bauen Häuser für die richtigen Leute, das ist das ganze Geheimnis.«
Und was für Häuser es waren, dachte Aurelia. Die schönsten Häuser der Stadt waren in einem Stil erbaut, den ihr Vater maßgeblich beeinflusst hatte. Er, so durchdrungen von künstlerischem Geist und verbunden mit den wichtigsten kreativen Köpfen des Landes, hatte eine neue Ära der Architektur eingeleitet. Schönheit und Zweckmäßigkeit gingen bei seinen Gebäuden Hand in Hand, sodass die von ihm erdachten Fassaden alle Schwere der vorigen Jahrhunderte abgelegt hatten. Stattdessen wiesen sie abstrakte, goldene Muster und florale Mosaike auf, Statuen mit spezieller Ausrichtung, sorgfältig durchdachte Raumkonzepte. Vor drei Jahren war Aurelias Traum gestorben, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Alles, was sie seitdem von seinen Gebäuden gesehen hatte, waren die Baupläne gewesen. Wenn das Verhör schlecht lief, würde es dabei wohl auch bleiben.
»Eben. Ihr Vater ist der oberste Stadtarchitekt, oder etwa nicht? Geld ist heutzutage sowieso die neue Blutlinie, auch wenn’s keiner aussprechen will. Wenn sie sie nicht komplett hängen lassen, weil sie ein Quellenkind ist, dann hat sie gute Chancen, wieder aus der Sache rauszukommen, ohne größeren Schaden zu nehmen.«
»Nicht unsere Entscheidung, nicht unsere Angelegenheit«, erinnerte Parcis sie knapp. »Wir sollen sie nur zu Oberspäher Beilschmidt bringen, und das war’s.«
Petra schnaufte und setzte dann erneut an: »Also wenn du mich fragst –«
»Ich frage dich aber nicht«, unterbrach Parcis sie, und Aurelia konnte das Achselzucken förmlich an seiner Stimme hören. »Ich sage es gerne noch einmal: Im Endeffekt ist’s nicht unsere Entscheidung.«
Während Petra beleidigt schwieg, gab Aurelia ihre Tarnung auf und öffnete langsam die Augen, um wieder hinauszustarren.
Vhindona, stolze Hauptstadt des Herrschaftsgebietes Radbod, war eine der größten Städte des Landes und bei Weitem die älteste davon. Verschwommen tauchten vor Aurelias innerem Auge Erinnerungen an ihre Kindheit auf, als sie noch regelmäßig auf den Knien ihres Vaters gesessen und seinen Geschichten gelauscht hatte. Er erzählte davon, wie Leute aus Mistras das Meer überquerten, sieben Jahrhunderte nach dem Ersten Sternenfall, der die Alten Gottheiten auf die Erde gebracht hatte. Noch deutlich hatte Aurelia seine Stimme im Ohr, als Vater ihr davon erzählte, wie diese Leute Vhindona zu Ehren der Herrin, die Alte Gottheit der Toten und Hüterin der Schwellenwelt, zwischen den beiden Flüssen Bona und Veno erbaut hatten. Eine Weile war alles gut gewesen. Musste es zumindest gewesen sein. Die Leute wurden durch magische Barrikaden vor Überschwemmungen und Feuern geschützt. Die magische Bevölkerung wurde als Sprachrohr der Gottheiten verehrt. Dann fielen die Sterne vor fünfhundert Jahren zum zweiten Mal und brachten neue Gottheiten mit sich, die nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen die Alten Gottheiten kämpften. Aurelia strengte sich an, es sich vorzustellen, aber die Betäubung durch die Medikamente ließ es nicht zu. Es war reines Buchwissen für sie, so abstrakt wie diese Kutschenfahrt, auf der sie sich befand. Sie hatte keine inneren Bilder dazu. Die Geschichte war für sie nur eine Aneinanderreihung aus Sätzen: Der Kampf der Alten und Neuen Gottheiten, bis die Alten Gottheiten bis auf eine Handvoll Ausnahmen allmählich alle starben oder von den Neuankömmlingen absorbiert wurden. Das schwindende Vertrauen der Magielosen in die Magiebegabten, die nicht nur keinen Einfluss auf die Gottheiten besaßen wie angenommen, sondern deren Magie für Nichtmagische sogar potenziell tödlich sein konnte. Magische Barrikaden, die Aurelia nie gesehen hatte, weil sie schon vor zweihundert Jahren abgeschafft und durch die noch heute bestehende Stadtmauer ersetzt worden waren.
Aurelia konnte Blicke auf Teile von dieser Stadtmauer gelegentlich zwischen zwei Gebäuden erhaschen, wenn die Kutsche, die Ringstraße entlangratternd, an einer der acht Triumphstraßen vorbeikam, die strahlenförmig vom Zentrum der Stadt ausgingen und durch ihre Breite das dichte Gassengewirr deutlich auflockerten. Rechts und links von jahrhundertealten Bäumen gesäumt, deren Äste weit über die Straßen hingen und sie in schattige Flanier- und Fahrwege verwandelten, wirkten sie wie die grünen Venen der Stadt. Es war Jahre her, seit Aurelia einer von ihnen zu Fuß gefolgt war, obwohl hier einige der schönsten Gebäude der Stadt standen. Als Aurelia noch jünger gewesen war, hatte ihr Vater sie oft mitgenommen und an der Hand gehalten, während er ihr stolz die neuen Projekte gezeigt hatte. Mit den Jahren waren diese Ausflüge immer seltener geworden, je beschäftigter ihr Vater und je magischer sie selbst wurde, bis sie schließlich ganz ausgeblieben waren. Aurelia jedoch hatte niemals aufgehört, von jenen Momenten zu zehren, in denen die Leidenschaft ihres Vaters für Architektur die ersten Funken derselben Begeisterung auch in ihr Herz gebracht hatte. Ihr Vater mochte sie nicht mehr so lieben, wie sie es sich wünschte. Was er ihr beigebracht hatte, brannte dennoch immer noch in ihrer Brust. Sie erhaschte gierige Blicke auf die Gebäude, bis die Kutsche abbog und die Bauten aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Das Ziehen in ihrem Herzen war stark genug, um selbst durch die Betäubung zu dringen.
Mittlerweile hatten sie das Zentrum Vhindonas erreicht: Der Stadtpalast, ehemals Wohnsitz der königlichen Familie Radbods und seit deren Sturz und Ermordung Sitz des Senats. Er war das Herz der Stadt, das jede Person aus Vhindona mindestens einmal im Leben betrat. Das Gebäude war beeindruckend, und Aurelia reckte ein wenig den Kopf, um mehr davon zu sehen. Sie war nicht besonders überrascht, einen Blick auf sich ruhen zu spüren.
Aurelia wich ihm aus und gab sich Mühe, so gut wie möglich einfach nichts zu tun, aber ihre Nervosität war stark genug, um durch den dumpfen Nebel in ihrem Kopf zu dringen und sie unruhig zu machen. Wie konnte sie auch nicht nervös sein in einer Situation wie dieser, in der sie sich am liebsten die eigene Haut vom Leib ziehen oder zumindest drei Wochen lang duschen und dann für immer schlafen wollte?
Während die Kutsche über den Kiesweg ratterte, der vor den Palast führte, faltete sie erneut die Hände im Schoß, so gut die Ketten es zuließen, und war insgeheim froh darum, dass das Rumpeln der Kutsche das Zittern in ihren Fingern überspielte. Der Platz vor dem Palast war dafür entworfen worden, durch seine Größe zu imponieren, und er verfehlte seine Wirkung auf Aurelia nicht. Er war in kreisrunde Mauern gefasst, durch die in der Mitte ein breiter Weg führte, an dessen Enden je ein Tor mit heruntergelassenen Gittern in die Mauern eingelassen war. Eines davon wurde von der Kutsche passiert, die bis zur Hälfte des breiten Weges ratterte und dann eine scharfe Rechtskurve machte, um vor den ausladenden, zum Eingangsportal des Palastes führenden Marmorstufen zu halten. Als sie ausstiegen, ignorierte Aurelia die plötzliche Beklemmung, die der offene, weite Platz in ihr verursachte und ihr für einen Moment die Kehle zuschnürte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das doppelflügelige Portal vor sich.
Der Palast war einst von alchymistischen Fachkräften magisch verstärkt worden, und einige Reste davon konnte man noch ausmachen. Die Pforte war eines jener Überbleibsel. Auf ihren breiten, goldenen Türflügeln bewegten sich fein herausgearbeitete Figuren von wichtigen historischen Persönlichkeiten in einer endlosen Schleife von selbst, auch wenn ihre Bewegungen durch das Alter der Pforte und mangelnde magische Nachversorgung langsam und stockend geworden waren. Der Rest des Gebäudes entsprach dem klassischen Stil, weshalb es in ein Haupthaus mit zwei großen Seitenflügeln unterteilt war, das sich in einem Halbkreis um den Platz schmiegte. Breite Gänge aus Säulen, in denen sich Stränge aus Malachit und Lapislazuli wanden wie Schlangen, formten eine Art Arkade links und rechts der breiten marmornen Stufen. Der Anblick war erhaben genug, um das flatternde Gefühl der Nervosität in ihrer Magengegend noch zu verstärken.
Aurelia atmete tief durch, zwang sich, die Augen auf den Eingang gerichtet zu halten, und ließ sich ins Innere schieben.
Es fühlte sich unwirklich und fremd an, als sie in den linken Flügel des Palastes geführt wurde, in dem das Magiestrat untergebracht war. Obwohl sie noch nie zuvor hier gewesen war, brachte sie es nicht über sich, auch nur einen Blick nach links oder rechts zu werfen. Stattdessen behielt sie die Augen auf ihre Füße gerichtet, die immer noch in zierlichen pfirsichfarbenen Schühchen steckten, deren reizvolles Aussehen nun durch die Blutflecke zerstört wurde. Ein Schritt nach dem anderen, ein Fuß nach vorne, dann der nächste – sie konzentrierte sich auf ihren Atem, der immer in der engen Brust zu stocken drohte – Parcis dirigierte sie mit erstaunlich sachten Berührungen ihrer Schulter und ihres Arms – Übelkeit – sie wollte ihn beißen, wollte irgendwen beißen, wollte schreien, aufwachen aus diesem Albtraum, der einfach nicht wahr sein konnte –
Aber sie war die Tochter ihrer Eltern und repräsentierte ihre Familie, auch jetzt noch, und so schwieg sie und ging aufrecht, einen Fuß vor den anderen setzend, wohin man sie auch dirigierte.
Sie wurde in einen fensterlosen Raum geführt, in dessen Mitte ein einfacher, dunkelbrauner Holztisch stand. Zwei ebenso einfache Stühle waren einander gegenübergestellt, und Parcis dirigierte Aurelia auf einen davon, um anschließend ihre Handschellen mit einer dünnen Kette daran zu befestigen. Die Beine des Stuhls waren mit Platten auf den Boden geschweißt worden. Vielleicht war auch Magie im Spiel gewesen. Obwohl der Gedanke flüchtig durch ihren Verstand schoss, starrte sie darauf, ohne die Platten wirklich wahrzunehmen.
»Warten Sie hier, Oberspäher Beilschmidt wird in ein paar Minuten eintreffen«, teilte Petra ihr mit, nickte Parcis zu und verschwand mit ihm aus dem Raum.
Der Rest des Zimmers schien sie mit seinen fensterlosen, schmucklosen Wänden einzuengen. Den einzigen Weg hinein und hinaus stellte die wuchtige schwarze Tür dar, durch die man sie hindurchgeschleust hatte. Licht spendete nur eine runde Deckenleuchte, die schon bessere Zeiten gesehen hatte und nur noch recht schwach brannte, sodass die Ecken des Zimmers dunkel blieben. Der Boden bestand aus abgeschabtem Parkett, das an mehreren Stellen notdürftig repariert worden war und dennoch tiefe Kerben von verschobenen Möbeln aufwies.
Aurelia starrte auf die zerkratzte Tischplatte vor sich und schluckte um den Klumpen in ihrer Kehle herum, so gut sie konnte. Sie hatte immer gewusst, dass es einmal so kommen würde – dass ihre Eltern recht gehabt hatten, als sie ihr gesagt hatten, dass sie versuchen musste, normal zu sein und das Kratzen und Brennen in sich zu ignorieren, das vor drei Jahren begonnen hatte.
Leise schwang die Tür auf. Herein trat ein hochgewachsener Mann in seinen Dreißigern oder Vierzigern. Er hatte die Statur eines Soldaten mit breiten Schultern und einer etwas zu steifen Haltung, stützte sich beim Gehen aber auf einen Stock mit rundem, silbernem Knauf. Er trug nicht die Uniform des Ritterordens und auch nicht die der Garde, aber an dem Revers seines maßgeschneiderten dunklen Sakkos war eine Nadel mit dem Abzeichen der Ersteren befestigt. Kein Magiebegabter also, stellte Aurelia geradezu teilnahmslos fest, sondern ein Magieloser. Die Kleidung des Mannes war mit Sorgfalt gewählt worden, von seinem faltenlosen Hemd und Gilet über die dunklen Hosen mit den untadeligen Bügelfalten bis zu den glänzenden schwarzen Schuhen. Und doch: Gerade verglichen mit seiner ansonsten untadeligen Erscheinung waren seine dunkelblonden Haare etwas zu zerzaust, saß der Hut auf seinem Kopf ein wenig zu schief, als dass es nicht sofort ins Auge stach. Er musterte sie mit scharfen blauen Augen, die einen Moment lang zu intensiv auf ihr ruhten, ehe er ihr ein kleines, kaum merkliches Lächeln schenkte. Dann schloss er die Tür genauso leise hinter sich, wie er sie geöffnet hatte, und nahm im Anschluss auf der anderen Seite des Tisches Platz.
»Guten Abend«, sagte er in angenehmem, unaufgeregtem Bariton und legte den Hut auf den Tisch. »Mein Name ist Johann Beilschmidt, ich bin einer der Oberspäher Vhindonas.«
Aurelia nickte leicht und spürte, wie ihre Lippen ohne ihr Zutun bebten.
Der Ermittler lächelte erneut sein kleines, kaum merkliches Lächeln und legte eine Aktentasche neben den Hut, öffnete sie und entnahm ihr einen Notizblock sowie eine goldene Füllfeder, die er langsam aufschraubte. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.« Er wartete einen Moment und blickte sie aufmerksam an, als ob sie tatsächlich eine Wahl in der Sache hatte. Aurelia nahm es für die kleine Höflichkeit, die es war, erwiderte seinen scharfen Blick und nickte einmal kurz und abrupt.
»Ausgezeichnet«, sagte er nach einer kleinen Pause. »Beginnen wir doch mit ein paar einfachen Fragen. Ich werde Sie nicht beißen, versprochen.« Keiner von ihnen lächelte. »Wie lautet Ihr voller Name?«
»Frank«, brachte Aurelia heraus, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern, weshalb sie sich noch einmal räusperte. »Aurelia Genovia Frank.«
Oberspäher Beilschmidt nickte und machte eine kleine Notiz. »Ich kenne Ihren Vater, Fräulein Frank, allerdings nur sehr flüchtig, wie ich fürchte«, sagte er dann. »Der vhindonische Stadtarchitekt, nicht wahr?« Aurelia nickte. »Und Ihre Mutter?«
»Lehrerin. Sie – sie gibt ein paar großbürgerlichen Töchtern Privatunterricht.«
»Formidabel.« Er nickte noch einmal. »Nun, Fräulein Frank, Ihre Eltern ließen vor einigen Jahren kursieren, dass Sie der Schwermut verfallen seien und deswegen nicht das Haus verlassen wollten. Dass dem nicht so ist, können wir mittlerweile wohl mit Sicherheit sagen.«
Aurelia schwieg. Der Klumpen in ihrer Kehle war wieder da, und ihr Herz schien sein Bestes zu geben, sich neben ihn dazuzuquetschen.
Der Ermittler beobachtete sie einen Moment, dann notierte er sich etwas und sah wieder auf. »Wie alt sind Sie jetzt, wenn ich fragen darf?«
»Achtzehn.« Aurelia versuchte, ihre Stimme möglichst fest klingen zu lassen. Ihre Augen brannten. Es war so schwierig, sich nicht zu fürchten, und gleichzeitig spürte sie Wut in sich aufsteigen, dass man sie überhaupt erst zur Furcht zwang. Wie immer vermochte es diese Wut aber nicht, sich genügend gegen die Abgestumpftheit aufzubäumen, um nicht wenig später wieder in Bedeutungslosigkeit zu versinken wie eine Kerze, deren Docht zu schwach war, um die Flamme am Leben zu halten.
Oberspäher Beilschmidt gab ein leises Summen von sich. »Das ist recht alt für jemanden, der zum ersten Mal seine magischen Fähigkeiten entdeckt.«
Aurelia schwieg.
»Kommt meines Wissens nach so gut wie nie vor.«
Aurelia schwieg.
Ihr Gegenüber seufzte. »Was schon eher vorkommt, sind Eltern, die ihre magischen Kinder verstecken und mit Medikamenten niederstrecken, um sich dann zu wundern, wenn sie wortwörtlich in die Luft gehen.«
Aurelia antwortete nicht, sondern fixierte nur einen Fleck an der Decke, wo der Putz abgebröckelt war. Der Ermittler sah sie an und berührte abwesend mit einem seiner behandschuhten Zeigefinger seine Unterlippe wie tief in Gedanken versunken.
»Sie haben eine Explosion verursacht, als man Sie gefunden hat«, sagte er dann schließlich. Sein Tonfall war milde, aber Aurelia spürte dennoch, wie sich ihr die Haare aufstellten. »Es steht außer Zweifel, dass Sie magisch sind, Fräulein Frank. Ihre Eltern haben eine schwere Straftat begangen, indem sie Sie gedeckt und das Erwachen Ihrer magischen Fähigkeiten nicht gemeldet haben, das ist Ihnen hoffentlich klar? Sie könnten verurteilt und ins Gefängnis gesteckt oder zur Frontarbeit gezwungen werden, auf jeden Fall aber wäre Ihre soziale Stellung sehr angekratzt. Ich denke nicht, dass Sie das möchten, oder?«
Aurelia schüttelte stumm den Kopf. Sie fühlte sich kraftlos wie eine verwelkte Blume, fand aber aus irgendeinem Grund dennoch die Kraft, einigermaßen bissig zu erwidern: »Sind das im Moment wirklich meine größten Probleme?«
»Nun, nein«, erwiderte Oberspäher Beilschmidt ruhig. »Ihre absolute Kooperation würde sicherstellen, dass wir zumindest diesen Teil der Angelegenheit vergessen und Sie einfach als Spätzünderin registrieren. Das hätte natürlich auch für Sie selbst einige Vorteile – alles, was Sie uns über den Vorfall mitteilen, wirkt sich positiv auf Ihr Verfahren aus.«
Verfahren. Aurelia schauderte und presste die Fingerspitzen in ihrem Schoß aneinander. Die Ketten an ihren Handgelenken klirrten. Der Blick des Ermittlers lag ruhig und aufmerksam auf ihr. Je ruhiger und geduldiger er war, umso nervöser wurde Aurelia. Fast kam es ihr vor, als ob sie das Beil in ihrem Nacken schon spüren konnte. Sie versuchte dennoch ihr Bestes, sich nicht anmerken zu lassen, wie zerfasert sie sich fühlte. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen viel sagen kann. Ich wollte nur ein Buch holen, solange alle von der Feier abgelenkt waren.«
»So«, sagte Oberspäher Beilschmidt, gefolgt von einem tiefen Seufzer. Sie beobachtete, wie sich sein zerzauster Kopf über das Papier vor ihm beugte und er geradezu gemächlich zu schreiben begann. Das Kratzen der Feder über das Papier kratzte auch an Aurelias Nerven, sorgte dafür, dass ihre Nackenhaare sich aufstellten, und ließ sie erschaudern. Sie dachte an Fingernägel, die über den lackierten Holzboden schrammten, sich hilfesuchend darin eingruben und splitterten, Schreie, die in der Dunkelheit verklangen –
Und dann?
»Ach, Fräulein Frank.« Oberspäher Beilschmidt hatte sich nach vorne über den Tisch gebeugt und hielt ihr ein Taschentuch hin. Sie nahm es, dankte mechanisch und tupfte sich die Augenwinkel ab, ehe sie die Bewegung mit ihrer Nase wiederholte. »Ich will Ihnen doch nichts Böses. Sie sind einfach die stärkste Verbindung zu den Morden, die wir bisher haben.«
»Ich weiß nicht einmal, von welchen Morden genau Sie sprechen«, presste Aurelia hervor, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ihre linke Hand blieb um das Taschentuch verkrampft. »Vhindona ist eine Großstadt. Da passiert jeden Tag so einiges, wenn mich nicht alles täuscht. Und wie Sie selbst bereits so bemerkenswert scharfsinnig festgestellt haben, bin ich in den letzten Jahren wenig aus dem Haus gekommen.«
Ihr Gegenüber blickte sie erneut einen langen Moment so prüfend wie ein Falke an und holte dann eine Akte hervor, um darin zu blättern. »Die Eckdaten der sogenannten Festtagsmorde sind folgende: In den letzten sechs Jahren wurden insgesamt zwölf hochrangige Staatspersonen ermordet«, begann er dann sachlich zusammenzufassen. »Das Muster ist immer das gleiche: Eine soziale Festivität von größerem Ausmaß an einem der Jahresfeste zu Ehren der Gottheiten findet statt. Die Zielperson wird mit einer bis dato unbekannten Methode in ein einsames Zimmer des Veranstaltungsortes gelockt und dort ermordet. Die Opfer werden jedes Mal aufgeschnitten und verbluten, die Herzen werden entfernt, weshalb der Verdacht auf Ritualmorde besteht. Es gibt nur Reste von magischen Spuren, weshalb die Morde selbst nicht auf magische Weise durchgeführt zu werden scheinen. Aufgrund dieser Reste können wir darauf schließen, dass die Person, die hinter den Taten steckt, aus der magischen Gemeinde kommen muss, aber sie sind zu schwach, um die Person anhand der magischen Signatur zu überführen. Wir haben zwar dennoch die gefundenen Spuren mit den in unseren Registrierkarteien vorhandenen magischen Signaturen abgeglichen, konnten aber keine Übereinstimmungen finden. Und nun …« Er schloss die Akte und legte sie auf den Tisch, um die Hände auf der Tischplatte zu falten und sie aufmerksam anzusehen. »Nun haben wir hier eine junge, unregistrierte Magiebegabte, die neben der Leiche von Senator Rupert Hohenlohe gefunden wurde, die genauso zugerichtet war wie die anderen Leichen dieser Mordserie. Darüber hinaus hat die gleiche junge, unregistrierte Magiebegabte bei ihrer Auffindung im gleichen Raum mit der Leiche durch eine unkontrollierte Explosion nicht nur eventuell wichtige Beweismittel vernichtet, sondern auch einen nicht unerheblichen Sachschaden verursacht. Fräulein Frank, ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass manche Leute Sie gern einfach hinter Gitter werfen und für alles verantwortlich machen wollen, nur um den Fall endlich abzuschließen.«
»Und Sie etwa nicht?«, platzte es aus Aurelia heraus. Ihre Finger verkrampften sich so fest um das Taschentuch, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Ich möchte die Morde stoppen«, sagte Oberspäher Beilschmidt ohne die Spur eines Lächelns auf seinen Zügen. Etwas flackerte dabei in seinen Augen, ein Feuer, das Aurelia erschauern ließ. »Ich halte nichts davon, eine unschuldige Person einzusperren, nur damit ich Ergebnisse vorweisen kann. Und alles in allem halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass Sie die Schuldige sind – aber ich glaube, dass Sie etwas gesehen haben, das uns bei der Aufklärung des Falls entscheidend helfen könnte. Ich bitte Sie hiermit also noch einmal ganz höflich, mir zu antworten: Was hat sich vergangene Nacht zugetragen?«
Aurelia schloss die Augen. »Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, aber ich weiß es nicht.«
Einen Moment lang war die Stille zum Schneiden dick. Dann hörte sie, wie sich der andere Stuhl scharrend über den Boden bewegte. Als sie die Augen öffnete, hatte der Ermittler sich erhoben, die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammengepresst.
»Schön«, sagte er kühl. »Dann sehe ich mich gezwungen –«
»Ich weiß es wirklich nicht!«, fiel ihm Aurelia mit unwillkürlich erhobener Stimme ins Wort. »Ich schwöre, ich – ich kann mich nicht – ich weiß nur noch, wie ich in die Bibliothek geschlichen bin, weil ich noch ein bestimmtes Buch holen wollte – und dann lag da – und er hat noch geröchelt –« Sie rang nach Luft. Sie hatte Senator Hohenlohe gekannt. Er war ein etwas einfältiger, aber immer gut gelaunter Trinker gewesen, immer eher still und gemütlich. Harmlos. Ihre Augen begannen erneut zu brennen, und sie hob die Hände, so gut sie konnte, um das Taschentuch gegen ihr Gesicht zu pressen. »Ich war’s nicht – ich weiß nichts mehr von einer Explosion – ich weiß nur noch, wie er da lag und dann –«
Lange konnte sie nur ihren eigenen Atem hören, der so harsch war wie ein zu Tode gehetztes Tier. Sie konnte nicht aufhören, trocken zu schluchzen, hysterisch und ohne genug Luft. Das Eisen brannte auf ihren Handgelenken.
»Bitte beruhigen Sie sich, Fräulein Frank.« Die Stimme des Oberspähers war erstaunlich sanft. »Möchten Sie ein Glas Wasser? Nein? In Ordnung.« Seine Finger trommelten auf der Tischplatte, dann hielten sie abrupt inne. »Er hat also noch geröchelt, sagen Sie?«
Aurelia nickte und versuchte, die Luft anzuhalten, um sich zu beruhigen, dann krallte sie die Fingernägel zum gleichen Zweck in ihre Oberschenkel, aber es half alles nur minimal. Der gewünschte Effekt blieb aus.
»Dann muss er noch sein Herz gehabt haben … Fräulein Frank«, sagte ihr Gegenüber mit gefasster, aber angespannter Stimme, »ich weiß, dass Sie sich an nichts erinnern können, aber versuchen Sie es bitte dennoch. War sonst noch jemand in diesem Zimmer?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte Aurelia und fuhr zusammen, als die Ketten klirrten. Sie konnte nichts mehr hören außer ihrem eigenen lauten Atmen, dem Blut, das durch ihre Ohren rauschte, das Blut, das Blut, das Blut am Boden der Bibliothek –
»Fräulein Frank! Beruhigen Sie sich! Du liebe Güte …«
Aurelia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie wieder zu sich kam. Sie starrte verständnislos auf das Wasserglas in ihrer Hand, blickte auf und sah in Oberspäher Beilschmidts blaue Augen.
»Geht es Ihnen ein wenig besser?« Auf Aurelias schwaches Nicken hin berührte er erneut mit seinem behandschuhten Finger seine Unterlippe in einer fahrigen Geste und ließ die Hand dann unvermittelt wieder sinken. »Gut, sehr gut. Bitte hören Sie mir genau zu. Man wird Sie nun als Magiebegabte registrieren und im Anschluss einer Aufsichtsperson für Ihre weitere Ausbildung zuweisen. Es ist wichtig, dass Sie Ihre Magie unter Kontrolle bekommen. Darüber hinaus ist Ihr Lehrmeister ein Sondermitarbeiter für das Magiestrat, der spezielle Fähigkeiten für die Wiedererlangung von Erinnerungen mitbringt. Hoffentlich werden wir so herausfinden können, was Sie gesehen haben, dann können wir auch eine zweite Aussage aufnehmen. Ihr Lehrmeister wird Ihnen eine Einführung in das Leben als Magiebegabte geben und Sie für die Dauer Ihrer Ausbildung bei sich aufnehmen.«
Aurelia atmete tief durch. »Kann ich meine Eltern besuchen gehen?«
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, erwiderte Oberspäher Beilschmidt und sammelte dabei seine Unterlagen ein. »Sie dürfen die nichtmagischen Bezirke erst wieder betreten, wenn Sie das Abzeichen der zweiten Stufe errungen haben, das Sie als ihre magischen Kräfte beherrschende Person kennzeichnet.«
»Und wann wird das sein?«
»Das liegt an Ihnen. Sie werden von einer Kommission zu einem angemeldeten Termin geprüft werden. An Ihrer Stelle würde ich mir darüber aber vorerst nicht allzu viele Gedanken machen.«
Aurelia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und nickte nur. Noch hatte man nicht vor, sie einzusperren oder gleich zum Galgen zu führen … das war immerhin etwas. Alles Weitere würde sich hoffentlich finden.
Der Ermittler musterte sie einen Moment lang, nickte ihr dann aufmunternd zu und schüttelte ihre Hand. Nach einer knappen Anweisung an Petra, die vor der Tür wartete, begleitete er sie und die Gardistin noch zur Registrierstelle und entfernte sich dann mit schnellen Schritten. Nur nebenbei nahm Aurelia wahr, dass er hinkte.
Petra brachte Aurelia in einen leeren Raum mit vielen Stühlen und wies sie an, hier zu warten. Als sie allein war, atmete Aurelia in der staubigen Stille des verlassenen Raumes tief durch. Man hatte ihr an irgendeinem Punkt die Eisenringe um Hals und Handgelenke entfernt. Die nunmehr wieder entblößte Haut fühlte sich rau und verletzlich an. Nun, da man sie nicht mehr unter Druck setzte, war die Taubheit allumfassend. Sie saß in einer Ecke des leeren Raumes, der viel zu groß und mit Stille gefüllt war, und starrte wie eine Puppe blind aus dem einzigen Fenster, wagte kaum zu atmen. Haltung. Haltung. Haltung.
Die Tür flog auf.
»Dies ist also das Kind, das ihr mir angedacht habt«, sagte der Mann, der die Tür halb eintrat, mit schwer einzuordnendem Akzent und altmodisch klingendem Radbonisch, als er mit langen Schritten in die Mitte des Raumes marschierte und dort stehen blieb. Staub wirbelte um ihn auf wie das Kleid einer erschreckten Tänzerin und legte sich nur langsam wieder, je länger er dort stand und Aurelia unbewegt mit viel zu grünen Augen musterte. Sie wusste, dass die Augen von Magiebegabten ab einem gewissen Zeitpunkt zu leuchten begannen; daran erkannte man die Alten, die wirklich Gefährlichen. Er war ein hochgewachsener Mensch und hatte die Kapuze eines schwarzen, bodenlangen Mantels aus einem seltsam schimmernden Material um sein scharf geschnittenes Gesicht gelegt. Seine Haut besaß den dunkleren Ton von südlichen Gefilden, die man mit den Speerinseln verband, oder mit Mistras auf der anderen Seite des Meeres. Es war schwer zu sagen, wie alt er war, was bei Magiebegabten keine Seltenheit darstellte, doch um seine kohlumrandeten Augen und seine Mundwinkel hatten sich bereits deutliche Fältchen gebildet. Das wiederum war ein Anzeichen dafür, dass er wirklich nicht mehr jung war – aber was war schon Jugend, was war Alter für Leute, die mehrere Hundert Jahre alt werden konnten? Das war ein Aspekt, den Aurelia sich immer noch nicht so recht vorstellen konnte.
Je länger der Mann sie musterte, desto mehr presste er seine schmalen Lippen zu einer dünnen, eindeutig unzufriedenen Linie zusammen.
Hinter ihm kam Oberspäher Beilschmidt zur Tür herein. Aurelia erhob sich wie betäubt und knickste, ohne ein Wort über die Lippen zu bekommen. Die grünen Augen, die sie weiterhin scharf musterten, verengten sich einen Moment lang, dann drehte er sich halb zu Oberspäher Beilschmidt.
»Ich denke, du scherzt, Johann«, sagte er, und der scharfe Ausdruck in seiner Stimme ließ Aurelia erschrocken über ihr Kleid streichen. »Die Annahme, dass dieses junge Geschöpf näher in die Angelegenheit involviert ist, halte ich für absurd. Wie nennt man dich, Kind?«
Aurelia atmete tief aus und nannte ihren Namen.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Gestatte, mich vorzustellen: Man nennt mich Marius Cinna«, sagte er brüsk und dann erneut an Oberspäher Beilschmidt gewandt: »Mir scheint, du hast die Falsche.«
Marius Cinna. Aurelia blinzelte einmal sehr langsam, während die beiden Männer sie ignorierten. Sie kannte den Namen aus den Stunden politischer Bildung, die ihre Eltern ihr erteilt hatten, aber aus einem ganz anderen Kontext. Marius Cinna war, wenn sie ihrem wattigen Hirn vertrauen konnte, seit fast drei Jahrhunderten der Parakoi von Mistras, jener Hohepriester der Herrin, mit dem zusammen der mistrische Herrscher Leonidas Dynatos die Geschicke des Landes von der Hauptstadt Bycaea aus lenkte. Alle hohen Amtspersonen des Landes waren magisch, und man erzählte sich empört schreckliche Geschichten von der Unterdrückung der nichtmagischen Bevölkerung. So oder so war er niemand, von dem Aurelia jemals vermutet hatte, ihn tatsächlich einmal zu Gesicht zu bekommen. Was machte er hier in Vhindona, auf der anderen Seite des Meeres? Es ergab für ihren vernebelten Verstand keinen Sinn, also hörte sie gleich auf, noch weiter darüber nachzudenken.
»Du hast mir nicht zugehört, Marius«, murmelte Oberspäher Beilschmidt, nachdem er die Tür sorgfältig hinter sich geschlossen hatte. »Wir halten sie nicht für die Täterin, sondern für eine wertvolle Zeugin, sollten wir ihre Erinnerungen zurückholen können.« Er wisperte dem anderen Mann etwas ins Ohr.
Die grünen Augen verengten sich für einen Moment, dann atmete Meister Cinna langsam aus.
»Du benutzt mich«, sagte er anklagend. »Ich bat ausdrücklich darum, keine Zöglinge zugewiesen zu bekommen. Du gabst mir dein Ehrenwort.«