Elmar Schenkel
Keplers Dämon
Begegnungen zwischen Literatur, Traum und Wissenschaft
FISCHER E-Books
Elmar Schenkel, geboren 1953, ist Professor für englische Literatur an der Universität Leipzig und leitete von 2005 bis 2015 das dortige Studium universale. Er ist freier Mitarbeiter bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Nachtcafé«. Neben Büchern über das Fahrrad in der Literatur, über Exzentriker der Wissenschaft und Biographien von H.G. Wells und Joseph Conrad hat er Erzählungen, Gedichte und Reisebücher veröffentlicht. Für seine literarischen Arbeiten erhielt er u.a. den Förderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und den Hermann-Hesse-Förderpreis.
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Literatur und Wissenschaft, künstlerische Imagination und rationales Denken zählen zu zwei getrennten Kulturen. Dennoch gibt es Berührungspunkte: Was wäre die Entwicklung der Raumfahrt ohne Jules Verne? Was Sherlock Holmes ohne chemischen Kenntnisse? Und umgekehrt: Ist die Wissenschaft ohne Phantasie, ohne literarisch-künstlerische Einflüsse denkbar? Um Episoden, Begegnungen, Schnittpunkte dieser beiden Welten geht es Elmar Schenkel in seinem neuen Buch. Er legt die wechselseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Literatur frei und bringt u.a. Marie Curie, René Descartes oder Dimitri Mendelejew mit Flaubert, Calvino oder Tolkien ins Gespräch. Eine faszinierende und brillant geschriebene Erkundung – voller neuer, überraschender Verbindungen.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Simone Andjelkovic
Coverabbildung: Jules Verne, Die Reise um den Mond, Holzstich von Henri Th. Hildebrand nach Emile A. Bayard / akg-images
Erschienen bei S. FISCHER
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-10-403785-1
Die Nürnberger Firma Faber & Castell verdrängte jedoch die Bleistifte von Thoreau, der in der Bleistiftfabrik seines Vaters beschäftigt war, vom amerikanischen Markt.
Vgl. dazu das Theaterstück von Lauren Gunderson, Émilie – La Marquise Du Châtelet Defends Her Life Tonight (2008).
Molière etwa macht sich über Ménage in Les femmes savantes lustig. In diesem Stück geht es aber nicht darum, dass Frauen keine wis-senschaftlichen Interessen haben sollten, sondern dass sie aufgrund ihres Interesses an den neuen Erkenntnissen einem Scharlatan aufsitzen könnten.
Nach dem Roman Hypatie ou la fin des dieux des Kanadiers Jean Marcel (1989).
Die im Folgenden eingerückten kursiven Zitate stammen aus Einstein sagt (2005).
»Wer nichts als Chemie versteht,
versteht auch die nicht recht.«
Lichtenberg
Wenn die Wissenschaften über eine Rose sprechen, reicht es nicht zu sagen, eine Rose ist eine Rose. Sie müssen Aussagen machen über Blütenstände, Pigmente, Wurzelwerk, Gattungszugehörigkeit, über die Zellbiologie und den Stoffwechsel der Pflanze und über Züchtungen und Märkte. Wenn die Dichtung über Rosen spricht, so wird auch sie nicht bei der Feststellung stehenbleiben, es handele sich um eine Rose. Sie ist dann viel mehr: ein Zeichen der Liebe, des Schmerzes, verströmende Romantik, mystisches Symbol. Doch beide streben zu dem Punkt hin, wo wieder gesagt werden kann, diesmal in vollem Wissen: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Angelus Silesius hat es so ausgedrückt:
Die Ros ist ohn Warum.
Sie blühet, weil sie blühet.
Sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet.
Zu jedem Ding, zu jedem Wesen auf dieser Welt gibt es diese beiden Einstellungen und dazu die dritte. Wer zum Beispiel Wolken sieht, kann sie meteorologisch und physikalisch analysieren oder sich von ihnen zu phantastischen Vorstellungen inspirieren lassen. Am deutlichsten sind sich dieses Zwiespaltes jene Menschen bewusst, die für beide Einstellungen offen sind, sagen wir Johann Wolfgang Goethe, Roger Caillois oder Mary Shelley, Johannes Kepler, Jules Verne, George Eliot, Albert Einstein oder Gustav Theodor Fechner.
Es geht um die Beziehungen zwischen Fächern und Schubladen, und das ist immer auch eine Frage der beteiligten Menschen. Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbücher stehen für die Kommode, in denen viele solcher Schubladen zu finden sind. Noch dazu sind sie untereinander verbunden. Doch nicht jeder sieht diese Verbindungen im Schrank. Ein Zeitgenosse Lichtenbergs hatte dies erkannt: »Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher, und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.«
Um diese Menschen, die nach Heinrich von Kleist keine Klasse ausmachen, geht es mir in diesem Buch. Sie sind sowohl die Protagonisten als auch hoffentlich Leser und Leserinnen mit Antennen für das jeweilig andere Gebiet.
Subjektivität und Objektivität sind ineinander verschachtelt, sie bilden sozusagen ein Kippbild, das immer wieder in ein anderes umschlägt: Hase oder Ente? Alte oder junge Frau? Gesichter oder Kerzenhalter?
In diesem Buch geht es um solche Kippeffekte zwischen Naturwissenschaften und Literatur, oder weiter gefasst, zwischen wissenschaftlichem Denken und literarisch-künstlerischer Imagination. Ich möchte Orte der Begegnungen, Episoden und Schnittpunkte aufsuchen und erkunden, welche Spannungen und fruchtbaren Momente, die Voraussetzungen für Erkenntnis, an diesen entstehen.
Es gibt Zwischenbereiche, gesellschaftliche und subjektive, die so groß sind, dass sie der Aufmerksamkeit entgehen. Sie sind unsichtbar wie die Rasenstücke an der Autobahnauffahrt oder der Bahnsteig auf dem Bahnhof. Man benutzt sie oder sieht sie fortwährend, und dadurch werden sie unauffällig. Ich denke, dies trifft auf das Zusammenspiel von Phantasie und Denken, oder historisch ausgedrückt: von Wissenschaften und literarischer Imagination ganz besonders zu. So hat man sich erst in den letzten Jahrzehnten diesen Gebieten zugewandt. Ist erst einmal der Blick für dieses Zusammenspiel geschärft, so kann man sich kaum noch literarische Werke vorstellen, in die die Wissenschaft nicht hineinspielt; wie soll auch Literatur ohne Wissensformen auskommen? Was wäre Homer ohne die Wissenschaften der Hirten und Krieger? Was ein Sherlock Holmes ohne seine chemischen Kenntnisse? Doch auch umgekehrt stellt sich die Frage: Ist die Wissenschaft ohne Phantasie, ohne literarisch-künstlerische Einflüsse denkbar? Ist nicht Mathematik ästhetisch und sucht Physik nicht nach vereinheitlichenden Gesetzen, wie es die phantastischen Alchemisten taten? Kann man sich einen Entomologen ohne Faszination für das Grauen und die seelenlose Mechanik vorstellen, wie sie dem Schauerroman eigen sind und Autoren von Nabokov bis Ernst Jünger anlockten? Eine Wissenschaft ohne Literatur hätte wenig Anknüpfungspunkte in der Realität der Menschen. Menschen brauchen Erzählungen, und ohne eine gute Erzählung werden sie sich für kaum etwas interessieren lassen, mag es noch so bedeutend sein. Das aber ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Wissenschaft in der Öffentlichkeit ankommt und diskutiert wird. Denn die Gesellschaft besteht aus Laien: Wer sich Experte in einem Gebiet nennt, ist Laie in hundert anderen, und »wo immer er nicht außerordentlich gelehrt ist, ist er ganz überraschend unwissend«. (G.K. Chesterton)
Deshalb erlaube ich mir auch, als Laie über die Naturwissenschaften zu schreiben, denn uns Nichtfachleuten sind die Schwierigkeiten des Verstehens vertrauter. Der Außenseiter, schreibt der Wissenschaftsphilosoph Peter Pesic, hält die Wissenschaft nicht für selbstverständlich und erkennt eher das Merkwürdige und Bedeutende als jemand, der sich lange an wissenschaftliches Denken gewöhnt hat. Als Beobachter interessiert mich der Zusammenprall, die Osmose, mehr noch – der Dialog zwischen fremden Welten.
In diesem Buch geht es um derartige Zwischenräume, ohne die menschliches Tun und Vorstellen verkümmern würde. In ihnen entstehen oft die entscheidenden Intuitionen und Ideen, hier springen Funken, die sowohl wissenschaftliche Erkenntnis entzünden als auch Romane entfachen. Und hier haben gesellschaftliche und politische Prozesse, die sich die Wissenschaften im Guten wie im Bösen zunutze machen, ihren Ursprung – vom Darwinismus bis zur Raumfahrt, von der Hirnforschung zur Genetik.
Der Titel Keplers Dämon bedarf der Erklärung. Kepler beschrieb 1609 einen Traum über eine Reise zum Mond (Näheres dazu →2. Keplers Dämon). Diese Traumgeschichte besprenkelte er über die nächsten Jahre hin mit vielen Fußnoten wissenschaftlicher, autobiographischer und verspielter Art. Man könnte diesen Text als das erste Werk der Science-Fiction bezeichnen, denn hier wird erstmals eine fast mittelalterliche Traumvision mit der neuen kopernikanischen Wissenschaft verbunden. Die zwei Kulturen, die C.P. Snow im 20. Jahrhundert in seiner berühmten Rede diagnostizierte, die Welten der Geistes- und Naturwissenschaften, werden hier in ein Gespräch gebracht. Kepler erträumt dazu einen Dämon, der seinem Helden erklärt, wie man auf den Mond fliegt und was man dort vorfindet. Verstehen kann aber den Dämon erst einer, der sich die kopernikanische Astronomie zu eigen macht. Der Dämon verbindet wie Kepler selbst (er hat ja auch Horoskope gestellt) Welten, die sich durch jeweilige Spezialisierungen immer weiter entfernen sollten: Erde und Mond, Mittelalter und Neuzeit, Wissenschaft und Imagination, Metapher und Kalkül, Emotion und Messung. Daher möge er diesem Buch gleichsam als Wappen dienen.
Keplers Traum ist ein Ausgangspunkt für die Expeditionen, die ich im vorliegenden Buch in das teils unbekannte, teils vergessene Terrain machen möchte. Es sind Routen unterschiedlichster Art. Mal führen sie in den Kriminalroman, mal in die Poesie. Einige beginnen in der Frühzeit des Menschen und enden im 21. Jahrhundert, andere beschränken sich auf die Lebensdaten von Autoren oder bleiben bei einem Werk oder in einem Land unterwegs. Es gibt nicht den Königsweg in diesem spannenden Gebiet zwischen Literatur und den Wissenschaften, sondern viele Pfade und Wege, auf denen man zu den verschiedensten Aussichten kommt. Daher ist auch die Gliederung eher notwendiges Spiel: Hier Mensch, dort Materie, das geht von der Anlage des Buches aus gesehen eigentlich nicht. Beide sind ineinander verwoben, und die Technik kann als Vermittlerin stehen. Und wie lassen sich überhaupt Raum und Zeit ohne Mensch und Materie denken? Diese Widersprüchlichkeiten sind der Natur der Sache einbeschrieben; die Einteilung ist also nichts als ein Vergrößerungsglas, das man schnell wieder weglegen kann. Vielleicht hilft sie aber auch bei dem Erkennen von roten Fäden. Die Kapitel sind daher im Sinne eines Puzzles angelegt; keine einfache Linie durch die Zeit, sondern sich ineinander verfugende Teile eines großen Bildes, das hier in seinen Umfängen nur angedeutet werden kann.
Mir hat die Suche und das Schreiben an dem Buch viel Spaß gemacht, und es wäre mir eine Freude, wenn der Funke zum Leser überspringt und er oder sie es als Einstimmung auf ihr eigenes Suchen und Forschen zwischen den Wissenschaften und der Imagination aufgreifen würde. Ich hätte gerne weitergeschrieben, denn die Desiderata wachsen, je tiefer man in die Materie eindringt. Was hätte nicht alles gesagt werden können über: Poe (Mesmerismus, Phrenologie, Ballonfahrt), die Herzogin von Newcastle, die die Physik ihrer Zeit in Utopien verwandelte, Strindberg, als Alchemist, Soziologe, Linguist und Naturkundler oder Thomas Manns Professor Kuckuck aus Felix Krull; Themen wie die Quantenphysik und Chaostheorie, Elektrizität und Licht. Es gibt ein starkes Interesse an diesen Zwischenbereichen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – von Heinar Kipphardt bis zu Ulrike Draesner, Daniel Kehlmann, Ralf Bönt und Judith Schalansky. Aus anderen Ländern wären zu nennen: Thomas Pynchon, Lavinia Greenlaw, Richard Powers oder Tom Bullough, Jorge Volpi (Das Klingsor-Paradox) oder Jean Echenoz (Blitze). Oder eine Entdeckung, die ich gern geteilt hätte: Jane C. Webb Loudon (1807–1858). Loudon veröffentlichte mit zwanzig den Science-Fiction-Roman The Mummy!: Or a Tale of the Twenty-Second Century, in dem sie Gesellschaftskritik mit Ägyptologie verbindet (sie erfand den »Fluch der Mumie«). Sie muss daher mit Mary Shelley zusammen als Begründerin der modernen Science-Fiction gesehen werden. Außerdem schrieb sie ein Standardwerk des Gartenbaus: Gardening for Ladies. Kein Ende in Sicht, umso besser.
Viele meiner Recherchen wurden unterstützt von Johanna Grabow, die Korrekturarbeiten begleitet von Stefanie Ohle, Denise Keil und Katja Brunsch. Für Gespräche, Anregungen, Korrespondenz und Ermutigung danke ich: Lisette Buchholz, Bernard Dupas, Ernst Peter Fischer, Maria Fleischhack, Alexandra Heidenreich-Lembert, Stefanie Jung, Stefan Lampadius, Minwen Huang, Hazel Rosenstrauch, Rainer Schürmann, Katrin Schumacher, Gabrielle Spaeth, Reiner Tetzner, Kati Voigt, Norbert Weitz und Stefan Welz. Und meine Frau Ulrike Loos stellte sich immer als erste Hörerin zur Verfügung. Ihnen allen sei herzlich gedankt.
Leipzig im September 2015
Die Wissenschaften existieren nur durch und mit den Menschen, die sie betreiben, die ihnen nachfolgen und sie anbeten oder niederreißen. Das erste Problem aller Wissenschaft ist genau dieses Wesen, das sich für das einzige Erkenntnis suchende Subjekt auf dieser Erde hält. Diese gattungsspezifischen Illusionen wurden von Swift gegeißelt, und bereits die Antike konnte darüber lachen. Schopenhauer und Nietzsche nahmen sich mit Vorliebe dieses in Illusionen verstrickten Tieres an. Erkenntnis suchend? Vielleicht ist auch dies nur eine weitere Form der Selbsttäuschung. So kann man auch Mary Shelleys revolutionären Roman über einen Mann, der dem Menschen ein Ebenbild schaffen will (so wie es laut Bibel und Koran Gott einst getan hat), lesen: als eine weitere Form der Täuschung, der Selbstanbetung der Spezies. Aber warum sollten Illusionen schlecht sein? Sie mögen eine Zeitlang als Schutz dienen, sind aber langfristig destruktiv. Der Frankenstein-Mythos, der bis in unsere Gegenwart reicht, zeigt dies sehr deutlich. Die Wissenschaften spiegeln beide Seiten des Menschen wider, unerbittlich. Mal retten, mal töten, mal verführen, mal helfen sie, mal lassen sie verzweifeln. Solche Wechselbäder werden an den beiden Protagonisten in Flauberts letztem Roman, Bouvard et Pécuchet, geradezu slapstickhaft bebildert. Für sie erweisen sich die Wissenschaften insgesamt als eine Enttäuschung – völlig überbewertet! Also kehren sie zu ihrem alten Beruf der Kopisten zurück.
In diesem ersten Teil, der mit »Mensch« überschrieben ist, geht es darum, wie biographische Situationen Begegnungen zwischen Wissenschaften und Literatur ermöglichen. Oft sind es krisenhafte Momente, in denen sie sich gegenseitig erkennen oder wiederentdecken nach einem langen gleichgültigen Nebeneinander – angefangen mit den nächtlichen Krisen, die wir Träume nennen, bis hin zu Lebenskrisen, wie bei Agatha Christie oder Paul Valéry. Der Blick in Abgründe kann frei machen, neue Horizonte öffnen und das Denken vollständig umkrempeln. Aus den dunkelsten Kammern der Gefühle und der Lebenswirklichkeit, aus Traumgebilden entstehen dann Ideen und Systeme, die eines Tages alles andere als privat sind, sondern vielmehr die Welt erobern, im Guten wie im Schlechten. Mendelejew erträumte sich möglicherweise das periodische System ebenso wie Kekulé den Benzolring, Descartes wurde während des Dreißigjährigen Krieges bei Ulm möglicherweise in Träumen auf sein neues Denken vorbereitet. Oder zumindest gefallen uns diese Legenden.
Kekulé brauchte ein halbes Jahrhundert, um seinen Traum öffentlich zu benennen, so sehr ist alles ausgegrenzt, was die Wissenschaften dem Traum und damit realen Lebenssituationen verdanken. Insbesondere fällt unter solche Ausgrenzung die Frau. Die Verdrängung des weiblichen Anteils an der Wissenschaft – das betrifft neben den Akteurinnen und ihren Lebensläufen ebenso Fragestellungen wie Anwendungsbereiche – beginnt mit der Verfolgung der antiken Philosophin Hypatia und gipfelt in der Frauenfeindlichkeit der Royal Society und anderen Institutionen der Neuzeit. Ausläufer finden sich noch in der Gegenwart. Das Beispiel Mary Shelley zeigt, dass die Literatur einen Umweg für Frauen darstellte, sich mit Wissenschaft auseinanderzusetzen und andere Perspektiven – nämlich lebensweltliche, soziale und psychologische – einzubringen. Der Mensch ist das Subjekt der Wissenschaft, und das ist männlich wie weiblich, sozial ausdifferenziert und nicht klassenbeschränkt, schließlich auch transnational und weltweit – aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Subjektivität kann sich in Rückerinnerungen an die eigene Kindheit erleben lassen. Auch Wissenschaftler haben eine Kinderzeit hinter sich, sie muss sogar in besonderer Weise prägend gewesen sein. Es ist also auch Biographisches im Spiel, wenn sich gestandene Denker, die möglicherweise schon große Welterklärungen geschaffen haben, wieder kindlichen Fragen stellen. Hier liegen die Urformen einer Kinderuniversität, wenn ein Faraday über Kerzen spricht, Kepler die Schneeflocke einer tiefen Meditation unterzieht oder Darwin sich zu den Regenwürmern neigt. Fabre scheint sein ganzes Leben lang diesen Blick auf das Kleinste und Winzige gepflegt und daraus Lehren für die Naturgeschichte gezogen zu haben. Bei der Beobachtung des Alltäglichen finden die Genies zu einem Stil, der Präzision und Anschaulichkeit verbindet. Mit dem Kleinen, das von den Großen studiert wird, nähern wir uns auch auf andere Weise der Frage der Sterblichkeit. Denn auch wir Menschen sind, in Science-Fiction-Szenarien wie bei Nietzsche oder Schopenhauer, vielleicht nur kleinste Objekte für das Vergnügen und die Mikroskope der Demiurgen. Dass wir zerquetscht werden, ist wahrscheinlich, sicher ist, dass wir ein Ende haben.
Dieser Sterblichkeit stehen die Wissenschaften indifferent gegenüber wie eine Mauer. Doch sobald sich Lebensgeschichte in den Forschenden meldet, erhält das Thema ein neues Gewicht. Generell lässt sich sagen: Die Suche nach Unsterblichkeit ist dem Menschen, seit er von den Früchten des Paradieses gekostet hat, eine ewige Quelle der schöpferischen Antworten auf den Tod. Würden wir überhaupt etwas zu erzählen haben, wenn wir nicht sterblich wären? Fragen sind nicht losgelöst von den Fragenden. Der Mensch wäre zu definieren (unter anderem) als das Tier, das Fragen stellt. Es hat einige Antworten gefunden, einige sehr effektive und gefährliche wie die Atombombe waren darunter. Ebensolche Produkte entstehen, wenn wir das Biographische und das heißt auch die gesellschaftliche Vernetzung der Wissenschaften nicht zur Kenntnis nehmen und sie nicht stärker in unsere moralische Verantwortung einbinden wollen. Selbst die Neurologie, die sich ja mit dem Innersten des Menschen beschäftigt, muss sich solche Einbindung gefallen lassen. Der Mensch ist der rote Faden der Wissenschaften, und das soll in dem vorliegenden Teil besonders sichtbar werden.
Manche Geschichten beginnen in der Erdformation, und ihre Anfänge liegen vor der Zeit. Man schrieb das Jahr 1815. Europa war von den napoleonischen Kriegen zermürbt, doch Napoleon hatte sich von Elba wieder auf den Weg gemacht; im Juni sollte seine letzte Schlacht stattfinden, bei Waterloo in Belgien. Drei Jahre zuvor war der Vulkan Tambora auf der Insel Sumbawa wieder aktiv geworden, die Erde bebte, und er begann Dampf zu lassen. Den kleineren Explosionen folgte am 5. April 1815 ein gewaltiger Auswurf; und die Ausbrüche ab dem 10. April stellten alles Bekannte in den Schatten. Sie waren noch in einem Umkreis von 2500 Kilometern weiter westlich zu hören. Man muss sich einmal in diese weitab von der bekannten Geschichte ereignenden Dinge hineindenken: Feuersäulen, Feuerstürme, heißer Ascheregen, entwurzelte Bäume und zerstörte Inseln, Menschen, Tiere und Hütten, die weggerissen werden von den Fluten, fünf Meter hohe Tsunamis. Der größte englische Geologe des 19. Jahrhunderts, Charles Lyell, notierte die Katastrophe in seinem Werk Principles of Geology, das Darwin begierig auf seiner Weltreise las.
Drei Tage lang herrschte um Tambora herum komplette Dunkelheit. Das lokale Ereignis entwickelte sich jedoch zu einer planetarischen Krise, denn längst vor der Globalisierung durch den Menschen war die Erde durch ihre Atmosphäre und andere Kreisläufe global. De Boers und Sanders zählen die Auswirkungen des riesigen Vulkanausbruchs auf: Der Boden auf Sumbawa und den Nachbarinseln wurde vergiftet, viele Menschen flohen und wanderten aus. Der Sommermonsun in Indien fiel aus und kam später als Flut; das führte zu Trockenheit und Hungersnöten. Im Gangestal brach, vielleicht als Folge, die Cholera aus – möglicherweise war dies der Beginn einer weltumspannenden Epidemie, die in den folgenden zwei Jahrzehnten Kairo, Moskau, Paris und Amerika erreichte. Eindeutig aber verschlechterte sich das Wetter weltweit. Durch die vom Wind transportierten Aschepartikel wurde für einige Jahre das Sonnenlicht abgeblockt, und Kälte herrschte wieder über der Erde. 1816 lag die Temperatur in der nördlichen Hemisphäre um zehn Grad Celsius unter dem Jahresdurchschnitt. Europa wurde dunkel, kalt und wetterwendisch. In Ungarn fiel brauner, in Italien gelblich-rötlicher Schnee. Es gab Frosttage im Sommer, Stürme und viel Regen. Zu den besonders betroffenen Ländern gehörte die Schweiz. So ging 1816 als das »Jahr ohne Sommer« in die Geschichte ein. Weltweit gab es Hungersnöte, die Ernten waren miserabel oder fielen aus, Überschwemmungen und Seuchen folgten (vgl. Behringer).
Die Pferde waren die Ersten, die zugrunde gingen – einerseits waren sie ohnehin durch die Kriege dezimiert, andererseits schlachtete man sie, weil man sie nicht mehr füttern konnte. Da begann sich in Mannheim ein Erfinder und Förster Gedanken zu machen, wie man das Pferd durch ein Laufrad ersetzen könnte, und kam so auf den Vorläufer des Fahrrads, die Draisine oder das Veloziped. Zur gleichen Zeit, am Genfer See, versammelten sich britische Poeten und Intellektuelle, junge Frauen und Männer, und versuchten, dem schlechten, kalten Wetter zu trotzen, indem sie sich Gruselgeschichten erzählten, denn diese Gattung war à la mode. Der Schauerroman stand hoch im Kurs, und man las deutsche Gespenstergeschichten in französischer Übersetzung. Dann schlug Lord Byron einen Wettbewerb vor: Wer kann die beste Gespenstergeschichte erfinden? Die berühmteste Geschichte wurde von einer Teilnehmerin des Kreises erdacht, die gerade erst 18 Jahre alt war. Und aus dieser Geschichte wurde einer der berühmtesten Romane, Frankenstein; or, The Modern Prometheus.
Das Wetter, der ferne Vulkan, die Kälte und die Dunkelheit sind in diesem Werk präsent, ja, sogar die in der Arktis herumirrenden Menschen, die sich wie letzte Menschen fühlen – und tatsächlich sollte Mary Shelley später einen Roman über einen Menschen schreiben, der als Einziger eine Epidemie überlebt hat: The Last Man, erschienen 1826.
Das Monster des Romans Frankenstein geistert durch unsere Filme wie unsere Träume, es ist der Inbegriff fehlgeleiteter, amoralischer Wissenschaft. Es ist im Übrigen namenlos wie jede Angst, und deshalb sind wir versucht, es nach seinem Schöpfer Frankenstein zu nennen. »Frankenstein«, ob als Schöpfer oder Monster, hat sich in uns festgesetzt, es steht für einen großen Tabubruch. Nicht umsonst trägt der Roman den Untertitel: »oder der neue Prometheus«. Auch Prometheus war der große Tabubrecher in der Ursprungsgeschichte der Menschheit. Er stahl den Göttern das Feuer und erschuf, nach einer anderen Version, sogar den Menschen. In beiden Mythen trägt er zur Entstehung des Menschengeschlechts bei, zur Entstehung eines rebellischen, selbstbewussten und neugierigen Stammes, der die Welt erobern sollte. Prometheus wurde von der Romantik wiederentdeckt als Figur der Rebellion, mit der man sich identifizieren konnte. Im Angesicht der Mächte des Ancien Régime stand er für Jugendlichkeit, Aufruhr und Angriff auf die Autoritäten und Hierarchien. Lord Byron und Percy B. Shelley, Goethe und viele andere tätowierten ihre Gedichte mit diesem Namen, der gern auch als griechische Entsprechung Satans gelesen wurde. Wie Francis Bacon für die Wissenschaft ein »Neues Atlantis« entwarf, so erneuerte Mary Shelley Prometheus im Licht des 19. Jahrhunderts, das mit vielen Versprechungen und Erwartungen und vor allem Ängsten begann, denn jener andere, den man auch mit Prometheus verglich, zog wie ein wildes Tier durch Europa und sprengte einen Staat nach dem anderen: Napoleon.
Frankenstein ist ein Schauerroman, der unauflösbar mit Landschaften verbunden ist. Sie taten sich der jungen Engländerin erst auf, als Napoleons Stern sank. 1814, als Napoleon nach Elba verbannt war, wurde die Kontinentalsperre aufgehoben, mit der er seit 1806 die englische Wirtschaft schädigen wollte (es gelang ihm nicht). Dies bedeutete, dass erstmals britische Reisende wieder den Kontinent ungehindert befahren konnten. Zu den frühen Touristen, die davon profitierten, gehörten englische Dichter, Maler und Intellektuelle. Man fuhr den Rhein entlang und ließ sich von den Schlössern und Felsen bezaubern, doch vor allem zog es die Touristen neben Italien in die Schweiz. Die großartige Berg- und Seenlandschaft mitten in Europa harrte der Entdeckung durch Ausländer. Die romantische Einstellung zur Landschaft, die nun möglichst wild und erhaben sein sollte, erleichterte den Zugang und machte die Bergwelt attraktiv. Byron und Shelley waren im Gegensatz zu der ersten romantischen Generation Englands ebendiesem erhabenen Anblick verfallen und ließen ihn in zahlreichen Texten erstehen – von Byrons »The Prisoner of Chillon«, den Cantos in Childe Harold bis hin zu Shelleys »Mont Blanc«.
Für die Gruppe um Byron und Shelley wurde die Schweiz kurzfristig zu einer Art Asyl. Byron floh vor einem Skandal, den er in England ausgelöst hatte. Soeben hatte sich seine Frau Annabella unter anderem wegen seiner Wutanfälle von ihm getrennt; sie waren so schlimm geworden, dass sie ihn auf Geisteskrankheit hin hatte untersuchen lassen. Vor allem aber sprach man in London von Byrons Beziehung zu seiner Halbschwester Augusta. So eilte er im Mai 1816, begleitet von seinem Leibarzt Dr. John Polidori, einer Kohorte von Dienstpersonal, einem Pfau, einem Affen und einem Hund in einer Kutsche, die der Napoleons nachgebaut war, in die Schweiz an den Genfer See. In Genf herrschte die Anglomanie, die Stadt zog massenweise englische Touristen an, was Byron aus verständlichen Gründen unangenehm war. So mietete er sich etwas außerhalb der Stadt die Villa Diodati in Cologny. Der Besitzer war der Nachkomme eines Theologen, der schon im 17. Jahrhundert John Milton in Genf als Gast bei sich hatte.
Zu der anderen Gruppe, die bald aus England folgte, gehörte ein Poet, der von Gläubigern wie Gläubigen verfolgt wurde, denn er hatte nicht nur Schulden, sondern sich auch in der Heimat durch atheistische Schriften höchst unbeliebt gemacht. Zwei Jahre zuvor war er zudem eine Liaison mit der Tochter eines der größten Denker und Schriftsteller der Zeit eingegangen, obwohl er noch mit der inzwischen schwangeren Harriet Smith verheiratet war. Der vierundzwanzigjährige Dichter Percy Bysshe Shelley zog also mit Mary Godwin und deren Stiefschwester Claire Clairmont hinab an den Genfer See zu Lord Byron (in den Claire wiederum verliebt war). Dort versprach man sich Freiheit, auch wenn es von Briten nur so wimmelte und damals schon die Paparazzi das Anwesen Byrons umschwärmten. Die Shelleys mieteten sich eine Villa in der Nähe der Villa Diodati, und nun begann ein reger Verkehr zwischen beiden Gruppen. Das Wetter sorgte dafür, dass man sich oft innen aufhielt und sich der Wissenschaft, der Phantasie und der intellektuellen Konversation hingeben konnte. Die Abende müssen trotz der Unbill schön gewesen sein, denn die Aschepartikel sorgten für wunderbare Sonnenuntergänge, die sich noch in der Malerei der Zeit von Turner bis Caspar David Friedrich niederschlagen sollten. Ähnliches sollte sich wiederholen, als 1883 der Krakatau ausbrach und mit seinen Aschewolken weitere solche Sonnenuntergänge und Gemälde hervorbrachte (→3. Unruhe im Innern). Eine günstige Stimmung für das Gespenstische und Atmosphärische: Geschichten über den Liebhaber, der seine Braut umarmen will und den Schatten der betrogenen früheren Geliebten in den Armen hält, über den Gründer einer Rasse, die mit dem Kuss des Todes gezeichnet ist, riesig und mit einer Rüstung bekleidet wie Hamlets Geist.
Und so begann man zu erzählen. Lord Byron, der gerade an seinem Childe Harold schrieb, schien nicht sehr ehrgeizig und brachte nur ein Fragment zustande. Percy Shelley war eher Poet und wollte sich nicht mit der »Maschinerie einer Erzählung« befassen. Byrons Leibarzt schrieb über eine Dame mit Schädel, daraus wurde nicht viel; später sollte er eine Idee von Byron aufgreifen und die erste literarische Vampirgeschichte verfassen. Somit wird an diesen Abenden in der Villa Diodati auch der Vorfahr des Grafen Dracula geboren, den Bram Stoker 80 Jahre später zum Welterfolg führen sollte.
Die berühmten Dichter brachen das kreative Experiment jedoch bald ab; es erschien ihnen alles ein wenig platt. Mary Godwin, die sich inzwischen Shelley nannte, die achtzehnjährige Tochter des Philosophen William Godwin und der Feministin Mary Wollstonecraft, verließ sich dagegen auf ihre Träume. Sie bemerkte, dass die intellektuellen Diskussionen am Abend in die Gesichter der Nacht hineinwirkten. Meist war sie stille Zuhörerin, eine Geschichte wollte ihr anfangs nicht einfallen. Sie mühte sich ab, es kam aber nichts. Jeden Morgen, so schreibt sie in ihrem Vorwort zu Frankenstein, fragte man sie: »Hast du dir eine Geschichte ausgedacht?«, und sie musste verneinen. Man sprach an diesen Abenden viel über die Entstehung des Lebens, so über die Experimente von Erasmus Darwin. Dieser war Arzt und Botaniker und bedichtete die Natur in lehrhaften Zeilen. Er zeigte in diesen Versen allerdings eine Vorahnung des evolutionären Prinzips, das sein Enkel – 1816 war Charles Darwin sieben Jahre alt – bald entwickeln würde. Ebenso faszinierte die Elektrizität, denn Galvani und anderen war es gelungen, tote Frösche zum Zucken zu bringen. Galvanis Neffe Aldini erweckte gehängte Verbrecher kurzfristig mit Stromstößen zum Leben: Augen gingen auf, Arme und Beine zuckten. Man stellte sich vor, dass man einen Menschen aus verschiedenen Teilen zusammensetzen und ihn dann durch ein vitalisierendes Prinzip wie die Elektrizität beleben könnte.
Die Wissenschaft war dabei, alte Grenzen von Religion und Anstand zu überschreiten, sie war prometheisch gesonnen. All dies Gehörte und Besprochene belebte Marys Phantasie und wirkte bis in einen hypnagogen Zustand zwischen Wachen und Schlaf hinein, der für kreative Vorgänge möglicherweise noch wichtiger ist als der Traum. Auffällig an dem entscheidenden Abschnitt, in dem sie über die Geburtsstunde des Ungeheuers in ihrer Phantasie schreibt, ist, dass sie immer wieder von den Augen und dem Schlaf spricht. Mary kann nicht einschlafen, da sieht sie vor ihrem inneren Auge ganz deutlich den »bleichen Studenten der unheiligen Künste«, der neben einem Wesen kniet, das er soeben erschaffen hat. Dieses liegt ausgestreckt da und wird von einer »mächtigen Maschine« zum Leben gebracht. Der Erfinder möchte fliehen und wieder zu einem gesunden Schlaf zurückfinden und hoffen, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Er schläft ein, aber als er aufwacht, hat sich die Situation umgekehrt: Das Monster steht neben ihm und schaut ihn aus gelben, wässrigen Augen an. Es rätselt und sucht Rat, weil es den ausgestreckten Frankenstein ebenso wenig versteht wie der Schöpfer zuvor sein Geschöpf. Und nun der Heureka-Moment: Mary weiß, dass das, was sie mit Schrecken gesehen hat, auch andere mit Schrecken erfüllen wird – die Geschichte ist gefunden. Am nächsten Morgen kann sie guten Mutes verkünden, dass sie eine Erzählung begonnen hat. Sie fängt genau an dieser Stelle, den ihr die Eingebung verraten hat, mit ihrem Roman an, aber die Passage taucht erst im vierten Kapitel des ersten Bandes auf:
»It was on a dreary night in November …«: »Es war eine trostlose Novembernacht […] als ich beim Scheine meiner fast ganz herabgebrannten Kerze das trübe Auge der Kreatur sich öffnen sah. Ein tiefer Atemzug dehnte die Brust und die Glieder zuckten krampfhaft.« (Shelley 69)
Mit welchen Mitteln Frankenstein dieses Wunder genau zuwege brachte, erfahren wir nicht; die späteren Filme sollten expliziter werden. Wir wissen aber, dass er sich mit den ›neuen Wissenschaften‹ beschäftigt hat, und zwar als Student an der damals hochgeachteten jesuitischen Hochschule von Ingolstadt. 1800 wurde die Universität nach Landshut verlegt, später nach München. Was sich also im Roman abspielt, muss vor 1800 geschehen sein.
Ausgerechnet im katholischen Stammland also verabschiedet sich Frankenstein (der übrigens nie einen Doktortitel erlangte) von den alten Systemen der Wissenschaft wie der Alchemie und der Astrologie. Zunächst wird er von einem Professor namens Krempe ausgelacht, dass er sich mit Paracelsus und Agrippa beschäftigt hat. Krempe, der Naturphilosoph, vertritt eine lineare moderne Naturwissenschaft, die das Alte abwirft: »Sie haben ihr Gedächtnis mit explodierten Systemen und nutzlosen Namen belastet!«, ruft er aus. Er müsse seine Studien von Grund auf neu beginnen. Dagegen ist sein zweiter Mentor von anderem Kaliber. Dieser Professor Waldman (sic) hat nicht nur eine angenehme Stimme und strömt etwas Weises aus, er beschränkt sich nicht nur auf die Zerstörung des Alten, sondern bietet mit der modernen Chemie dem Adepten auch eine wirkliche Ansicht der Zukunft – ein klarer Fall für ein heutiges Exzellenzcluster! Seine, die wahre Wissenschaft, so erkennt Frankenstein, besteht nicht in der kleinteiligen Forschung, sondern im großen Überblick, sie ist ohne eine Vision für die Menschheit nichts wert. Darin bestärkt ihn Waldman, der noch einmal das Ethos formuliert, das wir in Bensalem auf einer Insel im Pazifik, in Francis Bacons Nova Atlantis (→4. Die fliegende Insel der Wissenschaft), bereits antreffen:
Die Alten versprachen Unmögliches und leisteten nichts. Die heutigen Gelehrten versprechen nichts; sie wissen, dass die Metalle nicht ineinander verwandelt werden können und dass das Lebenselixir eine Chimäre ist. […]. Sie haben neue, fast unbegrenzte Kräfte entfesselt. Wir haben dem Himmel seine Blitze entrissen und machen uns über die unsichtbare Welt mit ihren Schatten lustig. (Shelley, Kap. 3)
Die Wissenschaft wird im Roman nach der Erschaffung des Monsters nur noch eine untergeordnete Rolle spielen – so etwa, wenn die Kreatur eine weibliche Begleitung wünscht und sich Frankenstein noch einmal an sein Werk machen soll. Ansonsten geht es um die Wiederkehr des Verdrängten. Was hat Frankenstein nicht alles verdrängt, um den Schritt über die Natur hinaus zu tun! Seine familiären Beziehungen, seine Verlobte und seine Freundschaft hat er auf dem Altar der Wissenschaft geopfert, denn diese fördert eine gewisse Asozialität, einen sozialen Autismus. Das Monster, dem er keine Wärme und Vaterschaft entgegenbringt, wird sich rächen. Zahllos sind die Interpretationen. Sie reichen von der Vorstellung, bei dem Ungeheuer handele es sich um eine Verkörperung der Industrialisierung bis hin zu der Deutung von Frankenstein als Mutter, die wie Mary Shelley ambivalente Gefühle gegenüber ihren Kindern haben mochte. Oder spiegeln sich hier gar Familienaufstellungen der Godwins wider? Der strenge Vater, der die Tochter weniger liebt als lehrt, die Mutter, die bei der Geburt Marys stirbt und ihr ein Leben lang fehlen wird? Und natürlich hat man den Roman immer wieder als Kritik an der Arroganz der Wissenschaft gelesen, so dass Frankenstein zu einem kulturkritischen Begriff wurde wie der Golem, als Bild einer unkontrollierbaren Technik, der der Mensch, der sie erschuf, psychologisch und moralisch nicht mehr gewachsen ist. Wie dem auch sei, es bleibt festzuhalten, dass Mary Shelley diesen Roman ohne ihr Interesse an Wissenschaft und Philosophie nicht hätte schreiben können.
Sie wurde von ihren berühmten Eltern intellektuell ebenso gefordert wie gefördert, und so muss ihre Frühreife auf den ebenfalls frühreifen Shelley einen tiefen Eindruck gemacht haben. Ihre Tagebücher zeigen, dass sie eine unermüdliche Leserin war: lange Listen von Büchern, die sie gleichzeitig las, und aus den unterschiedlichsten Gebieten. Miltons Paradise Lost (1665) war ihr durch und durch vertraut, wie der Roman nahelegt, und auch darin geht es um Rebellion, nicht des Prometheus, sondern des anderen Lieblings der Romantik: Satans. Goethes Faust war von Percy B. Shelley 1815 ins Englische übersetzt worden, und Einflüsse sind ohne weiteres festzustellen. Wie der Ingolstädter Student will Faust wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Er verkauft seine Seele an den neuen Mephisto, die Wissenschaft, und auch er will die Natur transzendieren durch Beherrschung ihrer Grundkräfte. Beide arbeiten an einem Projekt, das spätestens seit Paracelsus die europäische Geistesgeschichte beschäftigt: der Homunkulus oder der künstliche Mensch. Das Monster ist allerdings bald selbst ein Leser Goethes und bildet sich schnell ohne lästige Sprachkurse.
Mary Shelley kannte ihre Philosophen von Locke bis Rousseau, aber sie war auch naturwissenschaftlich gebildet und mit den Wissenschaftsdebatten ihrer Zeit vertraut. Themen wie Vivisektion, die Entstehung des Lebens und der Magnetismus wurden in den einschlägigen Zeitschriften diskutiert. Der prometheische Funke lauerte in der Wissenschaft von der Elektrizität, damit konnte man der Metaphysik wieder habhaft werden, die die Aufklärung ja zu Fall gebracht hatte. Professor Waldman macht sich daher auch gar nicht über Paracelsus und Agrippa lustig, er führt in seiner Chemie vielmehr ihren Impuls fort. Deren alchemistisches Projekt ist seines, nur will er es mit anderen Mitteln erreichen: die Herrschaft des Menschen auszuweiten über die Natur, die Natur sozusagen in einem, nun aber modern verstandenen, alchemistischen Werk zu veredeln. Der Roman bringt diesen Herrschaftswillen, der mit Bacons »Wissen ist Macht« einhergeht, gleich zu Anfang zum Ausdruck, und zwar auf eine geographische Weise. Denn die Erzählung ist eingebettet in eine Rahmenhandlung einer Expedition zum Nordpol. Wie Frankenstein, so hat auch schon der Forscher Robert Walton einen Drang zum Nichts, in die eisige Wüste jenseits aller menschlicher Beziehungen, und so schafft diese Landschaft den geeigneten Schauplatz für Anfang und Ende des Romans, jene Verfolgungsjagd im Eis, zu der die wissenschaftliche Neugier geworden ist: kalt, destruktiv und apokalyptisch in einem Feuer aufgehend.
Lord Byron schrieb in diesen Wochen ein Gedicht mit dem Titel »Darkness«. Darin berichtet er von einem Traum, in dem die Dunkelheit regiert. Die Sterne irren im Dunkeln, und es wird so kalt auf der Welt, dass alles Brennbare, Hütten und Paläste, verfeuert wird. Die Welt wird zu Chaos, Kälte und Dunkelheit. Dem Vulkanausbruch in Indonesien entspricht der in der menschlichen Seele, die sich auf eine dunkle Zukunft vorbereitet.
de Boer, Jelle Zeilinga / Donald Theodore Sanders. Das Jahr ohne Sommer. Die großen Vulkanausbrüche der Menschheitsgeschichte und ihre Folgen. Essen: Magnus Verlag 2004.
Behringer, Wolfgang. Tambora und das Jahr ohne Sommer. München: C.H. Beck 2015.
Knellwolf, Christa / Jane Goodall. Frankenstein’s Science. Experimentation and Discovery in Romantic Culture, 1780–1830. Burlington, VT: Ashgate 2008.
Massari, Roberto. Mary Shelleys Frankenstein. Hamburg: Junius 1989.
Mielsch, Hans-Ulrich. Sommer 1816. Lord Byron und die Shelleys am Genfer See. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 1998.
Shelley, Mary. Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Köln: Bastei-Lübbe 2001.
Seitdem die Menschen sich ihrer Sterblichkeit bewusst sind – also vielleicht mit Entstehung der Sprache und dem symbolischen Denken –, beschäftigen sie sich mit der Überwindung des Todes. Vielleicht ist dies das treibende Motiv menschlichen Kulturschaffens überhaupt. Der chinesische Kaiser Qin Shi Huang (259–210 v. Chr.) gilt als der Gründer des chinesischen Reiches. Er steht für dessen staatliche Einheit, die sich äußerlich in der Großen Mauer zeigte, zu der er wesentlich beitrug. Zugleich ist er auch derjenige, der sich eine unterirdische Armee für das Jenseits leistete. Beides deutet darauf hin, dass er den Tod überwinden wollte. Es kommt hinzu – wie Borges in seinem Essay »Die Mauer und die Bücher« schreibt –, dass der Kaiser seine Mutter des Landes verwies, angeblich wegen ihres ausschweifenden Lebens, vielleicht aber auch, um die Spuren seiner Herkunft zu tilgen. Er ließ zudem alle kanonischen Bücher verbrennen und vernichtete damit 3000 Jahre chinesischer Geschichte. Nur Literatur, die der Lebensverlängerung diente, durfte erhalten bleiben. Sein Palast war selbst eine Art Kalender, denn er hatte so viele Räume, wie das Jahr Tage zählt. Nicht nur die Bücher fielen ihm zum Opfer. Zwei Alchemisten sollten ihm das Elixier der Unsterblichkeit herstellen, doch sie scheiterten, und er fühlte sich von ihnen betrogen. Dies war der Auslöser für eine Kampagne gegen Gelehrte überhaupt. Über 460, vielleicht weitere 700 Intellektuelle, viele von ihnen Konfuzianer, wurden lebendig begraben. Jeder, der alte historische Beispiele nutzte, um satirisch auf gegenwärtige Zustände aufmerksam zu machen, wurde ebenfalls mit seinen Familienmitgliedern getötet. Wer die Bücherverbrennung nicht mitmachte, wurde zur Zwangsarbeit an der Großen Mauer verpflichtet. In der Gegenwart des Kaisers war es verboten, den Tod zu erwähnen: Wer es tat, dem wurde durch die Todesstrafe klargemacht, dass es den Tod doch gab. Dichter mussten Hymnen auf die Unsterblichkeit schreiben. Die Kampagne erinnert fatal an Mao Tse-tungs Kulturrevolution. Die Mauer, die Armee im Jenseits, der Bücherbrand und die Tötung der Gelehrten deuten auf den Wunsch hin, auf ewig zu überleben, entweder konkret mit einer Armee im Rücken und einem unterirdischen Palast oder, wenn dies nicht möglich sein sollte, im übertragenen Sinn, als unauslöschlicher Name, der mit dem Beginn der chinesischen Geschichtsschreibung zu zitieren wäre. Wer sich für unsterblich hält, muss den Anfang ebenso genau in den Blick nehmen wie die Verhinderung des Endes. Denn war der Anfang menschlich, so wird auch das Ende ein solches sein.
Auch der Gründer der Stadt Uruk, Gilgamesch, baute eine große Mauer und befestigte die Stadt nach außen hin, da die Steppenvölker den Tod bedeuteten. Dieser Held des gleichnamigen Epos, des ältesten, das wir kennen, steht für die Unterwerfung der Natur und der Wildnis. So wie er die Stadt baut, so zähmt er (mit Hilfe einer Frau) den wilden Enkidu und macht sich ihn zum Freund und Kampfgefährten. Gemeinsam besiegen sie das Ungeheuer Humbaba, das die libanesischen Zedernwälder bewacht. Diese wiederum sind notwendig für die großen zivilisatorischen Aufgaben im Zweistromland, für Tempel- und andere Bauten. Doch die Götter sind unzufrieden, es gibt Eifersucht und Liebeshändel. Die Göttin Ischtar wird von Gilgamesch zurückgewiesen und sendet wütend den furchtbaren Himmelsstier, aber die Freunde töten auch ihn. Am Ende muss Enkidu an einer Krankheit sterben – welche Schmach! Denn im Kampfe zu fallen, das war der Traum der Helden. Damit aber wird Gilgamesch erstmals persönlich direkt mit dem Tod konfrontiert, den er selbst zuvor so freigebig austeilte. Er läuft verzweifelt in der Steppe umher, er weiß nun, auch er wird zu Lehm werden. Den einzigen Trost findet er in der Idee der Unsterblichkeit. Wir dürfen nicht vergessen, dass er zu zwei Dritteln schon göttlich ist, Unsterblichkeit scheint also in Reichweite zu sein.
Und hier kommt das Wissen, kommen frühe Formen der Wissenschaft ins Spiel. In der Wissenschaft seiner Zeit muss der Schlüssel liegen. Das Wissen aber liegt bei dem Menschen, der zusammen mit seiner Frau die Sintflut überlebt hat, dem weisen Utna-napischti, dem sumerischen Noah. So macht Gilgamesch sich auf den Weg zu diesem Menschen der Vorzeit. Er durchquert das finstere Innere der Zwillingsberge, das heißt, er reist der Sonne nach, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, muss sich den schrecklich strahlenden Skorpionenmenschen stellen und erreicht nach zwölf Doppelstunden die andere Seite: einen blühenden Garten, in dem die Edelsteinbäume der Götter stehen. Am Meer wohnt eine Wirtin, von der er den Weg erfährt. Ein Fährmann verspricht, den ersten Menschen überhaupt zu Utna-napischti zu bringen, allerdings muss er ihm dreihundert Stocherstangen bauen. Alle Stocherstangen werden bei der Überfahrt über das Wasser des Todes verbraucht, und am Ende macht der Fährmann ein Segel aus seinen Kleidern, und Gilgameschs Arme müssen als Masten dienen.
Schließlich erreichen sie das Land des Unsterblichen. Utna-napischti erzählt zunächst von den Geheimnissen, die zur Sintflut führten. Gilgamesch will unsterblich werden. Der Alte empfiehlt ihm, sechs Tage und sieben Nächte das Schlafen zu unterlassen. Sieben Brote für sieben Tage backt seine Frau, doch Gilgamesch verschläft alles. Hier werden wissenschaftliche, ja juristische Mittel bemüht, um dem eitlen Helden zu beweisen, dass er die erste Probe nicht bestanden hat. Jedes einzelne, nicht gegessene Brot belegt, dass er geschlafen hat; Gilgamesch kann es nicht leugnen. Dann wird er gewaschen, und Utna-napischti offenbart ihm das Geheimnis einer Pflanze, die Unsterblichkeit verleiht, »wie Bocksdorn ist ihr Wuchs« (man