John Brockman
Worüber müssen wir nachdenken?
Was die führenden Köpfe unserer Zeit umtreibt
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
FISCHER E-Books
John Brockman, ehemaliger Aktionskünstler, Herausgeber der Internetzeitschrift »Edge« und Begründer der »Dritten Kultur« (»Third Culture«), leitet eine Literaturagentur in New York und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. ›Das Wissen von morgen. Was wir für wahr halten, aber nicht beweisen können: Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit beschreiben ihre großen Ideen‹, ›Leben, was ist das? Ursprünge, Phänomene und die Zukunft unserer Wirklichkeit‹, ›Welche Idee wird alles verändern? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über Entdeckungen, die unsere Zukunft bestimmen werden‹ und ›Wie funktioniert die Welt? Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit stellen die brillantesten Theorien vor‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel:
»What Should We Be Worried About? Real Scenarios That Keep Scientists Up at Night«
im Verlag HarperCollins Publishers, New York
© 2014 by Edge Foundation, Inc.
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403134-7
In der Zeit der Weltwirtschaftskrise waren Teile der Great Plains in den USA und Kanada von verheerenden Staubstürmen betroffen, die das Ergebnis der Rodung von Präriegras zur Gewinnung von Ackerflächen waren. (A.d.Ü.)
»Black Holes: Complementarity or Firewalls?«, arXiv:1207.3123v2 [hep-th] 22. August 2012.
»Human Population Grows Up«, Scientific American, September 2005.
»An experimental study of apparent behaviour«, Amer. J. Psychol. 13 (1944).
Castelli, F., Frith, C., Happé, F., Frith U., »Autism, Asperger syndrome and brain mechanisms for the attribution of mental states to animated shapes«, Brain 125(8): 1839–49 (2002).
»Cognitive Capitalism: The Effect of Cognitive Ability on Wealth, As Mediated Through Scientific Achievement and Economic Freedom«, Psychol. Sci., 22:6, 754–63 (2011).
Susan Kruglinski, »When Even Mathematicians Don’t Understand the Math«, New York Times, 25. Mai 2004.
Techonomy Conference, Lake Tahoe, Kalifornien, 6. August 2010.
Marcia C. Linn et al., »Can Desirable Difficulties Overcome Deceptive Clarity in Scientific Visualizations?«, in: Aaron Benjamin, Hg., Successful Remembering and Successful Forgetting: A Festschrift in Honor of Robert A. Bjork, New York: Routledge, 2010.
»Predicting Human Brain Activity Associated with the Meanings of Nouns«, Science 320, 1191 (2008).
»Deciphering Cortical Number Coding from Human Brain Activity Patterns«, Curr. Biol. 19, 1608–15 (2009).
»Inverse retinotopy: Inferring the visual content of images from brain activation patterns«, NeuroImage 33:4, 1104–16 (2006).
Page Six ist eine Regenbogenwebsite mit Klatsch über Stars aus Film, Sport, Politik etc. (A.d.Ü.).
Ich möchte Peter Hubbard von HarperCollins für seine Ermunterung danken. Meinem Agenten Max Brockman, der das Potenzial dieses Buches erkannt hat, bin ich gleichfalls zu Dank verpflichtet, und natürlich wieder Sara Lippincott für ihr umsichtiges und sorgfältiges Lektorat.
John Brockman
Verleger und Herausgeber, Edge
1981 gründete ich den Reality Club. Es handelte sich um einen Versuch, jene Leute zusammenzubringen, die die Themen des postindustriellen Zeitalters erforschen. 1997 ging der Reality Club unter dem neuen Namen Edge online. Die auf Edge vorgestellten Ideen sind spekulativ; sie repräsentieren die Grenzen des Wissens auf Gebieten wie zum Beispiel Evolutionsbiologie, Genetik, Informatik, Neurophysiologie, Psychologie, Kosmologie und Physik. Aus diesen Beiträgen entstehen eine neue Naturphilosophie, neue Möglichkeiten des Verstehens physikalischer Systeme, neue Denkweisen, die viele unserer Grundannahmen in Frage stellen.
Für jede der Jahresausgaben von Edge komme ich mit einer Reihe treuer Edge-Anhänger zusammen, darunter Stewart Brand, Kevin Kelly und George Dyson, um die alljährliche Edge-Frage zu planen – meist handelt es sich um eine Frage, die dem einen oder anderen von uns oder unseren Korrespondenten mitten in der Nacht einfällt. Es ist nicht leicht, sich eine Frage auszudenken. (Wie der inzwischen verstorbene James Lee Byars, mein Freund und einstiger Mitarbeiter, zu sagen pflegte: »Ich kann die Frage wohl beantworten, aber bin ich auch intelligent genug, sie zu stellen?«) Wir suchen nach Fragen, die zu unvorhersagbaren Antworten anregen – die Menschen zum Denken von Gedanken provozieren, die sie sonst wahrscheinlich nicht hätten.
Wir machen uns Sorgen, weil wir geschaffen sind, die Zukunft vorwegzunehmen. Nichts kann uns zwar daran hindern, uns Sorgen zu machen, aber die Wissenschaft kann uns lehren, wie wir uns besser Sorgen machen und wann wir damit aufhören sollten. Die Persönlichkeiten, die die diesjährige Frage beantworteten, wurden gebeten, uns zu erzählen, worüber sie sich (aus wissenschaftlichen Gründen) Sorgen machen – insbesondere über solche Dinge, die noch nicht auf dem Radar des breiten Publikums zu sein scheinen – und warum sie Beachtung finden sollten. Oder sie sollten uns von etwas erzählen, worüber sie sich keine Sorgen mehr machen, auch wenn andere das noch tun, und warum es vom Radar verschwinden sollte.
Steven Pinker
Johnstone-Family-Professor am Institut für Psychologie der Harvard University; Autor von Gewalt – eine neue Geschichte der Menschheit
In der heutigen Zeit braucht sich die überwältigende Mehrheit der Menschen auf der Welt keine Sorgen darüber zu machen, im Krieg zu sterben. Seit 1945 sind Kriege zwischen Großmächten und entwickelten Staaten im Wesentlichen von der Bildfläche verschwunden, und seit 1991 sind Kriege in der übrigen Welt seltener und weniger tödlich geworden.
Wie lange wird dieser Trend jedoch andauern? Viele Leute haben mir versichert, dass es sich um eine vorübergehende Atempause handeln muss und dass ein Großereignis hinter der nächsten Ecke wartet.
Vielleicht haben sie recht. In der Welt gibt es viele unbekannte Unbekannte, und vielleicht wird aus heiterem Himmel eine Katastrophe über uns hereinbrechen. Da wir jedoch per definitionem keine Ahnung davon haben, was die unbekannten Unbekannten sind, können wir uns auch keine konstruktiven Sorgen um sie machen.
Wie steht es dann mit den bekannten Unbekannten? Sind unsere Tage eines relativen Friedens aufgrund bestimmter Risikofaktoren gezählt? Meiner Ansicht nach machen sich die meisten Menschen Sorgen um die falschen Faktoren oder machen sich aus den falschen Gründen Sorgen darum.
Ressourcenknappheit. Werden Staaten wegen des letzten Quäntchens Öl, Wasser oder strategischer Mineralien in den Krieg ziehen? Das ist unwahrscheinlich. Erstens begrenzen sich Ressourcenknappheiten selbst: Wenn eine Ressource seltener und damit teurer wird, werden die Techniken zu ihrer Entdeckung und Gewinnung verbessert oder es wird ein Ersatz gefunden. Außerdem werden Kriege selten wegen knapper physischer Ressourcen ausgefochten (es sei denn, Sie hängen der unfalsifizierbaren Theorie an, dass alle Kriege, unabhängig von den behaupteten Motiven, sich in Wirklichkeit auf Ressourcen beziehen: In Vietnam ging es um Wolfram; im Irak ging es um Öl und so weiter). Physische Ressourcen können aufgeteilt oder gegeneinander getauscht werden, daher sind immer Kompromisse möglich; das gilt jedoch nicht für psychologische Motive wie Ruhm, Angst, Rache oder Ideologie.
Klimawandel. Es gibt viele Gründe, sich über den Klimawandel Sorgen zu machen, aber ein größerer Krieg ist wahrscheinlich nicht darunter. Die meisten Untersuchungen konnten keine Korrelation zwischen der Verschlechterung der Umweltbedingungen und Krieg finden; Umweltkrisen können zwar zu lokalen Scharmützeln führen, aber ein größerer Krieg erfordert eine politische Entscheidung, dass ein solcher Krieg vorteilhaft wäre. Die »Staubschüssel« der 1930er Jahre[1] verursachte keinen amerikanischen Bürgerkrieg; als wir einen solchen hatten, waren seine Ursachen ganz andere.
Drohnen. Der ganze Zweck von Drohnen besteht in der Minimierung des Verlusts von Menschenleben im Vergleich zu den breitgestreuten Formen der Zerstörung wie etwa der Artillerie, einer Bombardierung aus der Luft, Panzerschlachten und Missionen des Aufspürens und Zerstörens, die um Größenordnungen mehr Menschen töteten als Drohnenangriffe in Afghanistan und Pakistan.
Cyberkrieg. Zweifellos werden Cyberangriffe auch weiterhin ein Ärgernis sein, und ich bin froh, dass Experten sich darum Sorgen machen. Das Cyber-Pearl-Harbor, das die Zivilisation in die Knie zwingt, ist jedoch wohl ebenso illusorisch wie die Apokalypse aufgrund eines Programmierfehlers zur letzten Jahrtausendwende. Sollten wir wirklich erwarten, dass die vereinten Bemühungen von Regierungen, Universitäten, Unternehmen und Netzwerken von Programmierern über längere Zeit hinweg von ein paar Teenagern in Bulgarien überlistet werden? Oder von Hackern, die in technologisch rückständigen Ländern von ihrer Regierung gesponsert werden? Könnten sie ihrer Entdeckung auf unbestimmte Zeit entgehen, und würden sie Vergeltungsschläge ohne einen strategischen Zweck provozieren? Selbst wenn sie das Internet eine Weile aufmischen würden, könnte der Schaden wirklich damit vergleichbar sein, dass man bombardiert, mit Brandbomben beworfen oder mit Atomwaffen angegriffen wird?
Nukleare Unvermeidlichkeit. Wegen des Ausmaßes der Verwüstung, die Kernwaffen anrichten können, ist es eindeutig wichtig, dass man sich um nukleare Unfälle, Terrorismus und die Verbreitung von Kernwaffen Sorgen macht, und zwar unabhängig von den Wahrscheinlichkeiten. Aber wie hoch sind die Wahrscheinlichkeiten? Die achtundsechzigjährige Geschichte des Nichtgebrauchs von Kernwaffen zieht die weitverbreitete Annahme in Zweifel, dass wir uns immer noch am Rande eines nuklearen Armageddons befinden. Diese Annahme setzt zwei außergewöhnliche Sachverhalte voraus: Erstens, dass politische Führer so spektakulär irrational, waghalsig und selbstmörderisch sind, dass sie die Welt der Gefahr der Massenvernichtung aussetzen, und zweitens, dass wir eine äußerst unwahrscheinliche Glückssträhne genossen haben. Vielleicht. Aber anstatt an zwei frappierende und unwahrscheinliche Sachverhalte zu glauben, sollten wir vielleicht an einen langweiligen, wahrscheinlichen glauben: dass die politischen Führer der Welt, obwohl sie zwar dumm und kurzsichtig sein mögen, nicht so dumm und kurzsichtig sind und Schritte unternommen haben, um die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs zu minimieren, was der Grund dafür ist, warum kein Atomkrieg stattfand. Was den nuklearen Terrorismus betrifft, so glauben die meisten Experten für nukleare Sicherheit, dass die Anfälligkeit für den Diebstahl von Waffen und spaltbarem Material gesunken ist und bald schon nicht mehr existieren wird, obwohl es nach dem Niedergang der Sowjetunion eine solche Anfälligkeit gab (siehe John Muellers Atomic Obsession).
Die irreführenden Risikofaktoren haben miteinander gemein, dass sie kognitive Auslöser von Angst enthalten, was von Slovic, Kahneman und Tversky dokumentiert wurde: Sie sind anschaulich, neu, nicht nachweisbar, nicht steuerbar, katastrophal und werden ihren Opfern unfreiwillig aufgezwungen.
Meines Erachtens gibt es Bedrohungen des Friedens, um die wir uns Sorgen machen sollten, aber die wirklichen Risikofaktoren – diejenigen, die tatsächlich katastrophale Kriege, wie z.B. die Weltkriege und die großen Bürgerkriege, verursachten – lösen nicht unsere Horrorvorstellungen aus:
Narzisstische Führer. Die ultimative Massenvernichtungswaffe ist ein Staat. Wenn in einem Staat die Macht von einem Führer übernommen wird, der die klassische Triade narzisstischer Symptome aufweist – Prunksucht, das Bedürfnis nach Bewunderung und einen Mangel an Empathie –, können imperiale Abenteuer mit enormen menschlichen Kosten die Folge sein.
Gruppendenken. Das Ideal der Menschenrechte – dass das höchste moralische Gut das Wohlergehen des Einzelnen ist, während Gruppen gesellschaftliche Konstruktionen sind, die die Aufgabe haben, dieses Gut zu fördern – ist überraschend jung und unnatürlich. Zumindest in der Öffentlichkeit sind Menschen geneigt, geltend zu machen, dass das höchste moralische Gut der Ruhm der Gruppe ist – des Stammes, der Religion, der Nation, der Klasse oder der Rasse – und dass Einzelpersonen verschlissen werden können wie die Zellen eines Körpers.
Vollkommene Gerechtigkeit. Jede Gruppe hat in ihrer Vergangenheit Verwundungen und Demütigungen erlitten. Wenn sich Gruppendenken mit einem Rachedurst verbindet, kann eine Gruppe sich berechtigt fühlen, einer anderen Gruppe Schaden zuzufügen, was noch durch eine moralistische Gewissheit, die Kompromisse dem Verrat gleichstellt, angefacht werden kann.
Utopische Ideologien. Wenn man eine religiöse oder politische Vision einer Welt besitzt, die auf ewig unendlich gut sein wird, ist jedes Maß an Gewalt gerechtfertigt, um diese Welt zu verwirklichen, und jeder, der im Weg steht, ist unendlich böse und verdient grenzenlose Bestrafung.
Kriegsführung als normale oder notwendige Taktik. Clausewitz charakterisierte den Krieg als »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«. Viele politische und religiöse Ideologien gehen einen Schritt weiter und betrachten gewalttätige Auseinandersetzungen als Antrieb dialektischen Fortschritts, revolutionärer Befreiung oder zur Verwirklichung eines messianischen Zeitalters.
Der relative Frieden, den wir seit 1945 genießen, ist ein Geschenk der Werte und Institutionen, die diesen Risiken entgegenarbeiten. Die Demokratie selektiert verantwortungsvolle Vertreter anstatt charismatische Despoten. Das Ideal der Menschenrechte schützt Menschen davor, als Kanonenfutter, als Kollateralschäden oder Eier, die für ein revolutionäres Omelett aufgeschlagen werden müssen, behandelt zu werden. Die Maximierung von Frieden und Wohlstand wurde über die Berichtigung historischer Ungerechtigkeiten oder die Verwirklichung utopischer Phantasien gestellt. Eroberungen sind als »Aggression« stigmatisiert und gelten als Tabu und nicht als eine natürliche Bestrebung von Staaten oder ein alltägliches Instrument der Politik.
Keiner dieser Schutzmechanismen ist natürlich oder dauerhaft, und die Möglichkeit ihres Zusammenbruchs ist das, was mir Sorgen macht. Vielleicht träumt irgendein charismatischer Politiker, der gerade dabei ist, sich in der chinesischen Nomenklatura hochzuarbeiten, davon, die unerträgliche Beleidigung Taiwans ein für alle Mal auszuwetzen. Vielleicht wird ein alternder Putin nach historischer Unsterblichkeit trachten und die Größe Russlands dadurch wiederherstellen, indem es die eine oder andere frühere Sowjetrepublik schluckt. Vielleicht reift irgendwo eine utopische Ideologie im Geiste eines gerissenen Fanatikers, der die Macht in einem größeren Land übernehmen und versuchen wird, diese Ideologie anderswo durchzusetzen.
Es ist natürlich, sich um materielle Dinge wie Waffen und Ressourcen Sorgen zu machen. Doch worüber wir uns wirklich Sorgen machen sollten, sind psychologische Dinge wie Ideologien und Normen. Wie es die Devise der UNESCO ausdrückt: »Da Kriege im Geist von Menschen anfangen, müssen die Verteidigungsstellungen des Friedens auch im Geist der Menschen errichtet werden.«
Vernor Vinge
Mathematiker; Informatiker; mit dem Hugo Award ausgezeichneter Romanautor von Ein Feuer auf der Tiefe
Es gibt vieles, was wir kennen und worum wir uns Sorgen machen sollten. Ein Teil davon sind sehr wahrscheinliche Ereignisse, die jedoch für sich genommen keine Existenzbedrohungen für die Zivilisation darstellen. Andere könnten leicht die Zivilisation und sogar das Leben auf der Erde zerstören – aber die Chancen dafür, dass solche Katastrophen in der nächsten Zukunft auftreten, scheinen verschwindend gering zu sein.
Es gibt eine bekannte Möglichkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sowohl in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich als auch in der Lage ist, unsere Zivilisation zu zerstören. Sie ist prosaisch und banal, etwas, das von vielen als Gefahr abgetan wird, mit der das 20. Jahrhundert konfrontiert war und die es endgültig zurückgewiesen hat: nämlich den Krieg zwischen großen Nationen, insbesondere, wenn er unter der Doktrin von MAD (Mutually Assured Destruction, wechselseitig garantierte Zerstörung) ausgetragen wird.
Argumente gegen die Plausibilität einer MAD-Kriegsführung sind heutzutage besonders glaubhaft: Ein MAD-Krieg nützt niemandem. Die USA und die UDSSR des 20. Jahrhunderts waren selbst in den tiefsten MAD-Jahren aufrichtig bemüht, ein Abgleiten in die MAD-Kriegsführung zu verhindern. Diese Aufrichtigkeit ist ein wesentlicher Grund dafür, warum die Menschheit das Jahrhundert ohne einen allgemeinen Atomkrieg durchlebte.
Leider ist das 20. Jahrhundert unser einziger Testfall, und die Bedrohung durch einen MAD-Krieg weist Eigenschaften auf, die das Überleben des 20. Jahrhunderts eher zu einer Sache des Glücks als der Weisheit machen.
MAD betrifft sowohl sehr lange Zeitskalen als auch sehr kurze. Langfristig gesehen wird die Bedrohung durch gesellschaftliche und geopolitische Probleme im Wesentlichen ebenso angetrieben wie bei unbeabsichtigten Kriegen der Vergangenheit. Kurzfristig ist MAD mit einer komplexen Automatisierung verbunden, die große Systeme steuert und schneller operiert als jede menschliche Reaktion in Echtzeit und mit viel weniger sorgfältiger Beurteilung.
Zerstörer (Vandalen, Miesmacher) haben mehr Einfluss als Macher (Erbauer, Schöpfer), obwohl die Macher den Zerstörern bei weitem zahlenmäßig überlegen sind. Das ist die Quelle einiger unserer größten Ängste angesichts der Technik – wenn Massenvernichtungswaffen billig genug sind, dass dann der relativ kleine Prozentsatz von Zerstörern ausreichen wird, um die Zivilisation zu zerstören. Wenn diese Möglichkeit beängstigend ist, dann sollte die MAD-Bedrohung schreckenerregend sein. Denn bei der MAD-Planung sind es Hunderttausende kreativer und erfinderischer Leute in den mächtigsten Gesellschaften – viele der besten Macher, die von den Reichtümern des Planeten angetrieben werden –, die daran arbeiten, ein wechselseitiges, nicht zu überlebendes Resultat zu schaffen! In den extremsten Fällen müssen die resultierenden Waffensysteme auf der kürzesten aller Zeitskalen operieren, wodurch die Bedrohung in den Bereich thermodynamischer Unvermeidlichkeit verschoben wird.
Für den Zeitraum (Jahrzehnte?), in dem wir und unsere Interessen ohne Schutz und immer noch beschränkt sind auf einen Raum, der kleiner ist als die Reichweite unserer Waffen, wird die Bedrohung durch einen MAD-Krieg den ersten Platz auf der Rangliste wahrscheinlicher Zerstörungen einnehmen.
Wir können eine Menge tun, um die Bedrohung durch den MAD-Wahnsinn zu entschärfen:
Eine Wiederbelebung voll ausgereifter MAD-Planung wird für die allgemeine Öffentlichkeit wahrscheinlich sichtbar sein. Wir sollten Argumenten widerstehen, die besagen, dass die MAD-Doktrin eine sichere Strategie im Hinblick auf Massenvernichtungswaffen sei.
Wir sollten die Dynamik des Beginns unbeabsichtigter Kriege in der Vergangenheit studieren, insbesondere die des Ersten Weltkrieges. Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen unserer Zeit und den ersten Jahren des letzten Jahrhunderts. Wir besitzen großen Optimismus, das Gefühl, dass unser Zeitalter anders ist. Und wie steht es mit unseren verschlungenen Allianzen? Gibt es kleine Akteure mit der Fähigkeit, Schwergewichte zum Handeln zu veranlassen? Welchen Einfluss hat die Möglichkeit von n-facher, wechselseitig garantierter Zerstörung auf diese Risiken?
Trotz all dem, worüber wir uns Sorgen machen müssen, gibt es ein überwältigend positives Gegengewicht: Milliarden guter, kluger Leute sowie die Datenbasen und Netzwerke, die ihnen Macht geben. Das ist eine intellektuelle Kraft, die alle Institutionen der Vergangenheit übertrumpft. Die Menschheit ist zusammen mit ihrer Automatisierung durchaus in der Lage, unzählige mögliche Katastrophen zu antizipieren und ihnen entgegenzuwirken. Wenn wir es vermeiden können, uns selbst in die Luft zu sprengen, werden wir Zeit haben, um Dinge zu schaffen, die so wunderbar sind, dass ihr positives Potenzial (beunruhigenderweise!) jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.
Martin Rees
Königlicher Astronom; früherer Präsident der Royal Society; Emeritus für Kosmologie und Astrophysik, University of Cambridge; Autor von From Here to Infinity: A Vision for the Future of Science
Diejenigen von uns, die das Glück haben, in der entwickelten Welt zu leben, beunruhigen sich zu sehr über unbedeutendere Risiken des Alltagslebens: unwahrscheinliche Flugzeugabstürze, Karzinogene in der Nahrung und so weiter. Aber wir sind mehr in Gefahr, als wir denken. Wir sollten uns weitaus mehr um Szenarien Sorgen machen, die glücklicherweise noch nicht eingetreten sind – die jedoch, wenn sie eintreten sollten, eine so globale Verwüstung verursachen könnten, dass selbst ein einziges Mal zu viel wäre.
Es wurde viel über mögliche ökologische Erschütterungen geschrieben, ausgelöst vom kollektiven Einfluss einer wachsenden und anspruchsvolleren Weltbevölkerung auf die Biosphäre, und über die gesellschaftlichen und politischen Spannungen, die von der Ressourcenknappheit oder dem Klimawandel herrühren. Noch beunruhigender sind aber die möglichen negativen Folgen leistungsfähiger neuer Technologien: Cyber-, Bio- und Nano-. Wir treten in ein Zeitalter ein, in dem ein paar wenige Personen aus Versehen oder mit Terrorabsichten den Zusammenbruch der Gesellschaft so urplötzlich auslösen könnten, dass mildernde Handlungen von Regierungen nichts mehr ausrichten würden.
Manche würden diese Sorgen als übertriebenes Klagelied abtun: Schließlich haben menschliche Gesellschaften Jahrtausende trotz Stürmen, Erdbeben und Seuchen überlebt. Aber diese von Menschen induzierten Bedrohungen sind anders: Sie sind erst kürzlich aufgetaucht, und daher sind wir ihnen bislang nur über einen begrenzten Zeitraum hinweg ausgesetzt und können nicht so zuversichtlich sein, dass wir sie lange überleben würden. Wir können auch nicht optimistisch auf die Fähigkeit von Regierungen setzen, erfolgreich zu handeln, wenn eine Katastrophe hereinbricht. Und natürlich haben wir keinerlei Gründe für die Zuversicht, dass wir das Schlimmste überleben können, was noch leistungsfähigere zukünftige Technologien anrichten könnten.
Das Zeitalter des »Anthropozäns«, in dem die wichtigsten globalen Bedrohungen von Menschen ausgehen und nicht von der Natur, begann mit der massenhaften Stationierung thermonuklearer Waffen. Während des gesamten Kalten Krieges gab es mehrere Anlässe, bei denen die Supermächte durch Verwirrung oder Fehlberechnungen in ein nukleares Armageddon hätten hineinstolpern können. Diejenigen, die voller Angst die Kubakrise durchlebt haben, hätten nicht nur Angst gehabt, sondern wären vor Entsetzen gelähmt gewesen, wenn sie gewusst hätten, wie nahe die Welt damals einer Katastrophe war. Erst später erfuhren wir, dass Präsident Kennedy die Gefahr eines Atomkrieges an einem gewissen Punkt als »irgendwo zwischen dreißig und fünfzig Prozent« einschätzte. Und erst als er schon lange pensioniert war, gab Robert MacNamara offen zu, dass »wir uns auf Haaresbreite einem Atomkrieg genähert hatten, ohne es zu merken. Es ist nicht unser Verdienst, dass wir der Gefahr entronnen sind – Chruschtschow und Kennedy hatten ebensoviel Glück wie Weisheit.«
Nun wird regelmäßig behauptet, dass die atomare Abschreckung funktioniert hat. In einem gewissen Sinne hat sie das auch. Aber das bedeutet nicht, dass sie eine kluge Politik war. Wenn man russisches Roulette mit ein oder zwei Kugeln in der Trommel spielt, ist zwar die Wahrscheinlichkeit größer, dass man überlebt, aber das, was auf dem Spiel steht, müsste überraschend groß – oder der Wert, den man dem eigenen Leben beimisst, extrem gering – sein, damit das als ein sinnvolles Glücksspiel erscheint.
In genau solch ein Glücksspiel wurden wir jedoch während des gesamten Kalten Krieges hineingezogen. Es wäre interessant zu wissen, was andere führende Politiker glaubten, wie hoch das Risiko war, dem sie uns ausgesetzt haben, und welche Chancen die meisten europäischen Bürger akzeptiert haben würden, wenn man sie gebeten hätte, ihre auf Informiertheit beruhende Zustimmung zu geben. Ich für meinen Teil hätte mich nicht entschieden, ein Risiko von eins zu drei – oder auch nicht eins zu sechs – für eine Katastrophe einzugehen, die Hunderte von Millionen getötet und den physischen Bestand all unserer Städte zertrümmert hätte, selbst wenn die Alternative eine sowjetische Invasion Westeuropas gewesen wäre. Außerdem hätten sich die verheerenden Folgen eines Atomkrieges natürlich weit über jene Länder hinaus ausgebreitet, die direkt bedroht waren.
Die Bedrohung einer globalen Vernichtung durch Zehntausende von Wasserstoffbomben ist zum Glück zeitweilig ausgesetzt – obwohl es jetzt mehr Gründe gibt, sich Sorgen zu machen, dass kleinere nukleare Arsenale auf regionaler Ebene oder gar von Terroristen benutzt werden könnten. Wenn wir jedoch die geopolitischen Verwerfungen des letzten Jahrhunderts bedenken – die beiden Weltkriege, der Aufstieg und Niedergang der Sowjetunion und so weiter –, können wir für einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahrhundert eine drastische globale Umordnung, die zu einer verfahrenen Situation zwischen neuen Supermächten führt, nicht ausschließen. Eine neue Generation könnte daher mit ihrem eigenen »Kuba« konfrontiert sein – und zwar mit einem solchen, das sich weniger gut oder glücklich handhaben lässt als die Kuba-Krise.
Um Atomwaffen werden wir uns immer Sorgen machen müssen. Aber ein neuer Auslöser für den Zusammenbruch von Gesellschaften werden die Umweltbelastungen sein, die eine Folge des Klimawandels sind. Viele hoffen immer noch, dass unsere Zivilisation ohne Trauma und Katastrophen zu einer Zukunft mit niedrigem Kohlendioxidgehalt übergehen kann. Meine pessimistische Einschätzung ist jedoch, dass die jährlichen globalen CO2-Emissionen in den nächsten zwanzig Jahren keine Kehrtwendung erfahren werden. Aber zu diesem Zeitpunkt werden wir wissen – vielleicht aufgrund von hoch entwickelten Computermodellen, aber auch aufgrund dessen, wie stark die globalen Temperaturen bis dorthin angestiegen sein werden –, ob die Rückkoppelung von Wasserdampf und Wolken die Wirkung von CO2 bei der Erzeugung eines Treibhauseffekts erheblich verstärkt oder nicht.
Wenn diese Rückkoppelungen tatsächlich wesentlich sind und die Welt sich demzufolge schnell zu erwärmen scheint, weil internationale Bemühungen zur Reduktion der Emissionen nicht erfolgreich waren, könnte es einen Druck in Richtung der Ausführung von »Panikmaßnahmen« geben. Diese dürften einen »Plan B« beinhalten – der zwar schicksalsergeben hinsichtlich der fortgesetzten Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wäre, aber ihre Auswirkungen durch irgendeine Form von Geo-Engineering bekämpfen würde.
Das wäre ein politischer Albtraum: Nicht alle Staaten würden den Thermostaten auf die gleiche Weise regulieren wollen, und die Naturwissenschaft wäre immer noch nicht zuverlässig genug, um vorherzusagen, was tatsächlich geschehen würde. Schlimmer noch, Techniken wie z.B. das Einbringen von Staub in die Stratosphäre oder die »Besamung« der Ozeane könnten so billig werden, dass Plutokraten sie finanzieren und umsetzen könnten. Das ist ein Rezept für gefährliche und möglicherweise unbeabsichtigte Folgen, die außer Kontrolle geraten, insbesondere wenn manche eine wärmere Arktis haben wollen, während andere eine weitere Erwärmung des Landes in niedrigeren Breitengraden vermeiden wollen.
Atomwaffen sind zwar die schlimmste Kehrseite der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts. Aber es gibt neue Befürchtungen, die aus den Folgen der sich schnell entwickelnden Technologien des 21. Jahrhunderts erwachsen. Unsere miteinander verschränkte Welt hängt von ausgeklügelten Netzwerken ab, von elektrischen Energieversorgungsnetzen, Luftverkehrssteuerung, dem internationalen Finanzwesen, Just-in-time-Lieferwesen und so weiter. Wenn diese nicht äußerst belastbar sind, könnten ihre offensichtlichen Vorteile durch katastrophale (wenn auch seltene) Pannen aufgewogen werden, die sich durch das ganze System fortsetzen würden.
Darüber hinaus würde sich eine Verseuchung durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Pannen weltweit über Computernetzwerke und das »digitale Lauffeuer« ausbreiten – und zwar buchstäblich mit Lichtgeschwindigkeit. Die Bedrohung liegt im Terror sowie in Fehlern. Probleme mit Cyberangriffen von Kriminellen oder feindlichen Nationen nehmen deutlich zu. Die synthetische Biologie bietet ebenfalls ein gewaltiges Potenzial für Medizin und Landwirtschaft – aber sie könnte auch dem Bioterror Vorschub leisten.
Es ist schwierig, eine Wasserstoffbombe im Verborgenen herzustellen, aber Millionen werden die Fähigkeit und die Ressourcen besitzen, diese »dual verwendbaren« Technologien zu missbrauchen. Freeman Dyson blickt einer Zeit entgegen, in der Kinder neue Organismen ebenso routinemäßig entwerfen und schaffen können, wie er in seiner Kindheit mit einem Chemiebaukasten spielte. Wenn das geschehen sollte, würde unsere Ökologie (und auch unsere Spezies) nicht mehr lange unversehrt überleben. Und sollten wir uns nicht auch über ein weiteres Sciencefiction-Szenario Sorgen machen – dass ein Netzwerk aus Computern ein eigenes Bewusstsein entwickeln und uns alle bedrohen könnte?
In einer Medienlandschaft, die mit sensationslüsternen Wissenschaftsstorys, Hollywood-Produktionen zum »Ende der Welt« und apokalyptischen Warnungen der Maya übersättigt ist, mag es schwierig sein, die breite Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es tatsächlich Dinge gibt, über die man sich Sorgen machen sollte und die genauso unerwartet auf den Plan treten könnten wie die Finanzkrise von 2008 und weit größere Auswirkungen haben könnten. Ich mache mir Sorgen darüber, dass bis zum Jahr 2050 verzweifelte Bemühungen, eine Vielzahl von Risiken mit geringer Wahrscheinlichkeit, aber katastrophalen Konsequenzen zu minimieren oder zu bewältigen, die politische Agenda beherrschen könnten.
Daniel C. Dennett
Philosoph, Universitätsprofessor, Kodirektor des Center for Cognitive Studies an der Tufts University; Autor von Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen
In den frühen 1980er Jahren machte ich mir Sorgen darüber, dass die Computerrevolution die Spaltung zwischen den (wohlhabenden, westlichen) Technokraten und jenen auf der Welt verstärken und vergrößern würde, die sich Computer und ähnliche Hightechgeräte nicht leisten könnten. Ich befürchtete ein besonders heimtückisches Aussortieren der Besitzenden und der Habenichtse, wobei die Reichen immer reicher werden und die Armen ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht durch ihren Mangel an Zugang zur neuen Informationstechnologie immer mehr beraubt werden würden. Ich begann ernstlich, Zeit und Mühe aufzuwenden, um deshalb Alarm zu schlagen, und versuchte, mir Programme auszudenken, die das verhindern oder abmildern könnten. Aber bevor es mir gelang, einen bedeutsamen Fortschritt zu erzielen, wurde dieses Problem durch die Schaffung des Internets zum Glück meinen Händen entzogen. Ich war zwar ein Arpanet-Nutzer, aber das half mir nicht dabei, das Kommende vorherzusehen.
Gewiss haben wir gesehen, dass viele reiche Technokraten noch reicher geworden sind, aber wir haben auch die am stärksten demokratisierende und gleichmachende Technologie-Ausbreitung erlebt, die je stattfand. Mobiltelefone und Laptops und nun auch Smartphones und Tablets legen die weltweite Konnektivität in die Hände von Milliarden und stellen einen Zusatz zu den billigen Transistorradios und Fernsehapparaten dar, die die Richtung wiesen. Unser Planet ist auf eine Weise für Informationen transparent geworden, die sich noch vor vierzig Jahren niemand vorgestellt hat.
Das ist wunderbar, jedenfalls in den meisten Hinsichten. Religiöse Institutionen, die sich in der Vergangenheit immer auf die relative Unwissenheit ihrer Herde verlassen konnten, müssen jetzt ihre Missionierungs- und Indoktrinationspolitik revidieren, um nicht ihren Untergang zu riskieren. Diktatoren sind mit der bitteren Wahl zwischen maximaler Unterdrückung – indem sie ihre Staaten in Gefängnisse verwandeln – oder der Duldung einer informierten und kontaktreichen Opposition konfrontiert. Wissen ist tatsächlich Macht, wie die Menschen auf der ganzen Welt zu merken beginnen.
Diese Nivellierung beschert uns jedoch eine neue Sorge. Wir sind von dieser Technologie so abhängig geworden, dass wir eine schockierende, neue Verletzlichkeit geschaffen haben. Wir brauchen uns wirklich keine Sorgen um einen armen Teenager zu machen, der in seinem Slum eine Atomwaffe herstellt; das würde Millionen Dollar kosten und nur schwer unauffällig zu machen sein, wenn man die exotischen Materialien in Betracht zieht, die dafür gebraucht werden. Aber ein solcher Teenager mit einem Laptop und einer Internetverbindung kann die elektronischen Schwachstellen der Welt jeden Tag stundenlang erforschen, und zwar so, dass er dabei fast nicht entdeckt werden kann, bei fast keinen Kosten und einem sehr geringen Risiko, ertappt und bestraft zu werden. Ja, das Internet hat ein brillantes Design, so dezentralisiert und redundant zu sein, dass es nahezu unverwundbar ist, aber so robust es auch ist, es ist nicht vollkommen.
Goliath ist zwar noch nicht außer Gefecht gesetzt, aber Tausende Davids lernen eifrig, was sie wissen müssen, um einen Trick zu erfinden, der das Spielfeld mit aller Macht einebnen wird. Sie haben vielleicht nicht viel Geld, aber wir werden auch keines mehr haben, wenn das Internet untergeht. Ich glaube, unsere Wahl ist einfach: Wir können warten, bis sie das, was wir haben, vernichten, was mit jedem Tag wahrscheinlicher wird, oder wir können anfangen darüber nachzudenken, wie wir das, was wir haben, mit ihnen teilen können.
In der Zwischenzeit wäre es klug, sich Gedanken darüber zu machen, wie wir die Panik unter Kontrolle halten können, wenn eine langfristige Störung großer Teile des Internets stattfinden sollte. Werden Krankenhäuser und Feuerwachen (und Supermärkte, Tankstellen und Apotheken) weiter funktionieren, und wie werden Menschen in der Lage sein, an Informationen zu kommen, denen sie vertrauen? Kreuzfahrtschiffe verpflichten ihre zahlenden Passagiere, am ersten Tag auf See an einer Rettungsübung teilzunehmen, und obwohl es sich nicht um einen beliebten Teil der Kreuzfahrt handelt, sind die Leute doch so klug, sich zu fügen. Panik kann ansteckend sein, und wenn das geschieht, treffen Menschen verrückte und bedauerliche Entscheidungen. Solange wir darauf bestehen, ein Leben im Hochgeschwindigkeitsmodus zu führen, sollten wir lernen, wie wir in diesen Modus ein- und aus ihm aussteigen können, ohne ein Chaos anzurichten.
Vielleicht sollten wir landesweite Rettungsübungen entwerfen und einrichten, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie es sich anfühlt, mit einem langfristigen Internetausfall umzugehen. Wenn ich versuche, mir vorzustellen, was die wichtigsten Probleme wären und wie man mit ihnen umgehen könnte, stelle ich fest, dass ich nur ein schwaches Zutrauen zu meinen Einschätzungen habe. Gibt es zu diesem Thema irgendwelche Experten?
George Dyson
Wissenschaftshistoriker; Autor von Turing’s Cathedral: The Origins of the Digital Universe
Früher oder später – absichtlich oder zufällig – werden wir mit einem katastrophalen Ausfall des Internets konfrontiert sein. Doch wir haben keinen Plan B in der Schublade, um ein rudimentäres Notkommunikationsnetzwerk mit geringer Bandbreite zu starten, wenn das System mit hoher Bandbreite, von dem wir abhängig geworden sind, versagt.
Im Falle einer größeren Netzwerkstörung werden die meisten von uns nicht wissen, was sie tun sollen, außer zu versuchen, das Internet um Rat zu fragen. Während das System sich zu erholen beginnt, könnte die daraus resultierende Überlastung diese Erholung stoppen.
Der Urahn des Internets war das Teilstrecken-Telegraphienetzwerk mit gelochtem Papierband. Dieses System mit geringer Bandbreite und hoher Latenz reichte aus, um wichtige Botschaften zu übermitteln, wie z.B. »Schicke Munition« oder »Ankomme New York 12. Dez. Liebe Grüße. Stop.«
Wir brauchen ein Teilstrecken-Nachrichtensystem mit geringer Bandbreite und hoher Latenz, das auf einem kurzfristig einrichtbaren Netzwerk aus Mobiltelefonen und Laptopcomputern im Notmodus laufen kann, wenn die Hauptnetzwerke den Dienst versagen. Wir sollten dieses System in Einsatzbereitschaft halten und es regelmäßig in Betrieb nehmen, zusammen mit einem Netzwerk aus Freiwilligen, die in Erster Hilfe für Netzwerke ausgebildet wurden, so wie wir Lebensretter und Babysitter in der Herz-Lungen-Reanimation ausbilden. Diese Noteinsatzkräfte würden wie die Amateurfunker, die die Kommunikation nach Naturkatastrophen wieder herstellen, wichtigen Mitteilungen den Vorrang geben, den Erholungsprozess einleiten und Anweisungen darüber weitergeben, was als Nächstes zu tun ist.
Die meisten Computer – von der Motorsteuerungseinheit Ihres Autos bis zu Ihrem Desktop – können in einem abgesicherten Modus neu gestartet werden, um Sie nach Hause zu bringen. Aber kein abgesicherter Modus für das Internet? Darüber sollten wir uns Sorgen machen.
Randolph Nesse
Professor für Psychiatrie und Psychologie an der University of Michigan; Koautor (mit George C. Williams) von Warum wir krank werden: Die Antworten der Evolutionsmedizin
Am Morgen des 31. August 1859 stieß die Sonne eine gewaltige Menge geladener Teilchen aus. Achtzehn Stunden später erreichten sie die Erde und erzeugten so helle Polarlichter, dass um ein Uhr morgens die Vögel sangen und die Menschen dachten, der Morgen dämmere. Elektrische Ströme, die in Telegraphendrähten induziert wurden, verhinderten die Übertragungen, und Funken, die von diesen Drähten ausgingen, entzündeten Papiere. Daten aus Eiskernen zufolge finden Sonneneruptionen mit einer solchen Intensität etwa alle 500 Jahre statt. Ein Bericht der National Academy of Sciences von 2008 kam zu dem Schluss, dass ein ähnliches Ereignis heute »beträchtliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Erschütterungen« zur Folge hätte. Stromausfälle würden monatelang andauern, und die GPS-Navigation, die Kommunikation mit Mobiltelefonen oder Flugreisen wären unmöglich.
Geomagnetische Stürme klingen nach einer ziemlich ernsthaften Bedrohung. Aber ich mache mir viel weniger Sorgen um sie als um die Auswirkungen vieler möglicher Ereignisse in den komplexen Systemen, von denen wir abhängig geworden sind. Viele Ereignisse, die einst leicht zu handhaben gewesen wären, werden jetzt katastrophale Folgen haben. Komplexe Systeme wie Märkte, das Transportwesen und das Internet scheinen zwar stabil zu sein, aber ihre Komplexität macht sie notwendig fragil. Da sie effizient sind, wachsen komplexe Systeme wie Unkraut und verdrängen langsame Märkte, Kleinbauern, langsame Kommunikationsmittel und lokale Informationsverarbeitungssysteme. Solange sie funktionieren, sind sie wunderbar, aber wenn sie versagen, werden wir uns die Frage stellen, warum wir die Gefahren unserer Abhängigkeit von ihnen nicht erkannt haben.
Es ist kein geomagnetischer Sturm nötig, um Lastwagen und Flugzeuge vom Transport der Güter abzuhalten, die das moderne Leben ermöglichen; ein Seuchen- oder bioterroristischer Angriff würde ausreichen. Noch vor einigen Jahrzehnten wurde die Nahrung in der Nähe der Bevölkerungszentren produziert. Heute verhindern weltweite Verteilungsnetzwerke Hungersnöte nahezu überall – und erhöhen die Wahrscheinlichkeit für das Verhungern der Massen, wenn sie plötzlich unterbrochen werden. Genaue GPS-Geräte stehen Zivilpersonen seit weniger als zwanzig Jahren zur Verfügung. Wenn sie ausfallen, werden Pendler zwar nur einige Unannehmlichkeiten haben, aber der Großteil des Luft- und Wassertransports wird zum Erliegen kommen. Das Internet wurde entworfen, um alle Arten von Angriffen zu überstehen, aber unsere unbekümmerte Abhängigkeit von ihm ist dennoch verblüffend. Wenn es ausfällt, werden Fabriken und Kraftwerke schließen, Flug- und Zugreisen kommen zum Stillstand, Krankenhäuser und Schulen werden lahmgelegt, und der Handel wird größtenteils eingestellt werden. Was wird geschehen, wenn man keine Lebensmittel kaufen kann? »Soziales Chaos« ist ein blasser Ausdruck für die wahrscheinlichen Szenarien.
62010