Cover

Thomas Schäfer

Wie der Tod dem Leben dient

Abschied und Sterben im Familien-Stellen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Thomas Schäfer

Thomas Schäfer, geb. 1960, arbeitet seit vielen Jahren als Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Psychotherapie und Familienaufstellungen. Alle seine Bücher sind bei MensSana erschienen.

Über dieses Buch

Hinter familiären Problemen und Konflikten verbirgt sich oft ein verdrängter, tabuisierter oder nicht verarbeiteter Todesfall, was den meisten Mneschen nicht bewusst ist.

Thomas Schäfer demonstriert eindrucksvoll, wie im Rahmen von Familienaufstellungen solche Fakten zutage treten. Die achtende und liebevolle Erinnerung an die Toten stärkt schließlich die Lebenskraft und auch sehr tief liegende Konflikte können damit dauerhaft gelöst werden.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2008 Knaur Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Lay

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: getty images / Grant Faint

ISBN 978-3-426-41855-0

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Endnoten

1

Dazu zählt beispielsweise die Suche nach Parallelversionen der Märchen aus anderen Kulturen, archetypischen (urbildhaften) Grundstrukturen und verzweigten mythologischen Bezügen. All dies verstellt meiner Erfahrung nach den Blick auf das Wesentliche. Dieses Vorgehen vermittelt dem Deuter zwar eine Sicherheit, doch letztlich handelt es sich nur um eine Scheingewissheit. Je mehr man sich bemüht, eine Deutung »festzuklopfen« und wissenschaftlich zu untermauern, desto hohler wird sie und desto unzufriedener wird man mit ihr. Das zumindest ist meine Erfahrung.

2

Zum Beispiel Thomas Schäfer: Mein allerliebstes Haselnüsschen, ich muss dich knacken. Mann und Frau im Märchen, Freiburg 1992.

3

Bert Hellinger bediente sich des Skriptbegriffs von Eric Bernes Transaktionsanalyse.

4

Aus diesem Blickwinkel wird die tiefenpsychologische Perspektive nach Freud und Jung den Märchen nicht ausreichend gerecht, weil sie sich überwiegend auf der intrapsychischen Ebene bewegt: Zum Beispiel werden die Begriffe »Animus«, »Anima« und der »Schatten« kaum auf schwere Ereignisse des Stammbaums bezogen.

5

Ich verwende die großen, schweren Holzfiguren, die meine Kollegin Helga Mack-Hamprecht entwickelt hat (»Strukties«).

6

Die hier beschriebene Dynamik wurde zum ersten Mal von Bert Hellinger aufgezeigt und dargestellt. Er rät dem Fettsüchtigen, wenn er Hunger hat, zu sagen: »Ich bleibe.« Siehe Bert Hellinger: Familien-Stellen mit Kranken. Dokumentation eines Kurses für Kranke, begleitende Psychotherapeuten und Ärzte, Heidelberg 1995, S. 306.

7

Aus Heinrich von Wlislocki (Hrsg.): Märchen und Sagen der transsilvanischen Zigeuner, Berlin 1886.

8

Aus Thomas Schäfer: Was den Körper krank macht. Wege zur Gesundheit durch systemische Aufstellungen, München 2006, S. 81.

9

Grincenko: Etnograficeski materialy sobrannje w Tschernigowskoi i sosiednich, Tschernigow 1895, Bd. I, S. 287; zitiert nach Günter Petschel: Freude in Leben und Tod, Dissertation, Göttingen 1967.

10

Wie wirkungsvoll dieses innere Sprechen mit gefährdeten Kindern sein kann, habe ich ausführlicher beschrieben in meinem Buch Wenn Liebe allein den Kindern nicht hilft. Heilende Wege in Bert Hellingers Psychotherapie, München 2006.

11

Aus Jacob und Wilhelm Grimm: Die Märchen der Brüder Grimm, München 1989. Der Text folgt der Version von 1857.

12

Aus Karl Friedrich Baltus (Hrsg.): Märchen aus Ostpreußen, Kattowitz 1907.

13

Umgearbeitet entnommen aus Thomas Schäfer: Wenn Liebe allein den Kindern nicht hilft, a.a.O., S. 132 f.

14

Aus Friedrich Kreutzwald: Estnische Märchen, Halle 1869.

15

Dieser Text ist in vielen von Hellingers Büchern enthalten, zum Beispiel in Die Mitte fühlt sich leicht an. Vorträge und Geschichten, erweiterte Auflage, München 1998, S. 130 f., oder auch in einem meiner Bücher: Was die Seele krank macht und was sie heilt, München 2003, S. 80 ff.

16

In anderen Varianten dieses Märchens fehlt oft der Hinweis auf die königliche Abstammung. Der »Dummling« ist ein gewöhnlicher Sohn, so beispielsweise im mecklenburgischen Märchen »Der Ritt auf den Glasberg«, in Barbara Stamer (Hrsg.): Märchen von Dornröschen und dem Rosenbey, Frankfurt 1991, S. 108ff.

17

Aus Jacob und Wilhelm Grimm: Die Märchen der Brüder Grimm, a.a.O.

18

Vgl. Bert Hellinger: Ordnung und Krankheit, Videokassette, Heidelberg 1994.

19

Aus August von Löwis of Menar (Hrsg.): Finnische und Estnische Märchen, Düsseldorf/Köln 1962.

20

Siehe auch die im Anhang (»Kontrollierte Trauer als gesellschaftliche Erscheinung«) zitierte statistische Untersuchung.

21

Fallbeispiele hierzu finden sich im Kapitel »Kinder und Partnerschaft« in Thomas Schäfer: Wie aus Leiden wieder Liebe wird. Mann und Frau aus Sicht des Familien-Stellens, München 2007.

22

Albrecht Mahr: »Die Offenheit des wissenden Feldes. Von personalen zu transpersonalen Erfahrungen in Aufstellungen«, in Gunthard Weber (Hrsg.): Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen. Systemische Lösungen im Einklang, Heidelberg 2001, S. 175.

23

Aus Jacob und Wilhelm Grimm: Die Märchen der Brüder Grimm, a.a.O.

24

Ausführlicher auf die Beziehung zwischen Mann und Frau und auch die »stellvertretende Krankheitsübernahme in der Partnerschaft« bin ich in meinem Buch Wie aus Leiden wieder Liebe wird, a.a.O., eingegangen.

25

Aus Thomas Schäfer: Wie aus Leiden wieder Liebe wird, a.a.O., S. 232 ff.

26

Aus Ingrid Dreeken und Walter Schneider (Hrsg.): Die schönsten Sagen der Neuen Welt, München 1972.

27

Aus Thomas Schäfer: Wie aus Leiden wieder Liebe wird, a.a.O., S. 92 ff.

28

Aus M. Kosová (Hrsg.): Afrikanische Märchen, Hanau 1970.

29

Siehe auch den Anhang »Über das Trauern und den Umgang mit dem Tod in unserer Kultur«.

30

Vgl. das Kapitel »Spiritualität und Religion« in Thomas Schäfer: Was die Seele krank macht und was sie heilt. Die psychotherapeutische Arbeit Bert Hellingers, München 2003, S. 211222.

31

Bert Hellinger: Touching Love. Bert Hellinger at Work with Family Systems. Documentation of a Three-Day-Course for Psychotherapists and their Clients, Heidelberg 1997, S. 31.

32

Bert Hellinger: Wo Demut heilt und Ohnmacht Frieden stiftet, Heidelberg 1989, S. 206.

33

Aus Christian Velder (Hrsg.): Märchen aus Thailand, Düsseldorf/Köln 1968

34

Simone de Beauvoir: Der Lauf der Dinge, Reinbek 1970, S. 122.

35

Aus Dietrich Steinwede: Wie das Leben durch die Welt wanderte. Märchen der Menschen von Tod und Leben, Gütersloh 1992.

36

Aus Jacob und Wilhelm Grimm: Die Märchen der Brüder Grimm, a.a.O.

37

Ebenda.

38

Alexander Solschenizyn: Krebsstation, Neuwied 1968, zitiert nach Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München 1982, S. 27.

39

Überarbeitet wiedergegeben nach Thomas Schäfer: Wie aus Leiden wieder Liebe wird, a.a.O., S. 82 ff.

40

Brandon Bays: The Journey. Der Highway zur Seele, München 2004, S. 71.

41

Eugen Drewermann: Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet, München 1992, S. 314.

42

Vgl. Bert Hellinger: Wo Demut heilt und Ohnmacht Frieden stiftet, a.a.O., S. 198 ff.

43

Philippe Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S. 86.

44

Südkurier, 3. November 2007.

45

Aus Thomas Schäfer: Was den Körper krank macht, a.a.O., S. 131 ff.

46

Mannheimer Morgen, 29./30. August 1998.

47

Vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes, a.a.O., S. 716.

48

»Mortality of bereavement«, in British Medical Journal, 4/1967, S. 1316.

49

Südkurier, 4. Dezember 2007.

50

Weinheimer Nachrichten, 31. Juli 1998.

51

Südkurier, 9. Oktober 2007.

52

Im letzten Kapitel meines Buches Was den Körper krank macht. Wege zur Gesundheit durch systemische Aufstellungen, München 2006, finden sich Beispiele für Aufstellungen mit Tieren und wie sie mit den Menschen seelisch verbunden sind. Es ist jedenfalls zynisch, den Menschen über das Tier zu stellen und es zu missbrauchen.

53

Thomas Schäfer: Visionen. Leben, Werk und Musik der Hildegard von Bingen, München 1996, S. 116 ff.

Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen,

so wie ein Kind im Weitergehen

von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.

 

Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst sie leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.

Rainer Maria Rilke

Dank

Herzlichen Dank allen Klienten, die mir ihre Geschichte anvertrauten und damit zum Gelingen dieses Buches entscheidend beigetragen haben,

meiner verstorbenen Frau Elisabeth, die ebenfalls psychotherapeutisch tätig war, für die damalige kritische Durchsicht des Erstmanuskripts im Jahr 1998,

meiner Frau Christine für ihre Rückmeldungen zum gänzlich neu überarbeiteten und erweiterten Manuskript im Jahr 2008,

Claus Caspers für seinen kollegialen Rat,

Bert Hellinger, der mich 1998 ermutigte, das Thema »Leben und Tod« in Buchform aufzugreifen (Der Mann, der tausend Jahre alt werden wollte),

Albrecht Mahr für seine wichtigen Anmerkungen zum Märchen »Die Ehegatten«.

Vorwort

»Ohne den Tod wäre das Leben nicht gut!«, schließt ein afrikanisches Märchen nach langem Grübeln und Leiden des Helden. Tod und Leben gehören zusammen; und wenn man richtig mit dem Tod umgeht, dient er sogar dem Leben. Wer Furcht vor dem Sterben hat, der hat meist auch Furcht vor dem Leben. Wer dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen in ganzer Seele zustimmt, der stimmt auch dem Tod in Frieden zu. Dies berichten nicht nur die Märchen, es wird auch durch die Erfahrung bestätigt.

Dennoch hat der Mensch schon immer davon geträumt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Mit viel Humor, aber auch Ernst berichten die Märchen von Helden, die den Tod – zumindest für eine bestimmte Zeit – überlistet haben. Diese Märchen beschäftigen sich mit der Frage, wie das menschliche Leben aussehen würde, wenn die Zeit stehen bliebe und man ewig leben könnte. Wäre das wirklich erstrebenswert?

Auch in Familienaufstellungen geht es oft um Leben und Tod, beispielsweise bei Organtransplantationen oder wenn jemand an Krebs erkrankt ist. Deswegen finden sich in diesem Buch viele Geschichten schwerer menschlicher Schicksale, die oft auf merkwürdige Weise in vielem den vorangestellten Märchen ähneln. Die Märchen helfen uns, dem Tabuthema Tod näherzukommen und es besser zu erfassen.

Wenn man Märchen über Leben und Tod liest, erfährt man oft Ungewohntes. Der Tod begegnet den Menschen als konkrete Person, in den Märchen dieses Buchs zum Beispiel als Liebhaber, als Bettler, als Kranker, als Bruder, als ein Greis mit feurigen Augen oder als Taufpate. Zu oft vergessen wir, dass der Tod nichts Abstraktes, sondern dass er persönlich ist. Er begleitet unser Leben wie eine Person. Das gilt, selbst wenn wir von dieser Begleitung zumeist nichts spüren. Auch in Aufstellungen stelle ich den Tod zuweilen als Person auf. Die Art und Weise, wie diese Person spricht, kann durchaus der Figur des Todes im Märchen ähneln!

Im Märchen kommt der Tod als etwas Gewöhnliches daher. Seine »Verkleidungen« sind für die Märchengestalten, die ihn treffen, stets Gewänder, die sie aus ihrem Alltag kennen. Sie sprechen mit ihm »von Mensch zu Mensch«. Dass der Tod im Märchen für den Menschen etwas völlig Normales ist, hat mit der Zeit zu tun, in der die Geschichten entstanden sind. Der Mensch des Mittelalters und der einfachen bäuerlichen Kultur fühlte sich vom Tod als etwas Selbstverständlichem begleitet und ging dementsprechend ungezwungen mit dem Thema um.

Von einer solchen Haltung kann heute keine Rede mehr sein. Historiker und Soziologen sprechen nicht nur von der Tabuisierung des Todes, sondern sogar vom Tod als der eigentlichen »Pornographie« des zwanzigsten Jahrhunderts (Geoffrey Gorer). In keiner Weise hat er noch etwas von dem Natürlichen an sich, von dem die Märchen erzählen. Unsere Gesellschaft hat das Trauern verlernt.

Im Anhang dieses Buches – »Über das Trauern und den Umgang mit dem Tod in unserer Kultur« – wird näher auf praktische Fragen des Trauerns eingegangen. Hier findet man auch Hinweise darauf, wie es einzuschätzen ist, wenn man Sterbenden ein Versprechen macht, und wie man Sterbenden hilft, das Leben in Frieden loszulassen.

Vor dem Hintergrund der Familienaufstellungen wirken bestimmte Märchen wie verdichtete Familiengeschichten, die man nicht selten sogar wörtlich nehmen kann. Wenn zum Beispiel in einem der folgenden Märchen der »Bruder dem Bruder ins Grab folgt«, sollte man die Tragweite eines Geschwistertodes nicht mit Symboldeutungen wieder zudecken. Beispiele aus meiner Praxis und aus Familienaufstellungen zeigen vielmehr, wie die schlichte Märchensprache den Nagel oft auf den Kopf trifft.

Weitere Kapitel gehen ein auf den Tod in der Mann-Frau-Beziehung, in der Kind-Eltern-Beziehung und auch auf den Umgang mit dem Tod, wenn wir ihm wie durch ein Wunder einmal entkommen sind.

Für Leser, welche die Familienaufstellungen noch nicht kennen, habe ich das Einführungskapitel geschrieben.

 

Der Vorläufer dieses Buchs – Der Mann, der tausend Jahre alt werden wollte – erschien 1999 zum ersten Mal. Er wurde 2008 für diese Ausgabe inhaltlich und formal vollständig überarbeitet und erhielt deshalb auch einen neuen Titel. Gleich geblieben sind aber vor allem die Märchen als Ausgangstexte. Es wurden jedoch viele Fallgeschichten und auch einzelne Unterkapitel, wie zum Beispiel jenes über die Sterbehilfe, neu aufgenommen.

Nach Erscheinen der Erstausgabe dieses Buches wurde ich oft von Lesern gefragt, wie »real« denn die Toten in Aufstellungen sind: ob das alles nur »psychologisch« zu verstehen sei oder ob die Aufstellungen auch auf die Toten zurückwirkten? Letztlich muss sich jeder eine eigene Meinung dazu bilden. Nach fünfzehn Jahren Praxis des Familien-Stellens kann ich jedoch sehr gut nachvollziehen, was Martha mir nach einer Aufstellung, in der ihr verstorbener Onkel eine zentrale Rolle spielte, in einem Brief schrieb. Ich bin davon überzeugt, dass die Aufstellungsarbeit auch auf die Seelenwelt der Verstorbenen zurückwirkt.

Martha hat eine elfjährige Tochter, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. Die Mutter kam zur Familienaufstellung in eine Gruppe, weil sie etwas für ihr Kind tun wollte. Bei der Frage, was denn Besonderes in der Familie passiert sei, erzählte sie von einem Bruder des Vaters, der nach der Geburt an Schwäche gestorben war. Da die Großmutter schon mehrere Söhne hatte, sehnte sie sich nach einer Tochter. Sie war sichtlich froh, als der Junge so schnell nach der Geburt starb … Die Aufstellung zeigte, dass die Großmutter dabei irgendwie nachgeholfen haben musste. Vermutlich ließ sie ihn verhungern oder hygienisch verwahrlosen. Traurige Tatsache ist jedenfalls, dass sie nach der Geburt ausgerufen hatte: »Nehmt dieses Kind von mir weg und schmeißt es auf den nächsten Misthaufen!«

In der Aufstellung flüchtete die Großmutter vor den anderen Familienmitgliedern, insbesondere vor ihrem toten Sohn. Sie verging vor Scham und Schuld. Der Onkel aber wurde von allen liebevoll aufgenommen. Marthas Tochter sagte spontan: »Ich kenne ihn. Er war immer an meiner Seite!« Das Kind fühlte stets mit dem Schicksal seines Onkels. In Wirklichkeit hatte Martha ihrer Tochter allerdings nie etwas von der Existenz des Onkels berichtet.

In einem Brief einige Tage nach der Aufstellung schrieb mir Martha: »Als ich später an meinen eigenen Platz in die Aufstellung kam, musste ich weinend lange meinen Onkel umarmen. Ich hätte das noch lange tun können, aber der Onkel sagte, ich sollte ins Leben zurückgehen. So habe ich ihn dann ganz bewusst in Liebe losgelassen, um ins Leben zurückzukehren. Als die Aufstellung beendet war und ich wieder auf meinem Stuhl saß, konnte ich spüren, dass er immer noch hinter mir stand. Er strich mir liebevoll über die Arme. Vermutlich erlebt man so etwas normalerweise nach Aufstellungen nicht, ich selber habe so etwas auch noch nie erlebt, und für Jenseitiges habe ich mich nie interessiert! Aber für mich war das alles real und auch völlig natürlich. In keiner Sekunde war ich verängstigt. Ich denke, Sie sollten wissen, dass man ausnahmsweise einmal solche Wahrnehmungen haben kann.

Ich habe ganz deutlich gespürt, wie mein Onkel mich fühlen lassen wollte, dass er sich über die gefundene Lösung freute – für sich und für mich. Und mich freute es natürlich auch! Beim Abschlussgespräch der Gruppe fragte dann jemand, wie das denn möglich sei, dass die Stellvertreter so stark wahrnehmen können, was mit den Familienmitgliedern geschehen ist und wie sie sich fühlen. Eigentlich hätte ich mich gern gemeldet und gesagt, dass die Toten bei den Aufstellungen anwesend sein können und mitfühlen. Aber da hätten mich vielleicht einige seltsam angeschaut. Ich habe mich nicht getraut … Nach der Aufstellung habe ich nun das Gefühl, unendlich befreit zu sein. Das Leben kann jetzt richtig losgehen, und ich bin zuversichtlich, dass es auch mit meiner Tochter gut weitergeht.«

Wie Märchen unsere Sicht über den Tod vertiefen

Wenn wir in unserer Begegnung mit dem Tod die Weisheit der Märchen mit einbeziehen, erweitert sich unser Blickwinkel. Wir können noch tiefer in die Welt des Sterbens und des Todes eindringen. In früheren Zeiten, aus denen die Märchen stammen, ging man wie gesagt wesentlich unverkrampfter mit dem Thema um. Deswegen sollen uns die Märchen in diesem Buch immer wieder an die Hand nehmen, um uns verschiedene innere Haltungen dem Tod gegenüber bewusst zu machen.

An dieser Stelle wollen wir nicht der Versuchung erliegen, Märchen psychologisch zu deuten, sondern wir wollen uns ihnen unmittelbar aussetzen und prüfen, was sie uns mitzuteilen haben. Damit soll die Arbeit der tiefenpsychologischen Märchendeutung nicht in Frage gestellt werden: Autoren wie Bruno Bettelheim, Eugen Drewermann, Marie-Louise von Franz und Verena Kast haben sich viele Verdienste um diese Methode [1] erworben. Auch ich selbst habe mich in früheren Veröffentlichungen tiefenpsychologisch (nach C. G. Jung) mit Märchen auseinandergesetzt.[2]

Eine Alternative zum Analysieren, Deuten und Interpretieren ist jedoch ein unmittelbares Sich-dem-Text-Aussetzen. Die Vorgangsweise ist ähnlich wie beim Familien-Stellen: Der Therapeut setzt sich vorurteilsfrei dem aus, was sich zeigt, und zieht sich von allen Vorstellungen und Gedanken zurück, die er über eine Sache oder eine Person hat. Man »vergisst« alles, was man darüber weiß. Aus dieser leeren Mitte, wie es beispielsweise im Zen-Buddhismus beschrieben wird, kann dann plötzlich etwas aufsteigen: ein Wort, ein Bild oder eine Einsicht. Dies geschieht unmittelbar.

Das, was sich dann zeigt, wird zugleich eine Handlungsanweisung, der sich der Therapeut überlässt, ohne dass er sie unbedingt immer versteht. Wohin sie führt, ist oft erst am Ende einzuschätzen. Dazu gehört, dass man das in psychotherapeutischen Methoden verbreitete Sicherheitsdenken loslässt. Sicherheit im Ablauf und Anspruch auf Wiederholbarkeit ist typisch für die Naturwissenschaft, nicht jedoch für eine seelisch verstandene Psychotherapie. Wer sich gesammelt im Familien-Stellen dem Prozess öffnet, kann auch als Beobachter an gefundenen Lösungen teilhaben und für sich selbst etwas daraus »nehmen«.

Wenn ich mich einem Märchen unmittelbar aussetze, kann ich innerlich betroffen sein oder etwas Bestimmtes spüren, was sich vielleicht zunächst noch nicht klar ausdrücken lässt. Bei diesem neuen Umgang mit Märchen war ich erstaunt, wie buchstäblich sich manche von ihnen verstehen lassen und wie klar sie die Lebensgeschichte von bestimmten Klienten darstellen können. In einem der Märchen dieses Bandes sagt zum Beispiel ein junger Mann zu seinem verstorbenen Bruder: »Lass mich, Bruder, wieder zu dir, denn auf dieser Welt ist (für mich) kein Platz mehr.« Inhaltlich Ähnliches kann man bei Familienaufstellungen hören, wenn jemand sein Geschwister durch den Tod verloren hat. Für mich jedenfalls bedarf es hier keiner tiefenpsychologischen Deutung.

Mancher Leser wird von der Kürze meiner Darstellungen überrascht sein. Meiner Ansicht nach sprechen die hier ausgesuchten Märchen in weiten Teilen für sich selbst, und so gehe ich mit den Fallgeschichten nur auf die zentralen Punkte ein. Wesentliche Einsichten bedürfen meist nur sparsamer Worte.

 

Beim Familien-Stellen hat sich gezeigt, dass Märchen die Lebensskripte[3] von Menschen aufzeigen können. Man kann beispielsweise jemanden nach seinem wichtigen Märchen aus der Kindheit fragen. Es mag ein geliebtes oder auch ein verhasstes sein. Nach einiger Erfahrung mit dieser Arbeit kann man herausfinden, nach welchen Gesetzmäßigkeiten es im Familiensystem zur Verbindung mit früheren Schicksalen und Ereignissen kommt. Die Praxis zeigt, dass weit mehr als die Hälfte aller Probleme, mit denen Menschen in die Psychotherapie kommen, nicht entwicklungspsychologisch, sondern systemisch bedingt sind. Viele Probleme gehen somit nicht zurück auf Erlebnisse aus der Kindheit, sondern auf die Wiederholung von Schicksalen der Familienangehörigen.[4]

Hier nun einige Beispiele für Skriptgeschichten: Im Märchen »Der Wolf und die sieben Geißlein« sagt die Mutter zu den Kindern: »Hütet euch vor dem bösen Wolf.« Der Wolf jedoch ist in der Praxis der ausgeschlossene Papa. Die Mutter sammelt die Kinder um sich und verbietet ihnen den Umgang mit dem Vater. Dem Vater bleibt nichts weiter übrig, als sich zu verstellen beziehungsweise »Kreide zu fressen« und sich zu verkleiden. Für den so erzwungenen Zutritt zu den Kindern muss er allerdings büßen.

Im Märchen vom »Rotkäppchen« geht es um die Verführung durch den Großvater mütterlicherseits. In der Wirklichkeit kann es sich auch um einen anderen Verwandten handeln. Während »Der fliegende Robert« und »Sterntaler« häufig die Skriptgeschichten von Magersüchtigen sind, findet man »Dornröschen« oft bei Neurodermitispatienten: Die vom König nicht eingeladene Fee ist eine von ihm nicht gewürdigte frühere Frau, die vom Kind vertreten wird.

Das »Rumpelstilzchen« ist die Geschichte über ein weggegebenes Kind: Hier wird die Erfahrung geschildert, keine Mutter zu haben und vom Vater fortgegeben worden zu sein. In der nächsten Generation gibt dann oft die Tochter ihren Sohn ab. Wenn jemand dieses Skript nennt, kann man ihn fragen, ob er oder ein anderes Kind in der Familie weggegeben worden ist. Nicht selten kommt dann heraus, dass er sich fühlt wie dieses verlassene Kind.

Darüber hinaus geht es beim »Rumpelstilzchen« zuweilen um Abtreibungen, Fehl-, Totgeburten und besonders um missgebildete Kinder im Mutterleib. In mehreren Fällen habe ich auch feststellen können, dass noch tiefer liegende Tabus in Frage kommen. In der Familie eines Mannes, dessen Märchen das »Rumpelstilzchen« war, war das »Ach, wie gut, dass niemand weiß …« zum geflügelten Wort geworden. Sein Vater war während des Zweiten Weltkriegs für die Nationalsozialisten Leiter einer Fabrik für Waffen und andere Rüstungsgüter gewesen. Des Öfteren wollte die Mutter Näheres über die Zustände dort und die Art der Arbeit erfahren. Bei diesen Gelegenheiten weigerte sich der Vater stets, Auskunft zu geben. Er sagte ihr immer: »Gut, dass du das nicht weißt. Wenn du wüsstest, was dort geschieht, könntest du vielleicht ins KZ kommen.« In der Familie einer anderen Frau, deren Vater im Dritten Reich beim Geheimdienst arbeitete, lag der Fall ähnlich.

Ausführlicher auf die Skriptbezüge zahlreicher bekannter Volksmärchen bin ich in meinem Buch Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht eingegangen. Bei den in diesem Band vorgestellten Märchen handelt es sich dagegen um weniger bekannte Märchen zum Thema »Leben und Tod«. Ich habe sie vor dem Hintergrund meiner praktischen Arbeit mit Familienaufstellungen einfach auf mich wirken lassen und sie in Beziehung gesetzt zu den Schicksalen jener Menschen, die als Ratsuchende zu mir kamen. Alle hier erzählten Geschichten der Klienten haben das Leben, den Tod beziehungsweise das Sterben und Abschiednehmen im Mittelpunkt.

Einführung in das Familien-Stellen

Einem Buch wie diesem müsste eigentlich ein umfangreiches Kapitel über die systemische Aufstellungsarbeit vorangestellt werden. Angesichts der weiten Verbreitung dieser ursprünglich von Bert Hellinger entwickelten Methode kann hier aber auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden. Als einführende Lektüre sei auf mein Buch Was die Seele krank macht und was sie heilt verwiesen. An dieser Stelle sollen nur die wesentlichen Aspekte zur Vorgehensweise aufgezeigt werden.

Zwar lassen sich Aufstellungen auch mit Hilfe von Papierscheiben und Holzfiguren[5] in der Einzeltherapie durchführen, doch die wesentlich kraftvollere Möglichkeit ist das Aufstellen in der Gemeinschaft.

Nachdem der Ratsuchende vor dem therapeutischen Begleiter und der Gruppe kurz sein Anliegen geschildert hat, entscheidet der Therapeut, auf welche Weise die Aufstellung durchgeführt werden kann. Nicht immer wird die ganze Familie aufgestellt. Falls einzelne ihrer Mitglieder in Frage kommen, wählt der Betreffende sowohl für seine Verwandten als auch für sich selbst Stellvertreter aus der Gruppe aus und stellt sie nach seinem inneren Bild auf.

Anschließend setzt er sich. Immer wieder zeigt sich dann, dass völlig Fremde genau darstellen können, wie sich das jeweilige Familienmitglied in der Tiefe fühlt. Was häufig sichtbar wird, ist die bislang verborgene seelische Dynamik hinter einer Krankheit, einem Paarproblem, einer beruflichen Krise oder einer psychischen Störung.

Nachdem der Seminarleiter durch verschiedene Schritte eine Lösung gefunden hat, kann der Ratsuchende sich meist selbst an seine Position stellen. Am Schluss ist es für ihn zuweilen notwendig, bestimmten Personen noch etwas Wichtiges mitzuteilen.

Sofern es nicht ausdrücklich anders gesagt wird, ist in den Aufstellungsbeschreibungen mit Bezeichnungen wie »Partner«, »Ehefrau« oder dem Namen des Aufstellenden immer der betreffende Stellvertreter gemeint. Wenn ein Ratsuchender selbst in die Aufstellung tritt und damit seinen eigenen Platz einnimmt, wird besonders darauf hingewiesen.

 

Das Familien-Stellen hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt zu den »Bewegungen der Seele«. Wer innerlich gesammelt in Kontakt mit der Person geht, die er darstellt, kommt in eine sehr langsame, aber dennoch intensive Bewegung. Wenn der Therapeut diesen Bewegungen der Stellvertreter Raum gibt, kann er zeitweise auf Interventionen verzichten, auch auf sprachliche. Dennoch muss der Therapeut gesammelt bleiben, um an kritischen Punkten der Aufstellung eingreifen zu können.

Aus den Bewegungen der Stellvertreter ergeben sich Lösungen, die oft überraschend und für niemanden vorhersehbar sind. Auch in Aufstellungen, die in diesem Buch dargestellt sind, überließen sich die Stellvertreter stumm gänzlich ihren von innen kommenden Bewegungen.

In allerjüngster Zeit wurden von Bert Hellinger die »Bewegungen des Geistes« entwickelt, die jedoch in meiner Arbeit keinerlei Anwendung finden und deswegen hier auch nicht dargestellt werden.