Luise Rinser
Fließendes Licht
Ein Lesebuch
FISCHER Digital
Herausgegeben von Bogdan Snela und Ute Zydek
Luise Rinser, 1911 in Pitzling in Oberbayern geboren, war eine der meistgelesenen und bedeutendsten deutschen Autorinnen nicht nur der Nachkriegszeit. Ihr erstes Buch, ›Die gläsernen Ringe‹, erschien 1941 bei S. Fischer. 1946 folgte ›Gefängnistagebuch‹, 1948 die Erzählung ›Jan Lobel aus Warschau‹. Danach die beiden Nina-Romane ›Mitte des Lebens‹ und ›Abenteuer der Tugend‹. Waches und aktives Interesse an menschlichen Schicksalen wie an politischen Ereignissen prägen vor allem ihre Tagebuchaufzeichnungen. 1981 erschien der erste Band der Autobiographie, ›Den Wolf umarmen‹. Spätere Romane: ›Der schwarze Esel‹ (1974), ›Mirjam‹ (1983), ›Silberschuld‹ (1987) und ›Abaelards Liebe‹ (1991). Der zweite Band der Autobiographie, ›Saturn auf der Sonne‹, erschien 1994. Luise Rinser erhielt zahlreiche Preise. Sie ist 2002 in München gestorben.
»Dieses Buch ist eine Sammlung von Stellen zu spirituellen Erfahrungen aus meinen Arbeiten. Was in diesem Buch steht, scheint mir die Essenz dessen, was ich in meiner gesamten Arbeit und mit meinem Leben sagen will.«
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561224-8
Statt eines Vorworts
Dieses Buch ist eine Sammlung von Stellen zu spirituellen Erfahrungen aus meinen Arbeiten. Als ich sie las, war ich erstaunt über das, was ich geschrieben habe, manches schon sehr früh, vor Jahren, einiges vor vielen Jahren. Aber ich kann mich im Gesagten wiedererkennen, wenngleich ich heute vieles anders sagen, anders interpretieren würde.
Meine Zwischenbemerkungen jeweils am Anfang der neun Kapitel dieser Sammlung sind das Ergebnis eines langen intensiven Zwiegesprächs mit Bogdan Snela. Da es sich um ein Gespräch handelt, gibt es natürlich stilistische Brüche, gelegentliche Wiederholungen, Unebenheiten, – man möge das in Kauf nehmen.
Was in diesem Buch steht, scheint mir die Essenz dessen, was ich in meiner gesamten Arbeit und mit meinem Leben sagen will.
Ich kann es am besten ausdrücken mit dem Bericht von einer musikalischen Erfahrung.
Der koreanisch-deutsche Komponist Isang Yun schrieb vor kurzem ein Orchesterstück mit dem Titel »Distanzen«. Ich hörte und sah die Uraufführung in der Berliner Philharmonie. Ich sage, ich sah die Aufführung, weil das Visuelle Teil des Hörens und sichtbare Offenbarung des Sinnes war.
In der Saalmitte saßen drei Streicher: Baß, Cello, Bratsche. Zwei Geiger und die Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott) waren auf die Ränge verteilt. Auf dem obersten Rang saß der Solo-Hornist.
Baß, Cello und Bratsche beginnen mit einem atonalen aggressiven Furioso, das den Hörer unangenehm aufstört. Die Instrumente liegen offenkundig im heftigen Kampf. Die Bläser versuchen sie zu besänftigen. Für kurze Zeit hören die Streiter auf sie, fallen ihnen aber bald wieder brutal ins Wort. Wieder versuchen die Bläser und Geiger »andere Töne, nicht diese« ins Spiel zu bringen. Doch das kämpferische Streichtrio will nicht hören. Die Töne aus einer andern Klang- und Geisteswelt sind ihnen fremd und provokativ. Dazwischen, von Zeit zu Zeit, hört man vom obersten Rang her den ruhigen starken Ton des Horns. Ein hohes reines C. Selbst dieser Ton wird nicht gehört. Lange nicht. Das Trio beharrt auf seiner Disharmonie. Aber die Bläser und Geiger der zweiten Dimension lassen nicht nach, zu mahnen und zu sänftigen. Nach und nach gewinnen sie an Kraft und bringen Beruhigung. Zuletzt bleibt der hohe reine starke Ton des Horns.
Distanzen, Dimensionen, drei Ebenen: Die unterste, auf der wir leben (noch immer leben), die des Streits, des Hasses, der Kriege, der unheilvollsten Disharmonie; die zweite, auf der jene leben, die uns retten wollen, die Weisen, die Propheten, die Boddhisatvas, die Heiligen; die dritte schließlich, jene des höchsten Gesetzgebers, des Einen, der alles überdauert und uns zum ewigen Frieden führt. Seine Stimme ist schön. Schließlich dominiert das Harmonisch-Schöne. Die Kontraste versöhnen sich; die Distanzen sind überbrückt.
Ich spreche von einem Musik-Stück, und ich spreche von der kosmischen Ordnung, und ich spreche von meiner Hoffnung. Entgegen meiner politischen Erfahrung und entgegen meinem nüchternen Verstand glaube ich an die Gegenwart der höchsten ordnenden göttlichen Instanz. Sie bietet uns Rettung an. Sie spricht durch die vielen Heiligen aller Religionen, die prophetischen Mahner, die stillen Beter, die mitten unter uns leben. Möchten wir sie doch hören. Wir leben in höchster Gefahr, jedoch: »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« (Hölderlin)
Rom/München, 22. März 1993
Luise Rinser
Bekehrensmomente im eigentlichen Sinn gibt es in meinem Leben nicht, weil ich nie von Gott getrennt war, ich war nie Atheistin. Der Zweifel an der Existenz dessen, was man Gott nennt, hatte nie einen Platz in meinem Leben.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß ich eine Oberbayerin bin, daß ich mitten im oberbayerischen Katholizismus aufgewachsen bin: Die Mutter war nie eine kirchenfromme Christin, aber der Vater, Lehrer und Organist, war ein tief frommer Mann. Er hat seine ganze Frömmigkeit in die Musik, in sein Orgelspiel gelegt. Ich sei ein unglaublich frommes Kind gewesen, ohne daß ich dazu eigens erzogen worden bin. Ich sei, ein Jahr alt, vor jedem Feldkreuz stehengeblieben, und habe auf meine Kinder-Art gebetet. Vielleicht ist wichtig, daß meine Tante, meine Taufpatin, beim ersten Geburtstag ein Bild, einen Gobelin über meinem Bett aufgehängt hat: Da ist ein schmaler Steg, auf dem ein Mädchen völlig unbekümmert mit einem Blumenkörbchen über eine Schlucht geht und hinter dem Mädchen ist ein riesiger Engel. Den Gobelin hatte ich lange Zeit verloren geglaubt, aber er hat sich plötzlich wiedergefunden.
Das nehme ich als Bild für mein Leben, bewußt auf die Gefahr hin, daß es aus heutiger Sicht kitschig erscheinen mag. Irgendein riesiger Engel hat mich immer vor irgendeinem Abgrund beschützt.
Ich war eine kleine Mystikerin, die stundenlang vor einer abscheulichen Herz-Jesu-Gipsstatue in einer Seitenkapelle kniete, obwohl ich sah, daß es eine abscheuliche Gipsfigur war. Ich kniete auf dem nackten Pflaster und habe diese Figur angeschaut, die überlebensgroß war, und habe, wie ich später begriff, dort wirklich Versenkung und mystische Erlebnisse erfahren. Jesus hat mich angeschaut. Und er hat mich für immer an sich gebunden.
Ich habe öfters mit Karl Rahner in Innsbruck die Messe gefeiert am Herz-Jesu-Altar. Da ist ein schönes altes Herz-Jesu-Bild im Oval. Dieser Jesus reißt sich das Herz aus dem Leib und bietet es an. Als die ewige Liebe bietet er sich an …
Ich glaube, ich habe überhaupt nicht »gebetet«, da ich nie gelernt habe, wie man »professionell« betet. Ich habe auch nie um etwas gebetet. Nicht mal im Gefängnis habe ich um Rettung gebetet. Beten im Sinn von bitten, das kenne ich nicht. Beten habe ich immer im Sinn von Versenkung kennengelernt: daß ich plötzlich hingenommen war von einem stillen mächtigen Strom.
Die Schule hat mir den Besuch am Schulgottesdienst verekelt. Nicht nur weil man an der Messe teilnehmen mußte, sondern weil es mir nichts gab. Und eines Tages mußten wir beichten gehen in einer Kirche in München. Da stand ich also in der Schlange, und dann kam ich dran. Ich sagte: »Ich muß beichten, aber ich will nicht«. Wahrscheinlich habe ich so gesagt, oder: »Ich mag einfach nicht.« Der Geistliche war klug. Er sagte: »Gut, wenn du nicht beichten willst, gebe ich dir statt der Absolution meinen Segen. Geh du deinen Weg.« Den ging ist. Ich ging ihn immer an der langen Leine, die von der Hand jenes hohen Wesens gehalten wurde, das man »Gott« nennen kann. Ich kann auch sagen: Ich bin nie aus der Gnade gefallen.
Die Theologie der Gnade war mir immer wichtig, so wichtig, daß sich mir daraus eine Erzählung formte. Der Titel: »Geh fort, wenn du kannst.« Die Geschichte einer jungen deutschen Kommunistin, die sich während des 2. Weltkriegs einer italienischen Partisanengruppe angeschlossen hatte, im Kriegsgewirr von der Gruppe getrennt, in ein verlassenes Benediktinerinnen-Kloster gerät, dort in Ermangelung anderer Lektüre das benediktinische Brevier liest und allmählich vom Geist des Orts erfaßt wird: vom Strom einer ihr neuen religiösen Erfahrung, die sie dazu bewegt, nach Kriegsende im Kloster zu bleiben.
Eine Geschichte, die ich frei erfunden habe, die aber, wie ich Jahre später hörte, sich so ähnlich tatsächlich ereignet hat.
Erstveröffentlichung aus einem Gespräch zwischen Luise Rinser und Bogdan Snela vom 7. 11. 1992 im Meditationshaus Domicilium, Weyarn.
Der Herbst ging hin, der Advent begann, und mit ihm kamen jene täglichen frühen Morgenfeiern in der Kirche, die ›Engelmessen‹ hießen. Um sechs Uhr schon begannen sie, noch ehe die frühwinterliche Nacht gewichen war. Ich beschloß, in diesem Jahre keine der Morgenmessen zu versäumen. Es war nicht leicht, den Entschluß auszuführen. Allerlei Widerstände erhoben sich. Meine Mutter, in der Sorge, das frühe Aufstehen und das Verweilen in der kalten Kirche könne meiner Gesundheit schaden, verbot es mir, der Großonkel aber sprach für mich, und endlich willigte die Mutter ein, wohl in der Annahme, daß diese kindliche Laune bald von selbst vorüberginge. Ich erinnere mich mit allen Sinnen an jene Morgen. Um ein halb sechs Uhr klingelte der Wecker im Zimmer meiner Mutter. Davon erwachte ich, und ohne mich zu besinnen, sprang ich aus dem Bett. Es war sehr kalt in dem großen, nie geheizten Zimmer; ich zitterte, so fror ich. Ich eilte über den gepflasterten Gang, lose Steine klapperten, das hohe Gewölbe widerhallte. Noch war es nächtlich dunkel. Ich tastete mich nach dem durchkälteten Waschraum. Das Wasser lief aus dem Hahn in die Schüssel, und dieses erste dumpfe, dann immer heller werdende Geräusch war schlimmer zu überstehen als das plötzliche Verlassen des warmen Bettes. Ein Frühstück gab es nicht vor der Engelmesse, denn es gehörte zur Feier, nüchtern zu sein. So schwierig dies alles für ein Kind war, so erfüllte es mich mit einer unsäglichen Freude. Während ich vor Frost bebte, war ich schon dem Frieren und allem Unbehagen entrückt. Ich hielt eine inständige wortlose Zwiesprache mit dem Morgen. Wenn ich aus dem Hause trat, standen meist die Sterne frostklar und funkelnd über den Giebeln. In der Luft klirrte die Kälte, manchmal fiel leise wolliger Schnee, die Glocken läuteten durch den Morgen, und die Klosterfrauen eilten schweigsam und dunkel zur Kirche. Der Kirchenraum war noch unerhellt, die Tante zog einen Wachsstock aus der Tasche, stellte ihn auf das Betpult, bog das dünne Wachsband in die Höhe und entzündete mit feierlicher Umständlichkeit den Docht. Noch war unser Licht einsam, unzulänglich, aufgesogen von der Nacht, die das hohe Kirchenschiff füllte; bald aber strahlten da und dort ebenfalls kleine Flammen auf, und endlich stand ein Lichterwald über den dunklen Bänken, hell genug, die Gesichter und Gesangbücher zu beleuchten, aber zu schwach, um die tiefe Dämmerung zwischen den Pfeilern, in Nischen und Gewölben zu durchdringen. Sooft das Portal sich öffnete, fuhr ein kalter Windstoß in den Lichterwald und ließ die Flammen heftig flackern, daß sie fast erloschen. Als die Messe begonnen hatte, brannten die Lichter einhellig und still und verströmten mit zartem Knistern köstlichen Wachsduft und milde Wärme. Ich las in einem großen ledergebundenen Gebetbuch, das so alt war, daß ›sei‹ noch mit Ypsilon geschrieben war und daß Stockflecken auf den Blättern waren. Es sprach eine einfältige kindliche Sprache, ich liebte es sehr. Zwischen Gebete waren alte Legenden eingeflochten. Ich las am liebsten von Einsiedlern in der Wüste, deren Herz so einfach und so liebreich war, daß wilde Tiere kamen und ihnen dienten. Mit Begierde atmete ich den Duft von heilig durchsichtigem Geheimnis, der den nüchternen wortkargen Berichten entströmte. In diesen morgendlichen Stunden, da meine Hände und Füße vor Frost brannten, widerfuhren mir mühelos, ungesucht jene Entrückungen in ein leidenschaftliches Glück der innern Anschauung oder auch in einen bilderlosen, schlafverwandten Frieden, die ich nie und nimmer durch Bußübungen hatte erzwingen können.
Aus: Die gläsernen Ringe, S. 72–74, (c) 1941 by S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Einmal, den »Gläsernen Ringen« zufolge, begegnete mir in der Gestalt der kindlichen Büßerin Franziska aus dem Walde die religiöse Ekstase in verboten heidnisch-bacchantischer Form: das Mädchen opferte vor der Statue des Christus am Marterpfahl in einer Waldkapelle Blumen, aber auch Käfer, die sie lebend auf die Eisenspitzen der Gitterstäbe spießte. Ich, das Kind in den »Gläsernen Ringen«, entsetzte mich, tötete barmherzig einen schon halbtoten Käfer und sah mit Schrecken das mörderische Mädchen im Licht der zwei verschieden gefärbten Glasfenster: rotgrün, gleichsam in zwei Hälften geteilt, auf der Schwelle stehen. Das Waldmädchen führte mich ein in die Welt der Flagellanten-Ekstase: sie hatte sich eine Geißel gemacht aus Schnüren mit harten Äpfeln, die sie mit Dornen besteckte, und sie lehrte mich, diese Geißel zu benutzen. »Das muß man tun. Nachts schlafe ich auf einem Brett. Man muß für Christus leiden. Es ist wunderbar. Auch die Tiere müssen für ihn leiden.« So sagte sie. Ich machte mir nicht nur eine Geißel, sondern auch ein Rutenbündel und eine Dornenkrone. »Aber«, so schrieb die Autorin, »jenes Gefühl der wunderbaren Erhebung, von dem Franziska gesprochen hatte, blieb mir versagt. Ich empfand nichts als kleine stechende Schmerzen und eine uneingestandene Scham. Mir war weit eher, als sündigte ich, statt daß ich eine Empfindung von Bußtat und Leidensglück verspürte. Franziska, die nun meine Meisterin war, belehrte mich. Du mußt erst mit kleinen Abtötungen beginnen, Asche essen, bittere Blätter kauen, auf Holzscheiten knien, dreimal auf Knien um die Kirche gehen. Ich versuchte es, aber auch diese Übungen brachten mir nur wunderlichen Schmerz, nicht Erhebung und Heil.«
Die Autorin erzählt von den seltsamen Spielen, welche die beiden Kinder trieben: Franziska war die Herrin, ich die Magd. Die Herrin gab der Magd absurde Befehle, um deren Demut zu erproben. Eine monastische Übung, die wir freilich nicht kannten: die Äbtissin befahl Sinnloses, Sinnwidriges, um den Eigenwillen und die intellektuelle Vernunft der Nonnen abzutöten. Wenn ich blind gehorcht hatte, erschien mir Franziska als himmlische Person, führte mich in die Waldkapelle und krönte mich mit einem Laubkranz.
Ich verblieb, laut meinem ersten Buch, nicht lange in dieser labyrinthischen, bacchantisch-asketischen Welt. »Ich fand bald das mir Gemäße: kleine, aber schmerzliche Entbehrungen und Überwindungen, wie etwa Schweigen bei ungerechtem Schelten der Mutter, plötzliches Abbrechen geliebter Spiele, Entzug des Zuckers im Morgenkaffee.«
Aber so leicht entrinnt man dem Wahnsinn nicht: Franziska verlangte von mir ins Kloster mitgenommen zu werden, und zwar in den Jagdsaal. Ich tat es schlechten Gewissens. Aber an dem, was dann dort geschah, war ich schuld: ich zeigte Franziska die Pflaster-Rosette in der Saalmitte und sagte: Da kann man tanzen.
Das hatte ich oft getan, und es war schön. Jetzt aber tanzte die Walddämonin, und dieser Tanz war der einer Besessenen, er war wie ein epileptischer Anfall, er war, so könnte ichs heute empfinden, obszön, jedenfalls eine Entweihung des Raumes. Ich wies Franziska hinaus. Sie ging ohne Widerspruch fort. Ich versuchte, mit meinen Händen die Spuren der staubigen Füße Franziskas vom Pflaster zu wischen. Spuren tilgen, Schuld abwaschen, büßen. Aber anders als die Flagellantin Franziska. Meine Übungen blieben im Bereich des nüchternen Rausches, im Apollinischen: es wurde Winter und sehr kalt. Dennoch stand ich jeden Morgen um halb sechs Uhr auf und ging in die »Engelmesse«, die um sechs begann. Das war eine harte Sache, denn das Haus war ungeheizt, warmes Wasser gab es nicht und auch kein Frühstück, und draußen war es noch Nacht, der Frost machte die Schritte klingend hart, in der Kirche war es eisig. Aber: »In diesen morgendlichen Stunden, da meine Hände und Füße vor Frost brannten, widerfuhren mir mühelos, ungesucht, jene Entrückungen in ein leidenschaftliches Glück der innern Anschauung oder auch in einen bilderlosen, schlafverwandten Frieden, die ich nie und nimmer durch Bußübungen hatte erzwingen können.«
So schrieb die junge Autorin. Gab es diese Franziska, gab es die Bußübungen, die wilden Tänze, die Engelmessen?
Franziska gab es, die Förster-Fanny, ein Kind meiner Klasse in der Volksschule. Wir spielten zusammen in den Flußauen. Aber wir waren nicht Flagellanten. Doch waren unsre Spiele voll frommer Poesie. Das Spiel, das die Autorin der »Gläsernen Ringe« schildert, fand statt, das ist eine echte Erinnerung. Wir waren Missionar und Heiden. Der Missionar war auf Franziskas Wunsch ich, sie war die Schar der Heiden, im hohen Gras und Gebüsch der Flußauen gelagert. Ich sprach zu diesen Heiden, ich sprach glühend, ich steigerte mich in eine Ekstase des Worts hinein. Plötzlich flog ein Stück Holz gegen mich, ein Heide hatte mit dem vergifteten Pfeil auf mich geschossen, ich ließ mich fallen, ich war tot. Den Märtyrertod gestorben. Franziska bedeckte mich mit Blättern. Aber da ich mich nicht bewegte, bekam sie Angst. Sie weinte und schüttelte mich, ich ließ sie lange weinen. Es war nämlich schön, so zu liegen im Moos und »tot« zu sein. Ich erinnere mich genau des Dämmerlichts in den Auen, des inständigen bitterfrischen Geruchs nach feuchter Erde und Schneeglöckchen, es muß Frühling gewesen sein, März, vorösterliche Zeit.
Aus: Den Wolf umarmen, S. 86–88, (c) 1981 by S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Ich hatte einmal in meinem Leben eine Zeit, in der ich meinte, meinen Glauben verloren zu haben. Er schien mir abhanden gekommen zu sein. Gott interessierte mich nicht mehr. Das war ein Gefühl. Aber ich begann auch, bewußt Argumente gegen den Glauben zu suchen. Nach einiger Zeit überfiel mich eine tiefe Depression. Ich verstand, daß sie die Folge meines »Unglaubens« war, aber ich sagte mir, ich müsse eben durch diese Phase jenes Schmerzes hindurch, den der Abschied von einer überlebten Periode mit sich bringt. Es war eine finstere Zeit. Da träumte ich eines Nachts folgendes: ich stand vor einer Art riesiger Höhle, die sich immer noch mehr ausdehnte, bis schließlich keine Höhle mehr da war, sondern einfach gar nichts. Ich wußte im Traum: dies ist das Nichts. Ich hatte entsetzliche Angst. Ich wollte fliehen und konnte nicht. Ich wußte, daß ich so nicht weiterleben konnte. Auf einmal sah ich am vordern Rand (sozusagen, tatsächlich gab es ja nichts als eben das Nichts) eine Lichtgestalt. Sie war so groß wie ein Mensch, aber sie wuchs rasch und füllte mehr und mehr den grenzenlosen Raum mit ihrem Licht. Schließlich gab es nur mehr Licht. Ich fühlte, daß ich gerettet war.
Aus: Mit wem reden, S. 41/42, (c) 1980 by K. Thienemanns Verlag, Stuttgart-Wien
Ich meinte, sie sollte mir erzählen, wie sie darangegangen war, den Garten zu bebauen, aber sie war noch immer bei ihrem Thema, und so antwortete sie auf meine Frage: »Dann? Dann tat ich einen Schwur: von nun an alle zu lieben und an allen gutzumachen, was ich getan hatte. Darum beschloß ich fortzugehen und eine nützliche Arbeit zu suchen; ich wollte Krankenpflegerin werden und später, wenn Friede sein würde, weiterstudieren und Ärztin in einem Armenviertel werden.«
Ich sagte: »Aber du bist nicht fortgegangen.«
»Nein«, sagte sie, »man ließ mich nicht.«
»Man ließ dich nicht? Aber es war doch niemand da.« Statt einer Antwort zeigte sie, ohne sich umzuschauen, auf das Tor, vor dem wir saßen, und ich sah im Torbogen eingemeißelt eine alte Inschrift, die hieß: »Egredere si potes.«
»Geh fort, wenn du kannst.«
Ich verstand nicht, ich konnte ja nicht verstehen.
»Und dies hat dich gehalten?« fragte ich töricht.
Angelina lächelte ein wenig. »Der Satz heißt vollständig: ›egredere modo, frater, egredere si potes‹, und das hat eine Schwester zu ihrem Bruder gesagt, als sie ihn gebeten hatte, die Nacht über bei ihr zu bleiben, um mit ihr zu beten, denn sie wußte, daß sie bald sterben würde. Aber der Bruder sagte, er müsse fort, heim in sein Kloster. Da begann die Schwester, Gott zu bitten, er möchte einen großen Regen schicken, einen so großen, daß ihr Bruder bei ihr bleiben müsse. Gott schickte diesen Regen, ihr zuliebe, und dann sagte sie: ›Nun geh nur fort, wenn du kannst.‹«
Ich lachte, denn dies schien mir eine hübsche Geschichte von einer klugen Frau, deren List sogar Gott nicht widerstehen konnte. Aber Angelina sagte: »Das war keine List, das war Vertrauen. Es waren heilige Geschwister: Santa Scholastica und San Benedetto.«
Ich verstand aber noch immer nicht, wieso die alte Inschrift die Kraft haben konnte, Angelina zu halten. Und nun kann ich es Ihnen, lieber Herr, nicht ersparen, etwas zu erzählen, was Ihnen als blinder Zufall erscheinen wird. Als Angelina beschlossen hatte fortzugehen und schon auf der Schwelle stand oder jedenfalls dort, wo unter dem Schutt die Schwelle sein mußte, fiel ihr plötzlich jenes Gefäß mit Hostien ein, das sie nicht einfach unverwahrt stehenlassen wollte. So kehrte sie in die Kapelle zurück, um dieses Gefäß in einer Mauernische zu verstecken. Als sie es getan hatte, wollte sie endgültig fortgehen. Aber als sie zum zweitenmal auf der Schwelle stand, glitt sie aus, verstauchte sich den ohnehin noch nicht ganz geheilten Fuß und konnte nicht gehen.
An diesem Tag begann sie, wie sie sagte, mit Gott zu sprechen wie mit einem handgreiflich Anwesenden. Sie sagte voller Zorn zu ihm: »Ich bin deinetwegen umgekehrt, um dieses Brot zu retten, von dem du sagst, es sei dein Fleisch. Und zum Dank dafür hast du mich stürzen und den Fuß verstauchen lassen.« Sie sagte ihm auch, daß er sich täusche, wenn er glaube, sie mit Gewalt hier festhalten zu können, und sie ließ es ihn wissen, daß sie nicht an ihn glaube, und dann fing sie an zu fürchten, sie sei wahnsinnig geworden, denn es schien ihr Wahnsinn, mit einem Wesen zu sprechen, das es nicht gab.
Diese Nacht, es war die Nacht, nachdem sie den Toten gefunden hatte, muß fürchterlich für sie gewesen sein. Sie konnte vor Schmerzen nicht schlafen, und um die lange Nacht zu kürzen, begann sie schließlich beim Schein der Osterkerze in dem einzigen Buch zu blättern, das sie damals fand. Es war das Brevier, lateinisch, und sie versuchte zu übersetzen.
Der erste Satz, auf den ihr Blick fiel, hieß: »Zerrissen ist die Schlinge, und ich bin frei.« Dieser Satz war wie ein Pfeil, der traf, und gleich darauf traf sie ein zweiter: in dem Buch stand der Name derer, die einst seine Eigentümerin gewesen war: »Maria Angela zur Profeß am 6. Mai 1823.« Maria Angela waren Angelinas beide Taufnamen, und wenn dies auch wirklich ein Zufall genannt werden kann, so war es doch keiner für Angelina in jener Nacht und ist es heute noch weit weniger. Jetzt steht unter jener älteren Jahreszahl eine neue: 24. Juli 1947. Der Name ist derselbe, denn Angelina durfte den ihren behalten und dieses Brevier dazu. Jene erste Maria Angelina ist Äbtissin von Maria del Monte geworden und ihres heiligmäßigen Lebens wegen berühmt. Sie hatte mit ganz kleiner Schrift einen Satz in die rechte untere Ecke der ersten Titelseite geschrieben: »Inveni, quem diligit anima mea.« »Ich fand, den meine Seele liebt.« Der feine Bleistiftstrich unter diesem Satz aber stammt von Angelina; doch sie zog ihn erst später.
Aus: Geh fort, wenn du kannst, S. 68–71, (c) 1959/1976 by S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
Erst Jahre später hat mir Angelina den Verlauf jener Begegnung erzählt. Die Madre Äbtissin hatte gesagt, Antonio sei gekommen, er habe mit ihr gesprochen, er habe sie gefragt, ob Angelina noch frei sei und mit ihm kommen könne, er wolle sie heiraten. Die Madre sagte ihm, Angelina sei noch frei, und er möge sie selbst fragen. Zu Angelina sagte sie, sie wolle ihr keinen Rat geben, aber Antonio sei ein guter, kluger, tapferer Mann, und seine Liebe sei groß und stark, er habe eine wichtige Stellung in der neuen Regierung und könne Gutes wirken, und es wäre keine schlechte Wahl, wenn Angelina ihm folgen würde.
Angelina war entsetzt. »Was habe ich getan, daß Sie mich nicht behalten wollen?«
Die Madre antwortete ungerührt, wie es schien: »Sie mißverstehen mich. Ich will Sie weder halten noch fortschicken. Sie sollen entscheiden. Auch das Leben in der Ehe ist gut und gottgewollt.«
»Warum versuchen Sie mich so?« fragte Angelina.
»Gehen Sie jetzt«, sagte die Madre.
Angelina war den Tränen nahe. »Ich bitte Sie, mir diesen Gang zu ersparen.«
Die Madre aber sagte streng: »Gehen Sie. Feigheit hilft hier nicht weiter. Stellen Sie sich dieser Begegnung. Gott wird Ihnen helfen.«
Und Angelina ging. Unser Sprechzimmer hat ein doppeltes Gitter, und man kann sich die Hände nicht reichen. Auch sieht man sich, wenn man nicht ganz nahe an das Gitter geht, nur undeutlich im Schatten. Antonio sei auf und ab gegangen, er war ja schwer verwundet gewesen, und das Aufschlagen des Stockes auf dem Pflaster sei kaum erträglich gewesen. Er habe Angelina, die leise ans Gitter getreten war, lange nicht bemerkt. Sie aber sah ihn, und sie brauchte mir nicht zu erzählen, was sie dabei empfand.
Dann begann sie zu sprechen. Sie fragte ihn, wo er lebe und was er arbeite, sie fragte ihn nach dem Stand der Reformen, von denen sie gehört habe, und er antwortete ihr höflich und nüchtern. … Dann schwiegen sie beide.
Antonio hörte auf, hin- und herzugehen, aber er kam nicht ans Gitter, er blieb mitten im Zimmer stehen, und von dort aus tat er schließlich die Frage, um derentwillen er gekommen war: »Und du, Angelina? Wirst du jetzt mit mir kommen als meine Frau? Du weißt, daß außer dir keine Frau in meinem Leben war und auch keine sein wird.«
Sie aber sagte nichts als das: »Du weißt es selbst, es ist uns nicht bestimmt. Warum bist du gekommen?«
»Ja«, erwiderte er leise und verletzt, »warum bin ich gekommen.«
Dann trat er mit einem Schritt ans Gitter und rief: »Warum, warum? Wenn du das nicht weißt …«
»Ich bitte dich, mir zu verzeihen«, sagte Angelina, »aber ich kann nicht mit dir gehen. Ich habe mich entschieden. Dies gilt für immer. Vergiß mich, oder besser: verzichte. Auch ich …« Hier sei ihre Kraft zu Ende gewesen. Sie haben sich angesehen durch das doppelte dunkle Gitter hindurch, dann war Antonio rasch und für immer fortgegangen.
Als mir Angelina dies erzählte, waren mehr als drei Jahre darüber hingegangen, aber selbst diese drei Jahre hatten nicht vermocht, das Andenken Antonios in ihr zu verringern.
»Wie sehr mußt du ihn geliebt haben«, sagte ich.
»Ja«, erwiderte sie einfach, »ich habe ihn geliebt, und auf meine Weise liebe ich ihn noch. Ich werde ihn immer lieben. Aber was ist dies alles, die Liebe und der Schmerz, gegen die Freude der Taube, die des Vogelstellers Schlinge entronnen ist und ihr Nest gefunden hat? Du weißt es ja selbst. Und jetzt laß uns darüber schweigen.«
Aus: Geh fort, wenn du kannst, S. 129–132, a.a.O.
Der Hochmut des Dienens: schlimmste aller Lügen. Nichts begriffen vom Christentum. Verstehen Sie? Christsein identifiziert mit Bravsein, mit dem Sich-die-Hände-sauber-Halten, mit dem reinen geordneten Herzen. Ohne Risiko. Ohne den Mut sich den andern zu öffnen, hinzugeben. Das schön aufbewahrte Taufkleid, ängstlich gehütet; als sei damit alles getan. Aber was sonst, wo ist das Wahre? Die Liebe, steht geschrieben. Das ist es. Wir sollen lieben und können es nicht. Wir sollen Christen sein, und uns fehlen die Voraussetzungen dafür. Ehe Christus kam, genügte die Tugend. Ein männlich tapferes Leben, wohlwollend allem Geschaffenen gegenüber, auf Ehre, Macht, Besitz, Ordnung bedacht. Das war zu leisten vom Menschen. Die Ankunft Christi hat unsre Lage verschlechtert. Wir wissen, was von uns erwartet, nein, gefordert wird, gefordert auf Leben und Tod, verstehen Sie, bedenken Sie das, und wir haben einfach die Kraft nicht dazu. Wäre Christus nur nicht gekommen.