Simon Sebag Montefiore
Die Romanows
Glanz und Untergang der Zarendynastie 1613-1918
Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Naemi Schuhmacher, Sonja Schuhmacher und Barbara Steckhan (Kollektiv Druckreif)
FISCHER E-Books
Simon Montefiores Vorfahren flüchteten Anfang des zwanzigsten Jahrhundert aus dem zaristischen Russland. Daher rührt das lebenslange Interesse des Autors an dem Land. Geboren 1965, studierte er Geschichte an der Universität Cambridge. Seine Sachbücher erschienen unter dem Namen Simon Sebag Montefiore und wurden auf der Stelle zu Bestsellern. Bei FISCHER Taschenbuch sind folgende Titel lieferbar: ›Katharina die Große und Fürst Potemkin: Eine kaiserliche Affäre‹ (Band 18275), ›Stalin – Am Hof des Roten Zaren‹ (Band 17251), ›Der junge Stalin‹ (Band 17390) und ›Jerusalem. Die Biographie‹ (Band 17631). Simon Montefiore erhielt zahlreiche renommierte Preise und Auszeichnungen. ›Saschenka‹ ist sein erster Roman. Seine Bücher wurden in über fünfunddreißig Sprachen übersetzt. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature und lebt mit seiner Frau, der Romanautorin Santa Montefiore, und ihren beiden Kindern in London.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Wie kein anderes Adelsgeschlecht sind die Romanows der Inbegriff von schillerndem Prunk, Macht, Dekadenz und Grausamkeit. Über 300 Jahre dominierten sie das russische Reich, mehr als 20 Zaren und Zarinnen gingen aus dem Geschlecht hervor, allesamt getrieben von unbändigem Machthunger und rücksichtslosem Willen zu herrschen – einige dem Wahnsinn näher als dem Genie. Der Bestsellerautor und Historiker Simon Sebag Montefiore erzählt die Saga dieser unglaublichen Familie, in der Rivalität, Giftmorde und sexuelle Exzesse regelrecht auf der Tagesordnung standen. Basierend auf neuester Forschung und unbekanntem Archivmaterial zeichnet er die Schicksale und politischen Verwicklungen nach. Weder zuvor noch danach gab es ein so gewaltiges Reich, in dem sich Glanz und Grausamkeit auf so unheilvolle Weise verbündeten.
Erschienen bei S. FISCHER
Die Originalausgabe ist 2016 unter dem Titel
›The Romanovs 1613-1918‹
erschienen bei Weidenfeld & Nicolson, London.
© 2016 Simon Sebag Montefiore
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Karten und Stammbäume: Peter Palm, Berlin
ISBN 978-3-10-490152-7
Der doppelköpfige Adler wurde wahrscheinlich als Wappen eingeführt, als die Großfürsten den Status der Habsburger Dynastie anstrebten. Erst später behaupteten Mönche, der doppelköpfige Adler symbolisiere Rom und Konstantinopel, die Hauptstadt des Oströmischen beziehungsweise Byzantinischen Reichs – mit Moskau als drittem Rom.
Die Bojaren bildeten den höchsten Adelsrang und wurden vom Zaren ernannt. Dies hatte nichts mit dem erblichen Titel eines Fürsten zu tun, den der Zar traditionsgemäß nicht verleihen konnte. Fürsten waren die Abkommen der Herrscher jener Städte, die Moskau erobert hatte, häufig Sprösslinge der unzähligen Erblinien Ruriks, des Großfürsten von Kiew, von Gedimin, dem Großherzog und Begründer Litauens, oder aber von tatarischen Khanen. Manche Fürsten waren außerordentlich reiche Magnaten mit Besitztümern von mehr als 40000 Hektar Land; viele waren aber weder reich noch Bojaren. Nicht immer spielten Titel eine Rolle: Die Romanows waren Bojaren, aber keine Fürsten.
Das Krim-Khanat unter der Herrschaft der Giray, Nachkommen Dschingis Khans, war drei Jahrhunderte lang eine leidlich starke europäische Macht, deren Einfluss von der Südukraine bis zum nördlichen Kaukasus reichte und deren Zentrum sich in Bachtschissarai auf der Krim befand. Ihre Armee aus 50000 Bogenschützen war so respekteinflößend, dass die Zaren ihr über lange Zeit Tribut zahlten. Die Khane waren eng mit den osmanischen Sultanen verbündet, denen sie bei der Kontrolle über das Schwarze Meer zur Seite standen.
Als man im 20. Jahrhundert ihre Leiche obduzierte, stellte sich heraus, dass sie Quecksilber in gefährlicher Menge enthielt – doch das trifft auch auf andere Leichname aus dem 16. Jahrhundert zu, die in derselben Zeit analysiert wurden. Quecksilber wurde häufig zu medizinischen Zwecken verwendet.
Kaiser Alexander II., Michaels Nachkomme, kaufte 1856 dem angrenzenden Kloster das Gebäude auf diesem Gelände für seine Krönung ab. Der Großteil des Hauses entstand viel später, aber die Grundmauern stammen aus dem 15. Jahrhundert. Wahrscheinlich wurde Michael Romanow hier aufgezogen.
Die Kosaken, deren Name von dem türkischen und arabischen Wort Kasak für Abenteurer oder Freibeuter abgeleitet ist, waren ursprünglich Tatarenkrieger, doch im 16. Jahrhundert hatten sich slawische Kosaken zu Gemeinschaften zusammengeschlossen und im Grenzgebiet zwischen Moskowien, der Tatarei und Polen niedergelassen, wo sie vom Jagen, Fischen und von Diebstahl lebten. Die Kriege zwischen Tataren, Russen und Polen boten ihnen zahlreiche Möglichkeiten, als Söldner und Plünderer zu kämpfen (anfänglich in der Infanterie, dann in Flotten von Tschaika-Booten [Tschaika heißt Möwe] und später in der Kavallerie). In der Zeit der Wirren wurden die Kosaken, von denen einige für Polen kämpften, andere für die verschiedenen anderen Parteien im Bürgerkrieg, zum Zünglein an der Waage im Gerangel um die Macht. Sie trugen auch zur Wahl Michael Romanows bei. Die zunehmende Unterdrückung der Bauern, die von Zaren und Landbesitzern in die als Leibeigenschaft bezeichnete Sklaverei gezwungen wurden, trieb Tausende zur Flucht in die Kosakengemeinschaften, Bruderschaften stolzer Freier, »Gastgeber«, deren gewählte Anführer als Hetmane (ukrainisch) oder Atamane (russisch) bezeichnet wurden.
Zwei naheliegende Kandidaten waren abwesend: Michaels Vater, Filaret Romanow, und Fürst Wassili Golizyn saßen beide in Polen in Gefangenschaft. Filaret wurde ausgeschlossen, weil er Priester war, doch Golizyns Qualifikationen – er war königlicher Nachkomme Gedimins, des Großfürsten und Gründers von Litauen, besaß den Rang eines Bojaren, verfügte über gewaltigen Reichtum und persönliches Ansehen – waren tadellos. Wäre er vor Ort gewesen, wäre dies vielleicht eine Geschichte der Golizyn-Dynastie geworden – allerdings hätte ein solches Musterbeispiel edler Herkunft den Kosaken, die über die Mehrheit der Stimmen verfügten, nicht gefallen.
Dass diese Geschichte der Wahrheit entspricht, wird durch ein Reskript Zar Michaels nur sechs Jahre später bestätigt. Dies war der Beginn eines offiziellen Romanow-Mythos, der insbesondere von Nikolaus I. ausgeschmückt wurde. Als der Komponist Glinka seine Oper Iwan Sussanin schrieb, änderte Nikolaus den Titel in Ein Leben für den Zaren um, womit die Bedeutung klargemacht und die Oper in eine halboffizielle Romanow-Hymne verwandelt wurde. (Ein Leben für den Zaren gehörte später zu Stalins Lieblingsopern.) Die Nachkommen des heldenhaft loyalen Bauern wurden zu allen Krönungen der Romanows eingeladen bis hin zu der Nikolaus’ II. im Jahr 1896 und wurden bei der Dreihundertjahrfeier der Dynastie 1913 besonders geehrt.
An die zehn Bojaren wurden vom Zaren in seinen Rat berufen. Ein paar von ihnen erhob er in den Rang von Geheimräten. Doch so reich und mächtig Bojaren auch sein mochten, in Schreiben an den Zaren unterzeichneten sie stets mit kindlichen Diminutiven wie »Eure unterwürfigen Sklaven Mitka und Saschka«. Unter ihnen standen die Kammerherren, die okolnitschii, gefolgt von den Mitgliedern der Adelsduma, den dumni dworianje. Beamte von niederer Geburt, djaki, waren die eigentlichen Leiter der Ministerien, und die wichtigsten von ihnen wurden dumni djaki, Ratssekretäre. Diese oberen vier Ränge saßen im Länderrat (in der Duma), und aus ihren Reihen wurden Minister und Höflinge gewählt. Die Leiter der etwa 50 Ämter, der prikasi, verwalteten Hof und Land – manche wie das Amt zur Pflege der Beziehungen zum Ausland oder die Große Schatzkammer waren landesweit zuständig, manche regional wie das Kasan-Amt, wieder andere persönlich wie das Große Hofamt. An einem Hof, wo häufig Giftanschläge vorkamen, war die Königliche Apotheke, die auch die Medikamente des Zaren bereitstellte, von so großer Wichtigkeit, dass sie praktisch ständig vom Obersten Minister überwacht wurde. Aber das Leben des Zaren wurde von Höflingen wie dem Siegelbewahrer, dem Stallmeister und, im intimsten Bereich, den postelnitschi, den Kammerherren, organisiert. Poscharski, der Kriegsherr, der eigentlich die Romanow-Dynastie begründet hatte, wurde zum Bojaren befördert und mit Ländereien geradezu überschüttet, aber aufgrund dieser widersinnigen Sonderstellung war er häufig Gegenstand heftiger Klagen seitens höherrangiger Familien.
Filaret engagierte den schottischen Architekten Christopher Galloway für die Umgestaltung des Erlöserturms im Kreml. Galloway brachte dort eine Uhr an, was Vater und Sohn gleichermaßen erfreute. Offensichtlich genoss Filaret das Theatralische seines Super-Patriarchats: Am Palmsonntag ahmte Michael den Einzug Christi nach Jerusalem nach – doch auf dem Esel saß der Patriarch, nicht der Zar. Mit der Monomachmütze auf dem Kopf und in vollem Zarenornat betete dieser mit den Bojaren im Kreml, dann schritt er mit dem Patriarchen hinaus, gefolgt vom gesamten Hof. An der Tribüne auf dem Roten Platz, der jetzt Golgatha darstellte, hielt der Zar das Pferd (das pittoresk mit falschen Ohren als Esel aufgemacht war), während der Patriarch aufstieg und dann wieder in den Kreml zur Mariä-Entschlafens-Kathedrale zog. Anschließend dankte der Patriarch dem Zaren für seinen Dienst und zahlte ihm 200 Rubel.
Die Dolgorukis behaupteten, von Juri Dolgoruki (Langhand) abzustammen, dem Großfürsten von Kiew, der 1156 Moskau gegründet hatte. Aber das war frei erfunden. In Wirklichkeit waren sie Nachfahren des Fürsten Iwan Obolenski, dem Langarm, der im 15. Jahrhundert in Obolensk herrschte. Es war nicht die letzte Ehe eines Romanows mit einer Dolgorukaja, obwohl es hieß, jede Ehe zwischen einem Romanow und einer Dolgorukaja stehe unter einem Fluch. Die Dolgorukis gehörten wie die Scheremetews, die Saltykows und die Golizyns zu den Familien, die bis 1917 bei den Regierungsgeschäften mitmischten. Der letzte Ministerpräsident von Nikolaus II. war ein Golizyn und ging zusammen mit einem Dolgoruki ins sibirische Exil.
Traditionell wurden Moskowiter Armeen von adeligen Großgrundbesitzern niederen Ranges zusammengestellt, den pomestschiki, die im Gegenzug für die pomestia, die Landschenkungen des Zaren, Soldaten zur Verfügung stellten. Auf diese Weise hob Filaret 26000 Mann aus, von denen viele jedoch nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Des weiteren rekrutierte er 11000 undisziplinierte kosakische Kavalleristen sowie 18000 Tataren und tschuwaschische Reiter, die mit Armbrüsten ausgestattet waren. Die 20000 Strelizen waren da schon eindrucksvoller.
Murad IV. vereinte in seiner Person das militärische Talent Cäsars mit dem irren Sadismus Caligulas, aber er war der letzte große osmanische Sultan. Auf ihn folgte sein Bruder Ibrahim der Verrückte, ein Erotomane, der besessen war von Pelzen, Düften und enorm dicken Frauen. Die osmanischen Sultan-Kalifen regierten von Konstantinopel aus und hatten ein riesiges Reich erobert, das sich von der Grenze zum Irak bis zur Ägäis erstreckte und auch die Balkanländer (das heutige Griechenland, Bulgarien, Rumänien und das ehemalige Jugoslawien), Nordafrika, die heutige Türkei und den gesamten Nahen Osten einschließlich Jerusalem und Mekka umfasste. Ihre europäischen Untertanen waren vorwiegend christlich-orthodoxe Slawen, die, als Kinder verschleppt, versklavt und zum Islam konvertiert, ihre besten Generäle, Beamten und Konkubinen stellten. Ihren Höhepunkt hatten die Osmanen ein Jahrhundert zuvor unter Süleyman dem Prächtigen, doch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts blieb das Osmanische Reich ein respekteinflößender Staat mit enormen militärischen Mitteln. Im Jahr 1637 stürmten freie Kosaken die osmanische Festung Asow und boten sie Michael an, doch nach Beratschlagung mit einer Landesversammlung gestand er sich ein, dass er noch nicht über die Stärke verfügte, die Osmanen herauszufordern.
Der reale Alexei entsprach somit kaum seinem Ruf als »der Sanftmütigste«, der Gute, die durch und durch russische, aber unbedeutende Lichtgestalt – einem Bild, das die Slawophilen im 19. Jahrhundert verbreiteten im Gegensatz zu den verwestlichten, kriegerischen Herrschern, personifiziert in Peter dem Großen. Alexei wurde der Held des letzten Zaren Nikolaus II., der sich mit dessen schlichter slawischer Frömmigkeit identifizierte und seinen Sohn nach ihm benannte.
Die Leibeigenschaft, wie sie im größten Teil Ost- und Mitteleuropas üblich war, hielt Russland seit Iwan dem Schrecklichen fest im Griff. Zar Boris Godunow, darauf bedacht, die Loyalität der Militärs und des Landadels zu gewinnen, untermauerte den Besitz von Bauern. Alexeis Gesetze vollendeten den Prozess. Manchmal sorgt die Bezeichnung im westlichen Sprachgebrauch für Verwirrung: Die Leibeigenen waren an das Land gebunden, und ursprünglich waren es nicht die Leibeigenen, sondern das Land, das besessen wurde. Viele gehörten dem Zaren, der sie seinen Günstlingen schenken konnte. Doch sie unterschieden sich von den schwarzen Sklaven, die später auf karibischen und amerikanischen Plantagen schuften mussten: Sie zahlten Steuern, besaßen kleine Grundstücke und mussten in der Armee dienen. Die Leibeigenen sicherten dem Zaren sowohl sein Einkommen durch Steuern als auch die militärische Stärke der Armee. Wohlstand wurde nicht länger in Hektar gemessen, sondern in »Seelen« – was sich aber nur auf männliche Seelen oder Haushalte bezog, da weibliche Leibeigene weniger wertvoll waren. Zu dieser Zeit besaß der Zar die meisten Leibeigenen mit 27000 Haushalten, gefolgt von Nikita Romanow mit 7000 und Tscherkasski mit 5000, während den beiden Morosow-Vettern zusammen 10000 Haushalte gehörten. Im Laufe der Jahrhunderte erlaubten die Romanows dem Adel im Gegenzug für seine Unterstützung, die Kontrolle über die Leibeigenen zu verschärfen. Im 18. Jahrhundert besaßen die Herren ihre Leibeigenen physisch, konnten sie verkaufen und kaufen, sie nach Belieben bestrafen und verheiraten. 1861 bezog sich Alexander II. auf Alexei und sein Gesetzbuch, als er sagte: »Die Autokratie begründete die Leibeigenschaft, und nun ist es an der Autokratie, sie abzuschaffen.«
Nikon war der siebte Patriarch und besetzte damit ein Amt, das erst 1589 geschaffen worden war – doch wie Filaret gezeigt hatte, konnte ein Patriarch die säkulare Macht des Zaren bedrohen. Nikon zelebrierte seinen wachsenden Einfluss, indem er einen neuen Palast im Kreml errichtete und die Vision von Moskau als einem neuen Jerusalem vorantrieb. Dafür gründete er das Kloster Neu-Jerusalem, dessen Kathedrale ein exakter Nachbau der Grabeskirche in der Heiligen Stadt war.
Anlässlich des dreihundertjährigen Jubiläums des Schwurs von Chmelnyzkyj entschloss sich Stalin kurz vor seinem Tod, die Krim, bis dahin Sitz der russischen Schwarzmeerflotte und der liebste Urlaubsort der russischen Elite, der Sowjetrepublik Ukraine zu übergeben. Diesen Entschluss setzte sein Nachfolger Nikita Chruschtschow 1954 um. Weder der eine noch der andere konnte vorhersehen, dass die Sowjetunion zusammenbrechen und die Ukraine unabhängig werden würde, wodurch die Krim für Russland zunächst verlorenging.
Teimuras war der im Exil lebende König, Poet und Krieger von Kachetien und Kartlien, zwei der Fürstentümer Georgiens, einem einst mächtigen Königreich unter der Bagratiden-Dynastie, die im 12. Jahrhundert über den gesamten Kaukasus geherrscht hatte. Georgien war eines der ältesten christlichen Länder mit einer starken Dichtung, ausgeprägten Ehrvorstellungen und einem eigenen, unverwechselbaren Alphabet, doch Land und Dynastie waren in Lehen aufgesplittert und zerrissen zwischen den beiden unersättlichen islamischen Reichen der schiitischen Perser und der sunnitischen Osmanen – gegen die später die Russen rivalisierten. Als Teimuras von Schah Abbas dem Großen ins Exil verbannt wurde, bat er vergebens um Alexeis Hilfe: Moskowien war noch nicht mächtig genug, um zu intervenieren. Aber dies war der Beginn der langen, bitteren Beziehung des bedürftigen Georgien zu Russland, die bis heute besteht.
Als Ordin-Naschtschokins Sohn in diesem entscheidenden Augenblick zum Feind überlief, wollte der beschämte Vater zurücktreten, doch Alexei lehnte sein Gesuch ab. Seine Antwort klingt tolerant und sehr modern: »Wir haben erfahren, dass Euer Sohn sich davongemacht hat und Euch schrecklichen Kummer bereitet. Wir, der große Zar, waren erzürnt über die schmerzliche Bedrängnis, diesen Dolch, der Eure Seele durchbohrt … auch um Eurer Frau willen sind wir bekümmert … doch Ihr solltet Euch wieder aufrichten, stark werden, Zuversicht finden. Was den Verrat Eures Sohnes betrifft, so wissen wir, er hat gegen Euren Willen gehandelt. Er ist noch ein junger Mann und lässt sich deshalb wie ein Vogel mal hier, mal dort nieder, doch ebenso wie der Vogel wird er des Fliegens müde werden und in sein Nest heimkehren.«
Bei seiner Abreise hinterließ Nikon Briefe eines Bojaren, der behauptete, der Zar selbst hätte den Patriarchen heimlich eingeladen. Ganz abwegig war das nicht, denn der Zar wägte seine Möglichkeiten ab, wie er die Probleme mit Nikon und den Altgläubigen lösen könnte. Der Bojar aber wurde verhaftet und vor Alexeis Augen verhört. Mit glühenden Gabeln gefoltert, änderte der Bojar seine Meinung und schützte den Zaren. Falls dies ein Schachzug war, um den Größenwahn des Patriarchen zu beweisen, so war er erfolgreich. Seine Reformen allerdings wurden damit nicht in Misskredit gebracht.
Die Romanows wollten »alle Reußen« der Kiewer Rus unter ihre Herrschaft bringen: Moskowien war Großrussland, Belarus war Weißrussland, die Ukraine war Kleinrussland. Die Gebiete des Krim-Khanats und des osmanischen Sultanats in der heutigen Südukraine sollten später Neurussland genannt werden. Galizien, das damals zu Polen gehörte und später unter der Herrschaft der Habsburger Monarchie stand, war Rotrussland.
Matwejew übernahm das Außenamt und die königliche Apotheke. Ordin-Naschtschokin, der »Großsiegelbewahrer und Hüter der Großen Gesandtschaftsangelegenheiten des Herrschers« sowie Leiter des Außen- und des Ukraine-Amts, wurde gefeuert. »Ihr habt mich unterstützt«, beschwerte sich Ordin-Naschtschokin bei Alexei, »deshalb ist es schändlich, mich jetzt fallenzulassen, auf dass sich meine Feinde freuen.« Doch der anmaßende Minister aus einfachem Hause hatte aufs falsche Pferd gesetzt, sein Bündnis mit Polen war gescheitert.
Der Poteschny-Palast hat auch in der neueren Geschichte einen besonderen Platz: Stalin und viele hochkarätige Bolschewiken wohnten Ende der 1920er Jahre in dem Gebäude. 1932 nahm sich Stalins Frau Nadeschda hier das Leben. Der schöne pinkfarbene Palast steht immer noch, bewacht von Sicherheitskräften des Kremls. Alexeis neuer Kolomenskoje-Palast außerhalb von Moskau mit seinen vielfältigen kuppelförmigen Dächern war eine Phantasie aus Holz mit byzantinischen und Versailler Elementen und Anklängen an den Baustil Iwans des Schrecklichen. Im Thronsaal standen zwei mechanische Löwen aus Kupfer, die mit den Augen rollen und brüllen konnten, ganz ähnlich denen, die in Konstantinopel Besucher erschreckt hatten.
Beschrieben wurde Sofia erst sieben Jahre später von einem französischen Besucher, der sie nie getroffen hatte: »Sie war monströs, ihr Kopf groß wie ein Scheffel, Haare wuchsen ihr im Gesicht und Geschwülste an den Beinen, doch obwohl ihre Gestalt breit, kurz und grob ist, ist ihr Geist raffiniert, flink und gerissen.«
Beide Kronen (und ihr Doppelthron) können in der Rüstkammer des Kremls besichtigt werden. Peter I. und Iwan V. waren die letzten Zaren, die mit diesem zu schlicht gewordenen, mongolischen Kopfschmuck gekrönt wurden.
Die 1684 gegründete Heilige Liga war ein Bündnis gegen das Osmanische Reich. Mitglieder waren neben dem Heiligen Römischen Reich und dem Papst Polen-Litauen, die Seerepublik Venedig und ab 1686 Russland.
Für die ständig wechselnde Gruppe von Menschen mit absonderlichen Merkmalen suchte Peter besonders nach Riesen. Sein französischer Riese (in Russland bekannt als Nikolai Zigant, der später – zunächst lebend und nach seinem Tode einbalsamiert – in der Kuriositätensammlung seiner Kunstkammer zur Schau gestellt wurde) und die finnischen Riesinnen wurden gewöhnlich als Säuglinge verkleidet, während die Zwerge oft alte Männer darstellen mussten – wenn sie nicht völlig nackt aus Pasteten sprangen. Peter war vernarrt in seine Lieblingszwerge, die ihn in seinem Gefolge auf Reisen begleiteten.
Peter soll bei Enthauptungen der Strelizen ein deutsches »Schwert Justitias« benutzt haben, wie es sowohl als Symbol im Gerichtssaal als auch bei Hinrichtungen zum Einsatz kam. Dies lässt sich nicht beweisen, doch ein solches Schwert kann heute in der Rüstkammer des Kremls besichtigt werden. Als ein Strelize namens Orlow den Kopf des Opfers vor ihm mit dem Fuß zur Seite beförderte und vortrat, um zu sterben, bewunderte Peter seinen Mut und schenkte ihm die Freiheit. Es war der Großvater von Grigori Orlow, dem Geliebten Katharinas der Großen.
Während seiner Reisen durch Russland regierte Peter mit Hilfe von Fjodor Golowin, dem stillen, überarbeiteten, vielseitig einsetzbaren Minister, der als Feldmarschall, als Generaladmiral und in der Außenpolitik tätig war, und einigen zuverlässigen Kabinettschefs, darunter dem Fürst-Cäsar und dem unverzichtbaren, halben Analphabeten Menschikow, der auf seinen ersten richtigen Posten berufen wurde: als Erzieher des Zarewitschs Alexei. Peters letzte Verfügung im alten Jahrhundert betraf den byzantinischen Kalender, der bis zur Schöpfung der Welt zurückreichte. Zu Ende des byzantinischen Jahres 7208 übernahm Peter die westliche Zeitrechnung mit der Geburt Christi als Beginn: Man zählte den 1. Januar 1700.
Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Monarchen verliehen die russischen Zaren traditionell keine Titel. Dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, gewöhnlich der österreichische Erzherzog aus dem Geschlecht der Habsburger, aber stand es zu, Fürsten und Grafen zu ernennen, und auf Nachfrage half er dem Zaren gern damit aus.
Ungeteilt ging Golowins Macht an niemanden über. Der pedantische und knauserige Gawril Golowkin, ein Verwandter von Peters Mutter, der ihn zu den holländischen Werften begleitet hatte, übernahm das Außenamt, und der leutselige und kompetente Fjodor Apraxin, der Schwager Fjodors III., der als Junge Mitglied der Spielregimenter gewesen war, wurde Generaladmiral der Flotte. Feldmarschall Scheremetew wurde für die Niederschlagung einer Kosakenrevolte in Astrachan mit dem Titel eines Grafen belohnt, dem ersten, der je von einem Zaren verliehen wurde. Golowkin und Apraxin erhielten ebenfalls bald den Grafenrang.
Der gebildete Aristokrat Masepa hatte im Westen studiert und am polnischen Hof gedient, bis er eine unüberlegte Liebesaffäre mit der Frau eines polnischen Adligen begann. Der Ehemann ließ ihn ergreifen, nackt ausziehen und auf ein wildes Pferd binden, das in die Steppe getrieben wurde. Wie es heißt, wurde er dort von den Saporoger Kosaken entdeckt und gerettet.
In den Jahren 1707 bis 1709 unterteilte Peter Russland in neun gubernji – von Gouverneuren geleitete Gouvernements. Menschikow wurde Gouverneur von St. Petersburg, Peters »Vater-Ersatz« Streschnew Gouverneur von Moskau, und die anderen Posten wurden auf Peters Angehörige verteilt. Die Gouverneure unterstanden allein Peter, waren also nicht der offiziellen Zentralregierung und den alten, noch immer in Moskau ansässigen Verwaltungsämtern (prikasi) Rechenschaft schuldig.
Im Jahr 1703 hatte Gawril Golowkin in Konstantinopel den Kauf von »Abraham, dem schwarzen Mohren« verfügt, einem Sklavenjungen, der wahrscheinlich von Sklavenhändlern im Tschad oder in Äthiopien geraubt worden war. Peter war Pate bei der Taufe des jungen Muslims, der den Namen Abraham Petrowitsch Hannibal bekam und der Peter als einer seiner schwarzen Pagen diente. Die als Nubier, Araber oder Abessinier bekannten Diener waren eine exotische Besonderheit an den Höfen der Romanows bis ins Jahr 1917. Hannibal war außerordentlich begabt. Als Peter sein Talent für Sprachen und Mathematik entdeckte, ließ er ihn für weitere Studien in Frankreich zurück. In der Folge wurde er der erste General afrikanischen Ursprungs in Europa und Urgroßvater des Dichters Puschkin. Dieser schilderte Hannibals Lebensgeschichte in dem Romanfragment Der Mohr des Zaren.
Menschikow verfolgte Karl, der begleitet von Masepa und dessen Kosaken (die sich als Verräter nicht ergeben durften) und einem kleinen Gefolge mit Mühe und Not an den ukrainischen Fluss Bug gelangte. Dort ließ Karl seine Truppen zurück und flüchtete sich auf das Gebiet der Osmanen, von wo aus er weiterhin den Krieg gegen Peter lenkte.
In der griechischen Mythologie trieb Phaeton seinen Wagen zu solcher Geschwindigkeit und zu solchen Höhen an, dass er in Flammen aufging – eine Metapher für die Gefahr überzogener Ambitionen.
Allen voran beauftragte Menschikow den italienischen Architekten Giovanni Fontana mit dem ersten Steinbau auf der Wassiljewski-Insel, einem Palais, das dem Zaren zunächst als Stützpunkt diente. Zur gleichen Zeit errichtete der aus der italienischen Schweiz stammende Domenico Trezzini neben der Festung die Peter-und-Paul-Kathedrale und auf dem gegenüberliegenden Newa-Ufer Peters Sommerpalast, ein kleines zweistöckiges Gebäude im Stil des flämischen Barock. Unweit dieser Residenz ließ Peter seinen aus Holz gebauten Winterpalast errichten.
Peter der Große war nicht darauf erpicht, Juden in Russland anzusiedeln – »Mir sind die Mohammedaner immer noch lieber als die Juden, diese Gauner und Betrüger« –, dennoch gewährte er konvertierten Juden wie Baron Schafirow und General Devier, dem späteren Polizeimeister von St. Petersburg, gern seine Unterstützung.
Schafirow blieb als Geisel zurück. In Konstantinopel handelte er den Frieden von Adrianopel aus, der Karl XII. den Aufenthalt im Osmanischen Reich unmöglich machte. In einem wilden Ritt legte »König Eisenkopf« daraufhin die Strecke von der Walachei bis nach Stralsund, dem letzten schwedischen Stützpunkt im Baltikum, in nur 13 Tagen zurück. Er wechselte weder Kleider noch Stiefel, so dass ihm Letztere nach seiner Ankunft vom Fuß geschnitten werden mussten. Doch er hatte dafür gesorgt, dass der Krieg fortgesetzt wurde.
Der ausgesprochen gutaussehende, im Kampf, bei Regierungsgeschäften und in der Diplomatie erfolgreiche, ungewöhnlich charakterstarke und zudem trinkfeste Jaguschinski, Sohn eines polnischen Kirchenorganisten, hatte bei Peter als denschtschik begonnen, war wegen seines Muts in den Kämpfen am Pruth zum Generaladjutanten und im Hofstaat des Zaren rasch befördert worden. Jetzt begleitete er Peter auf jedem seiner Schritte und saß auf Reisen gewöhnlich bei ihm in der Kutsche. In der Fidelen Gesellschaft trug er den Titel des Zeremonienmeisters. In gewissem Sinne war er ein neuer, ehrlicherer Menschikow.
In der Folge schlug Apraxin vor, den Zaren in den Rang eines regulären Generals zu erheben, was Peter sehr freute. »Als Geliebte eines Generals solltet Ihr mir gratulieren«, erklärte er Katharina. »Gratulieren wir uns als General und seine Gemahlin doch gegenseitig«, neckte sie ihn. »Doch ich kann diesen Rang nicht würdigen, ehe ich Euch nicht persönlich vor mir sehe. Wenn Ihr doch wenigstens ein echter Admiral gewesen wärt!«
Im Januar 1715 leitete Peter in Moskau die Hochzeit des siebzigjährigen Fürst-Papstes Sotow mit einer um 50 Jahre jüngeren Frau, ein für die trunkene Synode typisches Spektakel, bei dem die Dinge auf den Kopf gestellt waren. Der Bräutigam kam in einem von Bären gezogenen Karren, die Heralde waren die »schlimmsten Stotterer von ganz Russland«, aufgewartet wurde den Gästen von »klapprigen alten Männern«, die Lakaien »waren so dick und unförmig, dass man sie stützen musste«, und die Hochzeitszeremonie vollzog ein hundertjähriger Priester, der »Augenlicht und Gedächtnis verloren hatte«.
Eine weitere strategische Heirat organisierte Peter, als er am 8. April 1716 seine Nichte Jekaterina Iwanowna, die älteste Tochter seines verstorbenen Halbbruders Zar Iwan V. und der Zarin Praskowja, mit Karl Leopold, dem Herzog zu Mecklenburg-Schwerin vermählte. Der Herzog gestattete die Stationierung russischer Garnisonen auf dem Boden seines Fürstentums. Später führten seine alkoholischen und sadistischen Exzesse zum Verlust seines Herzogtums. Diese Heirat ist insofern bedeutsam, als die aus dieser Ehe stammende, im Dezember 1718 geborene Tochter Elisabeth später zum orthodoxen Glauben konvertierte, dabei den Namen Anna Leopoldowna annahm und in Russland als Regentin für ihren minderjährigen Sohn herrschte.
Peter hatte kurz zuvor von den Schwierigkeiten seiner Truppen in Zentralasien erfahren, das sich aus mehreren unabhängigen Khanaten und Emiraten zusammensetzte. Nachdem man ihm von den Reichtümern im Khanat Chiwa (dem heutigen Usbekistan) berichtet hatte, entsandte er einen konvertierten tscherkessischen Duodezfürsten namens Alexander Bekowitsch-Tscherkasski mit einer kleinen Truppe, um Chiwa zur Annahme der russischen Lehnsherrschaft zu bewegen. Bekowitsch konnte den Khan zwar schlagen, doch dieser überlistete ihn und nahm ihn gefangen. Bekowitsch wurde geköpft, sein Leichnam einbalsamiert und im Khanspalast zur Schau gestellt.
Diese neuen Abteilungen (ursprünglich acht, dann neun) traten an die Stelle der einstigen Ämter (prikasi). Die Präsidenten der Kollegien waren anfangs zugleich auch Senatoren. Golowkin leitete das Kollegium für auswärtige Angelegenheiten, Menschikow das Kriegskollegium. Mit den Kollegien verband Peter die Hoffnung, die Korruption einschränken zu können, da sie keine Ministerien waren und (zumindest theoretisch) nicht einer Einzelperson, sondern einem Führungsgremium unterstanden.
Afrosinja entging der Bestrafung. Sie heiratete und lebte noch viele Jahre in St. Petersburg. Jewdokia kehrte ins Kloster zurück. Einige von Peters Gefolgsleuten aus der älteren Generation waren inzwischen gestorben: Fürst-Cäsar Romodanowski starb 1717. Peter drückte seine Trauer gegenüber dessen Sohn Iwan mit den Worten aus: »Es ist der Wille Gottes, dass wir alle auf die eine oder andere Art die Welt verlassen müssen. Behaltet dies im Sinn, ergebt Euch nicht Eurem Kummer. Und glaubt bitte nicht, ich ließe Euch im Stich oder hätte all das Gute vergessen, was Euer Vater getan hat.« Peter ernannte Iwan Romodanowski zum neuen Fürst-Cäsar und Hauptmann von Preobraschenskoje, obwohl er sich bei heiklen Geschäften immer häufiger an Tolstoi wandte, den Leiter der Geheimkanzlei. Der Fürst-Papst Sotow starb im Dezember 1717. Peter führte den Vorsitz der Versammlung zur Wahl des neuen Fürst-Papstes, in deren Verlauf die nackten Brüste der Äbtissin der Synode der Frauen, Daria Schewskaja, geküsst wurden und die Abstimmung mit buntgefärbten Eiern erfolgte. Kurz vor Alexeis Rückkehr entschied man sich für den alten Saufkumpanen Peter Buturlin (im Sprachgebrauch der trunkenen Synode »Peter-Pimmel«).
Ein Parvenü verachtet niemanden mehr als einen anderen Emporkömmling. So empfand Menschikow für Devier und Schafirow einen tiefen Hass. Als sich Devier in Menschikows unverheiratete Schwester Anna Menschikowa verliebte, stemmte er sich gegen eine Verbindung. Anna wurde jedoch schwanger. Devier bat Menschikow um die Einwilligung zur Heirat, damit das Kind einen legitimen Status bekam, doch Menschikow warf ihn hinaus. Daraufhin wandte sich Devier an Peter, der die Vermählung anordnete. Menschikow sollte sich später böse rächen.
Er ließ Trezzini auf der Wassiljewski-Insel neue Gebäude für die Kollegien errichten. Sie standen ganz in der Nähe seiner von dem deutschen Architekten Georg Johann Mattarnovi entworfenen Kunstkammer, in der Peter seine Kuriositäten ausstellte. Dazu gehörten lebende Exemplare wie ein Hermaphrodit, der später flüchtete, und Zwerge und Riesen, die später einbalsamiert wurden, sowie die Genitalien eines Hermaphroditen, siamesische Zwillinge, Säuglinge mit zwei Köpfen und – bald darauf – die Köpfe seiner unglückseligen Höflinge. Peters neu hinzugestoßener französischer Generalbaumeister Alexandre LeBlond entwarf mit dem Newski-Prospekt den zentralen Boulevard St. Petersburgs, der auf viereinhalb Kilometern Länge vom Winterpalast über die Admiralität bis zu dem von Trezzini erbauten Alexander-Newski-Kloster reichte. Er ist auch noch heute die Lebensader der Stadt.
Das ihm liebste war das knapp 30 Kilometer westlich von St. Petersburg liegende Schloss Peterhof. Unweit der Meeresküste ließ er dort das einstöckige Palais Monplaisir errichten, das ihm einen Blick auf seinen Marinestützpunkt Kronstadt bot. Er entwarf es im flämischen Stil mit einem Arbeitszimmer für seine maritimen Hobbys und einem Raum für seine chinesische Sammlung. Nach seinem Besuch in Paris entschloss er sich dann zu einem Palast im Stil von Versailles und des Château de Marly mit ihren Kaskaden. LeBlond baute das Schloss, und der Bildhauer Carlo Rastrelli half beim Entwurf der ersten Wasserspiele. Hielt sich das Zarenpaar in Peterhof auf, wohnte Peter in Monplaisir und Katharina im großen Palast, obwohl sie oft herunterkam und für Peter in der mit Delfter Fliesen gekachelten Küche ein Essen zubereitete. Sie bauten aber noch ein weiteres Landschloss. Peter hatte Katharina 22 Kilometer südlich der Stadt ein später Zarskoje Selo (Zarendorf) genanntes Landgut geschenkt. Sie überraschte ihn damit, dass sie den deutschen Architekten Johann Friedrich Braunstein mit dem Bau eines Schlösschens beauftragte, das später von ihrer Tochter Elisabeth wesentlich erweitert wurde, und zwar in dem Zuckerbäckerstil, wie wir es heute kennen.
Seine schönste Geliebte war Fürstin Maria Tscherkasskaja, seine Favoritin aber dem Vernehmen nach die gebildete Maria Matwejewa. Sie war die Enkeltochter von Artamon Matwejew, dem Minister Zar Alexeis, der beim Strelizenaufstand von 1682 aufgespießt worden war. Als Dank für seine Leistung bei der Rückholung seines Sohns gab Peter sie Rumjanzew zur Frau. Maria überlebte ihren Ehemann und alle anderen und wurde Nestorin an den Höfen Elisabeths und Katharinas der Großen; zur Gräfin erhoben, unterhielt sie ihr Publikum mit pikanten Erinnerungen an Peter den Großen. Ihr 1720 geborener Sohn Peter, angeblich ein Kind des Zaren, wurde einer der besten Generäle Katharinas der Großen. Eine weitere, viele Jahre dauernde Affäre begann Peter mit einem echten Kind seines Spotthofes, mit Fürstin Awdotja Schewskaja, der fünfzehnjährigen Tochter Darias, der Äbtissin des Frauenzweigs der trunkenen Synode. Sie war ausgesprochen schamlos und nicht zu bändigen – Peter nannte sie Virago. Obwohl sie zu jenem Zeitpunkt bereits mit General Grigori Tschernischew verheiratet worden war, soll sie den Zar mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt haben, wofür sie von ihrem Mann angeblich ausgepeitscht wurde. Womöglich stammte ihr Sohn Sachar, der spätere Heerführer Katharinas der Großen, von Peter.
Ein neuer Narr war kürzlich an den Hof gekommen und rasch zum Favoriten aufgestiegen: ein portugiesischer Jude namens Jan da Costa. Der gescheiterte Kaufmann war intelligent, beherrschte mehrere Sprachen und verband funkelnden Witz mit großer Bibelkenntnis. Peter führte mit ihm gern Streitgespräche über religiöse Themen. Als eine Gruppe sibirischer Rentierhirten vom Volk der Nenzen, damals Samojeden genannt, nach St. Petersburg kam, um ihre Künste vorzuführen, erklärte der Zar da Costa zu ihrem König, nahm ihnen für da Costa den Treueschwur ab und schenke ihm eine Insel als sein Reich. Peters Leibarzt Lestocq versuchte, da Costas Tochter zu verführen, doch der Narr wandte sich an den Zaren, und Lestocq wurde getadelt. Da Costa überlebte Peter um viele Jahre und war auch noch in den 1730er Jahren eine feste Einrichtung am Hof.
Der Frieden von Nystadt war von zwei der fähigsten Untergebenen Peters ausgehandelt worden: zum einen vom schottischen Grafen James (Jakow) Bruce, einem hervorragenden Organisator und Kommandeur der Artillerie. Der belesene Mann, Alchemist, Astronomon und Magus, galt aufgrund seiner esoterischen Experimente als der »Dr. Faustus Russlands«. Der zweite, Andrei Ostermann, polyglotter Sohn eines westfälischen Pastors, war als Peters Sekretär und einer seiner wichtigsten Diplomaten tätig. »Ostermann irrt sich nie«, erklärte Peter, der Bruce in den Grafenstand und Ostermann zunächst zum ersten Baron Russlands und dann zum Vizepräsidenten des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten erhob. Zudem verheiratete er Ostermann klugerweise mit seiner Verwandten Martha Streschnewa.
Peter ernannte Prokopowitsch zum Prokurator des Heiligen Synod und erteilte ihm die Verantwortung für die Kirche. Aus diesem Posten wurde bald der des Oberprokurators, der stets von einem Laien besetzt und letztlich eine Art Kirchenminister des Zaren war. Unter den Romanows gab es keine weiteren Patriarchen. Nach der Februarrevolution 1917 wurde zwar ein Patriarch berufen, doch die Bolschewiken schafften dieses Amt ab. Es musste erst ein militant marxistischer, als Junge für das Priesteramt vorgesehener Atheist kommen, um das Amt des Patriarchen wieder einzuführen, das 1943 dazu beitragen sollte, im Großen Vaterländischen Krieg das Nationalgefühl zu befördern: Stalin.
Die Erhebung in den Adelsstand wurde dadurch zu einer Belohnung für geleistete Dienste, wobei der Staat in Gestalt des Zaren über die Stellung jedes Einzelnen entschied. Auf diese Weise war die russische Aristokratie derart eng mit dem Autokraten verbunden, dass sie nie die Unabhängigkeit entwickelte, den Thron ernstlich in Gefahr zu bringen (außer bei kurzen königsmörderischen Ausbrüchen). Es handelte sich jedoch um eine gegenseitige Abhängigkeit, da die Romanows nie andere gesellschaftliche Gruppen fanden, auf die sie sich hätten stützen können. Peter unterteilte die Dienste in drei Bereiche – Militär, Zivilverwaltung und Hofämter – mit jeweils 14 Rangklassen. Ein Offizier wurde grundsätzlich geadelt; im zivilen Bereich stieg man mit Eintritt in die Klasse acht in den Erbadel auf. Peter sorgte jedoch dafür, dass die Spitzenämter von Angehörigen der alteingesessenen Aristokratie wie den Saltykows und den Golizyns besetzt wurden. Ein kleines Netz von Familien mit vielleicht 5000 Mitgliedern dominierte auch weiterhin die Armee, die Positionen am Hof und die ländlichen Gebiete: Etwa acht Prozent der Bevölkerung besaßen 58,9 Prozent an Grund und Boden. Mit diesem Privileg wurden ihnen ihre Dienste in Armee und Regierung vergolten. Die Aristokraten aber hassten ihre Dienstpflicht, und gleich nach Peters Tod begann man, seine Vorschriften zu unterminieren, indem Adlige ihre Söhne beispielsweise im Alter von sieben Jahren zu den Garderegimentern schickten. Auch gab es Möglichkeiten, sich gänzlich der Dienstpflicht zu entziehen. Die Rangtabelle aber, ein Symbol der Militarisierung Russlands, blieb bis 1917 bestehen.
Im islamischen Dagestan ordnete Peter den Frauen an, ihre Schleier abzulegen, und Katharina ließ die Soldaten durch ihr Zelt defilieren, damit sie sich die Schönheiten ansehen konnten: Kein Wunder, dass sie in der Truppe so beliebt war. In Derbent ließ sich Peter für seinen Aufenthalt ein domik, eine Hütte, bauen.
Das Gefolge wirft ein Licht auf die Favoriten jener Tage: Peters Begleiter war Menschikow, Katharinas der Herzog von Holstein-Gottorf, während Apraxin, Kanzler Golowkin und sein Stellvertreter Ostermann die Schleppe trugen. Auf Katharinas Bitte hin war Fürst Wassili Dolgoruki, der sechs Jahre zuvor nur knapp der Hinrichtung entgangen war, begnadigt und eingeladen worden, den Reichsapfel zu tragen. Bruce hielt die neue Kaiserkrone mit einem Rubin »groß wie ein Taubenei« und 2562 Diamanten. Tolstoi, der den Amtsstab trug, wurde anschließend zum Grafen ernannt. Menschikow warf Münzen in die Menge. Kurz darauf wurden weitere seiner Vergehen enthüllt, und Peter, am Ende seiner Geduld angelangt, weigerte sich, Menschikow noch zu empfangen.
Peter hatte Katharina den ersten Hof im westlichen Stil eingerichtet: Es gab eine nach deutschem Vorbild ausgerichete Hierarchie von Höflingen, angefangen vom Oberhofmarschall bis zum Kammerherrn und Kammerjunker, gekleidet in grün, gold und scharlachrot verzierten Tuniken und mit weißen Perücken. Selbst die Mohren hatten farbenprächtige Uniformen. Natürlich war alles von Peter mit seinem Kontrollzwang selbst entworfen worden.
Auch sein Kopf wurde später in der Kunstkammer ausgestellt (wo er noch heute zu sehen ist). Nach Peters Tod hätte Katharina ihn stillschweigend beerdigen können. Doch das tat sie nicht, was immer das bedeuten mag. Katharina fürchtete nach Mons’ Hinrichtung vor allem, von Peter zugunsten seiner jungen Geliebten Maria Cantemir verstoßen zu werden. Maria war die Tochter von Dimitrie Cantemir, eines Bojaren von niederem Adel, dem Gospodar (Fürst) von Moldau. Nach seiner kurzen Herrschaft als russischer Verbündeter während des Feldzugs am Pruth hieß Peter den Philosophen, Komponisten und Historiker in St. Petersburg willkommen. Durch die Stellung seiner Tochter gewann er an Einfluss. Als Maria Peter nach Astrachan begleitete, wurde sie schwanger; zum Entsetzen Katharinas geschah dies zu einer Zeit, in der die Thronfolge noch völlig offen war. Nach ihrer Rückkehr nach St. Petersburg starb das Kind, doch Maria nahm erneut die Stellung als Peters Favoritin ein. Es wurde gemunkelt, sie habe Peter mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt. Nach seinem Tod verbannte Katharina sie vom Hof, doch unter Kaiserin Anna führte Maria in St. Petersburg einen literarischen Salon.
»Segelt auf der Grundlage derzeitiger Erwartungen auf Euren Schiffen nach Norden«, schrieb Peter am 23. Dezember 1724 an Kapitän Bering, »denn niemand weiß, wo es endet. Findet heraus, ob dieses Land zu Amerika gehören könnte … Sucht, wo sich Asien und Amerika teilen.« Berings Expedition führte zur Entdeckung der Meerenge zwischen Asien und Amerika und der späteren russischen Kolonisierung Alaskas.
James Bruce entwarf die neue Bestattungszeremonie mit der öffentlichen Aufbahrung, den soldatischen Trauermärschen und der militärischen Prachtentfaltung, die heute als typisch russisch gilt und nicht nur Zaren zuteilwurde, sondern auch den Generalsekretären der Kommunistischen Partei Sowjetrusslands.
Sie vergaß auch ihre Angehörigen nicht und verfügte, dass ihre zwei Brüder und zwei Schwestern, livländische Viehzüchter, die nicht Russisch sprachen, im Luxus von Zarskoje Selo untergebracht wurden. Sie alle erhielten den Grafenrang und ungeahnte Reichtümer. Ihre Nachkommen, unter anderem das Grafengeschlecht der Skawronskis und Hendrikows, gehörten bis zur Revolution zur Elite der russischen Aristokratie.
Katharina löste die Geheimkanzlei auf und überstellte deren Folterknechte zurück nach Preobraschenskoje. Die Abschaffung der Geheimpolizei und ihre Neugründung unter einem anderen Namen hat seitdem bei politischen Führungswechseln Tradition, sei es bei adligen Herrschern, bei Sowjets oder bei Präsidenten.
Katharina hatte sich von Menschikow versprechen lassen, dass ihre Tochter Elisabeth von Holstein-Gottorfs Cousin, den gerade in St. Petersburg eingetroffenen Fürstbischof von Lübeck, Karl August von Holstein, heiraten würde. Elisabeth war zeitweise vielen zugedacht, von Ludwig XV. bis zum Schah von Persien, den Fürstbischof aber liebte sie wirklich. Er starb nach kurzer Zeit, sein Einfluss jedoch überlebte ihn: Als Kaiserin Elisabeth später eine Frau für ihren Erben suchte, wählte sie die Nichte des Fürstbischofs, Sophie von Anhalt-Zerbst. Aus ihr wurde Katharina die Große.
Peter wohnte abwechselnd im Kreml und im ehemaligen Palais Le Forts, dem Lefortowo-Palast, der heute trotz seines baufälligen Zustands die Archive des Kriegskollegiums und -ministeriums beherbergt. Ein Teil der Recherchen für dieses Buch wurde dort durchgeführt, und einmal brach der Autor durch die maroden Treppenstufen. Es steht in der Nähe des gefürchteten Lefortowo-Gefängnisses, unter Stalins Terrorregime Schauplatz vieler Hinrichtungen.
Annuschka, die zweite Tante des Zaren, Herzogin von Holstein-Gottorf und Tochter Peters des Großen, befand sich in Kiel. Ihr Sohn, Karl Peter Ulrich, war dank des Netzes von Heiratsbündnissen in Europa potentieller Erbe des Herzogtums Holstein-Gottorf, des Königreichs Schweden und des Russischen Reiches. Als der Enkel Peters des Großen zur Welt kam, einer der seltenen männlichen Nachkommen, wurde das Ereignis in Moskau mit einem Ball gefeiert. Die Mutter Annuschka erkältete sich bei den Festlichkeiten in Kiel und starb im Mai mit nur 20 Jahren. Ihr Sohn aber sollte eines Tages regieren – und Katharina die Große heiraten.
Der inzwischen fünfundsechzigjährige Golizyn hatte unter Peters Willkür gelitten. Als Präsident des Wirtschaftskollegiums war er beim Sturz Schafirows mitgerissen worden. Gerettet hatte ihn nur das Einwirken Katharinas. Dieser nobelste der russischen Aristokraten hatte der Bauernkaiserin danken müssen, indem er zu ihren Füßen niederkniete und mit der Stirn den Boden berührte.
Miljutin, der Narr, der besonders gut Annas Füße kitzeln konnte, war der Ahnherr von Fürst Dimitri Miljutin, Kriegsminister unter Alexander II. und dessen Bruder Nikolaus, der wesentlich zur Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 beigetragen hat.
Um den Unmut der Bevölkerung zu beschwichtigen, ließ Anna alle Juden ausweisen. Katharina I. hatte bereits im Jahr 1727 nach Peters Tod eine Ausweisung der Juden verfügt, und Anna erneuerte ihren Erlass. Ein Jude wurde in seinem Dorf bei lebendigem Leibe verbrannt, weil er gegenüber der Kirche eine Synagoge erbaut und einen Christen zum Judentum bekehrt hatte, den man gleich mit ihm hinrichtete. Biron war jedoch auch Herr eines »Hofjuden«: Isaak Libman aus Riga wurde 1734 an Annas Hof zum Oberhofkommissar ernannt. Er bewegte und verdiente große Summen als Ausstatter der Armee und als Zwischenhändler bei der Anschaffung von Kunst und Schmuck, zum Beispiel des juwelenbesetzten Schwerts, mit dem Münnich ausgezeichnet wurde. Obwohl es nicht üblich war, konnte Libman auch während seiner Dienstzeit bei Anna seine Religion ausüben. Einer der Ärzte der Kaiserin war der konvertierte portugiesische Jude Antonio Sanchez.
Am 9. Oktober starb in Wien Karl VI., Erzherzog von Österreich, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, und hinterließ als Thronfolgerin seine Tochter Maria Theresia. Er hatte sich in Europa für die sogenannte »Pragmatische Sanktion« eingesetzt – dass die Krone auch an Frauen weitergegeben werden kann, der Kaisertitel aber von ihrem Mann geführt werden sollte. Mit Maria Theresias Krönung eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten für einen anderen jungen Monarchen, der gerade die Thronfolge angetreten hatte: den preußischen König Friedrich den Großen.
17391747