Ein allzu schönes Mädchen

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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2009

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ISBN Printausgabe 978-3-499-23624-2 (14. Auflage 2009)

ISBN E-Book 978-3-644-20151-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-20151-4

Prediger 3, 19

Erster Teil

Als Monsieur Costard – ein im elsässischen Mittelbergheim ansässiger Handwerker, der sich auf dem Heimweg von einem Besuch bei seiner Schwester befand – am späten Nachmittag dieses Tages mit seinem Motorrad an der Unglücksstelle vorüberkam, entdeckte er drei Leichen, von denen sich zwei noch im Inneren des Autowracks befanden, während die dritte einige Meter entfernt auf dem steinigen Boden lag. Wie die Ermittlungen ergaben, handelte es sich bei den Toten um den arbeitslosen Lehrer Peter Geissler, seine aus Lothringen stammende Frau Isabelle und deren zehnjährigen Sohn.

Da es keinerlei Bremsspuren gab, nahm die Polizei an, dass der Fahrer entweder eingeschlafen war oder aber den Unfall absichtlich herbeigeführt hatte. Die sechzehnjährige Tochter der Familie, die sich wahrscheinlich ebenfalls in dem Fahrzeug befunden hatte, wurde nicht gefunden. Als die Suche nach dem Mädchen auch fünf Tage später noch erfolglos geblieben war, übergab man den Fall den Behörden in Saarbrücken, wo die Familie wohnte.

Erst einige Zeit später stießen die deutschen Ermittler auf einen Brief des Lehrers, der nahe legte, dass es sich tatsächlich

Eins

Manon hatte Hunger. Dreimal war es dunkel geworden, seit sie unterwegs war, und dreimal wieder hell. Kein Mensch war ihr begegnet. Einmal hatte sie ein Reh gesehen, aber als sie sich dem Tier hatte nähern wollen, war es geflohen. Noch immer stand sie am Waldrand und blinzelte in die Ebene. Wenn sie ihr Gewicht vom einen auf das andere Bein verlagerte, verzerrte sich ihr Mund vor Schmerzen.

Zögernd hinkte sie weiter. Fast wirkte sie selbst wie ein vorsichtiges Tier, das sich in der fremden Umgebung erst noch zurechtfinden muss. Ihre Kleider waren zerrissen und an einigen Stellen starr vom getrockneten Blut. Wenn sie meinte, ein

Jetzt kam von Westen Wind auf und fegte den Himmel blank. Mit schweren Flügeln strich ein Bussard übers Feld. Unter Manons Füßen brach das kalte Laub. Weit hinten eine Kate, die Bäume kahl und eine Frau, die Brennholz sammelte. Blau hing der Winter überm Land, darunter alles schwarz und weiß. Eine Katze duckte sich durch die Ackerfurchen, dann sprang sie auf und einer Krähe nach, die ihr entwischte. Jetzt saß die Katze da und lugte ratlos in die Luft, der Vogel aber ließ sich auf einem fernen Ast nieder. Manon musste lachen. Vor ihrem Mund gefror die Luft zu weißen Flocken.

Als sie an einem Abhang Kinder sah, die Schlitten fuhren, presste sie ihre Hände auf die Ohren, um das Lachen und die Rufe nicht zu hören. Sie schlug einen Bogen um den Hügel, verbarg sich gelegentlich hinter einer Hecke. Sie floh die Nähe der Menschen. Einmal tauchte unvermutet ein Bauer mit seinem Traktor vor ihr auf, da warf sie sich hinter einen Findling und blieb reglos am Boden liegen, bis das Motorengeräusch in der Ferne verklungen war. Bevor sie aufstand, bewegte sie die Arme auf und ab, sodass ein Muster im Schnee entstand, das der Figur eines Engels glich. Vielleicht hatte ihr Vater sie dieses Spiel gelehrt. Sie ließ den Engel liegen und zog weiter; ihr Atmen wurde mit jedem Schritt schwerer. Längst

Sie folgte dem Lauf eines Baches, dessen Ufer mit schrundigem Eis bedeckt waren. Nur in der Mitte bahnte sich das Wasser einen schmalen Weg und floss dem Mädchen gurgelnd voraus. Manons Hunger wurde größer. Sie fand ein paar Bucheckern, kaute lange auf den harten Früchten herum und spuckte die Überreste schließlich aus. Dann bückte sie sich, nahm etwas Schnee, ließ ihn in den Handflächen schmelzen und leckte das Wasser auf. So hatte sie es auch die Tage zuvor gemacht.

Als sie sich der Kate näherte, begann es bereits zu dunkeln. Das Häuschen stand einsam inmitten der weiten Felder, und dass es bewohnt war, sah man nur an dem Rauch, der dünn aus dem Schornstein emporstieg, bevor er sich im Abendhimmel verlor. Schließlich ging ein Licht im Innern des Hauses an. Erschrocken zog sich Manon zwischen ein paar Bäume zurück, die, nicht weit entfernt, das Ufer des Baches säumten. Eine Weile verharrte sie so, bis sie erneut den Mut fand, sich dem Gebäude zu nähern. Einige Male umkreiste sie das kleine Haus, immer darauf bedacht, dass man sie nicht entdeckte, dann schlich sie dicht heran, drückte ihren Rücken an die Mauer und bewegte sich vorsichtig auf das beleuchtete Fenster zu. In dem Zimmer saß eine ältere Frau an einem Tisch und las in einem Buch. Sie hatte noch dunkles, fast schwarzes Haar, das sie zu einem seitlichen Knoten geschlungen hatte. Ab und zu ließ sie das Buch auf den Tisch sinken, schloss die Augen und bewegte lautlos die Lippen, als ob sie betete. Von Schmerz oder Hunger getrieben, begann Manon zu wimmern, leise genug, dass man sie im Haus nicht hören konnte, aber doch so laut, dass sie sich nicht allein fühlte.

Als die Frau das Licht gelöscht hatte und es im Haus ganz still geworden war, öffnete das Mädchen das verriegelte Tor

Am nächsten Morgen wurde Manon durch das Rumoren der Frau geweckt. Sie kroch zum Eingang des Schuppens und öffnete die Tür gerade weit genug, dass sie durch einen schmalen Spalt hinaus auf den Vorplatz des Hauses sehen konnte. Aufmerksam beobachtete sie jede Bewegung, die ihre ahnungslose Gastgeberin machte. Schließlich holte diese einen Korb aus dem Haus, setzte sich in ihr Auto, ließ den Motor an und fuhr langsam auf dem immer noch verschneiten Feldweg davon. Das Mädchen wartete, bis der Wagen einen Hügel hinaufgeschlichen und von dem dünnen Spalt zwischen Himmel und Horizont verschluckt worden war.

Sie hatte Glück; die Haustür war unverschlossen. Manon ging ins Innere der Kate und schaute sich um. Mit einer solchen Gier nahmen ihre Augen die neue Umgebung auf, dass man meinen konnte, sie hätten nie zuvor eine menschliche Behausung gesehen. Alles fasste sie an, über jeden Stuhl, über jeden Teller ließ sie ihre Finger gleiten, sie sank auf den Boden, schnupperte an den hölzernen Dielen, sog tief den Geruch des Bohnerwachses ein, trank einen Rest Kaffee, leckte die Tasse aus und fuhr dann mit der Zunge über den Küchentisch, wo ein paar Brotkrumen vom Frühstück der Frau übrig geblieben waren. Einmal erschrak sie, als eine Katze sich unverhofft an ihrem Bein rieb. Sie schrie und trat nach dem Tier, doch als nichts weiter geschah, beruhigte sie sich und setzte ihre Erkundungen fort. Im Brotkasten fand sie den vertrockneten Rest eines Weißbrotes, den sie nach draußen trug, um ihn im Schnee aufzuweichen und an Ort und Stelle zu vertilgen. Sie entdeckte einen Krug Milch und trank ihn in einem Zug aus, sie öffnete den Kühlschrank, verschlang einen halben Ring

Minutenlang stand sie starr und schaute sich an. Dann schloss sie die Augen und begann zu zittern. Ihr Körper bebte vor Angst, und doch schien ihr der Mut zu fehlen, sich einfach umzuwenden und dem Spuk ein Ende zu bereiten. Erst als sie merkte, dass das fremde Wesen offenbar nicht die Absicht hatte, sie anzugreifen, wagte sie es, die Augen wieder zu öffnen. Sie hob die Hand, sie neigte den Kopf, sie streckte die Zunge heraus und musste lachen, als sie jede ihrer Bewegungen verdoppelt fand. Bald war sie kühn genug, dass sie das andere Mädchen berühren wollte. Als sie aber die Hand hob, um ihm über die Wange zu streicheln, und nichts als kaltes Glas fühlte, wurde Manon böse. Aufgeregt tastete sie die gesamte Fläche ab, bis ihr klar wurde, dass man sie betrogen hatte. Voller Wut schlug und trat sie auf den Spiegel ein und hörte erst damit auf, als ihre Zehen schmerzten und die Knöchel ihrer Hand bluteten. Dann spuckte sie ihrem Bild ins Gesicht und verließ das Haus.

An einem niedrigen Anbau entdeckte sie eine Tür. Mit einiger Mühe gelang es ihr, den Riegel zurückzuschieben. Unversehens fand sie sich am Eingang zu einem winzigen Stall, der bewohnt wurde von einem guten Dutzend Hühner, einigen Enten, zwei Ziegen und einem Schwein. Der Gestank, der Manon aus dem Verschlag entgegenquoll, und der erneute Schreck, der sie beim Anblick einer so großen Zahl von Lebewesen durchfuhr, ließen sie zurückprallen. Doch auch jetzt überwog ihre Neugier, sodass sie das Vieh zunächst eine Weile

Zwei

Madame Fouchard war eine unerschrockene Frau, die nach dem frühen Tod ihres Mannes nicht wieder geheiratet hatte, obwohl es an Bewerbern aus der näheren und weiteren Umgebung nicht gefehlt hatte. Ihre Ehe war, nach zwei Fehlgeburten und der dringenden Warnung des Arztes vor einem weiteren Versuch, kinderlos, aber doch bis zum letzten gemeinsamen Tag glücklich geblieben. Die Ehepartner hatten es geschafft, die ungestillte Sehnsucht nach einem Kind in umso größere Zärtlichkeit füreinander zu verwandeln. So begleitete Madame Fouchard ihren Mann, der bei der Landwirtschaftsbehörde in Straßburg angestellt war, stets auf dessen häufigen Reisen, und er besprach alle beruflichen Probleme, wenn er abends aus dem Büro nach Hause kam, noch bevor er sie mit Kollegen oder Vorgesetzten erörterte, mit seiner Frau.

Dann wurde Monsieur Fouchard krank. Und bald war klar, dass er nicht wieder genesen würde. Es war ein langer Abschied, den die beiden Eheleute voneinander nehmen mussten. Und immer wieder beschwor der Kranke seine noch junge Frau, ihn nach seinem Tod zwar gebührend zu betrauern, dann aber wieder ein normales Leben zu führen. Celeste, die

 

Tatsächlich dauerte es lange, bis die junge Witwe sich an das Alleinsein gewöhnte. Doch nach und nach schaffte sie ein wenig Vieh an, pachtete etwas Land, eignete sich die Fertigkeiten, die sie für Haus und Hof benötigte, mit großem Geschick an und musste nur in seltenen Fällen einen Handwerker zu Hilfe rufen. Und obwohl sie sich in den vielen nachfolgenden Jahren immer mal wieder für ein paar Wochen oder Monate einen Liebhaber hielt, achtete sie doch stets darauf, die Verbindung sofort abzubrechen, wenn einer dieser Männer begann, ihr ernsthafte Avancen zu machen, eine feste Liaison oder gar eine Heirat zu fordern oder nur vorzuschlagen. Sie wollte zwar gelegentlich das Bett, nicht aber noch einmal das Leben mit einem Mann teilen, dafür war ihr die Erinnerung an Monsieur Fouchard zu teuer. Bald war sie klug genug, sich nur noch mit verheirateten Männern einzulassen, da sie bei diesen zumeist sichergehen konnte, dass ihr allzu große Begehrlichkeiten erspart blieben. Freilich konnte es dabei nicht ausbleiben, dass gelegentlich eine der betrogenen Gattinnen ihrem Mann auf die Schliche kam. Als eine solche Ehefrau sie vor einigen Jahren auf dem Postamt zur Rede gestellt hatte, hatte Madame Fouchard ihr mit fester Stimme erwidert, dass es ganz allein das Problem des Ehepaares sei, wie es solche Dinge untereinander regele, sie selbst habe nichts als ihr Vergnügen im Sinn und erhebe keine weiteren Ansprüche. Fortan

Als Madame Fouchard festgestellt hatte, dass weder Geld noch Wertgegenstände fehlten, nahm sie an, dass es sich bei dem Einbrecher entweder um einen hungrigen Landstreicher gehandelt habe oder aber um einen Dummejungenstreich. Um die entlaufenen Tiere machte sie sich keine Gedanken; sobald sie Hunger bekamen, würden sie sich wieder einfinden oder aber im Laufe der nächsten Tage von einem der benachbarten Bauern zurückgebracht. Der Schaden hielt sich in Grenzen, und so war die Witwe schon bereit, dem Vorfall keine weitere Bedeutung beizumessen, als sie in der hinteren Ecke des Stalls ein schmutziges Bündel entdeckte. Erstaunt blieb sie stehen, dann ging sie zurück zum Eingang, um die Tür ein Stück weiter zu öffnen. Das Sonnenlicht fiel jetzt direkt auf Manons Gesicht, und das schlafende Mädchen begann, sich zu regen. Instinktiv und ohne ihren Blick von dem unbekannten Wesen abzuwenden, griff Madame Fouchard nach der Forke, die neben der Eingangstür stand, und rief: «He, du, was hast du hier zu suchen?» Und als nichts geschah, wiederholte sie ihre unsinnige Frage, diesmal noch ein wenig lauter: «He, du, was machst du da?»

Geblendet vom grellen Licht, legte Manon sich die Hand vor die Augen. Die Stimme der fremden Frau klang in ihren Ohren nicht anders als das Bellen eines Hundes. Sie verstand die Worte nicht. Es jagte sie auf und in die Ecke. Das Fieber war erneut gestiegen, und sie drückte sich zitternd an die rückwärtige Wand des Stalls. Das Holz trieb ihr Splitter in die Haut und unter die Fingernägel, so sehr verkrallte sie sich in die grob gezimmerten Latten. Das Mädchen öffnete weit den Mund, sodass es für einen Moment einer schreienden Katze glich, aber es entwich ihm kein Laut, und Madame Fouchard

Eine Weile verharrte die Witwe noch an der Stalltür, bis sie sich schließlich ein Herz fasste, ein paar Schritte auf das Mädchen zuging und nun besänftigend auf es einsprach. Nach und nach wurde Manon ruhiger. Während ihr Körper noch vom Fieber geschüttelt wurde, legte sie den Kopf auf die Schulter und betrachtete mit glasigen Augen jene Frau, die sich ihr als Silhouette näherte, sich nun zu ihr hinabbeugte, die Hand nach ihr ausstreckte und ihr über die struppigen Haare strich. Noch einmal bäumte sie sich auf, schlug nach dem großen Schatten, dann verließen sie die Kräfte, und sie sackte zurück auf den stroh- und kotbedeckten Boden.

Madame Fouchard hob das Bündel auf, trug es ins Haus und legte es, schmutzig und stinkend, wie es war, in ihr Bett. Dann rief sie erneut bei der Gendarmerie an und sagte, die Sache habe sich erledigt, sie wolle von einer Anzeige absehen, da sie nach genauerer Inspektion des Hauses zu der Überzeugung gekommen sei, dass die kleine Unordnung, die sie nach ihrer Rückkehr vorgefunden habe, eher auf ein streunendes Tier als auf einen Einbrecher zurückzuführen sei. Der Dienst habende Polizist wunderte sich zwar, gab sich aber gerne mit dieser Erklärung zufrieden, denn er hatte mit den Verkehrsunfällen der letzten Tage mehr als genug zu tun und war froh, nicht auch noch die Fahrt zum abgelegenen Hof der Witwe Fouchard vor sich zu haben.

 

Das Mädchen schlief ohne Unterbrechung den Rest des Tages, die ganze folgende Nacht und auch den nächsten Vormittag. Als Manon gegen Mittag für wenige Minuten aufwachte, saß die Witwe neben ihr und hielt ihre Hand. Sie war zu schwach, um sich dieser Fürsorge zu erwehren, und ließ es ebenfalls geschehen, als ihr die Frau eine Tasse mit warmem

Als Manon wieder so weit bei Kräften war, dass sie ohne Hilfe auf den Beinen stehen und im Haus umhergehen konnte, bereitete Madame Fouchard ihr ein Bad und machte sich daran, sie zu entkleiden. Ohne Gegenwehr ließ Manon alles mit sich geschehen. Sie ließ sich waschen, die Haare einseifen und hinterher mit lauwarmem Wasser abspülen, allerdings vermied sie es, der Witwe in die Augen zu schauen, und immer wenn sich ihre Blicke begegneten, senkte sie rasch die Lider.

Nun, da sie das Mädchen, befreit vom Schmutz und den zerrissenen Kleidern, zum ersten Mal wirklich sah, war Madame Fouchard von dem Anblick, der sich ihr bot, zutiefst erschüttert. So etwas hatte sie, die sich einiges darauf zugute hielt, eine weitgereiste und in den Dingen der Welt und der Menschen bewanderte Frau zu sein, noch nie gesehen.

Soll man sagen, dass Manon schön war? Ja. Aber was war das für ein abgenutztes, schales Wort für eine solche Schönheit! Musste denn nicht jedes Wort verblassen neben der Wirklichkeit dieses Gesichts, dieser Gestalt und ihrer Bewegungen? Ein schön geschnittenes Profil gab es häufiger, der Schwung ihres Nackens war nicht einzigartig, ihre schmalen Augen mit den großen Pupillen, das übervolle kupferfarbene Haar, die schimmernden Zähne, die kirschroten Lippen, die Linie ihres Rückens, all das war, jedes für sich genommen, nichts, was man nicht auch bei anderen Frauen hätte finden können. Bei Manon allerdings vereinigten sich all diese Eigenschaften zu einem so überirdischen Liebreiz, dass es der Witwe das Herz zusammenkrampfte. Einzig ein kleines, kreisrundes Muttermal,

Wirklich, Manon war schön, wie man so sagt: unbeschreiblich schön. Und doch war es eine Schönheit, die sie so sehr von ihrer Umgebung abhob, dass man meinen konnte, das Mädchen sei, egal, wie viele Menschen um es waren, allein. Dieser Eindruck wurde, wie sich bald zeigen sollte, noch deutlicher, da sich Manon ihrer Schönheit nicht bewusst zu sein schien. Sie bemerkte die Blicke nicht, die ihr folgten, wenn sie später über den Dorfplatz ging, hörte die geflüsterten Bemerkungen nicht, wenn sie den Tanzsaal des Gasthofs durchschritt. Ihre Wirkung beruhte auf jener Mischung aus Unschuld und Verheißung, die es so selten gibt, die willentlich nicht zu erzeugen ist und der sich kaum jemand, der ihr begegnet, entziehen kann.

Drei

Neben ihrer Schönheit gab es eine weitere Eigenschaft, die Manon auszeichnete, und das war ihre ziellose Neugier. Als müsse sie jene Phase der Kleinkinder, in der diese versuchen, den Dingen ihrer Umgebung auf den Grund zu gehen, nachholen oder immer wieder aufs Neue durchleben, stellte Manon der Witwe unentwegt Fragen nach dem Warum und Woher. Sie, die alles vergessen zu haben schien, was ein menschliches Wesen von den Tieren unterscheidet, lernte so schnell und so begierig, dass Madame Fouchard bald an ihre Grenzen gelangt war und sich nicht anders zu helfen wusste, als jede Woche einmal in die Kreisstadt zu fahren, um aus der öffentlichen Leihbücherei immer neue Stapel mit Büchern zu holen. Es schien nichts zu geben, was Manon nicht interessierte. Ein Lehrbuch der Botanik las sie mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die Geschichte der Kreuzzüge, den Fortsetzungsroman in einer Illustrierten mit der gleichen

So viel sie auch las, hatte sie doch nie das Bedürfnis, über ihre Lektüre zu sprechen. Wenn die Witwe wissen wollte, wie ihr dieser oder jener Roman gefallen habe, zuckte Manon mit den Schultern, und wenn sie gefragt wurde, was sie als Nächstes lesen wolle, sagte sie nur: «Egal, irgendwas.» Sie nahm das

Nur einmal, sie hatte sich tagelang in ihren Büchern vergraben und kaum ein Wort gesprochen, hob sie den Kopf und fragte mit brüchiger Stimme: «Tante Celeste, was ist Liebe?»

Die Witwe überlegte einen Moment, dann sagte sie: «Es gibt niemanden, der dir auf diese Frage eine Antwort geben kann. Aber glaub mir, wenn du das erste Mal wirklich liebst, dann wirst du dir diese Frage nicht mehr stellen. Du wirst einfach lieben, und es wird dir ganz egal sein, was die Liebe ist.»

 

Schon wenige Wochen nachdem sie auf dem Hof der Witwe angekommen und bevor sie noch das erste Mal im Dorf gewesen war, hatte sich der Ruf von Manons Schönheit bereits verbreitet. Die wenigen Menschen, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatten – der Postbote, ein benachbarter Bauer, ein paar Jugendliche –, hatten die Nachricht von «der Neuen», deren Anblick einem den Atem raube und das Herz stocken lasse, weitergetragen und so die Neugier der Leute – und vor allem der jungen Männer – angestachelt. Um dem Gerede und den Spekulationen ein Ende zu machen, beschloss die Witwe, die sich ansonsten vom dörflichen Leben so weit es ging fernhielt, gemeinsam mit Manon das Dorffest zu besuchen, das, wie jedes Jahr, am ersten Juliwochenende stattfinden würde. Während im Ort das Festzelt aufgebaut, die Straßen und Häuser geschmückt und in den Nachbardörfern Plakate aufgehängt wurden, holte Madame Fouchard ihre Nähmaschine aus der Kammer und begann ein ebenso schlichtes wie bequemes

Manons Auftritt auf dem Fest zeigte die von Madame Fouchard erhoffte Wirkung. Zwar zogen die Frauen die Augenbrauen hoch, zwar stießen die Männer einander an und pfiffen leise durch die Zähne, zwar versuchte im Laufe des Abends der ein oder andere, der bei Manons Anblick nicht sofort resignierte, mit ihr anzubändeln, aber am Ende ließ die Aufmerksamkeit für das Mädchen nach. Die Legenden, die in kürzester Zeit über das fremde Mädchen verbreitet worden waren, hatten die Vorstellungen von Manons Schönheit so ins Unermessliche wachsen lassen, dass ihre wirkliche Erscheinung dagegen verblassen musste. Freilich, sie war schön, schöner als alle Frauen, die man je in der Gegend gesehen hatte. Aber ihr fehlte jenes Leuchten einer Göttin, das man erwartet hatte, jene Aureole der Stars, der Schaupielerinnen, die man aus dem Fernsehen kannte. Manon schien vielmehr bescheiden, fast unsicher zu sein und widersprach schon deshalb den Vorstellungen der Leute, die als wirklich groß nur jemanden gelten ließen, der sich über sie erhob.

Allein Jean-Luc Girod, einziger Sohn und damit Erbe des reichsten Winzers der Gegend, Ende zwanzig und ein ebenso schüchterner wie begehrter Junggeselle, ließ den ganzen Abend kein Auge von Manon. Immer wieder forderte er sie, zur größten Verwunderung seiner Freunde, zum Tanzen auf, bekam ebenso oft einen Korb, lud dennoch das Mädchen und die Witwe zu einem Glas Crémant ein, eine Freude, die sie ihm, er flehe sie an, keinesfalls abschlagen durften. Er machte Madame Fouchard Komplimente und drohte oder versprach,

Mit seinem großen, schlanken Wuchs, dem dichten, schwarzen Haar und den dunklen Augen, die so warm wie undurchdringlich waren, glich er äußerlich zwar seinem Vater, hatte aber seinen Charakter unter dem Eindruck von dessen brachialem Naturell zum genauen Gegenteil entwickelt. Während der Alte, der in der Gegend nur «Le Comte» genannt wurde, seine Geschäftspartner mit der gleichen Rücksichtslosigkeit behandelte wie seine Frau und den Sohn, war Jean-Luc, der zunächst ein sehr aufgewecktes Kind gewesen war, im Lauf der Jahre immer stiller und damit seiner Mutter immer ähnlicher geworden. So leise war er, dass man ihn manchmal vergaß und Madame Girod vor Schreck zusammenfuhr, wenn er sich wieder angeschlichen hatte und unverhofft hinter ihr stand. Statt mit den anderen Jungen auf den Fußballplatz zu gehen, statt im Sommer von den Klippen in den See zu springen und im Winter mit Skiern den Todeshügel hinunterzusausen, streifte Jean-Luc allein durch den Wald, um das Wild zu beobachten, oder saß daheim und ließ sich von seiner Mutter verwöhnen. Verlassen hatte er sie nur während der Zeit des Militärdienstes, den er in einer kleinen Stadt in der Normandie ableistete und wo er bald auf eigenen Wunsch einem Spähtrupp zugeteilt wurde. Seine Vorgesetzten waren

Vier

Was auch immer er tat oder sagte, nichts schien zu helfen, nichts sie zu beeindrucken. Wenn er sie fragte, ob sie ihn liebe, schien sie nicht zu verstehen. Sie freute sich nur über Dinge, die sie nicht kannte. Über einen seltsam geformten Stein oder über irgendeinen billigen Scherzartikel, den Jean-Luc für sie in der Stadt gekauft hatte. Als er an einem windigen Tag im Frühherbst einen selbst gebauten Drachen mitbrachte, den sie auf den Wiesen unterhalb des Waldes steigen ließen, stand sie mit zurückgelegtem Kopf und weit geöffneten Augen neben ihm und konnte nicht genug davon bekommen, dem Steigen und Fallen des bunten Kinderspielzeugs zuzuschauen. Ihre Augen leuchteten, und ihr Gesicht schien in der späten Nachmittagssonne zu glühen.

Er schwankte, ob er sie für naiv oder für besonders gerissen halten sollte, er wusste nicht, ob sie besonders schutzbedürftig war oder ob man sich besser vor ihr hüten sollte. Jedenfalls war ihm ihr Verhalten so fremd, so unberechenbar, dass sein Interesse für sie immer neue Nahrung fand.

Nur einmal, als sie ihn vom Dachfenster aus mit seinem

Allen, die den Winzerssohn kannten, fiel auf, wie sehr er sich in der folgenden Zeit veränderte. Aus dem schüchternen und immer ein wenig schwermütig wirkenden Jean-Luc war ein strahlender junger Mann geworden, der schon von weitem freundlich grüßte, mit dem man über die Nichtigkeiten des Alltags plaudern konnte und der für jeden ein freundliches Wort hatte. Er blühte auf, wie man so sagt, und auch seine Mutter, die zwar die Anhänglichkeit ihres Sohnes genossen, sich insgeheim aber über sein einzelgängerisches Wesen gesorgt hatte, war froh. Erst jetzt gestand sie sich ein, dass ihr die ungeteilte Liebe Jean-Lucs nicht nur eine Genugtuung, sondern auch eine Last gewesen war, und sie oft gefürchtet hatte, einen jener Söhne großgezogen zu haben, deren Treue nur ihrer

Wäre es nach Manon gegangen, hätte ihr Leben weiter so verlaufen können. Sie hatte kein Ziel, sie kannte keine Absichten. Weder gab es einen Mann, den sie begehrte, noch war sie auf Geld aus. Sie hatte nicht den Wunsch nach einem Haus, wo sie, wie die Frauen um sie herum, mit ihrer Familie wohnen würde, und schon gar nicht gab es einen fernen Traum, den sie zu verwirklichen trachtete. Sie wollte weder für ihre Schönheit berühmt werden, noch war sie bestrebt, eine ihrer Fähigkeiten so weit auszubilden, dass sie damit auf den Bühnen der Welt hätte Beifall ernten können, sie wollte nichts. Sie lebte für den Augenblick, für die nächste Mahlzeit, für das kleine Glück, im Fluss zu baden, und vielleicht noch dafür, und darin war sie ganz Schülerin der guten Madame Fouchard, mal mit diesem, mal mit jenem Jungen im Bett oder auf einer Wiese zu liegen, ohne daraus den Anspruch oder nur den Wunsch auf eine Wiederholung abzuleiten.

So vergingen die Zeit und das Jahr.

 

Eines Abends in den ersten Augusttagen des Jahres 2000 klagte Madame Fouchard, die in den letzten Jahren nie krank gewesen war und außer zur Absolvierung der regelmäßigen Kontrollen nie einen Arzt benötigt hatte, über heftiges Kopfweh. Wenig später breitete sich der Schmerz über den gesamten Oberkörper aus und hatte bald darauf auch den Magen befallen. Als Manon ihr anbot, Hilfe zu rufen, lehnte die Witwe ab und meinte, es handele sich nur um eine vorübergehende Übelkeit, womöglich hervorgerufen durch den am Mittag verzehrten Fisch, der wohl nicht mehr ganz frisch gewesen sei. Sie werde sich ein wenig hinlegen, die Ruhe werde ihr gut tun, denn der Schlaf, das habe schon ihre Mutter gesagt, sei noch allemal die beste Medizin. Nachdem Manon ihr beim Auskleiden geholfen

Manon erwachte früh am nächsten Tag, schlief aber, da sie keines der vertrauten morgendlichen Geräusche hörte, noch einmal ein und wunderte sich erst, als sie geraume Zeit später, die Sonne stand bereits hoch am Himmel, vom Lärm der unruhig werdenden Tiere geweckt wurde. Barfuß stieg sie die Treppe hinab, lauschte an der Tür zu Madame Fouchards Kammer, klopfte an, rief, klopfte noch einmal und betrat dann, ohne eine Antwort bekommen zu haben, das Zimmer. Die Witwe lag noch genau so in ihrem Bett, wie sie sich am Abend zuvor hineingelegt hatte. Die Nachttischlampe war noch immer eingeschaltet, aber der schwache Schein verlor sich im Licht der Sonne, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen auf das reglose Gesicht von Madame Fouchard fiel.

Das Glas und die Flasche mit dem Tresterschnaps standen unberührt auf dem Nachtschrank. Manon setzte sich auf die Bettkante, und als sie noch einmal den Namen der Witwe sagte, erwartete sie bereits keine Antwort mehr. Madame Fouchard war gestorben.

Den ganzen Tag und die ganze folgende Nacht blieb Manon neben der Toten sitzen. Weder kümmerte sie sich um den lauter werdenden Lärm der hungrigen Tiere, noch schien sie selbst Hunger oder Durst zu verspüren. Gegen Mittag des zweiten Tages machte sie sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf. Eben schlossen der Lebensmittelhändler und der Bäcker ihre Läden, um sich zur Mittagsruhe zu begeben, der Schulbus überholte das Mädchen, hielt ein paar Meter weiter am Kriegerdenkmal, entließ eine Horde fröhlicher Kinder und verschwand

Endlich öffnete sich die Tür des kleinen Rathauses, der Bürgermeister trat heraus, und während er ausgiebig gähnte, kramte er in seiner Hosentasche nach dem Hausschlüssel. Manon trat hinter ihn und sagte: «Madame ist tot.» Monsieur Durell, der erst im letzten Jahr einen schweren Herzinfarkt gehabt hatte, fuhr herum, sah Manon mit schreckgeweiteten Augen an und sagte, als er sich halbwegs wieder gefangen hatte: «Mensch, Mädchen, das ist doch kein Grund, mich umzubringen.»

Ohne ein Wort zu wechseln, fuhren die beiden in Monsieur Durells dunkelblauem Peugeot zum Hof der Witwe. Der Bürgermeister warf einen kurzen Blick in das Schlafzimmer, ging dann zum Telefon und rief in der Praxis von Dr. Destouches an, um den Arzt zu bitten, den leblosen Körper Madame Fouchards zu untersuchen und den Totenschein auszustellen. Ja, es sei dringend, der Leichnam zeige bereits erste Anzeichen von Verwesung. Nein, er werde nicht zurück ins Dorf fahren, sondern hier auf die Ankunft des Doktors warten. Monsieur Durell setzte sich an den Küchentisch und bat Manon, ihm etwas Wein zu bringen. Er lehnte sich zurück, fuhr sich mit beiden Händen durch das schütter werdende Haar und gähnte erneut. Seine Augen waren feucht.

«Was willst du jetzt machen?», fragte er.

Manon antwortete nicht.

«Bist du denn gar nicht traurig?»

Manon sah ihn an, als verstehe sie nicht. Dann aber, wie um zu zeigen, dass sie sehr wohl wisse, welches Verhalten man von ihr erwartete, sagte sie: «Doch, ich glaube schon, ein bisschen.»

«Mädchen, Mädchen», sagt er. «Aber verdammt hübsch bist du.»

Fünf

Es waren nur wenige Trauergäste gekommen, und da die Witwe nie eine eifrige Kirchgängerin gewesen war, beschränkte sich der Pfarrer in seiner Rede auf das Nötigste: ein paar Floskeln über die Verstorbene, wie sie allgemeiner nicht hätten sein können, und ein paar Ermahnungen an die Lebenden, trotz aller Anfechtungen ein gottgefälliges Leben zu führen, auf dass sie dereinst in der Lage seien, reinen Herzens vor ihren Herrn zu treten.

Manon, die ihr in den letzten sechzehn Monaten mehr bedeutet hatte als irgendwer sonst, stand nicht am Grab der Witwe Fouchard, und doch verfolgte sie die Trauerfeier mit größter Aufmerksamkeit. Schon am Morgen hatte das Mädchen seine wenigen Habseligkeiten und alles Geld, das es im Haus finden konnte, in einen kleinen Koffer gepackt, hatte die Tiere noch einmal gefüttert und dann gewartet, dass es Nachmittag würde. Gegen 16 Uhr schloss sie die Haustür hinter sich ab, legte, wie sie es von Tante Celeste gelernt hatte, den Schlüssel hinter den Blumenkasten auf dem Fensterbrett und ging, ohne sich noch einmal umzuschauen, in Richtung Wald auf jenem Weg, den sie vor sechzehn Monaten in umgekehrter Richtung schon einmal gegangen war. Sie schritt zwischen den Feldern hindurch den Hügel hinauf, begab

Sie hob ihren Koffer auf, ging ein paar Schritte in den Wald und folgte dann einem Weg, der sie durch das Dickicht der Bäume hindurch auf die Nationalstraße brachte. Einmal noch trat sie ins Freie, um zu dem Hügel hinaufzuschauen, wo die Villa der Winzersfamilie Girod rötlich im Abendlicht glänzte. Sie bemerkte, dass Jean-Lucs Fenster offen stand, und als sie genauer schaute, glaubte sie einen Schatten zu sehen, der rasch beiseite huschte, als ob jemand, der eben noch am Fenster gestanden hatte, sich im Innern des Zimmers verbergen wolle. Den kleinen Lichtblitz sah sie schon nicht mehr, ein Blitzen, wie es entsteht, wenn ein Sonnenstrahl auf Glas fällt, zum Beispiel auf das Okular eines Fernrohrs.

 

Gegen Mitternacht hatte sie die Nationalstraße erreicht. In dem kleinen Ort Fouday fand sie eine offene Bar, der eine Herberge angeschlossen war. Sie legte sich ins Bett und schlief noch in derselben Minute ein. Am Morgen wurde ihr das Frühstück von einer mürrischen Alten serviert, deren kleiner Enkel mit seinem roten Plastikauto an Manons Tisch kam und sie lange ansah, ohne etwas zu sagen. Schließlich fragte der Junge: «Bist du eine Schauspielerin?» Manon lachte und sagte: «Nein, ich glaube nicht.»

«Doch», erwiderte der Junge, «meine Oma hat gesagt, dass du bestimmt eine Schauspielerin bist.»

Einmal fragte sie einen Lkw-Fahrer, ob er sie ein Stück mitnehmen könne, dann wieder nahm sie den Autobus, der sie von Barr nach Molsheim brachte.