Tae Keller
Wie man Wunder wachsen lässt
Aus dem Amerikanischen von Susanne Hornfeck
FISCHER E-Books

Tae Keller, geboren 1993, ist in Honolulu, Hawaii, aufgewachsen, ihre Familie stammt jedoch ursprünglich aus Korea. Sie studierte Kreatives Schreiben und gewann bereits am College einen Preis für ihre Texte. Heute lebt sie in New York, USA, zusammen mit ihrem störrischen Yorkshire-Terrier und vielen Büchern.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Jeder Tag kann ein Wunder in sich bergen – wenn man es wachsen lässt
Die elfjährige Natalie sehnt sich zurück nach der Zeit, als in ihrer Familie noch alles gut war. Als ihre Mutter noch fröhlich war und sich nicht im verdunkelten Schlafzimmer verkroch. Eigentlich braucht es ein richtiges Wunder. Zum Glück hat Natalie ihre beste Freundin Twig, die es immer wieder schafft, einen grauen Tag in Sonnenschein zu tauchen. Als in der Schule ein Forschungswettbewerb stattfindet, haben die beiden Mädchen eine Idee: Von dem Preisgeld möchte Natalie eine Reise mit ihrer Mutter unternehmen. Wenn sie ihr nur zeigen könnte, welche Wunder es auf der Welt gibt, würde ihre Mutter wieder wie früher. Voller Hoffnung, Tatendrang und verrückter Ideen hecken die beiden Freundinnen einen Plan aus.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Das englischsprachige Original erschien 2018 unter dem Titel »The Science of Breakable Things« bei Random House Books for Young Readers, a division of Penguin Random House LLC, New York.
Copyright © 2018 Tae Keller
Published by arrangement with Rights People, London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung eines Fotos von plainpicture /
Blend Images / Donald Iain Smith
Orchideen: www.freepik.com
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5021-6
Und das sind die schlausten Beobachtungen aller Zeiten, also bitte: ein Trommelwirbel!
Twig, Eigenname: beste Freundin des Universums, zumindest behauptet sie das.
Mikayla Menzer, Eigenname: Fräulein Oberbescheisserin, denn ich weiß genau, dass sie dieses Experiment schon mal gemacht hat.
Mikaylas Zopf ist krass. Er besteht aus vielen kleinen Zöpfen, die zu einem dicken zusammengeflochten sind.
Skalpelle, um genau zu sein.
Yeong-jin: Dads koreanischer Name. Sie hat ihn auf einem Diplom in seinem Arbeitszimmer entdeckt. Eigentlich nennt er sich John, aber Twig besteht auf dem koreanischen Namen, und er wehrt sich nicht. Ich glaube, er hat ein bisschen Angst vor ihr.
Twig wurde von ihrer Mutter nach einem Supermodel benannt, das früher berühmt war. Jeder meint, Twig (also Zweig) sei ihr Spitzname, weil sie so lang und dünn ist und ihr aschblondes Haar nach allen Seiten absteht, aber in Wirklichkeit ist es eine Kurzform von Twiggy. Doch sie korrigiert dieses Missverständnis nicht, weil sie ihren Namen peinlich findet.
Hélène hat einen Milch-Tick. Jedes Mal, wenn ich bei Twig bin, fragt sie mich als Erstes, ob ich ein Glas Milch möchte. Eigentlich mag ich keine Milch, aber ich trinke sie, weil Hélène immer behauptet: »Die Knochen ’aben ’unger, die Knochen ’aben ’unger.« Man kann ihr einfach nicht widerstehen.
Definition von »Homöostase« nach Mr Neely: Dadurch stellt euer Körper sicher, dass alles rundläuft! Selbst wenn sich die äußeren Bedingungen verändern, hält euer Körper ein stabiles inneres Gleichgewicht aufrecht, so dass ihr weiter funktioniert: Ihr könnt essen, spielen, schlafen und eure Hausaufgaben machen! #DankeKörper.
Familie: Orchidaceae, weil es eine Orchidee ist. Gattung: Cattleya, weil der Botaniker William Cattley sie entdeckt hat. Art: fortis, tapfer.
Für diejenigen, die ihr Leben nicht an der Seite einer Botaniker-Mutter verbracht haben: In der Natur kommen blaue Orchideen nicht vor. Man kann sie blau färben, aber von Natur aus werden sie nicht blau. Und dann passierte dieses Unglück, und die Orchideen begannen zu wachsen und saugten die ganzen im Moos angereicherten Chemikalien auf, und da war sie plötzlich: die blaue Orchidee. Ta-ta, Zauberei. Wissenschaft. Wunder.
Twig hat sich doch glatt darüber beschwert: »Das ist die reinste Gehirnwäsche«, erklärte sie mir. »Meine Mom zwingt mich, zu diesen ganzen Modeschauen zu gehen und großgewachsenen Mädels beim Hin- und Herlaufen zuzusehen. Und dann essen wir mit ihren Freunden kleine Kuchen und reden über Klamotten.« So als wären großgewachsene Mädels und kleine Kuchen und Klamotten das Schlimmste auf der Welt. Manchmal verstehe ich Twig wirklich nicht.
Offenbar hatte Dad als Kind mal eine Phase, in der er nur Chicken Nuggets gegessen hat. Diese Information ist immer dann von Nutzen, wenn er mich damit nervt, dass ich mein Gemüse aufessen soll.
Therapeuten-Dad, Nomen: Hochgezogene Augenbrauen, gesenkte Stimme, viele Fragen, von allen Töchtern gefürchtet.
Twig hat ihre ursprüngliche Frage klaglos aufgegeben – irgendwas mit Lebensmittelfarbe und Placeboeffekten. »Zu langweilig«, sagte sie, denn Twig ist nicht der Typ für Langzeitprojekte. Sie hüpft lieber von einem zum nächsten.
Typisch Twig.
Nur fünfzig Cent bei Paper World, sagt Twig. Hol sie dir, solange der Vorrat reicht. Vorausgesetzt, du bist einer von den Spinnern, die unbedingt eine Jumbo-Packung Käfersticker brauchen.
Halmoni, Nomen: das koreanische Wort für »Großmutter«.
Ipuda, Adjektiv: das koreanische Wort für »schön«. Als ich klein war, hat meine Großmutter es so oft zu mir gesagt, dass ich dachte, es wäre mein koreanischer Name. Ich erzählte den Leuten, dass Ipuda mein koreanischer Name sei, bis Dad es mitkriegte und es mir verbot.
Einmal hat mir meine Großmutter ein koreanisches Videospiel mitgebracht. Es hatte mit Außerirdischen und Yoga zu tun und entwickelte erstaunliches Suchtpotential. Aber Twig weigerte sich, es zu spielen. »Klingt toll«, sagte sie und schüttelte betrübt den Kopf, »aber ich bin Puristin.«
Okay, ich meine, irgendwie nehme ich es ihr schon übel. Jungs sind nämlich ein Grund, warum wir nicht mehr beste Freundinnen sind. In der vierten Klasse fuhr sie plötzlich total auf Jungs ab und tat so, als hätten wir alle einen Freund, und spekulierte, wer wohl als Erste mit jemandem gehen würde. Wen interessiert das schon?
Ich: unsichtbar sein. Twig: die Gestalt wechseln können.
Als ich mal bei Twig übernachtete, schlug ihre Mom vor, dass sie aufgeschlossener sein und außer mir noch andere Freunde haben sollte. Das war, ehrlich gesagt, etwas taktlos, aber Twig fuhr ihr sofort über den Mund. »Ich brauche niemand anderen, vielen Dank auch«, sagte sie. Clarissa kam nie wieder darauf zu sprechen – zumindest nicht in meiner Gegenwart –, und ich habe auch nie nachgefragt.
Dazu sage ich besser nichts weiter.
Die Achtklässler sind im ersten Stock, und die Sechstklässler im Erdgeschoss. Angeblich soll der zweite Stock besser sein als das Erdgeschoss, weil wir nicht so dicht bei der Café-Turn-Aula sind, aber mir kann man nichts vormachen. Ich glaube, die Lehrer wollten bloß die frischgebackenen Sechstklässler nicht gleich so schockieren, dass sie die Schule wechseln.
Eigentlich heißt er Nutt-Burter – kann man uns diesen Spitznamen also verübeln?
Eigentlich sollen wir uns in jeder Laborstunde die Haare zurückbinden, aber Twig tut das fast nie. Ich kann mich nicht entsinnen, dass sie es seit Renaldo, dem aufgeschnittenen Frosch, je wieder getan hat, und damals tat sie es auch nur, weil sie keine Froschinnereien in die Haare kriegen wollte.
Geht es nur mir so, oder denkt jeder bei dem Namen Doris an eine Dame von der Essensausgabe? Oder an eine alte Frau, die Pullover strickt? Tut mir leid, wenn du Doris heißt – aber so ist es.
Guerillataktik, Nomen: Wir haben den Guerillakrieg und seine hinterhältigen Taktiken letztes Jahr in der Schule durchgenommen, und natürlich machte daraufhin jeder seine Witze über Gorillataktik. Die Jungs verbrachten die Mittagspause damit, herumzuspringen, sich am Kopf und unter den Achseln zu kratzen und zu grunzen wie Gorillas. Mitschüler sind einfach das Peinlichste, was auf diesem Planeten rumläuft.
Twig, meine wirklich beste Freundin, benutzt meinen Namen kaum. Sie sagt nur He, du, und weiß, dass ich mich angesprochen fühle, denn wen sollte sie sonst meinen?
Ursprünglich hatten wir geplant, Mr Neely zu fragen, ob wir am Montag nach dem Unterricht sein Fenster benutzen dürfen, doch Twig schüttelte den Kopf und sagte weise: »Man bittet besser um Vergebung als um Erlaubnis.« Dari räusperte sich und fühlte sich sichtlich unwohl, aber wir einigten uns auf den Samstags-Plan.
Cafeteria. Turnhalle. Aula. Nur dass bei uns alles eins ist.
Genau genommen sind wir die Fountain-Middle-Foxes, aber unser Maskottchen-Kostüm sieht eher aus wie ein roter Panda. Die meisten von uns zucken darüber bloß die Achseln, aber Twig muss natürlich den Finger in die Wunde legen.
Das ist der Beweis! Manchmal passe ich im Unterricht doch auf.
Twig macht so was ständig – unseren Projekten etwas »Glamour« geben. Sie findet das lustig, aber jeder, der jemals in einem Zweitklässlerzimmer war, weiß, dass Glitzerstaub überhaupt nicht komisch ist. Er lässt sich nämlich nicht mehr wegwaschen.
Natürlich kündigte er das Ganze als #MrNeelysSchneetag an, aber trotzdem.
Er hat letztes Jahr auch die Sache mit der »Gorillataktik« angezettelt, das nur nebenbei.
Text von Twig: SCHNEEEETAG!, garniert mit Schneeflocken-Emojis.
Und zwar aufsteigend von wenig aufregend bis super aufregend: Kino, Aquarium, Botanischer Garten, Six-Flags-Freizeitpark, Disneyland.
Siehe Fußnote 39.
Dreiundzwanzig bislang. Diese Frau scheint ihr eigenes wissenschaftliches Forschungsprojekt zu haben.
Dass wir die Handschuhe ausziehen mussten, um die Vorrichtung zu bauen, machte die Sache nicht besser, und Twig schrie immer wieder: »MEINE FINGER FALLEN GLEICH AB!«, von Dari und mir kamen keine Klagen. Es war ein eher warmer Wintertag – sieben Grad über 0 –, und der ganze Schnee war bereits geschmolzen.
Zumindest denke ich mir, dass das der richtige Umgang mit einem wilden Bären ist, ich war nämlich nie campen oder so. In der fünften Klasse traten Twig und ich den Pfadfindern bei, aber wir hielten nur knapp einen Monat durch. Ich langweilte mich zu Tode, und Twig schaffte ihre Leistungsabzeichen nicht.
Lavendel und Frauenfarn und Veilchen.
Warnzeichen, Nomen: Lieblingsausdruck von Therapeuten. Sie sehen sie überall. Wirklich, ich weiß, wovon ich rede.
Genauer gesagt mit kinetischer Energie.
Glaubt ihr, Isaac Newton wäre stolz, dass sein berühmtes Gesetz in einen Hashtag verwandelt wurde?
Unterlegscheibe, Nomen: offenbar das Lieblingsobjekt sämtlicher NaWi-Lehrer auf der ganzen Welt.
Skaten klingt erst mal cool – bis einem wieder einfällt, dass es sich ja um Dari handelt. Denn natürlich klang es bei ihm total nerdig, weil er es wissenschaftlich erklärte und von Dynamik und Bewegungsimpuls faselte.
Ob das Methode hat? Vielleicht will man uns sagen: »Fort mit euch, ihr Bücher, WISSENSCHAFT IST UNSERE ZUKUNFT.«
Twig kann nicht wirklich flüstern. Leise sein ist nicht ihre Stärke.
Nicht wörtlich natürlich, aber womöglich würde sie sich nie wieder nach Twig-Art bewegen, eine Nicht-Twig werden, so wie Mom eine Nicht-Mom war. Das versetzte mich in absolute Panik.
Twig ist so ziemlich die einzige in der Siebten, die eine Armbanduhr trägt – und sie tut es nur, um ihre Mom zu ärgern. Das Zifferblatt ist ein großes Hello-Kitty-Gesicht aus Plastik, und ihre Mom sagt, das Ding sei »ein Witz«.
Dad, Mom und ich mit Mickey-Ohren vor Fantasyland. In diesen Ferien hatte Mom jede Minute verplant, aber das störte uns überhaupt nicht.
Einmal hat Twig die Bowling-Geburtstagsparty eines bedauernswerten Kindes aufgemischt, indem sie behauptete, wir seien russische Waisen. Wir versuchten, mit russischem Akzent zu sprechen, und wurden rausgeschmissen.
Nicht Doris, wie ich mit schuldbewusster Erleichterung feststellte. Denn, unglaublich, aber wahr, inzwischen mag ich Doris und möchte sie für mich allein haben.
Für Mama Keller
Das ist der erste Schritt der wissenschaftlichen Methode!
Schärfe und verfeinere deine Beobachtunxgabe! Was passiert um dich herum? Notiere alles, was dir auffällt!
#MrNeelysWissenschaftsabenteuer
Mr Neely hat den ersten Arbeitsauftrag für unser Laborbuch in seiner krakeligen Handschrift an die Tafel geschrieben, er ist total aus dem Häuschen wegen diesem Wissenschaftszeug. Keine Ahnung, warum er meint, dass man dazu Hashtags braucht und völlig harmlose Wörter mit einem »x« schreiben muss, aber Mr Neely ist ein Lehrer, den man nehmen muss, wie er ist.
Er hat Großes vor mit diesem Laborbuch. Er hält »die Hingabe an ein Langzeitprojekt« für ein wichtiges Lernziel, und dieser Arbeitsauftrag soll das wohl vermitteln. Letztlich geht es darum, dass wir uns etwas Interessantes suchen, das wir dann beobachten und zu dem wir eine wissenschaftliche Frage formulieren sollen.
Sobald wir auf unseren Plätzen saßen, hat er diese bescheuerten alten Aufsatzhefte ausgeteilt und gesagt: »Das ist euer Heft des Staunens! Darin werdet ihr Beobachtungen und Arbeitsaufträge notieren und die größte Reise in die Welt der Wissenschaft dokumentieren – eure Reise!«
Wir starrten ihn an und versuchten rauszukriegen, ob er das ernst meinte. Er meinte es ernst.
»Ihr werdet im Lauf des Jahres eure eigene wissenschaftliche Methode entwickeln, und am Anfang steht eine Frage – das, woran sich euer Interesse entzündet hat.« Mr Neely deutete mit den Händen eine Explosion an. Jemand kicherte, doch das schien ihn nur noch mehr zu beflügeln. »Und am Ende des Jahres werde ich etwas gelernt haben. Von euch!«
Mr Neely ist neu, deshalb ist er noch so gut drauf, aber in meinen Augen ist dieser Arbeitsauftrag zum Scheitern verurteilt. Letztes Jahr an meiner alten Schule meinte unsere Englischlehrerin, Mrs Jackson, dass es toll wäre, wenn wir ein Tagebuch führen würden. Die einzige Vorgabe: 50 Seiten Herzensergießungen bis Schuljahrsende. Es war vorherzusehen, was passierte: Alle haben ihre 50 Seiten am Tag vor dem Abgabetermin geschrieben. Meine bestanden hauptsächlich aus Songtexten, die ich in meiner größtmöglichen Handschrift hingeschmiert habe.
Genau genommen ist das Laborbuch eine Hausaufgabe, aber ich sehe nicht ein, warum ich nicht schon mal damit anfangen soll. Hier nun, geliebtes Laborbuch, folgen Natalie Napolis wissenschaftliche Beobachtungen:[1]
Mr Neely beschreibt beim Reden große Kreise mit den Armen, was ihn wie einen überdimensionalen Hula-Tänzer aussehen lässt. Das weiße Hemd – strahlend im Kontrast zu seiner braunen Haut – knittert, wenn er sich bewegt.
Er sagt, er möchte, dass wir in »die Wonnen der Wissenschaft eintauchen«.
Mikayla Menzer meldet sich.
Mikayla Menzer gibt ihre Antwort, ohne drangenommen worden zu sein: »Für mich ist Wissenschaft das Größte im Leben. Ich tauche buchstäblich hier und jetzt in sie ein.«
Mikayla Menzer taucht buchstäblich in gar nichts ein. Sie sitzt bloß auf ihrem Stuhl schräg gegenüber von mir, hat die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, und ihr dicker dunkler Zopf ringelt sich über ihre Schulter.
Mikayla Menzer riecht nach Sonnencreme, was praktisch das gesamte Klassenzimmer nach Sonnencreme riechen lässt, und die Luft ist feucht und heiß. Ich wünschte, die Fountain-Middle-School hätte eine Klimaanlage.
Ich wünschte, wir hätten so viel Geld, dass ich auf die Valley-Hope-Middle gehen könnte; dort haben sie nämlich eine Klimaanlage. Aber jetzt, wo Mom »krank« ist, sagt Dad, »müssen wir den Gürtel enger schnallen«.
Aber egal. Twig ist auch hier, obwohl ihre Familie es sich locker leisten könnte, sie auf die Valley-Hope zu schicken. Also kann es hier nicht so schlecht sein.[2]
Mr Neely ruft mich auf, aber ich habe nicht zugehört und schenke ihm mein bestes, wissenschaftswonniges Lächeln.
Mr Neely sagt: »Freut mich, dass dich unser Projekt so begeistert, Natalie, aber eigentlich sind die wissenschaftlichen Beobachtungen als Hausaufgabe gedacht. Pass jetzt bitte auf.«
Ich passe auf. Und Mikayla Menzer riecht immer noch nach Sonnencreme.
Was erstaunt dich in der Welt? Finde etwas, das dir rätselhaft erscheint, und erforsche es mit ganzem Herzen! Setze deine Detektivkappe auf und werde zum Ermittler! Ich sollte wohl besser sagen zum wissenschaftlichen Ermittler!
#SpürhundeausderSiebten
Heute hat uns Mr Neely nacheinander unsere wissenschaftlichen Fragen laut vorlesen lassen. Tom K. zum Beispiel sagte: »Was ist die höchste Spannung, die eine Batterie aushält, bevor sie implodiert?«, und Mikayla Menzer sagte: »Wie wirkt sich unterschiedliche Lichteinstrahlung auf das Wachstum von Pflanzen aus?«[3]
Ich hatte die Hausaufgabe nicht gemacht, und bis ich an der Reihe war, fiel mir auch keine passende Frage ein. Deshalb platzte ich heraus: »Warum benutzt Mr Neely so häufig Hashtags?«
Meine Wangen glühten, und meine Handflächen juckten, weil ich nie zuvor so frech zu einem Lehrer gewesen war. Aber Twig prustete los und zeigte mir quer durchs Klassenzimmer den erhobenen Daumen. Mikayla rollte mit den Augen und schwang ihren Zopf von der einen auf die andere Schulter.[4]
Niemand wusste, wie er sich verhalten sollte. Alle sahen sich verwundert an, als wollten sie sagen: Meint die das jetzt ernst oder wie?!
Mr Neely lächelte, denn trotz der ganzen überschüssigen Energie, die er hat, ist er ziemlich geduldig. »Diese Frage erfordert nicht wirklich eine wissenschaftliche Klärung! Suche weiter in deiner Umgebung nach einer bedeutungsvollen Frage!«
Das war mir echt peinlich, denn ich hatte nicht erwartet, dass jemand diesen Arbeitsauftrag ernst nehmen würde. Und es war auch nicht gerade hilfreich, dass Dari, der Neue-Schrägstrich-Klassenbeste, nach mir drankam und irgendwas Extraschlaues über spitze Winkel sagte. Und jetzt muss ich mir eine neue Frage ausdenken, wo ich doch keine Ahnung habe, was ich fragen soll.
Und dann ist da noch die Sache mit Mom. Sie ist heute schon wieder nicht zum Abendessen aus ihrem Zimmer gekommen, was megablöd war, weil Dad sich so viel Mühe damit gemacht hatte. Als ich von der Schule kam, brütete er über einem dicken, alten Kochbuch und versuchte, Kräuter in ein Hühnchen zu stopfen, während das Nudelwasser überkochte.
Ich stand da und glotzte, unentschlossen, ob ich das lustig oder traurig finden sollte, bis Dad mich anfuhr: »Was stehst du da rum, Natalie! Hilf mir lieber!«
Und das habe ich die nächste Stunde auch getan, er hat gekocht, und ich habe Zutaten abgewogen, und es hat Spaß gemacht. Dabei mussten wir nicht mal reden. Dad ist nämlich Therapeut, und deshalb fragt er mich, wenn wir uns unterhalten, ständig nach allem Möglichen und sagt Sachen wie: »Wie fühlst du dich dabei?« Worauf ich regelmäßig antworte: »Genervt.«
Jedenfalls hat die ganze Küche total gut geduftet, und das Hühnchen schmeckte überraschend gut. Aber als Dad und ich den Tisch gedeckt hatten, ist Mom nicht mal aus dem Schlafzimmer gekommen.
»Soll ich sie holen?«, fragte ich.
Doch Dad sagte mit einem traurigen Lächeln: »Ich glaube, sie braucht ein bisschen Freiraum.« Das ist derzeit seine Standardantwort auf alles, was Mom betrifft.
»Aber findest du nicht, sie sollte hier sein?«
»Schon, aber wir müssen deiner Mutter jetzt ein bisschen Raum geben.«
»Aber Dad.«
»Aber Natalie.«
Den Rest des Abendessens schwiegen wir, nur dass es diesmal ein unangenehmes Schweigen war und das Essen plötzlich nicht mehr so gut schmeckte.
Später versuchte ich, mir eine wissenschaftliche Frage für Mr Neely auszudenken, aber wie ein lästiger Ohrwurm ging mir ständig der Gedanke durch den Kopf: Mom hätte mir dabei geholfen. Wenn ich früher Probleme in Mathe oder Naturwissenschaft hatte, hat sie sich zu mir an den Esstisch gesetzt und alle meine Gleichungen und Arbeitsblätter vor uns ausgebreitet. Sie hat ihr erdbeerblondes Haar zurückgebunden, was bei Mom bedeutet, dass es zur Sache geht, und dann haben wir losgelegt.
Sie konnte sich zu allem ein passendes Experiment ausdenken. Du verstehst chemische Reaktionen nicht? Dann lass uns mit Hilfe von Backpulver und Essig einen Ballon aufblasen! Du willst die Dichte von Wasser bestimmen? Dann lass uns eine Lavalampe basteln!
Solange Mom mir half, machte es nichts, dass ich schlecht in Naturwissenschaften war. Unsere Küche glich jedes Mal einem Schlachtfeld. Und Dad kam und tat so, als sei er sauer. Glaubt bloß nicht, dass ich das hier aufräume! Obwohl wir genau wussten, dass er es schließlich doch tun würde.
Wie immer.
Aber jetzt ist Mom im Schlafzimmer, und Dad räumt die Küche auf. Diesmal wird er nicht lange brauchen. Ich glaube, dass er sogar ihre Unordnung vermisst.
Ich sitze allein da, und mir will einfach keine Versuchsanordnung einfallen, die das alles erklären könnte. Wie kann ich die Antwort kennen, wenn ich nicht mal die Frage weiß?
Heute hatte Mr Neely eine Überraschung für uns.
»Ratet mal, was wir heute machen, Kinder!« Die Augen hinter seinen Brillengläsern waren aufgerissen, die schwarz umrandete Brille und seine Glatze schimmerten im Neonlicht des Klassenzimmers. Niemand sagte etwas. »Ratet mal«, wiederholte er, wartete diesmal aber nicht auf eine Antwort. »Heute sezieren wir! Hashtag Frösche sezieren.«
Alle begannen gleichzeitig zu tuscheln. Es war erst die zweite Schulwoche, und die meisten Lehrer würden ihren Schülern keine spitzen Gegenstände in die Hand geben, bevor sie sich ihre Nachnamen eingeprägt haben – auch wenn es nur kleine Froschseziermesser[5] sind.
Doch Mr Neely grinste nur und teilte eine Liste mit Sicherheitshinweisen aus. »Es hat sich eine unerwartete Gelegenheit ergeben, und als echte Forscher werden wir sie natürlich zu nutzen wissen!«, sagte er – was in der Sprachregelung der Schule wahrscheinlich so viel bedeutete wie: Das Sekretariat hat die Sache vermasselt und die toten Frösche viel zu früh bestellt.
Mr Neely redete weiter. »Wir werden diese Frösche aufschneiden und sehen, wie sie ticken. Was einen Organismus am Laufen hält, begreift man erst, wenn man ihn von innen gesehen hat.«
Alle verzogen das Gesicht. Krass.
Mikayla meldete sich und quatschte schon wieder ungefragt drauflos. »Mr Neely, Sie wissen ja, wie sehr ich die Wissenschaft liebe, aber das bringe ich beim besten Willen nicht über mich. Es ist gegen die Menschenrechte.«
Mr Neely runzelte die Stirn. »Nun, Mikayla, ich kann dich natürlich nicht zwingen, wenn du meinst, das verstößt gegen die Tierrechte. Dann musst du eben so lange draußen bei den Schließfächern sitzen und dein Arbeitsblatt ausfüllen.«
Janie, Mikaylas beste Freundin, meldete sich ebenfalls und verkündete, auch sie trete für die Tierrechte ein und müsse von dem Experiment entbunden werden.
Mr Neely seufzte. »Sonst noch jemand?«
Ehrlich gesagt habe ich lieber mit Pflanzen zu tun als mit toten Tieren, aber vor die Wahl gestellt, einen Frosch zu sezieren oder mit Mikayla und Janie rumzuhängen, ist der Frosch das kleinere Übel.
Nicht dass ich Mikayla hasse. Nicht wirklich. Aber wenn wir zusammen sind, liegt immer diese Verlegenheit in der Luft, und alles fühlt sich falsch an. Ich weiß nicht, wo die Mikayla von früher abgeblieben ist – das Mädchen, das mit mir Zaubertränke braute, während unsere Mütter zusammenarbeiteten, das mit mir Dreck im Reagenzglas untersuchte. Jemand muss die Mikayla, die meine beste Freundin war, über Nacht ausgetauscht haben. Aber inzwischen versuche ich, nicht mehr über sie nachzudenken.
Mr Neely erklärte uns in nur zwei Minuten, was wir bei der Seziererei lernen sollten, doch niemand hörte zu. Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, uns im Raum umzuschauen und stumm Allianzen zu schließen, um für unsere erste Laborstunde des Schuljahrs einen Arbeitspartner zu finden.
Twig und ich tauschten Blicke. Sie brauchte nicht zu fragen, denn es war klar, dass wir zusammenarbeiten würden, trotzdem machte sie eine übertriebene Du-Ich?-Geste, und ich nickte grinsend.
Kaum war Mr Neely mit seinen Sicherheitshinweisen durch, rannten wir los, um uns den Labortisch ganz hinten zu sichern. Er steht in einer Ecke, wo Mr Neely uns nicht so genau im Auge hat, und ist daher der begehrteste von allen. Twig hatte ein Wahnsinnstempo drauf, und während ich mein Heft rausholte, hatte sie bereits unsere Materialien besorgt, den toten Frosch und so.
Hektisch band sie ihr Haar zurück, so dass widerspenstige Strähnen aus dem Pferdeschwanz ragten. »Das ist ja so wahnsinnig spannend, Natalie. Ist das nicht unglaublich? Darf ich zuerst schneiden? Ich will das Herz sehen. Und vielleicht die Blase. Froschpisse: krass oder cool?« Twig redete wie ein Maschinengewehr, ihre normale Sprechgeschwindigkeit. Sie kann sich für Sachen begeistern, die niemand sonst toll findet.
»Ich überlasse dir das Schneiden«, sagte ich, als brächte ich ein großes Opfer.
»Das ist wie Operieren!«, quiekte Twig.
Twig liebt Spiele. Nicht Videospiele, wie die meisten Leute, sondern diese altmodischen Brettspiele, die niemand wirklich mag. Trotzdem bringt sie mich ständig dazu, sie mit ihr zu spielen, und ich muss gestehen, dass es Spaß macht. Twig hat die Gabe, einem Dinge schmackhaft zu machen.
Und plötzlich machte auch mir das Sezieren Spaß. Ich schnitt zwar nicht den Frosch auf, kommentierte aber, was Twig tat, als wäre Twig einer dieser Fernsehärzte. Ich machte sogar die Piepgeräusche eines Herzmonitors nach.
Dann beugte Twig sich über den Magen des Froschs und rief: »Ich fass es nicht! Ich fass es nicht!« Ich blickte ihr über die Schulter und sah, dass sie in dem aufgeschnittenen Magen eine Heuschrecke gefunden hatte, noch völlig intakt. Magenheuschrecken: eindeutig cool.
Mr Neely kam herüber, um zu sehen, was los war. Auch er war hin und weg. »Seht mal, Kinder, was unsere wissenschaftlichen Ermittler gefunden haben!«
Und dann drängte sich die ganze Klasse um uns und sagte: »Oh, cool« oder »Oh, krass«. Selbst unser Klassengenie Dari kam, und ich merkte, wie enttäuscht er war, dass nicht auch sein Frosch eine anständige Mahlzeit gehabt hatte, bevor er gestorben war. Er beugte sich über den Labortisch, um besser sehen zu können, die Arme steif an den Seiten, während die Hände nervös am Saum seines T-Shirts zupften. Schließlich bedachte er uns mit einem gönnerhaften »Gut gemacht« und ging an seinen Platz zurück. Twig streckte ihm hinter seinem Rücken die Zunge heraus. Leider kriegte Mr Neely es mit, und schon waren wir nicht mehr seine Spitzenschüler.
Materialien:
1 Skalpell, scharf
1 Pinzette, aus Metall
2 Paar Handschuhe, aus Gummi
1 Frosch, tot
Versuchsablauf:
Lasse Twig die Drecksarbeit machen
Lasse Twig die Heuschrecke entdecken
Streiche das Lob ein
Nach der Schule lud Twig mich zu sich nach Hause ein. Wir konnten das immerhin damit rechtfertigen, dass wir zusammen unseren Frosch-Laborbericht schreiben mussten.
Ich rief Dad an. Twig beugte sich herüber und brüllte in mein Ohr und ins Handy: »Grüß Yeong-jin von mir!«[6] Ich schüttelte sie ab.
Dad klang erschöpft, und als ich fragte, ob ich zu Twig dürfe, schien er unschlüssig. Nach der Schule mit Twig zusammenzusein war früher nie ein Problem, doch seit diesem Sommer ist das anders. »Natalie, ich glaube, es wäre besser, wenn du gleich nach Hause kämst. Ich möchte nicht, dass du vor der Situation hier davonläufst.«