SORGSAM schraubte er die Ebonitkappe auf den Füllhalter, mit einer langsamen und vorsichtigen Bewegung, etwa so, wie ein Chirurg das scharfe Werkzeug in die Hand nimmt oder ein Chemiker die Phiole, in der Leben und Tod enthalten sind; Heilmittel oder Gift für ganze Dörfer. Seit einiger Zeit war jede seiner Bewegungen so auffallend vorsichtig. Seine Finger, im Klavierspiel, im Schreiben, im Fechten geübt, knochige, lange und weiße Finger, lagen jetzt beinahe erschöpft auf dem Schreibtisch, als müssten sie sich nach einem Duell erholen, einem harten, männlichen Wettkampf. Künstlerhände ruhen so, wenn sie das letzte Wort geschrieben, den letzten Pinselstrich auf die Leinwand gebracht oder den Abschiedston auf dem Klavier angeschlagen haben und wissen, dass jetzt etwas zu Ende gegangen ist, was sich nie wiederholen wird.

Aber die Hände ruhten auch so, als hätten sie einen Widerstand niederkämpfen müssen. Als hätten sie mit jemandem gerungen. Wie mögen die Hände von Mördern aussehen, unmittelbar nach der Tat? – dachte er und betrachtete aufmerksam seine Hände. Man weiß so wenig über sich selbst. Schon über unseren Körper wissen wir kaum etwas Verlässliches. Was kann ich da von meiner Seele hoffen, deren Natur ich überhaupt nicht kenne, von der ich nur Regungen wahrnehme? Und von den Seelen der anderen, die ich natürlich noch viel weniger kenne? Was können wir voneinander erhoffen, wir Menschen? … Er beugte sich über die noch nicht trockene Handschrift. Von den Schreibgeräten im Behälter nahm er einen roten Stift und schrieb an den Rand des Blattes energisch: Streng vertraulich. Gleich würde er läuten, das Manuskript der Maschinenschreiberin übergeben, die den Text ins Reine schreiben würde, streng und vertraulich. Dann würde er das Manuskript in ein Kuvert stecken und dem Minister hinüberbringen. Etwas würde beginnen: Einige geschriebene Worte, in diesem Augenblick auf dem Papier noch nicht einmal getrocknet, würden zu leben beginnen. In den Druckereien würden die Rotationsmaschinen die Worte mit schwarzer Farbe drucken, im Radio würde eine künstlich erschüttert klingende Stimme die Sätze in die Welt hinausrufen, Millionen von Menschen würden die Worte lesen und hören und erblassen. Er betrachtete seine Hände und sah zufrieden, dass die langen Finger zitterten wie nach einer besonderen Anstrengung, einem Duell oder einer Stunde Üben von Beethoven-Sonaten. Kunst oder Duell? Schließlich hatte er einen Befehl befolgt. Diese paar Sätze würden morgen zu hören sein. Die Telefone würden klingeln, eine Frau würde diese Worte vor dem Radio hören, ihr Kind ans Herz drücken und in Tränen ausbrechen. Arbeiter in den Fabriken würden aufhören zu arbeiten, die Worte würden zu leben beginnen. Ins Gewebe des Lebens würden sie eindringen und im Blutkreislauf des riesigen Körpers zu kreisen beginnen wie Impfstoff. Der Staat, die große Maschinerie, würde unter der Wirkung dieser Worte in seinen Millionen von feinen Getrieben zu arbeiten beginnen, und die Nation, der große Organismus, mit klopfendem Herzen zu leben. In dem großen Betrieb lebten disziplinierte Menschen, und alle waren nur winzige Federn einer komplizierten Konstruktion, die sich durch diese Worte mit ihren Schwungrädern in Bewegung setzen würde. Er stand auf, trat ans Fenster und blickte auf die Stadt hinunter.

In der Nacht hatte es geschneit. Der Schnee rief ihm immer eine Seite aus dem Märchenbuch in Erinnerung. Kleine Häuschen froren im Schnee, und unten auf dem Fluss trieben schon Eisschollen. Jenseits des Flusses die große Stadt mit ihren Palästen und dem Kuppelbau. Mit einer nervösen Bewegung strich er sich über die Stirn, wie immer, wenn er energisch versuchte, etwas Peinigendes wegzuwischen, das aus den Stollen der Erinnerungen und Gefühle hervorbrach. Was würde morgen sein, wenn diese Worte bekannt würden? Und übermorgen? Und was würde aus diesen Worten in jenem rätselhafteren, nicht ertastbaren Etwas werden, das man gemeinhin Zeit nennt und das nicht mehr loslässt, was es einmal in sich aufgenommen hat? Wie ein wahnsinniger Liebhaber drückt es alles, was sich einmal in seine Arme verirrt hat, mit tödlicher Kraft an sich. In einer Ecke des Fensters hatten sich Eisblumen gebildet, komplizierte Figuren, als zeichnete ein japanischer Maler zu seinem Vergnügen etwas Zweckloses und Erhabenes. Unten der Fluss und die Häuser. Weiter entfernt, im Nebel, das Land, viele Millionen Menschen. Und noch weiter, im Nebel und in der Zeit, andere Länder, sich auflösende und sich aufbauende Wogen in diesem eigenartigen Element, der Zeit. Deutsche. Russen. Der Ozean. Die kleinen Völker, in hysterischer Erregung. Und irgendwo, noch viel weiter entfernt, hinter der Geschichte, das Individuum mit seinem unerklärlichen Schicksal: Ein Chinese geht aufs Feld hinaus, zwischen zwei Bombenangriffen arbeitet er ruhig auf dem Reisfeld, im Gesicht ein Lächeln, vielleicht in Gedanken bei einer Gedichtzeile oder einem Gebot.

Ich bin fünfundvierzig Jahre alt, dachte er.

Eines Tages wird der Krieg zu Ende sein, dann bin ich kein junger Mann mehr.

Er geht durchs Zimmer, die Hände auf dem Rücken.

Im Zimmer ist es warm, im Ministerium wird fleißig geheizt. Das Haus ist alt, die Zimmer haben Bogendecken, die Wände sind dick. Eigentlich ist dies gar kein Amtszimmer, eher eine Art herrschaftlicher Gesellschaftsraum. An der Wand eine Biedermeier-Sitzgarnitur mit gelbem Seidenbezug. Auf dem Tisch das Porträt des Ministers. Und ein anderes Bild, Fischer auf der Theiß. Der Minister schaut von der gegenüberliegenden Wand streng zu den Theißfischern. Auf dem Schreibtisch alles sorgsam geordnet. In der Ecke auf einem Gestell im Eisenkorb immergrüne Pflanzen. Nein, wenn der Krieg zu Ende geht, wird er kein junger Mann mehr sein.

Als er begann … Er spricht das Wort nicht gern aus, nicht einmal in Gedanken. Als er begann, hielt er sich hier in diesem Zimmer auf, es war neun Uhr am Morgen. Damals schwor er, sich nicht wegzurühren, nicht ins Ausland zu gehen, bevor alles zu Ende wäre. Was ist der Sinn eines jeden Schwurs? Angst, Gekränktsein, eine Art Starrkrampf, Flucht. Jeder flieht vor irgendetwas. Er wird nicht wieder in die Städte fahren, die er gekannt und geliebt hat, bevor nicht alles wieder gesäubert ist, alles wieder an seinem Platz steht, in den Städten und in den Seelen der Menschen. Das hat er geschworen. Wie lange wird der Schwur noch gelten, wie lange wird andauern, was Grund für den Schwur war? Nebel liegt dick vor dem Fenster, über dem Fluss, dem Land, der Welt: Er muss wieder ans Fenster treten und den Nebel betrachten, als wäre dieser die einzige Antwort auf das Leben. Wie viel wird diskutiert, prophezeit und gelogen! Seit zwei Jahren, jeden Tag, zu Hause und im Büro, in Gesellschaft und auf der Straße, kühl und wohlinformiert, leise und vertraulich! Und immer diese zitternde Unsicherheit hinter der Überlegenheit und den kühl vorgetragenen Mitteilungen: Unsicherheit – auch jenseits des menschlichen Willens können in der menschlichen Welt Dinge geschehen. Und wie viel Lüge in Wort und Schrift! Diese Lügen begannen mit »von gut informierter Stelle habe ich gehört« und endeten mit: »… aller nüchternen menschlichen Berechnung nach.« Diese Berichte, die mit »gestern habe ich mit jemandem gesprochen« anfingen. Und die Gewissheit, dass es diesen »Jemand« nicht gibt und auch gar nicht geben kann, weil alles, was geschieht, nicht mehr Absicht eines Einzelnen ist, sondern der Wille übermenschlicher Kräfte. Am Abend geht er in die Oper.

Er zieht den dunklen Anzug an und geht in die Oper. Die Hörner kreischen. Frauen sitzen in der Loge, weiße Haut, schwarzer Samt, behandschuhte Hände heben das Opernglas, Augen glänzen im Dunkeln wie die Augen wilder Tiere. Im Zuschauerraum schwebt der stickige Geruch von Körpern. Auf der Bühne singt ein Mann mit tiefer Stimme über die Ehre und die Liebe. Das war Europas tiefster Sinn, wann eigentlich? … Gestern noch oder vor zwei Jahren. Wie schön war alles: die Städte, die Fahrt mit dem Schnellzug durch verschneite Landschaften, Gebirge und Wasserfälle, die elektrisch erleuchtete Geborgenheit der großen Hotels, die Telefonnummern im alten Notizbuch: Zahlen, hinter denen ein Mensch lebte, in einer Wohnung in München, Paris oder Oxford; die Nummer rief den Menschen plötzlich ins Leben. Und allerlei Bilder, kluge Bücher, herrliche Frauen, wunderbare Gebrauchsgegenstände, Gedichte, bei deren Lektüre einem eine kalte Starre über den Körper kribbelt. Und hinter alledem eine Art furchtbare Lüge und Unbarmherzigkeit, und die Millionen und Hundertmillionen, immer mehr, strömende und wachsende Mengen, die immer weniger Anteil an den Bildern, Büchern, Frauen und Gedichtzeilen hatten. Und Diskussionen, in den Zeitschriften, in allen Sprachen, in den Parlamenten, in allen Ländern, Rummel und stetes Getümmel, das jeden Tag leidenschaftlicher summte. Und dann, eines Morgens, diese Stille. Wenn etwas zu Ende ist, wird es eigenartig still: in der Welt und in den Herzen der Menschen.

Nein, dachte er, wenn der Krieg zu Ende ist und man wieder reisen kann, werde ich kein junger Mann mehr sein. Dieser Gedanke lässt ihn nicht los. Als wäre das wichtiger als die Zeilen, die auf dem Tisch trocknen. Auch mich gibt es, nicht nur die Welt. Wenn ich das Meer wiedersehe, werde ich vielleicht fünfzig Jahre alt sein. Die Schiffe legen am Morgen von Triest ab. Die großen weißen Schiffe, auf denen der Reisende an Deck durch ein Spalier von Stewards in goldbetressten weißen Jacken in seine Kabine einzieht. Der feierliche, saubere Geruch nach Ölfarbe. Und in der Kabine alles so wunderbar an seinem Platz wie in einer gelösten mathematischen Formel. Das Schiff legt ab, und auch in der Welt ist alles wunderbar an seinem Platz: in Zeit und Raum, alles an seinem Platz. Hier ein Längenkreis, dahinter die Zeit und China. Dort ein anderer Längenkreis, dahinter, nach den Regeln geometrischer Formeln fixiert, Sidney. Eine wunderbare Ordnung herrschte in der Welt. Und das Meer war dunkelgrün oder hellblau, als würde es manchmal seiner Wut freien Lauf lassen: wie ein Choleriker, der sich zwischen zwei Wutanfällen an seine Kindheit erinnert. Man wachte morgens in der Welt auf, durch die Rollläden der Kabine stach mit scharfen Strahlen die südliche Sonne herein, als würden Meuchelmörder die Geheimnisse eines Zimmers aufbrechen, mit goldenen Dolchen. Man sprang aus dem Bett, öffnete die Rollläden, und der Geruch des Meeres und der Sonne strömte ins Zimmer. Das Schiff stand, die Maschinen arbeiteten mit leisem Brummen. Am Ufer weiße Steine und dunkle Menschen in Lumpen. Jemand sang, galagala. Ein Auto im Schatten unter den Palmen, und weiter entfernt die windschiefen Säulen eines dreitausend Jahre alten Tempels. Wunderbar, wie alles in der Welt an seinem Platz war.

Sollte wirklich hinter allem Sünde gewesen sein? Sünde, die Menschen an Menschen, Völker an Völkern bewusst begingen? Die Sünde oder ein Gesetz, stärker als der Mensch? Er weiß keine Antwort darauf. Manchmal fällt ihm diese Frage ein, in der Oper oder bei der Arbeit oder wenn er Menschen zuhört, die über Verantwortung diskutieren. Währenddessen vergeht das Leben. Das eine, das er nur hat. Seit einiger Zeit spürt er dieses Phänomen deutlich, dieses »Vergehen«, als beobachtete er unter dem Vergrößerungsglas die organischen Veränderungen eines Lebewesens. (Und merkwürdig, dass ich nicht traurig bin.) Etwas ist geschehen, und es ist nicht nur in der Welt geschehen: seine Haut, Nerven, Blutzellen haben auf das geantwortet, was geschehen ist. Auch sein eigener Weltkrieg ist in diesen Jahren abgelaufen, seine persönliche Weltgeschichte. Alles ist geschehen, wie es geschehen sollte, und jetzt steht er hier, in einem Zimmer mit Bogendecke, fünfundvierzig Jahre alt, und er ist merkwürdig ruhig. Kein Protest im Herzen. Keine Rührseligkeit. Wenn man ihn nicht tötet, wenn er keinen groben Fehler begeht, wenn er Sport treibt und sachliche gute Bücher liest, wenn er sich nicht einer Art irren Angst und Leidenschaft überlässt, der Verzweiflung über die vergehende Jugend, bleiben ihm noch zehn ziemlich gute Jahre. Nicht sehr gute, aber doch ziemlich gute. Aufmerksam und höflich bleiben, auch sich selbst gegenüber. Fünfzig Jahre alt wird er sein, wenn er das Meer oder China oder jenes Teezimmer in Oxford wiedersieht. Inzwischen geschieht und vergeht der Krieg.

Jetzt ist der Krieg hier, ganz nah. Gestern war er noch weit entfernt wie das Schicksal eines anderen Menschen. Im Nebenzimmer sitzt ein Mann und hat Krebs: Er weiß davon und empfindet nichts. Anteilnahme, ja. Im Nachbarland ist gestern der Krieg ausgebrochen, er hat am Morgen die Zeitungen gelesen. Die Truppen sind irgendwo vorgerückt. Paris ist gefallen. Das letzte Mal hat er Paris in der Nacht gesehen, vor vier Jahren, als er im Taxi zum Bahnhof fuhr. Das Auto rollte an den Gartenanlagen der Tuilerien vorbei: es war Sommer, auf der Radialstraße um den Triumphbogen glitzerten Lichter. Damals war er noch jung, verworren und hoffnungsvoll jung.

»Aber was will ich noch vom Leben?«, fragt er.

Er läutet. Das Fräulein tritt ein und nimmt die Handschrift entgegen.

»Zum Nachmittag bitte«, sagt er kühl.

Und in gebieterischem Ton: »Streng vertraulich. Bitte erledigen Sie das bis vier Uhr, und geben Sie es mir persönlich.«

Als er allein bleibt, schließt er die Augen und bedeckt das Gesicht mit den Händen. Lange sitzt er so. Jetzt hat es begonnen, denkt er. Was gestern noch Nachricht war und Ekstase, ist heute schon hier im Zimmer, vor dem Fenster; es betrifft auch den Fluss und die Häuser. Jetzt tippt die Stenotypistin den Text ab, am Nachmittag wird er ihn dem Minister übergeben. Und dann nimmt seinen Lauf, was einmal begonnen hat, weil Gründe, Argumente, Meinungen, Tatsachen die Menschen gezwungen haben, es beginnen zu lassen. Seine Hände bedecken das Gesicht.

Er kann dieses Gesicht jetzt nicht sehen, im Büro gibt es keinen Spiegel, er kennt sein Gesicht eigentlich nicht. Hinter den offiziellen und disziplinierten Zügen des ergrauenden Mannes schimmert immer das Gesicht eines Kindes hervor. Er kennt nur dieses Kind, unscharf, wie wir uns an das Gesicht eines verstorbenen Kindes erinnern.

So sitzt er, und eine Frau eilt die Treppen des großen Gebäudes hinauf. Sie läuft leicht wie ein Vogel, als spränge sie von einer Treppenstufe zur anderen. Sie eilt zu ihm, aber er weiß nichts davon.

Er kennt diese Frau nicht, er hat sie nie gesehen. Jetzt sitzt er noch vor dem Tisch und bedeckt das Gesicht. Er denkt an den Krieg und stellt sich vor, was dieses Wort morgen oder in einem Jahr bedeuten wird, in der Wirklichkeit. Alle, die den Krieg bisher nur im Lichtspieltheater gesehen haben, werden ihn kennenlernen wie einen Menschen, der nicht nur einen Namen und einen Ruf, sondern auch einen Körper hat. Er möchte jemandem helfen. Vielleicht ist richtig, wenn man in solchen Augenblicken unter allen Lebewesen des Universums einen Menschen auswählt und ihm mit aller Kraft hilft. Einen Mann oder eine Frau, die der Hilfe würdig sind. Doch dieses Wort »würdig« ist, Aug in Auge mit der Wirklichkeit, plötzlich sinnlos. Jeder Mensch ist »würdig«, ein vollständiges Schicksal zu haben. Und innerhalb des großen Schicksals, des Krieges, geschieht den Menschen ein anderes Schicksal, das kleine, vollständige.

Die Frau ist schon im ersten Stock angekommen. Auf dem Treppenpodest bleibt sie stehen. Vorsichtig sieht sie sich um wie ein Dieb, nimmt aus ihrer Tasche eine Puderdose, tupft Reispulver vom Spiegel des kleinen Döschens und pudert sich die Nase. Dann prüft sie ernst und besorgt ihr Gesicht in dem winzigen Spiegel. Sie ist aufgeregt, im Magen spürt sie eine Unruhe wie ein Schüler vor der Abschlussprüfung. Sie hört Schritte und wird plötzlich feierlich, eine Dame. Gemessen geht sie zum obersten Geschoss hinauf. Ein älterer Herr kommt ihr entgegen, bleibt auf einer Treppenstufe stehen, sieht ihr lange nach. Eine gute Frau – denkt der ältere Herr. Er pfeift leise und geht weiter.

Auch die Frau weiß, dass sie »eine gute Frau« ist. Heute weiß sie es ganz besonders, von den Zehen bis zur Nasenspitze. Am Morgen hat sie lange überlegt, ob sie Schneestiefel anziehen soll. Der Schnee lag ziemlich hoch. Dann machte sie sich doch ohne Stiefel auf den Weg, in hautfarbenen Strümpfen und Halbschuhen aus Seehundleder mit dünnen Sohlen, die sie sorgsam vor dem Matsch auf der Straße bewahrt hat. Jetzt friert sie in den dünnen Strümpfen und den feinen kleinen Schuhen, aber gerade heute kann sie ihre langen, schönen Beine nicht in Schneestiefeln verstecken.

Sie geht zu einem Mann, den sie noch nie gesehen hat. Im Gebäude ist es angenehm warm, der weiße Flur mit der Bogendecke sieht aus, als führte er in ein Kloster. An der Wand hängen alte Stadtansichten in Goldrahmen. Alles ist ruhig und überlegen. Die Frau seufzt, sie sieht niemanden. Aus der Tasche ihres pelzbesetzten Mäntelchens zieht sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor und buchstabiert einen Namen. Dann sieht sie sich kurzsichtig blinzelnd um. Ein Mann in Livree kommt auf sie zu. Die Frau spricht den Namen aus.

Zum ersten Mal im Leben spricht sie laut diesen Namen aus. Wenn wir einen Namen aussprechen, verbinden im Universum unsichtbare Kräfte zwei Menschen wie in einer Telefonzentrale.

Der Livrierte nickt. »Der Herr Rat empfängt nur bis zwölf«, sagt er.

»Meine Visitenkarte«, sagt die Frau in schlechtem Ungarisch. »Bitte, geben Sie ihm meine Visitenkarte.«

Sie spricht freundlich, leise, und die Art, wie sie gebrochen Ungarisch spricht, schmeichelt dem Amtsdiener. Die Söhne kleiner Völker empfinden es als Ehre, wenn ein Fremder sich bemüht, sie in ihrer Muttersprache anzusprechen. Der Amtsdiener ist höflich, wie ein Herr bietet er der fremden Dame einen Platz an und geht mit der Visitenkarte davon.

Die Frau setzt sich auf ein grün bezogenes Kanapee. Sie presst die Hände aufs Herz. Es pocht nervös.

Schließlich ist sie in ein Zimmer geführt worden. Die Tür wurde leise hinter ihr geschlossen, mit jener schallgedämpften Geräuschlosigkeit, die alles in diesem klosterartigen Gebäude charakterisiert: Hier klappern auch die Schreibmaschinen leiser, als würde eine komplizierte Ordnung, eine stumme Dienstfertigkeit jede Bewegung disziplinieren, sogar die Geräusche der Maschinen. Sie blieb auf der Schwelle stehen und regte sich nicht, unbeholfen wie ein Schulkind, als wartete sie nach einer Turnübung darauf, dass man »die Nächste« ruft. In der großen weißen Tür sah ihre geschmeidige Gestalt größer aus, als sie wirklich war.

Der Mann stand vom Schreibtisch auf, die Visitenkarte in der Hand.

Wie blass er ist, dachte die Frau. Sie schlug die Augen nieder und betrachtete durch das schmale Guckloch den Mann, kurzsichtig und aufmerksam, mit kühlem und etwas feindlichem Blick.

Ich muss blass aussehen, dachte der Mann: Denn er spürte, dass ihm das Blut aus dem Kopf wich.

Das Blut »strömte ihm zum Herzen«, so empfand er es; zugleich wusste er, dass dies nur eine literarische Übertreibung ist, so hatte er es oft genug gelesen. In Wirklichkeit gibt es dieses »Strömen« nicht. Das Blut fließt immer zum Herzen, und ein Schwindel hat nichts mit dem Takt des Blutkreislaufs zu tun. Man liest solche sentimentalen Gemeinplätze.

Jetzt denkt er: Nein, das ist wirklich übertrieben. Und plötzlich bekommt er gute Laune.

Eine übertriebene, nervöse gute Laune, als hätte eine teuflisch geschickte Hand ihm ein Mittel in den Körper gespritzt, durch das sich diese unheimliche Laune kribbelnd in allen Gliedern ausbreitet. Jetzt muss ich mich in Acht nehmen, denkt er, sonst gibt es einen Skandal. Noch einen Moment, und wenn dann dieses Kribbeln nicht verschwindet, in meinem Körper oder in meiner Seele oder in den Nervenbahnen: Wenn ich mich nicht in Acht nehme, wenn der Reiz nicht aufhört, fange ich an zu lachen … zu lachen? Nein, zu prusten, zu wiehern. Ich schlage auf den Tisch, mit beiden Fäusten, so werde ich lachen. Ich lege mich aufs Sofa, presse mir die Hände auf den Bauch, halte mir die Lenden, so wiehere ich! Wenn dieser Reiz nicht vergeht, gibt es einen Skandal, dass die Beamten aus dem Nebenzimmer kommen, den Minister herbeirufen und die Sanitäter mich ins Sanatorium und in den Ruhestand schicken. Gleich fange ich an zu lachen, aus vollem Hals, denkt er; und er mag diese Worte nicht. Aber sie stellen sich von selbst ein, sie posaunen ihren banalen Sinn heraus, als kehrten sie endlich, nach langer Verbannung, heim und erhielten Bürgerrechte; die Worte machen sich in seiner Seele breit und schlagen Purzelbäume; noch einen Augenblick, und er spuckt die Worte als Gelächter aus, spuckt sie vor diese Frau auf den Teppich, in die Mitte des Zimmers, vor Gott und die Welt. Denn das ist wirklich zu viel. Der Teufel lacht vielleicht so hämisch und verzweifelt, wenn ihm in seinen freien Stunden zu Bewusstsein kommt, dass sein Gesicht und seine Stirn mit den Hörnern, entstellt und schrecklich, dennoch Gottes Gesicht ähneln.

Noch einen Augenblick, und er platzt heraus. Die Frau erschrickt dann, läuft weg. Aber warum sollte sie schließlich weglaufen? Was hat sich diese Frau eingebildet, als sie zu ihm gekommen ist, von der Straße, zurückgekommen aus der Zeit und aus einem Raum, der noch fürchterlicher ist als die Zeit und der irgendwo liegt, jenseits des großen Raumes, wo nicht einmal mehr richtige Körper existieren, Abbildungen und Begriffe, sondern das Chaos, das Körper, Abbildungen und Erscheinungen zu erkalteten Gefühlseindrücken vermischt? Ohne Grund steht sie nicht hier auf der Schwelle. Und so schallend er ihr auch ins Gesicht lacht, sie kann auf alles antworten: mit der Tatsache, dass es sie gibt, dass sie lebt und hier auf der Schwelle steht. Und jetzt überfällt ihn eine unermessliche Neugier; fast wie eine sinnliche Erregung. Schließlich ist das keine gewöhnliche Sache. Schließlich passiert es nicht jedem, dass er jemanden begräbt, und dann steigt derjenige aus dem sicheren Grab heraus, das sowohl Wirklichkeit ist als auch Erinnerung, das drei Grabdeckel hat wie die Gräber der heidnischen Könige, und steht hier auf der Schwelle, am Mittag, um ein Uhr zwanzig. Denn jetzt sieht er auf die Uhr und auf den Kalender an der Wand: Donnerstag, zwanzig nach eins. Was für ein Tag ist eigentlich der Donnerstag für ihn? Normalerweise ein gleichgültiger Tag, an dem sich die guten Engel des Lebens nicht weiter um ihn kümmern, an dem aber auch die Dämonen, die hämischen kleinen Teufel des Alltags, nicht auf sein Schicksal achten und seinem Leben kein Bein stellen.

Die Gespenster, denkt er, besuchen diese Welt offenbar nicht nur bei Nacht. Sie kommen auch am helllichten Tag. Dieses Gespenst ist aus Fleisch und Blut. Aus sehr ansprechendem Fleisch und Blut, stellt er fest, spöttisch. Denn jetzt, da der Lachreiz zu verschwinden beginnt, empfindet er keinerlei Verwunderung; eher nur spöttisches Gekränktsein und Erschütterung. In diesem Augenblick versteht er etwas, was ihm bisher nicht klar war. Er empfindet ungefähr das, was die Menschheit empfand, als Kopernikus und später Darwin und Freud sie mit Feststellungen vor den Kopf stießen, deren Sinn immer war, dass nicht der Mensch der Mittelpunkt der Welt ist. Die Erde ist nicht der einzige Stern im Weltall, der Mensch hat auch weniger vornehme Verwandtschaft, und unser Verstand verhält sich zum Instinkt nur wie Europa zu Asien. Und er persönlich ist nicht Sinn und Mittelpunkt des Alls. Aber so grob hat man es ihm noch nie ins Gesicht gesagt, wie diese Frau es jetzt tut, stumm, auf der Schwelle. Sein Gekränktsein steigert sich. Er errötet.

Und jetzt hört er eine Stimme, freundlich, heiser, beängstigend vertraut, die zwischen den Vorhängen einer großen Liege erklingt und sagt: »Tell me, my Heart, if this be Love?«

Und er hört seine eigene Stimme, wie sie aus der anderen Ecke des Zimmers erwidert: »Wer hat das geschrieben? Byron?«

»No, Sir«, sagt die Stimme, schülerhaft und pedantisch. »Lyttelton. Er war Lord und schrieb Gedichte.«

Und dann wird es still. Nur diese Gedichtzeile lebt. Sie beide – er und die Stimme im Halbdunkel der Ottomane – denken nach, was die Liebe ist. Aber das war schon vor sehr langer Zeit.

Es war vor so langer Zeit, dass er jetzt, als die Stimme in seiner Seele erklingt, plötzlich müde wird. Diese Müdigkeit kennt er nicht. Die Frau steht schon sehr lange auf der Schwelle. Jetzt müsste er etwas zu ihr sagen. Er hebt die Karte dicht an die Augen und betrachtet sie. Ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit durchdringt ihn, als wäre ihm endlich alles erlaubt: Er muss nicht höflich sein, sich nicht an Regeln und Formen halten, sich nicht beeilen, keine Komplimente machen, nicht den zivilisierten Herrn spielen. Dies ist einer der Augenblicke, in denen das Leben die Vereinbarungen umstößt, in denen die Spielregeln nicht gelten. In diesem Wissen liegt etwas Erniedrigendes, aber auch eine Art Erleichterung. So mag sich ein Wahnsinniger fühlen, wenn der Verstand sich von der Welt der bekannten Gesetze und der Ordnung trennt. Ich kann mich jetzt auf den Boden setzen, denkt er, und mir die Schuhe ausziehen. Dies ist eine beängstigende Erleichterung. Als finge alles, was an seinem Platz war, plötzlich zu taumeln und zu schwanken an, in einer glücklichen Selbstvergessenheit. Denn auf der Welt gibt es nicht nur das Gesetz und Häuser und Rechtsbräuche. Es gibt auch die Umkehrung der Ordnung, und es kommt vor, dass ein Verstorbener aus dem Grab steigt, und derjenige, der sich für den Mittelpunkt der Welt hielt – man stelle sich vor, ein Mensch! –, einfach ein Spielzeug ist für Kräfte, die nicht einmal vernünftig sind.

Für alle Fälle holt er die Brille aus der Zigarrentasche, setzt sie sich umständlich auf die Nase und liest, als wäre er allein im Zimmer, den Text auf der Visitenkarte.

Natürlich, sie trägt eine Maske, denkt er zufrieden. Ihr Name ist die Maske. Ein fremder Name.

Durch die Brille blickt er, kurzsichtig und ein wenig altväterlich, die Besucherin fragend an: »Mademoiselle? …«

Die Frau spricht ihren Namen aus. Die Stimme scheint sie etwas verstellt zu haben. Wie schlau, denkt er und lächelt. So war sie immer. Nein, solche Leute ändern sich nicht.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagt er.

Und langsam tritt er zu ihr, setzt sich ihr gegenüber in den Lehnstuhl mit dem gelben Seidenbezug.

Die Besucherin bringt ihr Anliegen leise und flüssig vor, etwas befangen, als sagte sie eine Lektion auf. Einen Meter achtundsechzig groß. Zweiundfünfzig Kilo. Sie hat sich nicht verändert. Er hört die fremd klingende Rede an und nickt.

Alle Kreaturen sind nur Gottes Larven und Mummereien.Mummereien.