Leigh Bardugo
Die Sprache der Dornen
Mitternachtsgeschichten
Ins Deutsche übertragen von Michelle Gyo
Knaur e-books
Leigh Bardugo wurde in Jerusalem geboren und wuchs in Los Angeles auf. Nach Stationen im Journalismus und im Marketing kam sie schließlich als Special Effects-Designerin zum Film. Leigh lebt und schreibt in Hollywood. Ihr Roman »Das Lied der Krähen« stand in den USA ein Jahr lang auf der New York Times-Bestsellerliste und wurde in 35 Länder verkauft.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Language Of Thorns« bei Imprint.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Leigh Bardugo
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Catherine Beck
Covergestaltung: Guter Punkt, München nach einem Originaldesigh von Natalie C. Sousa
ISBN 978-3-426-45312-4
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Gamynne -
The Babe with the Power
In dem Jahr, in dem der Sommer zu lange blieb, lag die Hitze schwer wie ein Leichnam auf der Prärie. Das hohe Gras verbrannte unter der unbarmherzigen Sonne, und die Tiere fielen tot auf den ausgedörrten Feldern um. In diesem Jahr waren nur die Fliegen glücklich, und Sorgen kamen über die Königin des westlichen Tales.
Wir alle kennen die Geschichte, wie die Königin zur Königin wurde, wie sie trotz ihrer zerlumpten Kleider und ihrer niederen Stellung mit ihrer Schönheit die Aufmerksamkeit des jungen Prinzen auf sich zog, wie sie zum Palast gebracht wurde, wo man sie in Gold kleidete und ihr Haar mit Juwelen schmückte und alle vor dem Mädchen niederknien mussten, das nur Tage zuvor noch eine Dienstmagd gewesen war.
Das war, bevor der Prinz zum König wurde, als er noch wild und verwegen war und jeden Nachmittag auf dem roten Pony jagte, das er selbst zugeritten hatte. Er fand Freude daran, seinen Vater zu reizen, indem er sich eine Bauernbraut aussuchte, statt um eines politischen Bündnisses willen zu heiraten, und da seine Mutter schon lange tot war, fehlte ihm eine kluge Beraterin. Die Menschen waren von seinen Possen amüsiert und bezaubert von seiner lieblichen Frau, und für eine Zeit war das junge Paar es zufrieden. Seine Frau gebar ein pausbäckiges Prinzlein, das fröhlich in seinem Bettchen gluckste und mit jedem Tag mehr geliebt wurde.
Doch dann starb der alte König in dem Jahr des schrecklichen Sommers. Man krönte den verwegenen Prinzen, und als seine Königin rund wurde mit dem zweiten Kind, blieb der Regen aus. Der Fluss verbrannte und ließ eine ausgetrocknete Felsader zurück. Die Quellen füllten sich mit Staub. Jeden Tag ging die schwangere Königin auf den Zinnen oben auf der Burg spazieren und betete, dass ihr Kind weise und stark und schön würde, doch am innigsten betete sie, dass ein freundlicher Wind ihre Haut kühlte und ihr etwas Erleichterung verschaffte.
In der Nacht, in der ihr zweiter Sohn geboren wurde, stieg der Vollmond braun wie alter Grind am Himmel auf. Präriewölfe umringten den Palast, heulten und kratzten an den Mauern und rissen dem Wächter, den man schickte, sie zu vertreiben, die Innereien heraus. Ihr wildes Geheul übertönte die Schreie der Königin, als diese auf die Kreatur herabsah, die kreischend aus ihrem Schoß geglitten war. Dieser kleine Prinz hatte zwar annähernd die Gestalt eines Jungen, doch sah er mehr wie ein Wolf aus, der Körper von glänzendem schwarzem Fell bedeckt vom Scheitel bis zu den Füßen, an denen Krallen saßen. Seine Augen waren rot wie Blut, und die Stummel zweier knospender Hörner ragten aus seinem Kopf hervor.
Der König wollte keinen Präzedenzfall schaffen, indem er begann, Prinzen zu töten, doch eine solche Kreatur konnte man nicht im Palast aufziehen. Also wandte er sich an seine klügsten Berater und besten Ingenieure, die ein weites Labyrinth unter dem königlichen Anwesen erbauen ließen. Es erstreckte sich über viele Meilen, bis hinab zum Marktplatz, und schlängelte sich dabei immer und immer wieder hin und her. Es dauerte Jahre, bis das Labyrinth vollendet war, und die Hälfte der Arbeiter, die man mit seiner Erbauung betraute, verlor sich in seinen Mauern, und man hörte niemals wieder von ihnen. Als es fertig war, nahm der König seinen monströsen Sohn aus dem Käfig in der königlichen Kinderstube und ließ ihn in das Labyrinth bringen, damit er seine Mutter und das Königreich nicht mehr plagte.
In dem Sommer, in dem das Biest geboren wurde, kam ein weiteres Kind zur Welt. Kima wurde in eine sehr viel ärmere Familie geboren, eine, die kaum genug Land besaß, um sich davon zu ernähren. Doch als dieses Kind seinen ersten Atemzug tat, da schrie es nicht, sondern es sang, und in diesem Moment öffnete sich der Himmel, und der Regen fiel, und die lange Dürre war endlich vorbei.
Die Welt ergrünte an diesem Tag, und man sagte, dass, wo auch immer Kima ging, man den süßen Duft von neuem Leben roch. Sie war groß und schlank wie eine junge Linde, und sie bewegte sich mit einer Anmut, die beinahe beunruhigend war – als ob sie jederzeit davongeblasen werden könnte, so leichtfüßig war sie. Sie hatte glatte Haut, die braun leuchtete wie die Berge in der honigsüßen Stunde, bevor die Sonne unterging, und sie trug ihr Haar offen – eine schwere Gloriole aus schwarzen Locken, die ihr Gesicht umrahmten wie eine Blume, die erblühte.
Niemand in der Stadt konnte bestreiten, dass Kimas Eltern gesegnet worden waren mit ihrer Geburt, denn sie war gewiss dazu bestimmt, einen reichen Mann zu heiraten – vielleicht sogar einen Prinzen – und ihnen so Glück zu bringen. Doch dann, kaum ein Jahr später, kam ihre zweite Tochter auf die Welt, und die Götter lachten. Denn als dieses neue Kind aufwuchs, wurde bald deutlich, dass ihm all die Gaben fehlten, die Kima in solchem Überfluss besaß. Ayama war ungeschickt und ließ häufig Dinge fallen. Ihr Körper war robust und plattfüßig, klein und rund wie ein Bierkrug. Kimas Stimme war sanft und so beruhigend wie der Regen, während das grelle Licht der Mittagsstunde einen zu blenden schien, sodass man zusammenzuckte und sich abwandte, wenn Ayama sprach. Vor Scham baten Ayamas Eltern ihre zweite Tochter, weniger zu sprechen. Sie behielten sie drinnen, beschäftigten sie mit Hausarbeiten und erlaubten ihr den langen Gang zum Fluss und zurück nur, um die Kleider zu waschen.
Damit Kimas Ruhe ungestört blieb, richteten die Eltern auf den warmen Steinen der Herdstelle in der Küche ein Lager für Ayama her. Ihre Zöpfe wurden unordentlich, und ihre Haut sog die Asche auf. Bald war sie weniger braun als grau, und sie schlich scheu von Schatten zu Schatten, immer in der Sorge, Anstoß zu erregen, und mit der Zeit vergaßen die Menschen, dass es zwei Töchter im Haus gab, und man hielt Ayama für eine Dienstmagd.
Kima versuchte oft, mit ihrer Schwester zu reden, doch man bereitete sie darauf vor, die Braut eines reichen Mannes zu werden, und sobald sie sich Ayama in der Küche näherte, rief man sie fort zur Schule oder zu ihren Tanzstunden. Am Tag arbeitete Ayama schweigend, und in der Nacht schlich sie an Kimas Bett, hielt ihrer Schwester Hand, lauschte ihrer Großmutter, die Geschichten erzählte, und ließ sich vom Knarzen von Ma Zils uralter Stimme einlullen. Waren die Kerzen niedrig gebrannt, stocherte Ma Zil mit ihrem Stock nach Ayama und sagte ihr, dass sie zurück an das Herdfeuer gehen sollte, bevor ihre Eltern erwachten und merkten, dass sie ihre Schwester störte.
So ging es eine lange Zeit. Ayama plagte sich in der Küche, Kima wurde immer schöner, die Königin zog ihren menschlichen Sohn im Palast an der Klippe auf und tat ihm spät in der Nacht Wolle in die Ohren, wenn das Heulen seines jüngeren Bruders tief unter ihnen zu hören war. Der König führte einen scheiternden Krieg im Osten. Die Menschen murrten, als er ihnen neue Steuern auferlegte oder ihnen die Söhne nahm, damit sie Soldaten wurden. Sie beschwerten sich über das Wetter. Sie hofften auf Regen.
Dann, an einem klaren und sonnigen Morgen, erwachte die Stadt vom Grollen des Donners. Nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen, doch das Geräusch ließ die Dachziegel beben, und ein alter Mann torkelte in einen Graben, wo er zwei Stunden ausharrte, bevor ihn seine Söhne herausfischten. Da wusste man bereits, dass kein Sturm den schrecklichen Lärm verursacht hatte. Das Biest war aus dem Labyrinth entkommen, und sein Brüllen war von den Talwänden widergehallt und hatte die Berge beben lassen.
Jetzt hörten die Menschen auf, sich wegen der Steuern und der Ernten und dem Krieg zu sorgen, und sie sorgten sich stattdessen, dass es sie aus den Betten holen und fressen würde. Sie verriegelten die Türen und schärften die Messer. Sie behielten ihre Kinder drinnen und ließen ihre Laternen die ganze Nacht lang brennen.
Doch niemand kann für immer in Angst leben, und als die Tage ohne Zwischenfälle vergingen, begannen die Menschen sich zu fragen, ob das Biest ihnen vielleicht einen Gefallen getan und ein anderes Tal gefunden hatte, um dieses zu terrorisieren. Dann ritt Bolan Bedi los, um sich um seine Herden zu kümmern, und er fand sein Vieh abgeschlachtet im Gras auf den westlichen Feldern, die rot von Blut getränkt waren – und er war nicht der Einzige. Die Nachricht von dem Gemetzel verbreitete sich, und Ayamas Vater ging ebenfalls hinaus zu den weit entfernt liegenden Weiden. Er kehrte zurück und erzählte schaurige Geschichten, von neugeborenen Kälbchen, denen der Kopf abgerissen worden war, und Schafen, von der Kehle bis zur Leiste aufgeschlitzt, deren Wolle die Farbe von Rost hatte. Nur das Biest konnte eine solche Zerstörung in einer einzigen Nacht angerichtet haben.
Die Menschen des westlichen Tales hatten ihren König nie für einen Helden gehalten wegen seiner Kriege, die er verlor, seiner Bauernbraut und seinem Gefallen an Annehmlichkeiten. Doch als er jetzt das Kommando übernahm und schwor, das Tal zu beschützen und sich ein für alle Mal um seinen monströsen Sohn zu kümmern, da waren sie voller Stolz. Der König versammelte eine große Jagdgesellschaft, die in die wilden Lande reiste, in denen das Biest laut den Ratgebern vermutlich Zuflucht gesucht hatte, und seiner eigenen königlichen Garde befahl er, als Eskorte zu dienen. Die Hauptstraße marschierten sie hinab, einhundert Soldaten, die mit ihren Stiefeln den Staub aufwirbelten, angeführt von ihrem Hauptmann, dessen bronzefarbenen Handschuhe in der Sonne glänzten. Ayama stand hinter dem Küchenfenster und sah ihnen zu, als sie vorbeizogen, und sie bewunderte ihren Mut.
Am nächsten Morgen, als die Dorfbewohner zum Marktplatz kamen, um den Handel aufzunehmen, bot sich ihnen ein grauenhafter Anblick: Die Knochen von einhundert Männern waren wie Treibholz neben dem Brunnen in der Mitte des Platzes aufgetürmt – und obenauf die bronzenen Handschuhe des Hauptmannes des Königs, die in der Sonne glänzten.
Die Menschen weinten und zitterten. Jemand musste sie und ihre Herden beschützen. Konnte kein Soldat das Biest erschlagen, so musste der König einen Weg finden, seinen jüngeren Sohn zu besänftigen. Der König befahl seinen klügsten Ministern, in die wilden Lande zu reisen und einen Frieden mit dem Monster auszuhandeln. Die Minister stimmten zu, gingen, ihre Taschen zu packen, und rannten dann so schnell sie konnten aus dem Tal und wurden niemals mehr gesehen. Der König konnte keinen finden, der mutig genug war, in die wilden Lande zu reisen und in seinem Namen zu verhandeln. In seiner Verzweiflung bot er jedem drei Truhen Gold und dreißig Ballen Seide, der mutig genug war, als sein Gesandter zu dienen, und in dieser Nacht wurde viel geredet in den Häusern des Tales.
»Wir sollten diesen Ort verlassen«, sagte Ayamas Vater, als sich seine Familie zum abendlichen Mahl versammelte. »Habt ihr die Knochen gesehen? Wenn der König keinen Weg findet, das Monster zu beschwichtigen, wird es ohne Zweifel hierherkommen und uns alle verschlingen.«
Ayamas Mutter stimmte ihm zu. »Wir werden nach Osten reisen und uns ein neues Heim an der Küste schaffen.«
Ma Zil saß auf ihrem niedrigen Hocker am Feuer und kaute auf einem Blatt Jurda. Die alte Großmutter verspürte nicht den Wunsch, eine so lange Reise zu machen. »Schickt Ayama«, sagte sie und spuckte ins Feuer.
Lange herrschte Schweigen, während die Flammen zischten und knisterten. Trotz der Hitze vom Kochfeuer, an dem Ayama stand und die Hirse röstete, erschauderte Ayama.
Fast als wäre es ihre Aufgabe, dem zu widersprechen, sagte Ayamas Mutter: »Nein, nein. Ayama ist ein schwieriges Mädchen, aber nichtsdestotrotz ist sie meine Tochter. Wir werden ans Meer gehen.«
»Außerdem«, sagte ihr Vater, »sieh dir nur ihren schmutzigen Kittel an und die unordentlichen Zöpfe. Wer würde glauben, dass Ayama ein königlicher Gesandter sein könnte? Das Biest würde sie aus den wilden Landen verlachen.«
Ayama wusste nicht, ob Monster lachen konnten, doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Ma Zil spuckte erneut ins Feuer.
»Er ist ein Biest«, sagte die alte Frau. »Was weiß er schon von feinen Kleidern oder hübschen Gesichtern? Ayama wird des Königs Gesandte sein. Wir werden reich, und Kima wird sich einen besseren Ehemann suchen können, um für uns alle zu sorgen.«
»Doch was, wenn das Biest sie frisst?«, fragte die freundliche Kima mit Tränen in den lieblichen Augen.
Ayama war ihrer Schwester dankbar, denn obwohl sie verzweifelt dem Plan ihrer Großmutter widersprechen wollte, so hatten ihre Eltern ihr doch so lange beigebracht, den Mund zu halten, dass ihr das Sprechen nicht leichtfiel.
Ma Zil wischte Kimas Worte mit einer Geste beiseite. »Dann singen wir ihr ein Knochenlied, und wir werden dennoch reich sein.«
Ayamas Eltern sagten nichts, doch sie erwiderten ihren Blick nicht, und ihre Gedanken wandten sich bereits den Truhen königlichen Goldes zu.
In dieser Nacht wälzte sich Ayama unruhig auf den harten Steinen des Herdes und konnte aus Angst nicht schlafen, als Ma Zil zu ihr kam und eine schwielige Hand an ihre Wange legte.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte sie. »Ich weiß, dass du Angst hast, doch nachdem du des Königs Belohnung verdient hast, wirst du eigene Diener haben. Du wirst niemals mehr einen Boden schrubben oder einen Eintopf aus einem alten Topf kratzen müssen. Du wirst blaue Sommerseide tragen und weiße Nektarinen essen und in einem richtigen Bett schlafen.«
Ayamas Stirn war immer noch vor Sorge gefurcht, und so sagte ihre Großmutter: »Komm schon, Ayama. Du weißt, wie die Geschichten gehen. Die spannenden Dinge widerfahren nur den hübschen Mädchen; du wirst bei Sonnenuntergang wieder zu Hause sein.«
Dieser Gedanke tröstete Ayama, und als Ma Zil ihr ein Schlaflied sang, träumte sie und schnarchte laut – denn im Schlaf konnte niemand ihre Stimme zum Schweigen bringen.
Ayamas Vater schickte eine Botschaft zum König, und obwohl viel darüber gespottet wurde, dass ein solches Mädchen die Aufgabe übernehmen sollte, so hatte der König doch als einzige Bedingung an seinen Boten, dass er Mut hätte. Also wurde Ayama des Königs Gesandte, und man hieß sie, in die wilden Lande zu reisen, das Biest zu finden und seine Forderungen anzuhören.
Ayamas Haar wurde geölt und frisch geflochten. Sie bekam eines von Kimas Kleidern, das ihr überall zu eng war und kürzer gemacht werden musste, damit es nicht durch den Staub schleifte. Ma Zil band eine himmelblaue Schürze um die Taille ihrer Enkeltochter und setzte ihr einen großen Hut mit einem Band aus rotem Mohn auf den Kopf. Ayama steckte eine kleine Axt, die sie zum Holzhacken benutzte, in die Tasche ihrer Schürze, zusammen mit einem trockenen Einsiedlerkuchen und einem Kupferbecher zum Trinken – falls sie so viel Glück hätte, Wasser zu finden.
Die Dorfleute jammerten und tupften sich die Augen und sagten Ayamas Eltern, wie tapfer sie doch wären, und sie bestaunten, wie fein Kima aussah trotz ihrer tränenbefleckten Wangen. Dann kümmerten sie sich wieder um ihre Angelegenheiten, und Ayama ging davon in die wilden Lande.
Man kann wohl sagen, dass Ayama ein wenig niedergeschlagen war. Wie sollte sie das auch nicht, wo doch ihre Familie sie aussandte, zu sterben für ein wenig Gold und eine gute Ehe für ihre Schwester? Doch sie liebte Kima, die Ayama kleine Stückchen Honigwaben zusteckte, wenn ihre Eltern nicht hinsahen, und die ihr die neuesten Tänze beibrachte. Ayama wünschte sich, dass ihre Schwester alles bekam, was sie auf dieser Welt wollte.
Und in Wahrheit tat es ihr sogar nicht allzu sehr leid, von zu Hause fort zu sein. Jemand anderes würde nun die Kleider zum Fluss schleppen müssen, um sie zu waschen, die Böden schrubben, das abendliche Mahl zubereiten, die Hühner füttern, sich um das Flicken kümmern und die Reste des Eintopfs aus dem Topf kratzen.
Nun, dachte sie, denn sie hatte gelernt, still zu sein, selbst wenn sie allein war. Immerhin muss ich heute nicht arbeiten, und ich werde etwas Neues sehen, bevor ich sterbe. Und obwohl die Sonne gnadenlos auf ihren Rücken herabbrannte, ließ allein dieser Gedanke sie mit fröhlicherem Schritt vorangehen.
Ihre Freude hielt nicht lange an. Die wilden Lande waren bloß vertrocknetes Gras und ödes Gestrüpp. Kein Insekt summte. Kein Schatten unterbrach das unerbittliche, grelle Licht. Schweiß durchnässte den Stoff von Ayamas zu engem Kleid, und ihre Füße fühlten sich in den Schuhen an wie aufgeheizte Backsteine. Sie erschauderte, als sie die ausgebleichten Knochen eines Pferdekadavers erblickte, doch nach einer weiteren Stunde freute sie sich über einen sauberen weißen Schädel oder die Knochen eines Brustkorbs, aufgefächert wie der Anfang eines geflochtenen Korbs. Sie zerrissen die Eintönigkeit und waren ein Zeichen dafür, dass etwas hier überlebt hatte, wenn auch nur für eine Weile.
Vielleicht, so dachte sie, falle ich einfach tot um, bevor ich das Biest finde, und dann habe ich überhaupt nichts zu befürchten. Doch nach einiger Zeit sah sie eine schwarze Linie am Horizont, und als sie näher kam, erkannte sie, dass sie einen schattigen Wald erreicht hatte. Die Grauborkenbäume waren hoch, und das dornenbedeckte Gestrüpp dazwischen so dicht, dass Ayama nichts als Dunkelheit erkennen konnte. Sie wusste, dass sie hier den Sohn des Königs finden würde.
Ayama zögerte. Sie mochte nicht daran denken, was sie in dem Dornenwald erwartete. Ihr letzter Atemzug konnte nur Minuten entfernt sein. Wenigstens wirst du ihn im Schatten tun, überlegte sie sich. Und wirklich, ist denn der Wald so viel schlimmer als ein Garten, der von Stacheln überwuchert ist? Es ist vermutlich sehr trist dort drinnen, und es wird mich nur anöden. Sie zog Ma Zils Versprechen um sich wie eine Rüstung, erinnerte sich daran, dass sie nicht für Abenteuer bestimmt war, und fand eine Lücke in den eisernen Schlingpflanzen, durch die sie schlüpfte und zischte, als die Dornen in ihre Arme stachen und ihre Hände aufrissen.
Mit zitternden Beinen durchschritt Ayama das Dickicht und ging in den Wald. Sie fand sich in Dunkelheit. Ihr Herz raste und klopfte, und sie wollte sich umdrehen und davonlaufen, doch sie hatte einen großen Teil ihres Lebens in den Schatten verbracht, und so kannte sie diese gut. Sie zwang sich dazu, still stehen zu bleiben, während der Schweiß auf ihrer Haut kühlte. Nach ein paar Minuten stellte sie fest, dass der Wald nur im Vergleich mit der Helligkeit der wilden Lande, die sie hinter sich zurückgelassen hatte, dunkel war.
Als ihre Augen sich daran gewöhnt hatten, fragte Ayama sich, ob die Hitze ihr vielleicht den Geist verwirrt hatte. Der Wald war von Sternen erhellt – obwohl sie sehr gut wusste, dass es mitten am Tag war. Die hohen Äste der Bäume waren schwarze Umrisse vor dem leuchtenden Blau des dämmrigen Abendhimmels, und überall, wo Ayama hinblickte, sah sie weiße Quittenblüten, die sich in den stachligen Büschen sammelten. Nur Augenblicke zuvor war da noch nichts als Dornen gewesen. Sie hörte den süßen Ruf der Nachtvögel und die durchdringende Musik der Grillen – und von irgendwoher das Gemurmel von Wasser, auch wenn sie sich sagte, dass das unmöglich war. Das Licht der Sterne fing sich auf jedem Blatt und Kiesel, sodass die Welt um sie herum silbern zu glühen schien. Sie wusste, dass sie wachsam bleiben musste, doch sie konnte nicht widerstehen, streifte die Schuhe ab und spürte den Boden kühl und moosig unter ihren schmerzenden Füßen.
Sie zwang sich, die Zuflucht des Dickichts hinter sich zu lassen und loszulaufen. Nach einer Weile kam sie an die Ufer eines Flusses, dessen Oberfläche so hell glänzte vom Sternenlicht, dass es aussah, als hätte jemand dem Mond die Rinde abgezogen wie einer Frucht und sie in glänzenden Bändern auf den Waldboden gebreitet. Ayama folgte dem gewundenen Pfad tiefer und tiefer in den Wald hinein, bis sie endlich eine stille Lichtung erreichte. Hier sprühten die Bäume vor Glühwürmchen, und der Himmel war so lila wie eine reife Pflaume. Sie hatte das Herz des Waldes erreicht.
Der Fluss speiste einen großen Teich, der von Farnen und glatten Steinen gesäumt war, und als Ayama das klare, süße Wasser sah, musste sie einfach darauf zulaufen und sich niederknien. Die Mohnblumen auf ihrem Hut waren längst verwelkt, und ihre Kehle war so trocken wie alte Getreidespelzen. Sie zog den kleinen Kupferbecher aus der Schürze und tauchte ihn ins Wasser, doch als sie ihn an die Lippen führen wollte, um zu trinken, hörte sie ein donnerndes Grollen und spürte, wie ihr der Becher aus der Hand geschlagen wurde. Er segelte über die Lichtung, und Ayama stürzte beinahe kopfüber in den Teich.
»Dummes Mädchen!«, sagte eine Stimme, die wie eine Lawine grollend von dem Berg widerhallte. »Willst du zum Monster werden?«
Ayama duckte sich ins Gras, die Hände auf den Mund gepresst, um den Schrei zurückzuhalten, der ihr zu entgleiten drohte. Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie die gewaltige Gestalt des Monsters in der Dunkelheit hin und her schlich.
»Antworte mir«, forderte er.
Ayama schüttelte den Kopf und fand irgendwie ihre Stimme, obwohl sie in ihren Ohren so brüchig wie Kreide klang. »Ich war nur durstig«, sagte sie.
Sie hörte ein scharfes Knurren und spürte, wie der Boden erzitterte, als das Biest auf sie zukam. Er stellte sich auf die Hinterbeine und ragte hoch über ihr auf, verdrängte die Sterne. Er hatte den Körper eines schwarzen Wolfes und doch die Haltung eines Menschen. Um das dicke Fell am Kragen trug er eine Schleife aus Gold mit Rubinen, und die gedrehten Hörner, die aus seinem Kopf wuchsen, waren mit Rillen markiert, die glühten, als erhellte ein geheimes Feuer sie von innen. Doch am furchterregendsten waren seine schimmernden roten Augen und die Schnauze mit den scharfen Zähnen, die sich hungrig vorreckte.
Ayamas Gedanken füllten sich mit dem Gerede, das seine Geburt begleitet hatte. Bei welchem Biest hatte die Königin gelegen, um ein solches Monster zu schaffen? Was hatte der König getan, dass ihn ein solcher Fluch ereilte? Das Monster ragte über ihr auf wie ein Bär, der bereit war, zuzuschlagen.
Eine Waffe!, dachte sie und zog die Axt aus ihrer Schürze.
Doch das Biest lächelte nur – es gab kein anderes Wort dafür, seine Lippen zogen sich zurück und enthüllten schwarzes Zahnfleisch und die schrecklichen Spitzen seiner langen Zähne.
»Schlag zu«, forderte er sie heraus. »Hack mich in Stücke.«
Bevor Ayama auch nur darüber nachdenken konnte, der Aufforderung nachzukommen, riss er ihr mit einer Pfote mit großen Klauen die Axt aus den Händen und zog sich die Klinge über die Brust. Sie hinterließ kein Mal. »Keine Klinge kann meine Haut durchdringen. Glaubst du, mein Vater hätte das nicht versucht?«
Das Monster senkte den riesigen Kopf und schnüffelte ausgiebig an Ayamas Hals, dann schnaubte es. »Er schickt eine Bäuerin, bedeckt mit Asche und dem Gestank nach Küchenfeuer. Du taugst nicht einmal zum Essen. Vielleicht werde ich dich häuten und den anderen Tieren des Dornenwaldes vorwerfen, um sie mit dieser Beleidigung herauszufordern.«
Ayama hatte sich daran gewöhnt, beleidigt zu werden, so sehr, dass sie es kaum noch bemerkte. Doch sie war elend müde und elend wund und so verängstigt, dass sogar die Knochen in ihrem Leib zitterten. Vielleicht war das der Grund, der sie aufstehen, den Mund öffnen und mit der durchdringenden Stimme, die ihre Eltern so quälte, bitter verkünden ließ: »So viel zu dem furchterregenden Biest. Seine schwachen Zähne brauchen wohl weiche Fräulein.«
Ayama wollte die Worte zurückholen, doch das Biest lachte nur, und dieser so menschliche Laut, der aus dem so monströsen Körper drang, sorgte dafür, dass sich die Haare auf Ayamas Armen sträubten.
»Du bist so dornig wie der Wald«, sagte er. »Sag mir, warum befiehlt der König einer stummeligen kleinen Dienstmagd, mich zu belästigen?«
»Der König wählte mich, damit …«
In einem Atemzug verschwand die Heiterkeit des Biestes. Er warf den Kopf zurück und heulte auf, der Klang ließ die Blätter an den Bäumen zittern, und weiße und rosafarbene Blütenblätter wirbelten von den Ästen. Ayama stolperte zurück und bedeckte den Kopf mit den Armen, so als könnte sie sich darunter verstecken. Doch das Biest beugte sich so weit herab, dass sie den seltsamen Tiergeruch seines Felles roch und den warmen Schwall seines Atems spürte, als er sprach.
»Es gibt nur eine Regel in meinem Wald«, knurrte er. »Sprich die Wahrheit.«
Ayama dachte daran, ihm ihre Familie und das Angebot mit den Truhen voll Gold und die Ballen mit Seide zu erklären, doch die Wahrheit war noch viel einfacher. »Niemand sonst wollte kommen.«
»Nicht des Königs mutige Soldaten?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht der perfekte Menschenprinz?«, fragte er.
»Nein.«
Das Lachen des Biestes erklang erneut, und es war, als könnte Ayama das Knirschen von Knochen in seinem Echo hören.
Doch jetzt, da sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, stellte Ayama fest, dass sie sie gern benutzte. Sie hatte nicht Meilen voll Durst und Langeweile und Blasen an den Füßen ertragen, um sich auslachen zu lassen. Also schob sie die Angst beiseite, sammelte ihren Mut, stellte ihre platten Füße fest auf den Boden und schmetterte klar und durchdringend wie eine Trompete: »Man sandte mich, dich zu bitten, unsere Herden nicht mehr abzuschlachten.«
Das Biest hörte auf zu lachen. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil wir hungrig sind!«
»Was kümmert mich euer Hunger?«, knurrte er und lief auf der Lichtung hin und her. »Habt ihr euch um meinen schmerzenden Bauch geschert, als ich ein Kind war, das man allein in einem Labyrinth gelassen hatte? Hast du da diese laute Stimme dazu benutzt, den König um Gnade zu bitten, kleine Botin?«
Ayama wickelte die Bänder ihrer Schürze um die Finger. Sie war zu dieser Zeit selbst nur ein Kind gewesen, doch es stimmte, sie hatte nie gehört, dass ihre Eltern oder ein anderer Bewohner des Tales ein mitfühlendes Wort für das Biest übriggehabt hätten.
»Nein«, sagte das Monster und beantwortete so seine eigene Frage. »Das hast du nicht. Soll der gute König euch mit seinen königlichen Herden füttern, wenn er sich so um seine Leute sorgt.«
Es war möglich, dass der König genau das tun sollte, doch es war nicht an Ayama, das zu sagen. »Ich wurde gesandt, um mit dir zu verhandeln.«
»Der König hat nichts, das ich will.«
»Dann möchtest du deine Gnade vielleicht aus freien Stücken geben.«
»Mein Vater lehrte mich keine Gnade.«
»Und kannst du sie nicht lernen?«
Das Biest hielt in seinem Herumstreifen inne und wandte sich sehr langsam zu Ayama um, die ihr Bestes tat, nicht zu zittern, selbst als der Blick seiner blutroten Augen sich auf sie richtete. Sein Lächeln war listig.
»Ich habe ein Angebot für dich, kleine Botin, nicht für den König. Erzähl mir eine Geschichte, die mich etwas anderes spüren lässt als Wut, und wenn du das schaffst, lasse ich dich vielleicht am Leben.«
Ayama wusste nicht, was sie mit diesem Angebot anfangen sollte. Es konnte ein Trick sein oder einfach eine unmögliche Aufgabe. Das Biest war vielleicht in großzügiger Stimmung oder satt nach seinem letzten Mahl, und nun suchte es nach ein wenig müßiger Unterhaltung. Dann wiederum hatte Ayama einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, nicht zu sprechen oder angesprochen zu werden. Sie dachte, dass es auch durchaus möglich war, dass sich das Biest einfach nach einer Unterhaltung sehnte.
Sie räusperte sich. »Und du wirst dann aufhören, unsere Herden heimzusuchen?«
Das Biest schnaubte. »Wenn du mich nicht langweilst. Aber du langweilst mich bereits.«
Ayama holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Es war sehr schwer zu denken, während eine solche Kreatur über ihr aufragte.
»Würdest du dich hinsetzen?«, bat sie.
Das Biest grollte, doch es gehorchte und ließ sich neben dem Wasser nieder, und der dumpfe Aufprall schreckte die Vögel aus den dunklen Bäumen auf.
Ayama setzte sich ein gutes Stück entfernt auf den Boden, zupfte die Schürze zurecht und zog die Schuhe wieder an. Sie schloss die Augen, um den Anblick des Biestes auszusperren, das sich neben dem Wasser zusammengerollt hatte und sich bereits die Lippen leckte.
»Du schindest Zeit«, sagte er.
»Ich will nur sichergehen, dass ich die Geschichte richtig erzähle.«
Er lachte ein leises, hässliches Lachen. »Sprich die Wahrheit, kleine Botin.«
Ayama zitterte, denn sie war nicht sicher, welche von Ma Zils Geschichten wahr waren und welche falsch. Außerdem machte es ihr die Aussicht auf den Tod schwer, überhaupt irgendetwas zu denken. Doch nur, weil sonst niemand Ayama zuhörte, bedeutete es nicht, dass sie nichts zu sagen hatte. Tatsächlich hatte sie viel zu sagen. Und wenn es wahr war, dass es dem Biest gefiel, wenn man mit ihm sprach, dann war es vielleicht auch wahr, dass es Ayama gefiel, wenn man ihr zuhörte.
»Es war einmal ein Junge, der aß und aß, doch er wurde nicht satt. Er verschlang ganze Gänsescharen, ohne sie vorher von den Federn zu befreien. Er trank ganze Seen, schluckte alle Fische darin und spie nur die Steine aus. Er füllte sich den Mund mit einem Dutzend Eier in einem einzigen Bissen, dann briet er eintausend Rinderköpfe auf eintausend Spießen und aß einen nach dem anderen auf und hielt nur inne, um ein kurzes Nickerchen zu machen. Und doch erwachte er mit einem hungrigen Grollen in seinem Magen. Er verschlang ganze Mais- und Getreidefelder, und doch war er so ausgehungert wie zu Beginn, wenn er die letzte Reihe erreichte.
Dieser Hunger machte ihn ganz elend, denn er war immer bei ihm, ein schreckliches Loch, und manchmal schien es so groß und weit, dass er hätte schwören können, zu spüren, wie der Wind direkt durch ihn hindurchblies. Seine Familie verzweifelte, da sie es sich nicht leisten konnte, ihn zu ernähren, und der Junge sehnte sich nach einer Heilung, doch kein Medik und kein Zowa-Heiler konnte ihm helfen. Seine Geschichte machte die Runde, wie solche Geschichten das immer tun, und schließlich hörte sie ein junges Mädchen in einer entfernten Stadt. Sie ging sofort zu ihrem Vater, der ein Doktor vieler Künste war und der weiseste Mann, den sie kannte. Er hatte die gesamte Welt bereist und überall, wo er hingekommen war, Geheimnisse gesammelt. Sie wusste, er würde ein Heilmittel finden, also packten sie ihre Taschen und gingen zu dem Dorf des Jungen. Als sie Felder erblickten, auf denen die Halme bis auf die Wurzeln abgenagt waren, und Flüsse ohne Fische, da wussten sie, dass sie beinahe dort sein mussten.
Schließlich erreichten sie das Dorf und sagten der Familie des Jungen, dass sie gekommen waren, um ihre Hilfe anzubieten. Der Junge hatte kaum Hoffnung, doch er ließ den Doktor in seine Augen und Ohren schauen, und als der Doktor ihn bat, ihm in den Hals sehen zu dürfen, legte der Junge den Kopf gehorsam zurück.
»Aha!«, sagte der weise Doktor, nachdem er einen Blick in die Speiseröhre des Jungen geworfen hatte. »Als deine Mutter dich in ihrem Leib trug, schlief sie da bei offenem Fenster?«
Die Mutter des Jungen sagte, dass sie das getan hatte, denn in dem Jahr war der Sommer sehr heiß gewesen.
»Nun denn«, sagte der Doktor, »dann ist es einfach. Deine Mutter verschluckte im Schlaf ein Stück des Nachthimmels, und diese ganze Leere ist immer noch in dir. Iss einfach ein bisschen von der Sonne, um den Himmel zu füllen, und du wirst dich nicht länger leer fühlen.«
Der Doktor sagte, dass es einfach wäre. Der Junge war sich da aber nicht so sicher. Es gab keinen Baum und keine Leiter, die hoch genug waren, um die Sonne zu erreichen, und bald schon stürzte er noch tiefer in die Verzweiflung. Doch die Tochter des Doktors war so klug, wie sie gütig war, und sie wusste, dass die Sonne jeden Abend so tief sank, dass sie das Meer berührte und das Wasser in Gold verwandelte. Also baute sie ein kleines Boot, und gemeinsam segelten sie nach Westen. Sie reisten viele Meilen, und der Junge aß auf dem Weg zwei Wale, und schließlich erreichten sie den goldenen Ort, an dem die Sonne auf das Meer traf. Das Mädchen nahm eine Kelle aus weißem Eschenholz aus der Tasche und schöpfte etwas Sonne aus dem Wasser. Als der Junge es trank …«
Das Biest knurrte grollend, und Ayama zuckte zusammen, da sie so in die Geschichte vertieft gewesen war und in das Vergnügen, dass ihr jemand zuhörte, dass sie beinahe vergessen hatte, wo sie war.
»Lass mich raten«, knurrte das Biest. »Der elende Junge nahm einen Schluck vom Meer, und danach war er ein vergnügter, glücklicher Kerl, der in sein Dorf zurückkehrte und die hübsche Tochter des Doktors heiratete, und sie hatten viele Kinder, die ihm halfen, die Felder um sein Heim herum zu bestellen.«
»Was für ein Blödsinn!«, sagte Ayama und hoffte, dass das Zittern in ihrer Stimme sie nicht verriet. »Natürlich endet diese Geschichte nicht so.«
Es war kein Blödsinn. Die Geschichte endete genau so, wie das Biest gesagt hatte, zumindest jedes Mal, wenn Ayama sie gehört hatte. Doch sie musste zugeben, dass sie danach jedes Mal ein wenig melancholisch und unzufrieden gewesen war, so als hätte man eine falsche Note gespielt. Doch welches Ende könnte das Biest besänftigen? Denn Ayama war so oft zum Schweigen gezwungen worden, dass sie eine sehr gute Zuhörerin geworden war, und sie erinnerte sich an die eine Regel des Dornenwalds. Die Geschichte brauchte ein Ende, das wahr war.
Ayama sammelte ihre Gedanken, dann nahm sie den Faden der Geschichte wieder auf und spulte ihn von Neuem ab.
»Es ist wahr, dass der Junge die Sonne aus der weißen Eschenkelle trank«, sagte sie. »Und ja, es ist wahr, dass er nicht länger eine Viehherde zum Frühstück oder einen See brauchte, um sie hinunterzuspülen. Er heiratete wirklich die hübsche Tochter des Doktors, und er arbeitete jeden Tag auf seinen Feldern. Doch trotz alledem stellte der Junge fest, dass er immer noch unglücklich war. Siehst du, manche Menschen werden mit einem Stück der Nacht in sich geboren, und dieser leere Ort kann niemals gefüllt werden – nicht mit allem guten Essen oder allem Sonnenschein der Welt. Diese Leere kann nicht verbannt werden, und so erwachen wir an manchen Tagen mit dem Gefühl, dass der Wind durch uns hindurchbläst, und wir müssen es einfach ertragen, so wie der Junge.«
Erst als sie geendet hatte, begriff Ayama, dass sie von ihrer eigenen Traurigkeit erzählt hatte, als sie nach der Wahrheit gesucht hatte, doch es war zu spät, die Worte zurückzunehmen.
Das Monster war eine lange Zeit still. Dann stand er auf, und sein buschiger schwarzer Schwanz streifte über den Boden, als er Ayama den Rücken zukehrte und sagte: »Ich werde eure Herden in Ruhe lassen. Geh jetzt und kehre nicht zurück.«
Und weil der Wald die Wahrheit verlangte, wusste sie, dass sein Versprechen wahr war.
Ayama konnte ihr Glück kaum fassen. Sie sprang auf, um eilig die Lichtung zu verlassen, doch als sie sich hinabbeugte, um die Axt und den Kupferbecher aufzuheben, sagte das Biest: »Warte.«
Sie sah kaum mehr als seinen Umriss in der Dunkelheit, und sie konnte nur das rote Glühen seiner Augen und die glänzenden Rillen seiner Hörner erkennen.
»Nimm einen Zweig von den Quittenblüten mit dir, und lass ihn nicht fallen, wenn du die wilden Lande wieder durchquerst.«
Ayama hielt nicht inne, um seinen Befehl zu hinterfragen, sondern sie pflückte einen schlanken Ast und rannte am Fluss entlang zurück. Sie wurde nicht langsamer, bis sie sich den Weg durch die grausamen Dornen des Dickichts erkämpft hatte und sie die Sonne wieder auf ihrem Gesicht spürte.