Prof. Dr. Claudia Bausewein / Rainer Simader
99 Fragen
an den Tod
Leitfaden für ein gutes Lebensende
Knaur e-books
Prof. Dr. Claudia Bausewein ist Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am LMU Klinikum München und Lehrstuhlinhaberin für Palliativmedizin. Sie zählt zu den führenden Palliativmedizinern im deutschsprachigen Raum. Neben ihrer umfangreichen wissenschaftlichen Publikationstätigkeit ist sie Herausgeberin der beiden führenden palliativmedizinischen Fachbücher am deutschen Markt: Dem Leitfaden Palliative Care und dem Fachbuch Arzneimitteltherapie in der Palliativmedizin. Professor Dr. Claudia Bausewein ist seit 2018 im geschäftsführenden Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, von 2004 bis 2010 war sie deren Vizepräsidentin.
Rainer Simader leitet seit 2019 das Ressort Bildung bei Hospiz Österreich, dem Dachverband aller Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich. Als Physiotherapeut (seit 1997) in der Palliative Care hat er viele Geschichten, Ängste, Bedürfnisse und Hoffnungen von Patienten und Patientinnen und deren Angehörige gehört. Tätig war und ist er sowohl im häuslichen Umfeld von Patienten und Patientinnen als auch in einem der bekanntesten Hospize weltweit, dem St. Christopher‘s Hospice in London.
© 2020 der eBook Ausgabe Droemer eBook
Droemer eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Thomas Tilcher
Covergestaltung: Kathrin Keienburg-Rees
ISBN 978-3-426-45883-9
Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Möglichkeit, den Tod zu treffen, ohne gleich Gefahr zu laufen, von ihm mitgenommen zu werden. Das wäre die perfekte Situation, ihm all die Fragen zu stellen, die Ihnen längst auf der Seele brennen.
Den Tod getroffen haben wir nicht, aber wir haben täglich mit Sterbenden zu tun und außerdem auch mit vielen Kolleg*innen gesprochen und sie gebeten, die wichtigsten Fragen zu sammeln, die Patient*innen und deren Angehörige stellen, wenn es um das Sterben geht.
Informationen sind die beste Möglichkeit, »die große, allumfassende Angst« zu verstehen und mit ihr umzugehen. Seit jeher wird in allen Kulturkreisen weltweit versucht, Antworten auf die Fragen rund um den Tod und das Sterben zu finden. Deshalb geben wir Ihnen mit diesem Buch einen Lebensbegleiter an die Hand. 99 Fragen an den Tod erklärt, was beim Sterben passiert, und es zeigt auf, was Sie konkret tun können, egal ob Sie selbst betroffen sind oder einen Menschen begleiten. Es gibt Antworten auf die Fragen, die in emotionalen Situationen nicht gestellt werden können – weil dann nicht der passende Zeitpunkt ist, weil sie in einem privaten Umfeld nicht passend sind oder weil es schlicht zu spät ist.
Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die sich schon zu Lebzeiten mit dem Tod und dem Sterben beschäftigen, Lebensentscheidungen anders treffen als jene, die sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen. Diese Menschen haben gedanklich und manchmal auch praktisch bereits gut für den Moment oder die Zeitdauer vorgesorgt, wenn »es dann wirklich so weit ist«. Und das ist von entscheidendem Vorteil. Denn wenn der Tod konkret näher rückt, bleibt oft wenig Zeit. Das Sterben ist zwar eine Ausnahmesituation, aber sie wird jedem von uns einmal im Leben passieren. Außerdem begleiten Sie im Laufe Ihres Lebens statistisch fünf Menschen aus Ihrer nahen Umgebung beim Sterben bzw. sind Sie mit deren Sterben und Ihrer Trauer konfrontiert – gefühlt zu viele, aber praktisch gesehen zu wenige, als dass Sie Sicherheit im Umgang mit dem Tod und Sterben gewinnen könnten.
Es gibt auch Zeiten, in denen das Thema Sterben aufhört, eine innerfamiliäre, individuelle Angelegenheit zu sein, und stattdessen in der Gesellschaft viel präsenter ist. Im Frühjahr 2020, genau in der Zeit, als wir dieses Buch verfasst haben, wurden mit einem unsichtbaren Virus die Themen Sterben, Tod, Abschied und auch Lebensqualität verstärkt in unser aller Blickfeld gerückt. Wir alle wurden zu Betroffenen und mussten lernen, Situationen neu zu bewerten, und mit diesen Themen anders als gewohnt oder erwartet umgehen. Ob sich durch diese Erfahrung der Pandemie der Umgang mit dem Sterben, dem Tod und der Trauer in unserer Gesellschaft langfristig ändert, bleibt abzuwarten.
Mit diesem Buch wollen wir Ihnen auch Mut machen. Mut, sich mit der Realität zu beschäftigen und Ihre Sichtweise auf das Leben zu verändern. Vielleicht gelingt es dadurch, dass über ein Tabuthema häufiger gesprochen wird und dass Menschen, die in einer herausfordernden Zeit oft sehr einsam sind, ein wenig mehr Nähe erleben.
Claudia Bausewein und Rainer Simader
Mit einer Erkrankung konfrontiert zu sein, die mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tod führen wird, bedeutet mehr, als zu wissen, wie die Diagnose heißt. Viele Menschen, die eine solche Situation erlebt haben und schließlich erfahren und auch verstanden haben, dass sie in absehbarer Zeit sterben werden, berichten von unterschiedlichen Gedanken, Fragen, Prioritäten und Emotionen, die sich im Rahmen dieser Diagnosestellung ergeben und entwickelt haben. Bei manchen Menschen steht rasch die Frage im Raum, wie es den Angehörigen damit gehen wird, bei anderen entsteht eine Hoffnungslosigkeit. Wieder andere Menschen möchten darüber sprechen, und andere machen diese Situation mit sich selbst aus.
In der Folge geht es um Fragen, die sich Sterbende angesichts einer solchen Prognose stellen; es geht darum, welchen Herausforderungen sie sich ausgesetzt fühlen, und um hilfreiche Ansätze oder Lösungen.
In Online-Lexika oder in Fachbüchern wird oft die Frage gestellt, wie die Prognose bei einer Erkrankung sei. Dahinter stehen zwei wesentliche Fragen: Wird man an einer Erkrankung sterben, und, wenn ja, wie viel Lebenszeit bleibt einem Menschen mit dieser Erkrankung noch? Diese Fragen sind berechtigt, denn viele der Entscheidungen am Lebensende hängen von dieser noch verbleibenden Zeit ab.
Welche Zahlen Sie auch immer finden, es sind stets statistische Durchschnittszahlen. Da wir viele Menschen am Lebensende begleiten durften, können wir Ihnen sagen, dass manche »überraschend kurz«, andere »überraschend lange« gelebt haben – und wieder andere »zum erwarteten Zeitpunkt« verstorben sind. Diese Aussage spiegelt nur unseren professionellen Blickwinkel wider. Wie lang sich Zeit anfühlt, ist subjektiv. Wenn Sie eine Mutter fragen, die kurz davor ist, sich von ihrem geliebten Sohn zu verabschieden, dann würde diese sehr wahrscheinlich sagen, die verbleibende Zeit sei viel zu kurz, egal wie lange ihr Sohn noch zu leben hat. Ein Patient hingegen, der sich schon lange mit starken Schmerzen quälen muss, könnte Ihnen sagen, dass es besser wäre, früher als später zu sterben. Eine 98-jährige Dame, die auf ein erfülltes Leben zurückblickt, könnte wiederum behaupten, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt ist.
Die Gründe, warum ein Mensch schneller als ein anderer verstirbt, sind vielfältig. Die Grunderkrankung selbst ist ein wichtiger Parameter. Manche Erkrankungen, wie z.B. gewisse Krebserkrankungen, verlaufen durch pathologische Veränderungen sehr schnell, und der Verlust an körperlichen oder kognitiven Fähigkeiten ist rasch fortschreitend oder »rasch progredient«, wie es in der medizinischen Fachsprache heißt. Andere Erkrankungen, wie z.B. Multiple Sklerose, verlaufen eher schubförmig; wieder andere, z.B. manche Lungenerkrankungen, zeigen große Schwankungen im Zustand eines Patienten. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die selbst innerhalb der gleichen Grunderkrankung Auswirkungen sowohl auf die Geschwindigkeit des Sterbens als auch auf die Lebensqualität des sterbenden Menschen haben. Diese sind unter anderem Faktoren wie das Alter des Menschen, die Intensität und Anzahl von Beschwerden, die oft auch Symptome genannt werden, zusätzlich bestehende Erkrankungen und wie die Erkrankung behandelt wird. Auch die psychische Situation des Menschen hat Einfluss, genauso wie das soziale Netzwerk und die persönlichen Möglichkeiten, wie ein Mensch mit Leid umgehen kann, die sogenannten Coping-Strategien. Neben diesen Faktoren spielen auch die körperliche Fitness und generelle Aktivität eines Menschen eine Rolle. Eine gute Grundkondition und körperliche Aktivität tragen oft zu einer deutlich besseren Lebensqualität und mitunter auch zu einem längeren Leben trotz schwerwiegender Erkrankung bei.
Auffallend ist, dass unterschiedliche Erkrankungen bei Menschen auch unterschiedliche Befürchtungen hinsichtlich der Lebenszeit und Prognose auslösen. Gerade bei Krebserkrankungen läuft eine der ersten Assoziationen auf die Frage hinaus, wie lange ein Mensch noch zu leben hat, obwohl viele Tumorerkrankungen mittlerweile sehr gut behandelt und mitunter geheilt werden können und die Lebenszeit mit solchen Erkrankungen insgesamt durch neue Behandlungsmöglichkeiten länger wird. Stigmatisierung und die Problematisierung der Erkrankung sind bei onkologischen Erkrankungen sehr stark. Andere Erkrankungen, wie z.B. Herz- oder Lungenerkrankungen, werden weniger emotional gesehen und erhalten dadurch auch eine andere Art der Aufmerksamkeit. Sie werden häufig gar nicht mit der Möglichkeit eines vorzeitigen Versterbens gesehen.
Wichtig ist, dass jede Erkrankung individuell betrachtet wird und Überlegungen zur Lebenszeit für den einzelnen Menschen und im Rahmen seines Lebenskontextes gemacht werden können. Im Rahmen der Begleitung von Menschen mit lebenszeitbegrenzenden Erkrankungen ist die verbleibende Lebenszeit natürlich ein wichtiges Thema. Mindestens genauso viel Aufmerksamkeit soll der Lebensqualität in der verbleibenden Zeit geschenkt werden.
Wenn Sie in diesem Buch über die Sterbephase oder von einem sterbenden Menschen lesen, handelt es sich üblicherweise um die letzte Woche im Leben eines Menschen. Es wird auch immer wieder um die Zeit davor gehen. Das Zugehen auf das Lebensende ist nicht gleichzusetzen mit dem Sterben. Diese Zeit kann, wie oben beschrieben, je nach Erkrankung variieren. Es können Wochen, Monate oder manchmal auch Jahre sein.
Mit dieser berechtigten Frage geht eine weitere entscheidende Frage einher: Will ich wissen, ob ich an dieser Erkrankung sterben werde? Das Aussprechen und darüber zu reden ist nicht so einfach, denn durch den Prozess vom Gedanken zum gesprochenen Wort und möglicherweise dem Einbinden auch anderer Menschen bekommt das Szenario eine neue Wirklichkeit. Dieser Realität mögen auch eine gewisse Bedrohung und viele Gefühle innewohnen. Wir wollen Sie mit diesem Buch unterstützen, wenn Sie sich aktiv mit der Erkrankung und dem Sterben auseinandersetzen wollen.
Jeder Mensch weiß sein ganzes Leben lang, dass er sterben wird. Die Kenntnis der eigenen Vergänglichkeit unterscheidet uns vermutlich von allen anderen Lebewesen. Zwischen theoretischem Wissen und dem Anerkennen, dass es auch wirklich mich betrifft, liegt ein großer Schritt. Diesen Schritt gedanklich und auch emotional zu gehen ist nicht leicht, um nicht zu sagen: sehr schwer. Insofern geht es mehr darum, ob ich mich dieser Realität des begrenzten Lebens nähern kann und will. Zunächst kann dies vielleicht nur schrittweise sein. Umgekehrt ist es auch wichtig, die Frage zu stellen, was es bedeuten würde, wenn ich es nicht wahrhaben kann oder will.
Für die meisten von uns gibt es in der Situation des nahenden Lebensendes noch viel zu tun. Viele Menschen haben am Lebensende konkrete Wünsche, die sie sich noch erfüllen möchten. Manche möchten sich verabschieden, Konflikte bereinigen oder unerledigte Dinge zu Ende bringen. Oder sie möchten auf einen Berg fahren, am Strand entlanglaufen oder einen geliebten, in der Ferne lebenden Menschen sehen. Unsere Erfahrung zeigt, dass diesen Wünschen und Erledigungen am Lebensende große Bedeutung zukommt. Wenn ein Mensch nicht wahrhaben will, dass sein Leben dem Ende zugeht, bringt er sich um diese Möglichkeiten. Grundsätzlich gilt also: Ja, es ist gut, wenn ein Mensch weiß, dass er stirbt. Wenn Sie wissen, dass Sie bald sterben werden.
Es gibt auch Menschen, die diese Realität zu gewissen Zeiten nicht ertragen können. Welche Information verarbeitet wird – und in welcher Geschwindigkeit –, bestimmen immer die Betroffenen selbst. Im besten Fall wird ein Mensch in einer solchen Situation der Überforderung durch seine Psyche geschützt, und die bedrohliche Botschaft erreicht ihn nicht. Vielleicht ermöglicht ihm aber auch ein vorübergehender Rückzug oder eine Verhaltensänderung einen Ausweg aus einer solchen Situation. Und im besten Fall sollte ein Arzt oder eine Ärztin, bevor er bzw. sie die Nachricht von einer lebenslimitierenden Erkrankung mitteilt, fragen, ob Sie bereit sind, die Übermittlung einer schlechten Nachricht anzunehmen. Es obliegt Ihnen allein, wie viel Sie zu welcher Zeit wissen wollen und wie tief Sie sich in dieses Wissen begeben wollen.
Abschiede sind unvermeidbar, aber mit behutsamer Ehrlichkeit kann Wichtiges, Dringendes und Wunderbares zu einem Abschluss gebracht werden.
Die Nachricht, dass das Sterben nun näher rückt, ist ein »Sturz aus der Normalität«, der unterschiedliche Reaktionen auslöst. Manchmal Erstarrung. Denken und Empfinden sind dann kaum möglich. Manche Menschen berichten vom Gefühl, als ob sie sich in einem Nebel befinden würden. Oder sie sind einer Flut von Gedanken und Emotionen ausgesetzt – nicht immer gleichzeitig und nicht unbedingt zueinanderpassend. Auch das ist nicht verwunderlich. Menschen, die gerade noch den nächsten Urlaub geplant und Vorstellungen von ihrer Zukunft entwickelt haben, sollen sich nun mit der Endlichkeit beschäftigen und verstehen, dass der nächste Urlaub vielleicht nicht mehr stattfinden wird. Es kann sein, dass Menschen trotz einer solchen Information Schutz in schönen Hoffnungen suchen. Solche Widersprüche sind normal. Es kann sein, dass Sie an einem Tag sehr offen über das Sterben sprechen können und wollen, dass am Tag darauf hingegen diese Erinnerung an das Bevorstehende wie weggeweht ist. Diese Zeit ist nicht nur schwarz oder weiß. Vielleicht lesen oder hören Sie, dass Sie nach der Nachricht von einer schweren Erkrankung durch verschiedene Phasen gehen werden, meist beginnend mit einem Schock, bis Sie dann über den Weg durch die Depression alles akzeptieren werden. Diese veralteten linearen Phasenmodelle sind eher theoretischer Natur. Wie Menschen mit solchen Informationen umgehen, läuft nicht nach einem festen Schema ab.
Für manche Menschen ist die Information, dass sie sterben werden, in der Tat ein wahrer Schock. Nicht unerheblich ist, ob sie tief im Inneren schon damit gerechnet oder es geahnt haben, eine solche Botschaft zu hören, oder ob sie die Diagnose völlig überraschend trifft. Wenn Sie mit einer solchen Nachricht akut konfrontiert sind, dann versuchen Sie sich zu erinnern, was Ihnen in einer anderen schwierigen Situation Ihres Lebens, die Sie bereits gemeistert haben, geholfen hat. Brauchten Sie damals zuerst Zeit für sich selbst, oder hat Ihnen ein Gespräch oder eine andere Art von Nähe eines Menschen gutgetan? Manche Menschen, die von einer neuen Situation schockiert sind, verfallen in eine Starre und Stille. Diese Reaktion ist normal, allerdings empfehlen wir, dann nach einer Form des Ausdrucks zu suchen. Vielleicht ist es das Gespräch mit einer vertrauten Person, vielleicht möchten Sie das Gespräch aber zuerst mit einem Menschen suchen, der durch diese Nachricht nicht selbst betroffen sein wird. Vielleicht ist dies Ihr Hausarzt oder Ihre Hausärztin. Manchmal ist es besser, niederzuschreiben, was Sie noch gar nicht aussprechen oder einordnen können, um Ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren. Auch hier sollten Sie versuchen, sich zu erinnern, welche Art des Ausdrucks Ihnen in früheren Situationen geholfen hat.
Der Umgang mit der schlechten Nachricht und das Erkennen, was sie bedeutet, ist ein kontinuierlicher Prozess, während dem sich Gefühle und Gedanken immer wieder verändern. Egal ob es sich um die erste Phase des »Verdauens der Nachricht« handelt oder um die Integration des Wissens in das tägliche Leben: Im besten Fall nähern sich Wünsche und Vorstellungen schrittweise der Realität an.
Unabhängig davon, welche Informationen Sie als Angehöriger oder als Patient*in bekommen haben, kann es sein, dass Sie diese Informationen nicht ganz verstanden haben. Es gibt verschiedene Gründe, warum Sie im Ungewissen zurückbleiben können.
Unsere Psyche verfügt über gute Schutzfunktionen, damit Unerträgliches oder Unerwartetes nicht direkt in unser Innerstes vordringen kann. Insofern kann es sein, dass trotz »ärztlicher Aufklärung« nicht alles verstanden wird, was der Mediziner bzw. die Medizinerin gesagt hat. Sie müssen sich beim ersten Mal gar nicht alles merken. Sie befinden sich in einer Ausnahmesituation – in einer Lage, in der Sie noch nie zuvor waren. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem fremden Land, dessen Sprache Sie nicht sprechen. Auch dort werden Sie mehrere Anläufe und Hilfe brauchen, um sich zurechtzufinden.
Die fehlenden oder vergessenen Informationen im Internet zu suchen ist keine gute Idee. Die Inhalte und Seriosität der einzelnen Websites sind für Sie nur schwer überprüfbar, und es kursieren viele Falschinformationen im Netz. Stattdessen sollten Sie einen neuen Termin mit Ihrem*ihrer Ansprechpartner*in vereinbaren. Hilfreich ist es, sich davor alle Fragen aufzuschreiben, die Sie stellen möchten. Gerade wenn eine Gesprächssituation angstbesetzt ist, blockiert unser Gehirn gerne, und wir vergessen, was wir eigentlich sagen oder fragen wollten. Sie können sich auch ohne Weiteres die Zeit nehmen, die erhaltenen Antworten auf Ihre Fragen aufzuschreiben. Und, ganz wichtig: Fragen Sie so lange nach, bis Sie sicher sind, dass Sie alles verstanden haben.
Sie sind von professionellen Helfer*innen umgeben, und es ist deren Pflicht, Sie gut zu beraten. Deshalb dürfen Sie sich auch erlauben, so viel Zeit zu beanspruchen, wie Sie brauchen. Diese Menschen sind Ihre persönlichen Reiseführer*innen in einem unbekannten Land. Es geht hier um Ihre Fragen und Ihre Antworten. Und wenn Sie beim vorangehenden Termin bereits das Gefühl hatten, dass Ihr*e Ansprechpartner*in in Eile war, so betonen Sie dieses Mal bei der Terminvereinbarung, dass Sie gerne ausreichend Zeit für dieses wichtige Gespräch hätten. Fragen Sie am Ende des Gesprächs auch, was nun die nächsten Schritte sind und an wen Sie sich zu welchem Zeitpunkt wenden können, wenn Sie etwas brauchen oder weitere Fragen haben. Wenn Sie möchten, dann können Sie auch jemanden mitnehmen, den Sie gerne bei solchen Gesprächen dabeihaben möchten. Vier Ohren hören bekanntlich mehr als zwei, und Sie haben danach jemanden, mit dem Sie sich austauschen können.
Auch wenn das, was Sie im Gespräch hören und verstehen, nicht immer einfach zu akzeptieren ist, sollten Sie nicht vergessen, dass mehr und qualitativ gute Informationen in der Regel die Angst eindämmen. Höchstwahrscheinlich können Sie danach besser mit der Situation umgehen.
Auch wenn bei diesen Fragen immer vom Gespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin ausgegangen wurde, gilt das natürlich für alle Gespräche, auch mit anderen Menschen. Gerade Fachpersonal verfällt gelegentlich in einen »Fachjargon«. Fragen Sie so lange nach, bis Sie alles verstanden haben, denn es geht um Sie.
Sich angesichts der Vorstellungen über den näher rückenden Tod mit der Qualität des Lebens zu beschäftigen mag vielen Menschen paradox erscheinen. Die Angst vor dem Sterben kann ohne gedankliches Gegenmodell den Alltag und somit das Leben dominieren. Gerne möchten wir Ihnen an dieser Stelle berichten, was Menschen mit einer begrenzten Lebenserwartung immer wieder erleben und erlebt haben.
Das Wissen, dass der Tod nahe ist, schärft bei vielen Menschen den Blick auf das Wesentliche. Es kommt gewissermaßen zu einer Rekalibrierung des Lebens: Was ist wirklich wichtig? Was muss noch erledigt werden? Welche Wünsche sind unerfüllt? Mit welchen Menschen möchte ich Frieden schließen? Wem muss ich etwas verzeihen oder wen um Verzeihung bitten? Was möchte ich noch organisieren? Wie möchte ich sterben?
Dies sind sehr lebensnahe Fragen. Das Wissen um eine Erkrankung und das persönliche Erleben, dass manches nicht mehr so leichtfällt und vor allem nicht mehr selbstverständlich ist, ermöglicht einen Prozess, der am Ende zu einer vollkommen neuen Fokussierung darauf führt, was ein Mensch als wertvoll erachtet. Vielleicht war es früher der Fußball oder das stets polierte Auto, und nun sind es Naturbeobachtungen oder die langen Telefonate mit einer weit entfernt lebenden Freundin. Waren es früher die Ausflüge mit dem Wanderverein und der gesellige Ausklang am Stammtisch, ist es nun die Konzentration auf das Enkelkind – und wahre Erfüllung liegt immer mehr in der Ruhe und Privatheit. Das bedeutet nicht, dass die früheren Aktivitäten oder Sichtweisen auf das Leben weniger wert waren als die neuen. Der Fokus hat sich verändert, und neue Ressourcen werden entdeckt. Das bedeutet nicht, dass automatisch Leid entsteht, wenn Gewohntes nicht mehr gelebt werden kann. Die Konzentration auf das Sein wird oft wichtiger als auf das Tun. Wir Menschen haben am Lebensende die wunderbare Fähigkeit, unser Leben mit und im Leid neu zu gestalten. Der Ausblick auf das Lebensende und das Leben im Hier und Jetzt findet gleichzeitig statt. Immer wieder erleben Menschen am Lebensende eine vorher nie vorstellbare oder erträumte Qualität.
Die Erinnerung an Vergangenes kann erheblich zur aktuellen Lebensqualität in einer herausfordernden Zeit beitragen. Wenn manches vergeht und vieles nicht mehr möglich ist, wird die Vergangenheit zu einer wahren Kraftquelle. Oder wie der Schriftsteller Jean Paul es ausdrückte: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.« Diese Erinnerungen können bewusst abgerufen werden, wenn die Gegenwart gelegentlich nicht zu ertragen ist.
Zur Lebensqualität trägt auch die gute Behandlung von Symptomen und anderen belastenden Faktoren bei. Im vierten Teil dieses Buchs haben wir ausgeführt, wie diese behandelt werden können und was Sie selbst tun können.
Viele Menschen, die sterben werden, finden sich selbst in einem Spannungsfeld, das von den beiden Polen »Vorbereitung auf ein gutes Lebensende« und »Hoffnung, weiterzuleben« geprägt ist. Beide Themen sind bedeutsam. Zum einen gibt es auf der Reise zum Lebensende noch vieles zu erledigen, und der bewusste Umgang mit der eigenen Endlichkeit birgt viele Qualitäten in sich. Zum anderen ist es kaum auszuhalten, wenn sich alles nur um das eigene Sterben dreht. Deswegen sind Hoffnungen und Wünsche, auch wenn sie nicht unbedingt realistisch sind, wichtige Kraftquellen, damit die möglicherweise herausfordernde Reise gut geschafft wird. Viele Menschen wissen, auch wenn sie nicht vom bevorstehenden Tod betroffen sind, wie gut es tun kann, sich Fantasien hinzugeben. Der Alltag wird gleich ein Stückchen schöner, und belastende Themen rücken für eine gewisse Zeit in die Ferne. Nicht anders verhält es sich bei Menschen am Lebensende und deren Angehörigen. Betrachten Sie diese Hoffnungen und Wünsche als Pause vom Alltag und nicht als Verleugnen der Realität.
Oft wird die Zeit auf das Lebensende hin als eine hoffnungslose Zeit erlebt, weil Hoffnung automatisch mit langem Leben oder Gesundwerden verbunden und nur darauf reduziert wird. Auch wenn diese Hoffnung nicht erfüllbar ist, gibt es doch viele andere »kleinere« und realistischere Hoffnungen. Versuchen Sie für sich herauszufinden, welche anderen Hoffnungen Sie haben. Da gibt es die Hoffnung, möglichst viel Zeit zu Hause und nicht im Krankenhaus zu verbringen, oder die Hoffnung, dass Schmerzen und andere körperliche Beschwerden ausreichend gelindert werden, oder die Hoffnung, noch einmal einen lieben, aber in größerer Ferne lebenden Menschen zu sehen. Schließlich kann es auch die Hoffnung sein, in Frieden und Würde zu sterben. Hoffnungen werden im Lauf einer Erkrankung immer wieder neu definiert und an die Realität angeglichen werden müssen.
Was »realistische Wünsche« und was Illusionen sind, erkennen wir nicht sofort, sondern mit der Zeit. Dieser Prozess hilft Erkrankten und auch deren Angehörigen, sich dessen bewusst zu werden, dass nicht alles hoffnungslos, aber manches eben auch nicht mehr möglich ist. Wir wissen allerdings auch, dass Sterbenden und Angehörigen Hoffnungen sehr schnell abgesprochen und Wünsche als unrealistisch eingestuft werden. Diese Haltung unterbindet jede Form der Hilfe, auch wenn diese tatsächlich möglich wäre. Wir raten Patient*innen, sich in ihren Wünschen nicht zu rasch einzuschränken und diese auf jeden Fall zu äußern. Nur wenn Sie Ihre Wünsche kundtun, erhalten Sie Hilfe. Manche Wünsche sind schnell und unkompliziert zu erfüllen; andere müssen genauer differenziert und gegebenenfalls in einer etwas abgeänderten Form erfüllt werden – und wieder andere brauchen verfügbare Ressourcen. Suchen Sie im Internet beispielsweise den »Wünschewagen« des Arbeiter-Samariter-Bundes in Deutschland und Österreich oder die »Wunschambulanz« in der Schweiz. Noch einmal ins Museum, noch einmal zu einem Autorennen, noch zur Hochzeit des Enkelkindes oder endlich an den Strand – das sind einige der von diesen Organisationen erfüllten Wünsche. Auch Palliativ- und Hospizeinrichtungen denken und arbeiten patient*innenzentriert. Mithilfe dieser Profis und ehrenamtlichen Helfer sind Wünsche, die nicht ausgesprochen zu groß und unerfüllbar erscheinen, plötzlich nah an der Realität. Wir denken hier an folgende Wünsche: noch einmal oder wieder im eigenen Bett schlafen können, noch einmal das schöne Kleid tragen, wieder in die eigene Wohnung ziehen oder noch einmal mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse den Abend verbringen. Wenn Sie diese oder andere Wünsche äußern, werden Sie Hilfe erhalten.
Es kann sein, dass manche Wünsche nicht erfüllt und manche Hoffnungen enttäuscht werden. Die Unerfüllbarkeit zu erkennen führt mitunter zum Anerkennen der Realität. Und aus diesem Prozess können wieder neue und vielleicht realistische Wünsche entstehen.
In einer herausfordernden und dynamischen Zeit wie auf dem Weg zum Lebensende sehnt sich unsere Seele nach Konstanz. Doch gerade im Kontext von schweren Erkrankungen stehen mitunter ständige und unerwartete Veränderungen auf der Tagesordnung. Diese können körperlicher Natur sein, oder Sie merken, dass Sie selbst nicht mehr so reagieren und sich auf sich selbst verlassen können wie früher. Auch vertraute Menschen können anders als gewohnt reagieren; manche wenden sich ab, andere werden unerwartet zur Hilfe.
Diese Veränderungen können sich in Form von Tagesschwankungen in Ihrer Befindlichkeit äußern. Wie Wellen kommen und gehen sie. Schlechte Tage werden von guten abgelöst, bevor Sie sich im nächsten Wellental befinden. Gerade wenn Ihre körperliche und seelische Befindlichkeit durch große Schwankungen beeinträchtigt wird, empfehlen wir eine Abklärung. Eine gut abgestimmte Therapie, mitunter durch verschiedene Fachpersonen, kann diesen Schwankungen in der Regel recht gut entgegenwirken.