Mimi Kuo-Deemer
XIU YANG
Der chinesische Harmoniekompass
Kultiviere den Geist,
trainiere den Körper
und liebe dich selbst
Aus dem Englischen von
Judith Elze
Knaur e-books
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
© 2019 by Mimi Kuo-Deemer
Redaktion: Ralf Lay
Covergestaltung: Kishan Rajani / Orion Books
Coverabbildung: Kishan Rajani/Oriobooks
ISBN 978-3-426-45827-3
Für Aaron,
der mir das Lachen und die Liebe ins Leben bringt
Und im Gedenken an Mayling. Du hast auf Schritt und Tritt Leichtigkeit und Freude verbreitet.
Zur Sprache: Es gibt zwei Arten der Transliteration für die chinesische Schrift: Pinyin und Wade-Giles. In den meisten Fällen wird Pinyin weltweit als Standard verwendet. Ausnahmen gelten, wenn die Wade-Giles-Transliteration allgemein gebräuchlich geworden ist, wie zum Beispiel im Fall von »Tai-Chi«. Ich verwende nicht die vereinfachten, sondern die komplexen chinesischen Schriftzeichen, außerdem Pali und, in Zusammenhang mit der Terminologie aus dem Yoga, Sanskrit.
Zu den verwendeten Texten: Viele der Textbezüge, die in Xiu Yang verwendet werden, stammen aus einem frühen daoistischen Text, der als Innere Übung (Neiye) bezeichnet wird. Dieser Text aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist nicht sehr bekannt, wohl aber der älteste mystische Text Chinas. Auch wenn ich noch andere berühmte, klassische chinesische Texte wie das Dao De Jing, das Chuang Tzu und die Gespräche des Konfuzius zitiere, habe ich mich doch vor allem auf die Innere Übung bezogen, um die frühesten Quellen und die Grundlage der Selbstkultivierung in der chinesischen Tradition anschaulich zu machen. Die in der Inneren Übung enthaltenen geistigen und körperlichen Techniken zur Selbstdisziplin sollten dem Erhalt physischer Gesundheit, einem langen Leben und spiritueller Transzendenz dienen. Mit anderen Worten: Sie sollten den Menschen ein Mittel für mehr Zufriedenheit, Gesundheit und Ausgewogenheit im Leben an die Hand geben. Genau das ist auch der Zweck dieses Buches.
Xiu Yang (ausgesprochen »schu yang«) ist die alte chinesische Kunst der Selbstkultivierung. Über Jahrhunderte haben die Menschen Xiu Yang genutzt, um ihre Gesundheit zu stärken sowie lange und glücklich und in Harmonie mit der Natur zu leben. Xiu Yang ist die Grundlage der chinesischen Heilmethoden und spirituellen Praktiken. Die Weisen, Herrscher und spirituell Suchenden, die sich Xiu Yang zu eigen machten, glaubten daran, dass man die eigenen Rauigkeiten und Unebenheiten glätten kann, bis Körper und Geist genährt, die Energien gestärkt sind und der Geist integriert ist und bis sie von den Kräften der Natur geleitet werden. Im Kern fragt uns Xiu Yang: »Welche positiven Eigenschaften möchten wir im Leben pflegen?« Es zeigt uns, dass wir mit dem, was wir säen und wachsen lassen, unser bestes Selbst sein können. Und dies spiegelt sich dann wiederum als allumfassendes Gutsein und Wohlbefinden in der Gesellschaft, Natur und im Universum wider. Auch heute können wir Xiu Yang als alte Weisheitstradition nutzen und diesem elementaren Pfad folgen, um ein glücklicheres, gesünderes und ausgeglichenes Leben zu führen.
Der Samen versteht es, zu wachsen und zu blühen,
die Menschen haben eine ähnliche Fähigkeit …
Der Samen versteht es tatsächlich, zu wachsen und zu blühen, doch wer je einen Garten angelegt hat, weiß auch, dass die Natur den, der seinen Garten gut pflegt, besonders belohnt. Gartenpflege ist eine tägliche Aufgabe: die Erde düngen, empfindliche Sämlinge wässern, nach frühen Anzeichen von Krankheiten Ausschau halten, Pflanzen vor schädlichen Winden und Frost schützen, die Früchte und das Gemüse ernten, wenn sie am reifsten sind. Werden diese Aufgaben mit Sorgfalt und Beständigkeit erledigt, ist es wunderbar zu sehen, wie der Garten vor Lebenskraft strotzt und uns mit reichhaltiger, nahrhafter Nahrung belohnt. Nach wenigen Wochen, Monaten oder Jahren der Vernachlässigung dagegen dreht sich das Rad in die andere Richtung, und derselbe Garten geht Auflösung, Krankheit und Verfall entgegen.
Gartenpflege unterscheidet sich nicht groß von Haushaltspflege, der Pflege einer Beziehung oder der eigenen Gesundheit. Putzen wir regelmäßig unser Zuhause oder räumen wir auf, dann haben wir einen schönen, beruhigenden Ort zum Leben und für den Besuch von lieben Gästen. Investieren wir Zeit und Energie in unsere Beziehungen, bauen wir damit dauerhafte Verbindungen auf, die den Prüfungen der Zeit mit größerer Wahrscheinlichkeit standhalten werden. Und nirgendwo sind die Ergebnisse beständiger Fürsorge deutlicher zu erkennen als angesichts guter Gesundheit, geistiger Klarheit und Freude.
Doch stehen wir heute einer weltweiten Gesundheitskrise mit Krankheiten und gesundheitlichen Störungen gegenüber, die weitgehend auf unausgewogene Lebensgewohnheiten, schlechte Ernährung und den simplen Mangel an Bewegung und körperlicher Ertüchtigung zurückzuführen sind. Man hat uns eingebläut, Gesundheit und »Gesundheitssicherung« gehörten in den Zuständigkeitsbereich von »Gesundheitsfachleuten«, in deren Hände wir uns begeben, weil sie angeblich dafür verantwortlich sind, unsere Krankheiten und Wehwehchen zu behandeln. In einem solchen kulturellen Kontext könnte die einfache und doch tiefgründige Botschaft von Xiu Yang leicht überschattet werden, doch wird die Dringlichkeit und Bedeutung dieses Buches jedem deutlich sein, dem an Kultivierung und Erhalt des eigenen physischen, mentalen und emotionalen Wohlbefindens gelegen ist. Die elementare Botschaft von Xiu Yang besteht darin, dass unsere Gesundheit und unser Glück in hohem Grad in unserer eigenen Kontrolle liegen, falls wir so unabhängig sein wollen.
Als Praxis für das »Glätten der Rauigkeiten und Unebenheiten« und Neubeleben der uns angeborenen Ganzheit und Verbundenheit mit der Natur könnte es für Xiu Yang, interpretiert aus moderner Sicht, keinen besseren Zeitpunkt geben als heute. Wer von uns spürt nicht den Sog in die Hektik des modernen Lebens, vom Moment des Aufwachens an bis zum Schlafengehen, wo wir uns auf der Stelle ins Bett fallen lassen und oft in einen ruhelosen Schlaf kollabieren? Dazwischen ringen wir mit einem unverdaulichen Wust an Informationen, weil wir uns von morgens bis abends von unseren digitalen Medien vollstopfen lassen, während wir gleichzeitig mit den akuten Erfordernissen von Zuhause, Arbeit und familiärer Verantwortung jonglieren. Dabei gibt es noch eine andere Art zu leben. Dieses erfreuliche Buch bietet uns auf liebenswürdige Weise einen Ausblick, wie das aussehen könnte und wie wir – mittels einfacher, praktischer Schritte – wieder Harmonie in unser Leben bringen können.
Von Anfang an war ich bei der Lektüre von Xiu Yang beeindruckt von der ruhigen, liebenswürdigen und verhaltenen Stimme der Autorin, die sich ganz im Hintergrund hält und doch zwischen den Zeilen und mit jedem Wort, jedem Satz und mit jedem auf wunderbare Weise handgewobenen Konzept die Fäden fest im Griff hat. Schon die Lektüre dieses Buches an sich ist ein therapeutisches Erlebnis, da man die direkte Erfahrung von jemandem aufsaugt, der die Botschaft von Xiu Yang lebt und atmet: Selbstkultivierung für ein glücklicheres, gesünderes und ausgewogenes Leben.
Im Verlauf des Buches erinnert Mimi Kuo-Deemer die Leser wieder und wieder an den fundamentalen Unterschied zwischen Selbstkultivierung und Selbstfürsorge, die sich oft darin äußert, dass wir uns kleine »Leckerbissen« gönnen wie etwa ein heißes Bad oder einen Wochenendausflug, um einem ansonsten schädlichen Lebensstil Abhilfe zu schaffen. Selbstkultivierung dagegen ist eine Lebensweise, wie ein Gemälde, an dem wir wieder und wieder malen, um es in seinen Farben, Formen und seiner Perspektive auszubalancieren. Bei Selbstkultivierung geht es darum, in uns, mit anderen und mit der Welt ein besseres Gleichgewicht zu finden.
Der Begriff »Xiu Yang« könnte zunächst für Menschen außerhalb Chinas wie eine abseitige und fremdartige Praxis von geringer Bedeutung wirken. Doch wird schnell klar, dass die Grundprinzipien von Xiu Yang für alle diejenigen leicht anwendbar sind, die sich ein zukunftsfähiges Leben aufbauen möchten, das von lebenssprühender Gesundheit, mentaler und emotionaler Klarheit und dem grundlegendsten menschlichen Bedürfnis überhaupt erfüllt ist: von Glück und Zufriedenheit.
Mimi bringt die Leser behutsam dazu, sich ihrem Atem, Körper und einer weiter gefassten Kultivierung des Qi zu widmen, jener treibenden Lebenskraft, die im menschlichen Körper für Harmonie sorgt. Schritt für Schritt baut Mimi die Basisübungen auf und bindet dann die tiefergehende Achtsamkeitspraxis wie auch die schwierigeren Übungen von Vergebung und Mitgefühl mit ein. Dabei verwendet sie durchgehend die althergebrachte Tradition des Geschichtenerzählens, um dem Leser jedes dieser Prinzipien nahezubringen. Sie schöpft hier aus ihren eigenen reichhaltigen Lebenserfahrungen und denen ihrer vielen Schüler. Diese Geschichten rühren ans Herz und verankern so das Verständnis dort, wo es am besten Wurzeln schlagen und gedeihen kann.
Mit dem vorliegenden Buch birgt und archiviert die Autorin einen Weisheitsschatz, der in Gefahr ist, für immer verloren zu gehen, da China inzwischen viel Oberflächliches aus der westlichen Kultur übernommen und die eigenen historisch überlieferten Heilungsverfahren aufgegeben hat. Durch ihr Leben, ihre Arbeit, Forschung und Lehre im Fernen Osten und im Westen hat Mimi eine Brücke zwischen beiden Kulturen geschlagen und so die einzigartige Fähigkeit bewiesen, die subtilen und mitunter kaum zu fassenden Konzepte der chinesischen Medizin, der konfuzianischen Philosophie, des Daoismus, Buddhismus und Yoga verständlich und zu einem kohärenten Ganzen werden lassen. Sie selbst drückt es so aus: »Bei Xiu Yang geht es nicht darum, Wunden zu verbinden oder bereits vorhandene Schäden zu beheben. Es geht darum, die Richtung zu ändern und einen neuen Weg zu beschreiten.« Seien Sie sich gewiss, dass Sie mit der Lektüre dieses Buches einen verlässlichen Ratgeber in der Hand haben, der Ihnen diese neue Richtung weist.
Donna Farhi
Über Jahre lebte ich als Fotojournalistin in China, völlig überarbeitet, asthmatisch und gestresst. Ich reiste zu viel, rauchte zu viel und war in der Regel keine besonders angenehme Gesellschaft. Zunächst mal hatte ich häufig Infekte. Als ich dann einmal ernsthaft erkrankte, wurde mir klar, dass sich etwas ändern musste. Anfangs dachte ich noch wie viele andere, mich selbst zu heilen würde bedeuten, mich in Ordnung zu bringen und zu bessern. Mit der Zeit lernte ich jedoch, dass wir uns nicht als irgendwie beschädigt oder mangelhaft sehen sollten. Stattdessen können wir uns daran erinnern, dass unter den verkrusteten Schichten von Anspannung, Müdigkeit oder Sorgen bereits das Gefühl von einem Selbst existiert, das unversehrt, ganz und vollständig ist. Donna Farhi hat mir als eine meiner wichtigsten Yoga-Lehrerinnen geholfen, dies zu verstehen. In ihrem Buch Yoga Mind, Body and Spirit vermittelt sie uns Yoga als eine Praxis, mithilfe derer wir abbauen können, was uns am Erleben unseres authentischen Selbst hindert. Im Buch schreibt sie: »In der Anstrengung, uns zu ändern und zu bessern, steckt das Risiko subtiler Autoaggression, die nur umso mehr Unzufriedenheit produziert. Wir können nicht nach etwas streben, das wir bereits sind.«
Das Hauptziel von Xiu Yang besteht nicht darin, uns an unsere Fehler zu erinnern, sondern darin, uns unser Potenzial bewusst zu machen und echtes Gleichgewicht und Wohlbefinden zu erfahren. Spüren wir, wie dieses Potenzial erwacht, erlangt unser Leben auf natürliche Weise tieferen Sinn und Wert und wird reicher. Für mich persönlich ist die Verinnerlichung der Prinzipien von Xiu Yang zu einem Weg geworden, der mich so gesund gemacht hat, wie ich es mir vor 15 Jahren nicht hätte vorstellen können.
Die Schönheit von Xiu Yang beruht darauf, dass es grundsätzlich auf einfache und natürliche Weise zugänglich ist. So wie ein Fisch aus dem Ei zu schlüpfen und zu schwimmen vermag oder ein Samen zu wachsen und zu blühen weiß, haben die Menschen die Fähigkeit, gut zu leben und anhaltend Zufriedenheit und Frieden zu erfahren. Zudem sind wir in der Lage, Weite und Raum zu verspüren, und brauchen uns nicht immer nur eng, verkrampft, klein oder abgetrennt zu fühlen. Doch weil das Menschsein eine so schwierige Sache ist, vergessen Körper, Geist und Herz es nur allzu leicht, wie weit sie sich machen können. So werden sie tagtäglich eng und verlieren die Verbindung zueinander, was zu Angst, Traurigkeit und Verwirrung führt.
Die alten Chinesen wussten, dass unsere Fähigkeit, frei zu leben, häufig beeinträchtigt ist. Deshalb war es ihr Bestreben, das Gefühl von Gleichgewicht, Harmonie und Zugehörigkeit zur Welt wiederzuentdecken. Sie empfahlen die Kultivierung und Pflege bestimmter Herangehensweisen für Körperübungen, Diät und Ernährung, Schlafgewohnheiten, Atmung, Meditation und für das Liebesspiel. Ebenso traten sie für Tugenden wie Freundlichkeit, Großzügigkeit und Mitgefühl ein. Durch eine Neuausrichtung dieser ganz alltäglichen Dinge konnten wir uns langsam wieder auf die natürlichen Muster und Zyklen des Universums ausrichten. Das Nähren und die Pflege guter Gewohnheiten und Lebensentscheidungen waren wie das Bestellen eines Feldes, auf dass dort die gesündesten, nachhaltigsten Pflanzen wachsen mochten.
Die Grundprinzipien, auf denen Xiu Yang beruht, sagen uns, dass wir nicht in Harmonie mit der Welt sein können, solange wir es nicht mit uns selbst sind. Unabhängig vom Alter, dem gesundheitlichen Zustand oder den Umständen haben wir alle die Gelegenheit und Fähigkeit, unser inneres Gleichgewicht zu entdecken, das sich im Außen wiederum anhand unserer Ausstrahlung zeigt. Diese frühen Vorstellungen von Xiu Yang haben sich über Jahrhunderte hinweg überliefert und beeinflussen noch heute die Art und Weise, auf die viele Chinesen – vor allem diejenigen, die sich Traditionen wie dem Konfuzianismus, Daoismus oder Buddhismus verbunden fühlen – ihr Leben angehen. Indem ich wichtige, für Sie leicht machbare Übungen aus heutiger Sicht erkunde, hoffe ich, genau dies hier anbieten zu können.
»Xiu Yang« ist die Kurzform von xiu xin yang xin (修心養心). Auf Chinesisch heißt xiu »kultivieren«, yang »nähren«, und xin bedeutet »Herz«. Xiu Yang ist daher nicht nur reine Selbstkultivierung oder Selbstpflege, sondern es geht darum, das Herz zu kultivieren, zu pflegen und zu nähren. Das Herz ist ein reicher, weiter Ort. In vielen spirituellen Traditionen – vom Daoismus bis hin zum Buddhismus und Yoga – stellt es unendliche Weite dar, ist der Sitz des Bewusstseins und der Ewigkeit und der oberste Herrscher. Im Tibetischen Buddhismus ist das Herz Heimstatt eines Juwels. Wenn das Herz erwacht, strahlt es in alle Richtungen das Licht des Mitgefühls aus. Widmen wir uns der Kultivierung und Pflege des Herzens und nähren es, dann können wir Zugang zu seinem natürlichen Zustand gewinnen, der aus Offenheit, Klarheit, Stärke, Liebe und Mitgefühl besteht.
Wenn man Chinesen nach der Bedeutung von Xiu Yang fragt, werden die meisten sagen, es sei eher eine Qualität als ein Prozess. Hat jemand Xiu Yang, ist er ein guter und tugendhafter, ethisch handelnder Mensch. Als Tochter chinesischer Immigranten in den USA glaubte auch ich das. Doch während Xiu Yang durchaus den Charakter einer Person widerspiegeln kann, wurde es doch über einen Großteil der chinesischen Geschichte hinweg als eine Praxis verstanden, mithilfe derer man – durch spirituelle und Körperübungen – eine engere Beziehung mit der Natur kultivieren konnte.
Das Wissen über die meisten dieser Praktiken ist den heute in China lebenden Menschen verloren gegangen. Dies liegt teilweise daran, dass bis vor Kurzem die Festlandchinesen den Daoismus und Konfuzianismus – die Systeme also, aus denen Xiu Yang entstanden ist – als verweichlichende ideologische Gerüste betrachteten, die zum Zerfall des chinesischen Kaiserreichs führten. Die Auswirkungen des Kolonialismus, der Modernisierung und des Kommunismus haben in den letzten 150 Jahren viele chinesische Intellektuelle wie auch die Öffentlichkeit dazu gebracht, spirituelle und religiöse Praktiken als Teil einer feudalen Vergangenheit abzulehnen, die China davon abhielt, wissenschaftliche Fortschritte zu machen wie der Westen. Meine Eltern gehörten zu denen, die Meditation, Qigong und andere traditionelle Systeme zur Kultivierung des eigenen Selbst als rückwärtsgewandt und abergläubisch betrachteten. Erst seit etwa zehn Jahren kehrt sich der Trend langsam um. Die Zahl der neu gebauten daoistischen Tempel ist sprunghaft angestiegen. Buddhistische Meditation und Retreat-Zentren erfreuen sich großen Zulaufs. Überall in Festlandchina beginnen die Menschen, das Xiu Yang wieder mit seiner ursprünglichen Idee zu verknüpfen – mit dem Streben nach einer besseren Gesundheit, einem glücklicheren und ausgewogeneren Herzen, ethischer Klarheit und schließlich sogar nach einem spirituellen Erwachen. Meine Hoffnung ist, dass wir diesen reichen Weisheitsschatz auch in der westlichen Welt werden nutzen können.
Nicht nur die Chinesen hegten die Überzeugung, sie könnten positive Eigenschaften kultivieren. Die buddhistischen Meditationen und Praktiken, die sich zum Beispiel der Entwicklung von Mitgefühl, Freundlichkeit und Freude widmen, sind unter dem Begriff bhāvanā bekannt, was »Hervorbringen«, »Entwicklung« oder »Ins-Sein-Bringen« bedeutet. Die Kultivierung guter Eigenschaften soll uns auf dem Weg zu größerer Einsicht, Weisheit und zum Erwachen behilflich sein.
Auch Yoga-Praktizierende haben sich über Jahrhunderte mit bhāvanā befasst, um mustergültige Charakterzüge zu kultivieren. Zwar hat es in der Geschichte des Yoga auch den Drang zu drastischen Maßnahmen gegeben – wie etwa Praktiken, zu hungern, den Atem anzuhalten oder jahrzehntelang einen Arm in die Höhe zu halten –, doch gab es ebenso Menschen, die den sanfteren Weg von bhāvanā wählten. Beim Erforschen von Xiu Yang werden wir auch einige dieser sanfteren Herangehensweisen aus dem Yoga und dem Buddhismus berücksichtigen, um mögliche Wege zu einem besseren Leben aufzuzeigen.
Die Antwort auf die Frage, wer Xiu Yang praktizieren kann, lautet: jeder. In China haben im Lauf der Geschichte daoistische Priester ebenso wie buddhistische Nonnen, konfuzianische Gelehrte und Regierungsbeamte Xiu Yang praktiziert. Wie war das möglich? Anders als in der jahrhundertelangen Zerstrittenheit zwischen Christentum und Islam war in der chinesischen religiösen Tradition eine friedliche Koexistenz vieler verschiedener Glaubensformen möglich. Für das heutige Festlandchina trifft dies zwar weniger zu, doch in den Chinatowns von London oder New York City, in Hongkong oder Malaysia kann man als typische Tempelszene beobachten, wie sich jemand vor einer Statue des Konfuzius verneigt, zu Tian Hou, der daoistischen Himmelsgöttin, betet und schließlich dem buddhistischen Guanyin oder Bodhisattva des Mitgefühls eine Opfergabe darbringt.
Nur selten hatte sich in der chinesischen Geschichte eine Tradition gegenüber einer anderen zu beweisen. Dies wäre ein wichtiges Vorbild vor allem in der heutigen Zeit, in der eine starke Identifikation mit einer bestimmten Praxistradition häufig zu einer Entzweiung und Entfremdung spirituell Praktizierender führt. Das heißt, Xiu Yang ist eine Praxis für alle. Sie brauchen keinen spezifischen Hintergrund, um sich Xiu Yang zuzuwenden; Sie brauchen nur daran zu denken, dass Sie Teil der Natur sind und das Potenzial haben, das zu entwickeln, was in Ihrem Leben von tieferem Sinn erfüllt und wertvoll ist.
Das Buch ist in vier Teile aufgeteilt:
Teil 1: Die Kunst von Xiu Yang
Teil 2: Xiu Yang für einen gesunden, harmonischen Körper
Teil 3: Xiu Yang für ein ausgewogenes geistiges und emotionales Leben
Teil 4: Xiu Yang für einen glücklicheren Platz in der Welt
In Teil 1 möchte ich Ihnen das Dao im Zusammenhang mit den Zielen des Xiu Yang nahebringen. Außerdem stelle ich Ihnen das Mandala von Xiu Yang vor. Ein Mandala ist ein rituelles Symbol, das das Universum darstellt. Es besteht gewöhnlich aus Kreisen innerhalb eines Quadrats. Das Mandala von Xiu Yang können Sie gewissermaßen als Landkarte für Ihre innere Balance nutzen; äußerlich wird es Ihnen zu Frieden im Leben verhelfen. Es wird Sie darin unterstützen, Ihre Sinne zu schärfen und Wege zu finden, wie Sie zu jeder Zeit Selbstkultivierung praktizieren können. Es wird Ihnen außerdem im Verlauf des Buches bei der Ausrichtung Ihrer Übungen helfen.
In Teil 2, dem Xiu Yang für den Körper, werden wir erkunden, wie wir uns an den natürlichen Tagesrhythmen ausrichten können. Hier wird die Wichtigkeit von gemäßigten Körperübungen, gesunder Atmung und Ernährung aus Sicht von Xiu Yang erklärt.
Teil 3 zielt darauf ab, Sie mithilfe der Achtsamkeitslehren des Buddha enger mit Ihrem Herzen und Geist vertraut zu machen. Durch ein besseres Verständnis Ihres Herzens werden Sie die Menschen in Ihrem Leben und in Ihrem sozialen Umfeld mit mehr Umsicht und Mitgefühl wertschätzen und lieben können. Hierauf konzentriert sich Teil 4.
Beim Lesen werden manche der Ideen Sie inspirieren oder Ihnen gleich nützlich erscheinen. Andere mögen Ihnen so vorkommen, als wären sie nicht machbar. Nehmen Sie die unmittelbar inspirierenden Ideen oder Möglichkeiten, neue Aspekte von sich zu kultivieren, wie Blumen, die Sie in der Gärtnerei kaufen und zu Hause aufs Fensterbrett stellen, um sich täglich daran zu erfreuen. Die Abschnitte, von denen Sie eher denken: »Das ist zwar vielleicht eine gute Idee, aber im Moment für mich nicht durchführbar«, können Sie wie Samen oder Knollen betrachten, die Sie erst einmal im Gewächshaus aufbewahren, um sie dann irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt in die Erde zu setzen.
Das Wichtigste ist, dass Sie beim Lesen meine Worte oder die Worte anderer nicht als absolute Wahrheit verstehen. Halten Sie es so, wie es der Buddha empfahl: Dhamma ehipassiko – oder »Komm und sieh selbst«. Erkunden, erforschen und untersuchen Sie diese Lehren im Licht Ihres eigenen Urteilsvermögens, Ihrer persönlichen Praxis und Erkenntnisse. Das ist die beste Rückversicherung, um wirklich festzustellen, ob die Übungen für Sie nützlich, wirksam und sinnvoll sind.
Fangen wir an, mit Xiu Yang zu arbeiten, müssen wir uns zunächst im Klaren darüber sein, dass Selbstkultivierung etwas anderes ist als Selbstfürsorge. Selbstfürsorge mag uns mitunter als kurzfristige Lösung für unsere Schwierigkeiten erscheinen: Nach einem harten Tag gönnen wir uns ein heißes Bad oder eine Massage, schauen uns einen Liebesfilm an oder essen ein Eis. Auch wenn Selbstfürsorge unerlässlich ist, können wir sehen, dass wir tiefere, anhaltende Lösungen benötigen, um Gesundheit und Wohlbefinden auf lange Sicht zu fördern.
Bei Xiu Yang geht es nicht darum, Wunden zu verbinden oder bereits vorhandene Schäden zu beheben. Es geht darum, die Richtung zu ändern und einen neuen Weg zu beschreiten. Es geht darum zu prüfen, was es heißt, Mensch zu sein in dieser Welt, mit all den unterschiedlichen Rollen und Verantwortungen, die wir übernehmen. Es geht darum zu fragen: »Wie finde ich meinen Weg so natürlich, klar und wach wie möglich?« Es geht darum, zur eigenen inneren Quelle zurückzufinden und zu prüfen, welche Aspekte unseres Herzens wir kultivieren und nähren wollen, um die Tiefe und den Glanz des eigenen inneren Seins finden zu können. Xiu Yang hilft uns zu erkennen, wohin eine Selbstkultivierung uns führen kann: dass wir das Gefühl von einem Selbst bekommen, das nicht fragmentiert, abgetrennt und beschädigt, sondern Teil der Gesamtheit des immer ganzen und vollständigen Universums ist.
Die Kunst von Xiu Yang
Ich frage mich oft, wie wohl die Schönheit der Natur entstanden ist. Wie konnten die Vielfalt, Ausgewogenheit und die Farben eines Sonnenuntergangs, von Wildblumen oder Herbstblättern zu einer so hohen Kunst geraten? Wenn ich mir die Natur und ihre feinen Muster ansehe, überwältigt mich häufig eine »wortgewandte Sprachlosigkeit«, eine Erfahrung, die meinen Versuch, das Geschehen zu interpretieren, transzendiert. Manche geben diesem Ursprung einen Namen, wie zum Beispiel »Wissenschaft«, »Gott« oder »Liebe«. Die alten chinesischen Weisen verstanden den Ursprung der natürlichen Welt als das Dao.
Ihrer Auffassung nach konnte das Dao nur verstanden werden, indem man die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks kultivierte. Für sie war die große Schöpfung unseres Lebens wie die endlose Leinwand des Himmels, die sich den Sternen öffnet: Sie sahen sie als unendlich und voller Möglichkeiten. Xiu Yang ist das Instrument, mit dessen Hilfe wir diese Möglichkeiten erkennen können. Es richtet unser Streben darauf aus, sich so voll und authentisch wie möglich mit dem zu verbinden, was uns umgibt. Dabei entdecken wir Wege und Möglichkeiten, unsere Widerstände gegen die Herausforderungen des Lebens zu schmelzen und uns mit dem Potenzial des Menschen in Einklang zu bringen, der wir sein können. Dies ist die Kunst von Xiu Yang.
Xiu Yang und das Dao
Xiu Yang macht das Dao für die Menschen erfahrbar. Es ermöglicht uns, uns eins mit dem Dao und seinen sich entfaltenden, lebendigen Impulsen zu fühlen. Genau wie ein Samen Nährboden, Wasser und Sonne braucht, um zu keimen und zu einer blühenden Pflanze zu reifen, benötigen Körper, Geist und Seele bestimmte günstige Bedingungen, um mit weniger Reibung und mehr Leichtigkeit wachsen und reifen zu können. Mit Xiu Yang können wir herausfinden, wie wir in größerer Übereinstimmung mit der natürlichen Entfaltung des Dao leben können.
Was ist das Dao? Wörtlich bedeutet es »Weg« oder »Pfad«, es kann aber auch »Lehre« meinen. Einfach ausgedrückt ist es die Kraft, die allen fortdauernden Mustern des Universums zugrunde liegt. Natürlichkeit, Mühelosigkeit und Einfachheit bilden den Mittelpunkt des Dao. Es heißt, dass es sich formlos und fließend entfaltet. Im Dao De Jing (andere Schreibweisen: Tao te king oder Tao te-ching), einem weltweit übersetzten Buch, das die zentralen Themen des Dao darstellt, ist es eine namenlose Kraft, die sich schwer definieren und doch alles entstehen lässt.
Das Dao wird oft mit Wasser gleichgesetzt: Es füllt sich endlos selbst wieder auf, ist weich und doch zutiefst kraftvoll. In seiner Essenz ist es gut und elementar wohlwollend. Das Dao wird als groß definiert, es war schon bei der Entstehung von Himmel und Erde da. Zudem ist es demütig: Es fließt auch an die niedersten Orte und nährt alles, ohne je darum gebeten werden zu müssen. Es schenkt allem Leben und fordert nichts dafür, es nützt allem, ohne Partei zu ergreifen, und regiert, ohne seine Autorität geltend zu machen. Es bewegt sich – im Gegensatz zu den heutigen linearen, zielorientierten Tendenzen der Menschen – zyklisch und in Kreisen. Manche beschreiben das Dao als unberührbare Energie, die sich überall bewegt und findet und zugleich ganz plötzlich ruhen kann – und zwar in den Momenten, in denen es im Herzen wohnt.