Renate Seifarth
Heile das Kind in dir
Mit Achtsamkeit und Mitgefühl sich selbst befreien
Knaur e-books
Renate Seifarth ist eine der bekanntesten deutschsprachigen Meditationslehrerinnen. Sie verbrachte über sechs Jahre im Retreat u. a. in Thailand und Myanmar und lebt seit 1999 wieder in Deutschland. Sie gibt europaweit Vipassana-Meditationskurse, ist Gastdozentin für Arbor-Seminare und am Bodhi-Institut. Sie hat zahlreiche buddhistische Bücher übersetzt, Artikel veröffentlicht, 2014 erschien ihr Buch Buddha at home.
Die in diesem Buch vorgestellten Übungen wurden von der Autorin und dem Verlag sorgfältig geprüft und haben sich in der Praxis bewährt. Dennoch kann keine Garantie für das Ergebnis übernommen werden. Der Verlag und die Autorin schließen jegliche Haftung für Gesundheits- und Personenschäden aus.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2018 O. W. Barth Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Susanne Klein
Covergestaltung: atelier-sanna.com, München
Coverabbildung: atelier-sanna.com
Illustration im Innenteil: atelier-sanna.com
ISBN 978-3-426-44195-4
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Wir alle möchten lieben und geliebt werden. Wir möchten erfüllt und authentisch leben. Wir möchten Verbundenheit und Frieden erfahren. Doch so viele von uns können sich selbst nicht lieben. Ständig kritisieren wir uns, nie haben wir den Eindruck, wir seien gut genug. Depression, Minderwertigkeitsgefühle, Strenge bestimmen unser Leben. Unsere Beziehungen wollen nicht gelingen. Sie bleiben oberflächlich, unbefriedigend und ohne Tiefe. Statt Vertrauen und Liebe sitzen Misstrauen, Angst und Groll tief in unserem Herzen.
Woran kann das liegen? Auffallend oft schauen wir auf eine unglückliche Kindheit, in der wir uns nicht gesehen, nicht geliebt gefühlt und uns als nicht angenommen erlebt haben. Kleine Anlässe können die Wunden der Kindheit wieder wachrufen, vor allem im Kontakt mit nahestehenden Menschen. Ein schiefer Blick, ein falsches Wort und plötzlich rasten wir aus, fühlen uns ertappt, empfinden Scham über Belanglosigkeiten, fühlen uns klein, schwach, ausgeliefert.
Wir sind vielleicht selbst überrascht von unseren kindlichen Reaktionen. Doch wenn wir die Rolle unserer Kindheit für unser jetziges Leben betrachten, können wir besser verstehen, warum das so ist.
In der Kindheit entwickeln wir ein Bild von uns selbst, mit dem wir auf die Welt, auf andere zugehen. Aufgrund dieses Bildes entscheiden wir, was wir uns zutrauen, wie wir unsere Beziehungen gestalten und welche Rollen wir anstreben.
Wir entwickeln in dieser Zeit auch grundlegende Vorstellungen von der Welt, in die wir geboren wurden, was wir hier erwarten können, ob sie schön oder schrecklich ist. Dazu gehören auch Annahmen über die Menschen, mit denen wir diese Welt teilen. Auf dieser Basis entscheiden wir, ob wir andere grundsätzlich als freundlich und vertrauenswürdig oder eher unfreundlich und gefährlich einstufen. Aus den grundlegenden Vorstellungen heraus interpretieren wir später das Verhalten unserer Umgebung, ob andere uns mögen oder ablehnen, und leiten daraus ab, welche Motive sich hinter ihren Taten verbergen, ob sie uns Gutes tun oder schaden wollen.
In der Kindheit lernen wir, unsere Bedürfnisse zu spüren und zu erkennen. Wir erfahren, welche dieser Bedürfnisse erfüllt werden und welche nicht. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickeln sich grundlegende Glaubenssätze darüber, was wir dürfen, was wir sollen, was wir müssen. Diese Glaubenssätze prägen fortan unsere Ziele und Hoffnungen, sie nehmen Einfluss darauf, wie wir unser Leben gestalten. Kurzum, die Kindheit beeinflusst in einem hohen Maße unser späteres Leben.
Doch was, wenn die Kindheit suboptimal verlaufen ist? Wenn wir gelernt haben, dass unsere wichtigen Bedürfnisse nicht zählen und nicht erfüllt werden, weil sich niemand für uns interessierte? Wenn wir kein Zutrauen zu unseren Fähigkeiten entwickeln konnten, weil wir nur ungenügend Anerkennung erfahren haben. Wenn wir keine liebevollen Beziehungen kennengelernt haben, sondern in einer Umgebung von Missachtung und Feindseligkeit aufwuchsen? Wenn unser kindliches Vertrauen missbraucht und ausgenutzt wurde?
In jedem von uns ist die Kindheit gegenwärtig. Sie drückt sich aus in all den Persönlichkeitsanteilen, die sich damals entwickelt haben, mitsamt den Reaktionsmustern, Glaubenssätzen und Überzeugungen über uns und die Welt. Wenn sie aktiv werden, fühlen und verhalten wir uns wie damals.
Die negativen Erfahrungen in unserer Kindheit machen sich in vielen kleinen Situationen bemerkbar. Sie zeigen sich in der Art, wie wir innerlich und äußerlich auf etwas reagieren, in der Art, wie wir denken und fühlen, in den Überzeugungen und Einstellungen, die wir in uns tragen.
All diese Muster, Gefühle und Gedanken sind uns so vertraut, dass sie uns nicht auffallen. Gerade weil wir sie nicht bemerken, stellen wir sie nicht infrage und setzen so die destruktive Vergangenheit fort.
Im ersten Kapitel dieses Buches werden wir uns Beispiele anschauen, wie sich diese Wunden aus der Kindheit manifestieren können. Es sind die Themen, die mir immer wieder als Meditationslehrerin in der Arbeit mit meinen Teilnehmern und Teilnehmerinnen begegnen. Die Beispiele sollen helfen, den Zusammenhang zwischen unseren Schwierigkeiten und den Wunden unserer Kindheit besser zu verstehen.
Dabei konzentriere ich mich auf den Themenkreis, der mit Entwicklungen in der Kindheit zu tun hat, in denen wir als Kinder nicht genügend geliebt, angenommen, gesehen worden sind. Ich spreche dabei der Einfachheit halber, und auch weil dieser Sprachgebrauch verbreitet ist, vom inneren Kind. Dies ist in der Praxis nachvollziehbar, weil wir uns tatsächlich wie ein Kind oder wie das damalige Kind fühlen, Stimmen wie von damals hören und Gedankengänge mit den Sätzen unserer Eltern in Verbindung bringen können. Auch spontane Rückerinnerungen an vergangene Erlebnisse sind nicht unüblich in längeren Meditationsretreats.
Viele, die meditieren, sind anfangs überrascht von derartigen Erfahrungen. Sie hatten solche Erinnerungen nicht erwartet, noch waren sie sich bewusst, ein verletztes inneres Kind in sich zu haben. Für die Meditation, wie für jeden Weg der inneren Entwicklung, und auch für die buddhistische Praxis ist das Wissen um unser verletztes inneres Kind von Bedeutung. Manche angestrebten Ziele und manche buddhistischen Lehren können sonst missverstanden werden.
Die Heilung des inneren Kindes ist ein wichtiger Schritt zu einem erfüllten Leben. Wir wollen all die Entwicklungen nachholen, die ein Kind befähigt, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Auch heute noch können wir die dafür notwendige Wertschätzung, das Selbstvertrauen und die Verbundenheit in uns aufbauen. Die Voraussetzung dafür ist ein guter Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen, den Gefühlen und zum Körper.
Der Schritt, den Wunden der Kindheit und damit den schwierigen Gefühlen zu begegnen, mag schmerzhaft sein, führt letzten Endes aber zu einer tiefen Befreiung von den Wirkungen dieser Vergangenheit. Von da aus können wir unser Potenzial als Mensch entfalten. Wir können unsere Weichen neu stellen und uns auf einen inneren Weg begeben, auf dem sich unser Herz entfaltet und wir zutiefst erfüllende Beziehungen leben können.
Die Vergangenheit selbst können wir nicht ändern. Sie kann immer wieder von heutigen Erlebnissen erweckt werden, die alten Gefühle können auftauchen, aber wir können lernen, anders mit uns, unserer Geschichte und unseren Gefühlen umzugehen. Wir müssen uns weder über das Vergangene definieren, noch müssen wir bleiben, wer wir meinten zu sein.
Neben den erwähnten Beispielen werde ich im ersten Kapitel verbreitete Wunden des verletzten inneren Kindes vorstellen, wobei ich eher von milderen Formen sprechen möchte. Traumatische Erfahrungen brauchen sicher eine zusätzliche adäquate therapeutische Begleitung. Hier können das Buch und die Praxis eine zusätzliche Stütze sein, mehr nicht. Falls Sie von einer solchen traumatischen Vergangenheit wissen, fragen Sie Ihren Arzt oder Ihre Therapeutin, ob Meditation für Sie ein sinnvolles Mittel sein könnte.
Im zweiten und dritten Kapitel erläutere ich die Achtsamkeitspraxis. Ob wir einer spirituellen Praxis folgen oder vorrangig unsere inneren Wunden heilen wollen, Achtsamkeit steht im Zentrum von beidem. Die Achtsamkeit, die hier gemeint ist, besteht aus einer Reihe von Aspekten. Wir wollen darauf achten, dass sie alle wohl ausgebildet werden, denn erst dann kann sie ihre heilende Wirkung entfalten.
Im vierten Kapitel lernen wir die Meditation der liebenden Güte kennen. Mit ihrer Hilfe heilen wir die Beziehung zu unserem verletzten inneren Kind. Dazu gehört auch die Beziehung zu unserem Körper und zu diversen Persönlichkeitsanteilen. Wir alle haben unsere Sonnenseiten wie Schattenseiten. Wir wollen sie tief verstehen und Frieden damit schließen.
In dieser Arbeit begegnen wir selbstverständlich leidvollen Erfahrungen wie auch vielen freudvollen. Für beides öffnen wir uns mithilfe von Achtsamkeit und liebender Güte. Das verschlossene Herz öffnet sich, und wohltuendes Mitgefühl und beschwingende Mitfreude strömen hervor. Wir entdecken die Fähigkeit unseres Herzens, allen menschlichen Erfahrungen mit liebender Güte und Gleichmut zu begegnen.
Im letzten Kapitel stelle ich die Qualitäten vor, die uns helfen, tiefe, vertrauensvolle Beziehungen zu entwickeln. Es sind Qualitäten, die Kinder von ihren Eltern brauchen, um eine gesunde Entwicklung nehmen zu können. Indem wir selbst diese Qualitäten entwickeln, können wir unserem eigenen inneren Kind eine heilsame Atmosphäre bieten, in dem es weiter wachsen kann. Gleichzeitig handelt es sich um Qualitäten, die aus uns einen innerlich »schönen« Menschen machen. Es sind Qualitäten, die helfen, ein Leben erfüllt von innerem Frieden zu leben. Ich nenne sie »die guten Freunde«.
Wir können sie allerdings leicht mit anderen Qualitäten verwechseln, die das verletzte innere Kind allzu gut kennt. Aber statt dass sie uns helfen, Geborgenheit, Lebendigkeit und Wohlbefinden zu erfahren, halten sie uns zurück. Ich nenne sie »die falschen Freunde«. Diese Differenzierung soll uns helfen, nicht wieder in alte Muster zu fallen.
All die Hinweise und Adaptionen der Meditationen gehen aus meiner Arbeit mit unzähligen Menschen in den letzten fünfzehn Jahren hervor sowie aus meiner eigenen inneren Entwicklung. Dort, wo ich von den Erlebnissen anderer berichte, habe ich Namen, Geschlecht und Zusammenhänge verändert.
Der Weg der inneren Heilung erfordert Geduld, und immer wieder scheint es auf dem Weg rückwärtszugehen. Themen, die längst Vergangenheit zu sein schienen, tauchen immer wieder auf. Heilung können wir vielleicht eher als Spirale als eine lineare Angelegenheit verstehen. Gehen persönliche und spirituelle Entwicklung Hand in Hand, erhält unsere spirituelle Entwicklung eine solide Grundlage. Wir erfahren wahrlich unerschütterlichen Frieden und stehen gleichzeitig mit beiden Füßen und einem gesunden Menschenverstand mitten im Leben. Es ist meine tiefe innere Überzeugung nach all dem, was ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren beobachten konnte, dass die Entfaltung unserer Persönlichkeit und das Transzendieren unseres Ego zusammengehören und nicht eines auf Kosten des anderen erfolgt.
Wir alle sind verletzlich, besonders als Kinder. Es ist normal, dass wir die eine oder andere Enttäuschung, Frustration und Verletzung während unserer Kindheit erleben. Wir brauchen uns deswegen weder zu schämen, noch heißt das gleich, dass unsere Eltern böse Menschen waren. Oft meinten sie es sogar gut mit uns. Sie taten ihr Bestes. Und doch kann es sein, dass unser Selbstwert Schaden erlitten hat und wir Verhaltensmuster entwickelten, die schmerzvoll sind.
Allein die Werte in unserer heutigen Gesellschaft, der enorme Erfolgs-, Zeit- und Leistungsdruck, unterstützen den Mangel an Liebe und Geborgenheit, den Kinder oft erdulden. Zu früh werden wir über Leistung definiert, zu früh lernen wir, dass wir etwas tun müssen, um geliebt zu werden. Und natürlich gibt es auch Situationen, in denen Eltern ihrem Kind – aus welchen Gründen auch immer – nicht genügend Liebe geben können. Deshalb ist es so wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass ein verletztes inneres Kind in sich zu tragen nichts ist, wofür wir uns schämen müssen.
Im Lauf unserer Entwicklung erfahren wir alle Erfolge und Niederlagen, Glück und Unglück, wir werden mal gelobt und mal getadelt, andere reden gut über uns oder verleumden uns. Wir werden verlassen, betrogen, belogen. Das alles schmerzt und passiert eigentlich jedem.
Die Worte verhallen, die Zeit verstreicht, bald scheint alles wieder gut zu sein. Zurück bleiben Narben in Form von Erinnerungen, Bildern, Botschaften, die sich auf jeden neuen Moment auswirken. Was immer wir tun, wohin wir auch gehen, welche Menschen wir auch kennenlernen, wir nehmen uns mitsamt unserer Vergangenheit und Prägung mit in jede Situation. In die Art, wie wir diesem Moment begegnen, fließt all das ein, was wir bis dahin erfahren und gelernt haben.
Besonders tief beeinflussen uns die Erfahrungen aus der Kindheit. Haben wir aus den frühen Erfahrungen den Eindruck gewonnen, wir seien nicht liebenswert, unsere Wünsche werden nicht gehört und unsere Grenzen nicht respektiert, übertragen wir dies auf jetzige Situationen. Wir vertrauen dann der Zuneigung anderer nicht, wir spüren unsere Bedürfnisse kaum und können sie auch nicht artikulieren. Wir erkennen weder unsere Grenzen, noch können wir Grenzen setzen.
Der Mangel, die Verletzungen, die wir in der Kindheit erfahren haben, prägen unsere Ansichten, Verhaltens- und Reaktionsmuster. Sie nisten sich ein in uns in Form von Glaubenssätzen und Überzeugungen. Sie sind die Brille, durch die wir die Welt und uns selbst bewerten, interpretieren und beurteilen. Schon eine kleine Kritik an unserem Verhalten oder unserer Arbeit wird dann zum Beispiel als vernichtende Ablehnung aufgefasst statt als hilfreicher Hinweis.
Im Grunde fühlen wir uns nie gut genug. In unserem Denken herrschen innere kritische Stimmen vor, die uns antreiben und denen wir es nicht recht machen können, ganz gleich, wie sehr wir uns anstrengen. Durch unsere mentalen Gewohnheiten setzen wir destruktive Verhaltensweisen fort. Die einzelnen Ereignisse können dabei längst vergessen sein, insbesondere dann, wenn sich unser Herz aus Angst und Schmerz nachhaltig verschlossen hat.
Niemand möchte eine Verletzung noch einmal erleben. Die Schutzmechanismen, Ängste und Abwehrreaktionen, die uns helfen sollen, in Zukunft derartig schmerzhafte Erfahrungen zu vermeiden, sind ganz natürlich, aber sie behindern unsere innere Entwicklung. Sie hindern uns daran, zu lieben, dauerhafte, erfüllende Beziehungen zu knüpfen und unser Leben erfüllt und glücklich zu leben.
Ein Kind, das sich nachhaltig ganz oder teilweise abgelehnt fühlt, entwickelt kein gesundes Selbstwertgefühl. Jedes Kind ist in seiner Entwicklung abhängig von seiner Umgebung. Wir brauchen Nahrung, Schutz und Fürsorge, um zu überleben. Wir brauchen emotionale Wärme, um uns angenommen und geliebt zu fühlen. Wir brauchen positive Bestätigungen von außen, um zu wissen, dass wir »richtig« sind. Nur in einer solchen Umgebung können wir ein grundlegendes Vertrauen in unseren Selbstwert aufbauen.
Vor allem brauchen wir die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu werden. Dies ist die Grundlage dafür, dass wir vertrauen können. Von dieser Basis aus können wir mit Grenzen umgehen und aus Fehlern lernen, ohne in unserem Selbstwertgefühl gekränkt zu werden. Mit beständigen und liebevollen Beziehungen als Vorbilder lernen wir, wie wir mit Konflikten konstruktiv umgehen können. Und auch wenn unsere Wünsche nicht stets erfüllt werden, fühlen wir uns dennoch grundsätzlich gesehen und geachtet.
Hat uns als Kind eine solche Erfahrung gefehlt, so kann sich das Gefühl ausbreiten, nicht oder unzureichend geliebt, angenommen und beachtet worden zu sein. Wir wachsen mit einem nicht enden wollenden inneren Hunger nach Anerkennung und Liebe heran. Schon längst erwachsen, suchen wir immer noch nach der bedingungslosen Liebe, die wir damals vermissten. Doch suchen wir meist am falschen Ort. Wir erwarten die bedingungslose Liebe und Bestätigung von unserem Partner, unseren Vorgesetzten, unseren Freunden. Insgeheim hoffen wir, in ihnen die guten Väter und Mütter zu finden, die wir damals vermissten. Diese Beziehungen finden jedoch auf anderen Ebenen statt. Auf unserer Suche nach Heilung verwechseln wir die Beziehungsebenen und verstricken uns dementsprechend in unerfüllbare Ansprüche und Hoffnungen. Die Liebe eines Erwachsenen zu einem Kind lässt sich einfach nicht durch die Liebe zwischen Erwachsenen ersetzen.
Obendrein boykottieren wir die Suche nach Liebe durch abwertende Glaubenssätze bzw. die Überzeugung, wir seien es nicht wert, geliebt zu werden. Die unbewusste Ansicht, wir seien nicht richtig, wie wir sind, wir müssten erst perfekt sein, um liebenswert zu sein, stellt unlösbare Bedingungen an heutige Situationen. Entweder sind wir dann gezwungen, immer alles für jeden richtig zu machen, worin wir unweigerlich scheitern werden, oder der andere ist genötigt, alles gutzuheißen, was wir tun, weil wir sonst gekränkt reagieren. Auch das kann niemand über längere Zeit leisten und dabei ehrlich bleiben. Die Niederlage, die Zurückweisung sind vorprogrammiert. Am Ende erleben wir nur wieder die Bestätigung unserer Ansicht, dass wir doch nicht liebenswert sind. Wir drehen uns im Kreis.
Das ungeliebte innere Kind kann sich selbst nicht lieben, sich selbst nicht vertrauen. Es ist abhängig von der Zuwendung und Bestätigung anderer. Es lebt in der Angst, Fehler zu begehen, und wird darauf verzichten, eigenständige, unabhängige Wege zu gehen. Wenn wir als Erwachsene unser inneres Kind nicht kennen oder beachten, folgen wir den tiefen Impulsen des verletzten Kindes. Wir verhalten uns entsprechend angepasst oder suchen demonstrativ nach Aufmerksamkeit, um endlich gesehen zu werden. Allzu oft hat es den Kontakt zu seinen Wünschen und seiner Wahrheit verloren.
Wurden wir als Kind missbraucht, kommt hinzu, dass wir unserer eigenen Wahrnehmung nicht vertrauen. Dies ist ein schwerer Verlust. Diejenigen, die uns schützen und lieben sollten, haben uns nicht nur missachtet, sie haben direkt Gewalt ausgeübt. Die Grenzen, die wir als Kind spürten, wurden übertreten, und wir reden uns ein, das lieben zu müssen, was wir als schmerzvoll empfinden.
Viele Kinder überleben, indem sie bestimmte Erfahrungen und Emotionen aus Selbstschutz abspalten. Dadurch verliert das betreffende Kind den umfassenden Kontakt zu sich selbst, zu seinen Gefühlen und seinem Körper. So wird der Schmerz erträglich. Später bleiben die unterdrückten Gefühlsbereiche im Erwachsenen weiter ausgeklammert. Wir können unsere Gefühle, unsere Wut nicht spüren und zulassen, und unser Verhältnis zu unserem Körper ist gestört. Obendrein halten wir den Status quo für völlig normal. Es fällt uns gar nicht auf, dass etwas fehlt.
Kein Wunder also, dass sich die Störungen in unserem Leben fortsetzen. Manchmal führen sie zu schweren psychischen Leiden. Der US-amerikanische Psychotherapeut und Autor John Bradshaw nennt in seinem Buch »Das Kind in uns« Vertrauens- und Intimitätsprobleme, Süchte und Zwänge, undiszipliniertes, selbstbestrafendes Verhalten, Gewalttätigkeit, innere Leere sowie Co-Abhängigkeit, narzisstische Störungen, Wunderglaube und Denkstörungen als Folgen solcher Wunden aus der Kindheit. Die Liste ließe sich sicher ergänzen.
Nicht immer haben die Defizite aus der Kindheit solche starken Auswirkungen. Dennoch kann ein verletztes inneres Kind in uns schlummern. Es zeigt sich allein schon darin, wie schwer es vielen von uns fällt, sich selbst liebevoll und mitfühlend zu begegnen. Weitverbreitet ist ein ungeheurer Leistungsdruck und dass wir stets hohe Anforderungen und Erwartungen an uns selbst stellen. Unser Scheitern ist dabei meist schon vorprogrammiert, woraufhin sich die Spirale von Selbstabwertung, Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen weiterdreht. Manche wiederholen das Muster, bis sie unter psychosomatischen Erkrankungen oder Depressionen zusammenbrechen.
Die teilweise gravierenden und erschütternden Missbrauchserfahrungen, denen manche Kinder ausgesetzt sind, reichen nicht aus, um das weitverbreitete gesellschaftliche Phänomen mangelnder Selbstwertschätzung und fehlenden Selbstmitgefühls zu erklären. Vielmehr treffen wir auf viele Gründe, die zu diesem Mangel führen und die wir inzwischen aufgrund der weiten Verbreitung häufig für normal halten.
Oft tragen wir ein verletztes inneres Kind in uns, ohne es zu wissen. Wir bemerken gar nicht, wie verletzt es ist, denn das, was es erfahren hat, war aus der Perspektive des Kindes normal. Demzufolge fühlen sich die daraus entwickelten Gefühle und Überzeugungen zwar schmerzvoll, aber »richtig« an. Wir stellen sie nicht infrage und übersehen das verletzte innere Kind. Wir können uns aber erst um dieses innere Kind kümmern, wenn wir beginnen, es zu bemerken. Daher möchte ich Ihnen einige Beispiele aus meinen Kursen erzählen, in denen Teilnehmende ihr verletztes inneres Kind entdeckten. Die Situationen, die zu dem Mangel an Selbstliebe und Selbstmitgefühl führten, sind ganz individuell, und dennoch können sie uns helfen, nach Parallelen in unserem Leben Ausschau zu halten. Schauen wir uns an, was Teilnehmende meiner Meditationskurse dazu berichten.
Tagtäglich begegnet mir in meiner Arbeit als Meditationslehrerin mit den Seminarteilnehmern und -teilnehmerinnen deren verletztes inneres Kind. Es zeigt sich zum Beispiel in der Art, wie an die Meditation herangegangen wird. Viele Teilnehmende strengen sich in der Meditation unglaublich an. Die Mehrzahl setzt sich dabei selbst Ziele, die weder genannt werden noch erreichbar sind. Sie meinen etwa, sie müssten während der Meditation ununterbrochen ihrem Atem folgen können. Sowie sie ihr »Scheitern« bemerken, beginnen sie an sich zu zweifeln. Selbstabwertende Gedanken, Selbstvorwürfe, Scham breiten sich aus.
Im Check-in-Gespräch frage ich in solchen Situationen die Menschen oft, ob sie diese Art des strengen Umgangs mit sich selbst auch in ihrem Alltag erleben. Bisher wurde die Frage immer bejaht. Sie erzählen, dass sie diese Strenge, dieses Sich-antreiben schon seit ihrer Kindheit gut kennen. Ihnen wird in der Meditation bewusst, wie mühevoll ihr Leben durch diese Härte sich selbst gegenüber ist.
Die Liebende-Güte-Meditation offenbart den Mangel an Selbstliebe besonders deutlich. Dabei geht es darum, eine grundlegend wohlwollende Haltung zu sich selbst wie auch anderen gegenüber zu entwickeln. Ungefähr die Hälfte aller Teilnehmenden begegnet dabei großen inneren Widerständen, wenn sie das Wohlwollen auf sich selbst richten sollen. Statt Liebe und Mitgefühl empfinden sie die Wucht ihrer Selbstablehnung und der Härte gegen sich selbst. Innere Stimmen verwehren ihnen Selbstliebe und Selbstmitgefühl und fordern Leistung und Optimierung; sie kritisieren und beschimpfen. Nicht selten berichten die Meditierenden, dass sie in den Vorwürfen sogar die Stimmen ihrer Eltern hören können.
Dabei wuchsen längst nicht alle diese Teilnehmer und Teilnehmerinnen in Familien auf, in denen schlimme Verhältnisse vorherrschten. Die Geschichten, die die Menschen erzählen, klingen vielmehr sehr normal.
Letzten Endes läuft es immer darauf hinaus, dass die Erfahrung fehlt, als menschliches Wesen, so wie wir sind, liebenswert zu sein. Diese Erfahrung brauchen wir, wie gesagt, in unserer frühen Kindheit. Daraus bildet sich das Urvertrauen in unseren Selbstwert, das durch kein Versagen, keine Enttäuschung und keine Ablehnung erschüttert werden kann.