Dimensionen der Zeit
Die Entschleunigung unseres Lebens
Herausgegeben von Ernst Peter Fischer und Klaus Wiegandt
Fischer e-books
Ernst Peter Fischer, Physiker und Biologe und einer der bekanntesten Naturwissenschaftler Deutschlands, ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher, u.a. von dem Bestseller »Die andere Bildung«.
Klaus Wiegandt ist Stifter und Vorstand des »Forums für Verantwortung«, der vorliegende Band geht aus dem 10. Kolloquium der Stiftung hervor.
Zuvor erschienen: ›Evolution. Geschichte und Zukunft des Lebens‹, ›Mensch und Kosmos. Unser Bild des Universums‹, ›Die kulturellen Werte Europas‹, ›Die Zukunft der Erde. Was verträgt unser Planet noch?‹, ›Säkularisierung und die Weltreligionen‹, ›Die Ursprünge der modernen Welt‹, ›Die Anfänge des Christentums‹, ›Evolution und Kultur des Menschen‹ und ›Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung‹.
Umschlaggestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Duncan Walker/Getty Images (Kreuzgang) und Archiv Bürosüd° (Grafik)
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Graphiken: Peter Palm, Berlin
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401427-2
Nachschrift eines frei gehaltenen Vortrages in Otzenhausen
Transkript eines frei gehaltenen Vortrags in Otzenhausen
Aus: Bernhard von Clairvaux. Gotteserfahrung und Weg in die Welt. Herausgegeben von Bernardin Schellenberger. Walter Verlag, Olten, 1982).
Transskript eines in Otzenhausen frei gehaltenen Vortrags
Pierre Nora, »L’ère de la commémoration«, in: Ders. (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 3, Les France, 3. Teil, De l’archive à l’emblème, Paris 1992, S.975–1012, (Deutsche Übersetzung: »Das Zeitalter des Gedenkens«, in: Pierre Nora (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S.543–575).
Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.
Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925 (Deutsche Übersetzung: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M. 2006); La mémoire collective, 1950; (Deutsche Übersetzung: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M.1991).
Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, Stuttgart 2005.
Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation? Conférence faite en Sorbonne le 11 mars 1882, Paris 1882, S.29. (Deutsche Übersetzung, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Mit einem Essay von Walter Euchner, Hamburg 1996).
Henry Rousso, La hantise du passé, Paris 1998, S.38.
Eric Hobsbawm, The Age of Extremes: The short twentieth century, 1914–1991, London 1994. (Deutsche Übersetzung: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995).
Aleida Assmann, »27. Januar 1945: Genese und Geltung eines neuen Gedenktags«, in: Etienne François und Uwe Puschner (Hg.), Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S.319–333, Zitat S.322.
Stefan Troebst, »›Gedächtnis und Gewissen Europas?‹ Die Geschichtspolitik der Europäischen Union seit der Osterweiterung«, in: Etienne François, Kornelia Konczal, Robert Traba und Stefan Troebst (Hg.), Strategien der Geschichtspolitik in Europa seit 1989: Deutschland, Frankreich und Polen im Vergleich, Göttingen 2012, S. XXX. Vgl. auch: Patrick Garcia, »Vers une politique mémorielle européenne? L’évolution du statut de l’histoire dans le discours du Conseil de l’Europe«, in: Robert Frank, Hartmut Kaelble, Marie-Françoise Lévy, Luisa Passerini (eds./dir.), Building a European Public Sphere. From 1950s to the Present – Un espace public européen en construction. Des années 1950 à nos jours, Brüssel 2010, S.179–201.
Maryline Crivello, » La construction d’un espace culturel européen. L’évocation de l’épopée napoléonienne «, in:Building a European Public Sphere (wie Anm.9), S.143–159.
Ulrike Jureit, »Opferidentifikation und Erlösungshoffnung:Beobachtungen im erinnerungspolitischen Rampenlicht«, in: Ulrike Jureit und Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010, S.17–103 (Zitate S.23 und 52).
Jean-Michel Chaumont, La concurrence des victimes:génocide, identité, reconnaissance, Paris 1997 (Deutsche Übersetzung: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001).
Emmanuel Droit, »Die Shoah: Von einem westeuropäischen zu einem transeuropäischen Erinnerungsort?«, in: Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt/M. 2009, S.257–266.
Claus Leggewie (zusammen mit Anne Lang), Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.
Dan Diner (Hg), Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1988.
Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004; Tony Judt, Postwar:A History of Europe since 1945, London 2005 (Deutsche Übersetzung: Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006).
François Furet, Le passé d’une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle, Paris 1995, S.808 (Deutsche Übersetzung:Das Ende der Illusion. Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996).
Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme (wie Anm.7), S.17.
Zitiert nach François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003, S.72.
François-René de Chateaubriand, Mémoires d’outre-tombe, Paris 1951 (Bibliothèque de la Pléiade), II, S.936.
Zitiert nach François Hartog (wie Anm.19), S.92. Der eine Generation später geborene französische Historiker Jules Michelet (1798–1874) stellte gleichermaßen fest: »Eine der dramatischsten und an wenigsten beobachteten Erscheinungen unserer Zeit liegt darin, dass das Tempo der Zeit ganz anders geworden ist. Es hat sich auf eine sonderliche Art und Weise beschleunigt, und zwar in doppelter Hinsicht: im Abschnitt eines einzigen Menschenlebens haben wir zwei Revolutionen erlebt: eine territoriale und eine industrielle.« Zitiert nach François Hartog, S.137.
»Nous autres, civilisations, savons que nous sommes mortelles«; »Nous entrons dans l’avenir à reculons.« Paul Valéry, Werke (Jürgen Schmidt-Radefeldt Hg.), Bd. 7, Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt/M. 1995.
Lucien Febvre, »Face au Vent, Manifeste des Annales Nouvelles«, in:Combats pour l’histoire, Paris 1992, S.35 und 40.
Zitiert nach François Hartog, Régimes d’historicité (wie Anm.19), S.15. Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I Texte 1954–1964, Hg. von Ursula Ludz, München 1994 (Originalfassung: Between Past and Future1961, erweitert 1968).
Christian Meier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, S.67.
Christian Meier, Das Gebot zu vergessen (wie Anm.25), S.12. Yosef Hayim Yershalmi, Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, Washington 1982.
François Hartog, Régimes d’historicité (wie Anm.19), S.218.
Pierre Nora, »Das Zeitalter des Gedenkens« (wie Anm.1), S.575.
Was ich durchaus könnte. Jeder Traum und erst recht jede bewusste geistige Tätigkeit ist an die innere Widerständigkeit des Leibes gebunden, dessen Erfahrung selbst wieder an die Widerstände gebunden ist, denen er als ein dynamisch bewegter Körper unter dynamisch bewegten Körpern unablässig ausgesetzt ist.
Dazu: Arnold Gehlen, Der Mensch, Wiebelsheim 10. Aufl. 2009.
Mit Hilfe des Wissens hat die Natur schon eine Verkürzung evolutionärer Effekte erzielt, die jene Beschleunigung vorwegnimmt, die wir heute von der elektronischen Informationsverarbeitung erwarten.
Der Mensch ist das einzige Wesen, das auf der Basis des Wissens aus Erfahrungen lernen kann, die es noch gar nicht gemacht hat. Er kann nicht nur individuell erworbenes Wissen situativ weitergeben, sondern er kann Schlussfolgerungen ziehen, Erwartungen für die Zukunft formulieren und daraus wiederum etwas für sein eigenes Verhalten entnehmen. Das zeigt, wie (im Vergleich mit den Tieren, die nur in den seltensten Fällen eigene Erfahrungen von sich aus weitergeben können) der Mensch sich schon in seiner intellektuellen Grundausstattung individualisiert. Also verweist auch das hochindividualisierte Lernen des Menschen auf sein Selbstbewusstsein, das wiederum den erlebten Augenblick benötigt, um sich über das vorgestellte Ganze der Zeit zu erstrecken.
Nur das Wissen lässt uns befürchten, dass die Demokratie nicht für Entscheidungen geeignet ist, die einen mehrheitlichen Verzicht, so notwendig er auch sei, mit sich bringen. Sie kann den Verzicht nur als Tatsache erleiden, wenn es zu spät ist, nicht aber vorab die einschneidenden Maßnahmen treffen. Ist Demokratie nur unter Wachstumsbedingungen tauglich?
Vgl. Jürgen Habermas, Interview mit Gad Freudenthal (1977), in: Kleine politische Schriften I – IV, Frankfurt a.M. 1985.
Jürgen Habermas, Einleitung zu: Die geistige Situation der Zeit, Frankfurt a.M. 1979.
Ich erinnere an Luhmann, Habermas, Bourdieu und Dahrendorf.
Beispiel: Jürgen Habermas über die Mauer zwischen Hamburg und Frankfurt, die 1979 so trennend gewesen sein soll wie die Mauer in Berlin. (Einleitung zu: Die geistige Situation der Zeit, Frankfurt a.M. 1979).
Immanuel Kant, Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie, in: Akademie-Ausgabe, Bd. 29,1,1, S.27.
Hier bestehen Parallelen zum Einsatz von Simulationen als Erkenntnisinstrument in den Wissenschaften. Mit ihrer Hilfe werden zunächst Daten generiert, die dann ausgewertet werden. Der Status der Empirie verändert sich hier. Die Indexikalität der Empirie bezieht sich nicht mehr auf die Daten, sondern auf die zugrunde gelegten Modelle. Vgl. dazu auch Gramelsberger (2010).
Vgl. zur Gestaltung von Innovationssystemen u.a. Weissenberger-Eibl (2005); vgl. Weissenberger-Eibl/Koch (2007).
Vgl. zu Methoden der Zukunftsforschung u.a. Weissenberger-Eibl/Joachim (2008); vgl. Weissenberger-Eibl/Speith (2008); vgl. Bierwisch, A./Schirrmeister, E./Weissenberger-Eibl, M. (2010); vgl. Weissenberger-Eibl, M./Radicke, J./Joachim, K. (2010), vgl. Weissenberger-Eibl (2007).
Eine derartige Feedbackschleife, die die Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit der Sozialforschung hervorhebt und als Strukturmerkmal nutzt, ist vielen klassischen Ansätzen der Sozialforschung fremd. Ein Verfahren, das explizit davon Gebrauch macht, ist beispielsweise die »kommunikative Validierung«. Vgl. u.a. Klüver (1979).
Vgl. zu Roadmaps u.a. Bange, K./Weissenberger-Eibl, M. (2010).
Zum Verhältnis von Spuren und Verweisen in den [Geschichts-]Wissenschaften siehe den klassischen Text Ginzburg (1995).
Vgl. dazu Ziegaus 2009: 261–289.
Zu den folgenden Ausführungen siehe Cuhls/Ganz/Warnke 2009: 99–116.
Siehe z.B. Diener and Oishi (2000). Kahneman und Ris (2005) machen noch eine andere Unterscheidung, und zwar zwischen erlebtem Wohlbefinden (experienced well-being) und evaluiertem Wohlbefinden (evaluated well-being).
Davis et al. (2001).
Inglehart (2000).
Siehe Frey and Stutzer (2002a); Easterlin (2001); Clark and Oswald (2002).
Ausführlich beschrieben ist diese Tatsache in Blanchflower and Oswald (2004).
Siehe dazu Diener et al. (2000).
Im Internet zu finden unter www.worldvaluessurvey.com. Siehe dazu auch Griffith (2005)
Quelle: Inglehart (2000)
Siehe Veenhoeven (2000, in Diener and Suh) zu diesem Thema. Der Autor kommt allerdings zum Schluss, dass das unterschiedliche Glücksverständnis zwischen den Kulturen keine große Rolle spielt.
Beschrieben sind diese Ergebnisse in Blanchflower and Oswald (2004); Diener and Suh (1997); Diener and Oishi (2000); Diener and Biswas-Diener (2002); Easterlin (1995); Easterlin and Angelescu (2009); Kenny (1999).
Siehe Layard (2005).
Easterlin (2001).
Blanchflower and Oswald (2004).
Siehe etwa Ahuvia and Friedman (1998); Easterlin (1995, 2001); Diener and Biswas-Diener (2002); Frey and Stutzer (2002b).
Ausführlich untersucht wurden diese Daten in Easterlin (2001).
Diese Zuweisung von numerischen Werten zu den einzelnen Zuständen ist allerdings methodisch nicht ganz sauber, denn in Wirklichkeit wandelt man damit eine ordinale Größe (die verschiedenen Glückszustände) in eine kardinale Größe (die numerischen Werte) um. Man kann nicht sagen, dass jemand, der sehr glücklich ist, genau doppelt so glücklich ist, wie jemand, der einigermaßen glücklich ist, doch das wird mit den numerischen Werten suggeriert.
Siehe Di Tella et al. (1999).
Siehe Bundesamt für Statistik (2002).
Siehe dazu Binswanger (2006a, 2006b), wo diese Tretmühlen ausführlich beschrieben sind.
www.eia.gov und www.jodidata.org; Interessierte können sich unter The Oil Drum über die anhaltende Debatte zur Entwicklung der Ölförderung informieren – www.theoildrum.com; etwa Stichwort The EIA – JODI Divergence.
Ernst Peter Fischer und Klaus Wiegandt
Vom 8. bis zum 13. April 2011 fand in der Europäischen Akademie Otzenhausen (Saarland) das mittlerweile zehnte Kolloquium der im Jahre 2000 gegründeten Stiftung »Forum für Verantwortung« statt. Diesmal stand das menschenmögliche Verständnis von Zeit im Mittelpunkt und unsere Art und Weise, mit dieser geheimnisvoll bleibenden Größe denkend und handelnd umzugehen. Zwar wirkt die Zeit auf den ersten – physikalisch ausgerichteten – Blick nicht besonders kompliziert, da sie zum einen nur in eine Richtung – nämlich nach vorne in die Zukunft hinein – geht und da sie zum zweiten sehr einfach zu definieren ist, nämlich so, wie Albert Einstein es getan hat, als er festlegte: Zeit ist das, was eine Uhr anzeigt.
Doch schon der zweite Blick offenbart größere Schwierigkeiten für denjenigen, der zum Beispiel wissen möchte, wie zum einen die genannte Richtung der Zeit zustande kommt und wie sich zum anderen das, was verschiedene Uhren an verschiedenen Orten messen, miteinander vergleichen lässt. Es braucht schließlich Zeit, um die Messung von Zeit mitzuteilen, und so wird es unmöglich, den im Alltag vertrauten Begriff von Gleichzeitigkeit in der Wissenschaft problemlos zu gebrauchen.
Die Rolle der Zeit für den Menschen geht aber weit über die Verwendung als physikalischer Parameter hinaus. Wir leben immer zu einer bestimmten Zeit – morgens, mittags, abends und nachts –, und die Evolution hat das Leben dafür mit Biorhythmen ausgestattet, die in unserer Spezies sehr individuell ausfallen und sich im Laufe der Lebenszeit ändern können. Unabhängig davon haben Menschen in früherer Zeit offenbar im Rhythmus und im Einklang mit der Natur gelebt, während sich in den modernen Gesellschaften an dieser Stelle ein fundamentaler Wandel vollzogen hat. Wir leben heute, wie man in knappen Worten sagen kann, weniger nach dem Rhythmus der Natur und unseren Biorhythmen, sondern mehr nach dem Takt der vielen Uhren, die unseren Tagesablauf disziplinieren – vom Wecker am Morgen bis zum Beginn der Abendnachrichten, mit vielen pünktlich einzuhaltenden Terminen und strikt festgelegten Abläufen wie etwa den Abfahrtszeiten von Zügen.
Mit den Uhren als Taktgebern ist unser Leben im Laufe der Geschichte nachweislich und messbar schneller geworden. Wir erfahren seit langem mehrere Formen von Beschleunigungen, bei denen sich unter anderem die technische Variante und die des sozialen Wandels unterscheiden lassen. Diese führen dann insgesamt zu einem sich dauernd erhöhenden Tempo des Lebens, was wiederum Paradoxien der Zeiterfahrung mit sich bringen kann. So vergeht die Zeit in der Wahrnehmung jedes Einzelnen immer schneller. Sie wird für ihn zunehmend knapper, weil wir einerseits im »Hamsterrad« immer schneller treten müssen, um zumindest Schritt zu halten in der Gesellschaft, während wir darüber hinaus versuchen, unsere Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit zu maximieren. Alexander von Humboldt brauchte noch Monate, um nach Südamerika zu reisen, und er ist dann auch viele Wochen an jedem einzelnen der Orte geblieben, die er aufsuchen wollte. Heute fliegen wir spontan mit günstigen Last-Minute-Angeboten für ein Wochenende nach New York, Paris oder Rom. Was hierbei für das menschliche Erleben herauskommt, das hat zum Beispiel der Philosoph Hermann Lübbe als »Gegenwartsschrumpfung« auf den Punkt gebracht.
Diese Analyse legt den Gedanken nahe, dass es sich lohnt, die Langsamkeit wieder zu entdecken und Entschleunigung zu üben. Man sollte sich die Zeit lassen, die man zur Verfügung hat und die einem selbst gehört. Nur – wie kann dies einzelnen Menschen und ganzen Gesellschaften vermittelt und so nahegebracht werden, dass sie danach handeln und ihr Leben ändern? Sind die Zukunftsfähigkeit einer modernen Gesellschaft und das Konzept der Entschleunigung überhaupt kompatibel? Passen insbesondere der Kapitalismus und das Innehalten zusammen?
Diese und eine Fülle weiterer Fragen wurden von den Autoren dieses Bandes interdisziplinär erörtert und mit einem engagierten Zuhörerkreis diskutiert. Dabei wurde vor allem deutlich, dass wir einerseits für eine Entschleunigung sowohl unserer Lebens- und Konsumstile als auch unserer Produktionsprozesse eine neue Vision von Lebensqualität brauchen. Andererseits können wir bestimmte gesellschaftliche Prozesse zu der »Großen Transformation« in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung gar nicht umfassend genug beschleunigen, um insbesondere bedrohliche Entwicklungen wie den Klimawandel, die Vernichtung der Regenwälder und das Sterben der Arten aufzuhalten.
Die Diskussionsbeiträge sind zum Teil in die vorliegende Publikation eingeflossen; die Autoren haben zahlreiche Anregungen aus der Diskussion aufgenommen und ihre ursprünglichen Vortragsmanuskripte für die Drucklegung überarbeitet.
Die Herausgeber danken Ulrike Holler vom S. Fischer Verlag für die hervorragende Kooperation und ihre Zuverlässigkeit bei der Umsetzung der Manuskripte. Wir danken Annette Maas für ihren unermüdlichen Einsatz zur Organisation und Durchführung der Tagung in Otzenhausen.
Seeheim-Malchen und Heidelberg, im Herbst 2011
Karlheinz Geißler
Vom Rhythmus zum Takt
Ohne Zeit geht gar nichts. Doch was ist das eigentlich, »Zeit«? Klar, Zeit ist Zeit, wer macht sich schon viele Gedanken darüber, und wer hat überhaupt Zeit dazu? Seit mehr als 2500 Jahren denken die Menschen darüber nach, und bis heute hat man keine Antwort gefunden, mit der alle leben könnten. Es sei denn, man gibt sich mit der inhaltlich etwas dürftigen Auskunft der Germanisten zufrieden, die sagen, dass die »Zeit« ein einsilbiges Wort sei. Mit der Frage: »Was ist Zeit?« lassen sich die klügsten Menschen in Verlegenheit bringen. Wir wissen alle, was eine Uhr ist, bekannt ist uns auch, dass sie ein Zeitmessgerät ist, was sie da aber eigentlich misst, das ist so wenig fassbar wie der Wind.
Die Zeit ist für die Menschen, was das Wasser für die Fische ist. Sie schwimmen in ihr, ohne sich Gedanken zu machen, in was sie sich da eigentlich bewegen. Der Mensch jedoch besitzt – das unterscheidet ihn vom Fisch – die Fähigkeit, sich über jenes Element, in dem er sich bewegt, Gedanken zu machen. Ein Unterschied, der Robert Walser zu der poetischen Formulierung inspirierte:
»Die Zeit streicht so gedankenlos dahin, nur der Mensch macht sich Gedanken.«
Warum tut er es, und warum vermeidet er es aber auch gerne? Die Antwort: Das Nachdenken über »Zeit« lockert den Boden, auf dem wir stehen, auf. Es kann das Leben verändern, wie, ist ungewiss. Letztlich jedoch lohnt es sich, der Selbstverständlichkeit »Zeit«, der wir das Leben zu verdanken haben, die es uns aber auch wieder nimmt, zumindest hin und wieder mal gedanklich nachzuspüren.
Genau gesehen ist die Suche nach der Zeit – in dieser Hinsicht gleicht sie der Suche der Romantiker nach der »blauen Blume« – nichts anderes als die Suche nach dem Glück, die Suche nach einem guten und zeitsatten Leben in einer friedvollen Welt. Genau genommen ist es also nicht die Zeit, nach der wir Ausschau halten, wenn wir die Zeit suchen, wir suchen uns selbst. Das sah auch Novalis nicht anders: »Wohin gehen wir?« fragt er. »Immer nach Hause«, hieß seine Antwort.
Der Mensch hat keine treuere Freundin als die Zeit. Sie begleitet ihn durch sein gesamtes Dasein, vom ersten bis zum letzten Atemzug. Begreifbar, verständlich und in Umrissen sichtbar wird »Zeit« jedoch erst in dem Moment, in dem man sich, aus welchen Gründen auch immer, Gedanken über sie macht. Tut man es, dann verliert man die Uhr aus dem Auge und schließlich auch aus dem Sinn. Ein Beweis dafür, dass die Uhr etwas ganz anderes ist als die Zeit.
Der Mensch ist unter den Lebewesen einzigartig. Nur Menschen können Zeit sparen. Kein anderes Lebewesen ist dazu in der Lage. Kurzum, würden Affen Zeit sparen, dann wären sie Menschen. Schaut man sich jedoch an, was bei den vielen Zeitsparanstrengungen der Menschen so herauskommt, dann wundert es schon ein wenig, dass sie sich in dieser Hinsicht so stark verausgaben und darüber hinaus auch noch so viel Zeit dafür aufwenden. Die langjährigen Erfahrungen mit dem Zeitsparen nämlich lehren, dass der Zeitdruck in dem Maße weiter wächst, wie Zeit gespart wird. Goethe hatte die Widersprüche des Zeitsparens bereits erkannt und warnte vor falschen Erwartungen: »Wir wollen alle Tage sparen, und brauchen alle Tage mehr.« Die Warnung ist verpufft. Im Gegenteil, danach fing das Zeitsparen erst richtig an. Nicht auszuschließen ist es, dass die Menschen mehr Zeit und weniger Stress hätten, wenn sie aufs Zeitsparen verzichten, es zumindest nicht so toll treiben würden. Zumal sie sich ja auch sicher sein können, dass täglich neue Zeit nachkommt, und zwar in exakt der Menge, die Tag für Tag vergeht. Nicht weniger erstaunlich sind der Energieaufwand und die Leidenschaft, die von den Menschen aufgebracht werden, um die Zeit, die sie dadurch glauben »gewonnen« zu haben, anschließend wieder zu »vertreiben«.
Warum aber tun sie das sich und der Zeit an, wo die Zeit es doch so gut mit ihnen meint? Treue Freundinnen, und die »Zeit« ist deren treueste, die lädt man doch zu sich ein, verwöhnt sie und tut alles, um sie näher kennen-, vielleicht sogar lieben zu lernen. Was aber tun die Menschen? Ohne Rücksicht schubsen sie die Zeit herum, wie das die Post mit den Weihnachtspaketen macht; oder sie lassen die Zeit, als handle es sich um etwas Überflüssiges oder gar Abfall, irgendwo liegen; andere wiederum verlieren die Zeit wie Eilige ihr Kleingeld aus ihren Jacken- und Hosentaschen, mal stopfen sie sie bis zum Übelwerden voll, während andere mit der Zeit umgehen, als benehme sie sich wie ein Hund, der Anstalten macht, an die Haustür zu pinkeln, und vertreiben sie mit viel Getöse. Besonders gerne aber managen, organisieren und verplanen die Menschen die Zeit. Doch allzu viel Spass scheint ihnen das nicht zu machen, denn zuweilen kommen sie dabei so in Rage, dass sie versuchen, die Zeit totzuschlagen, was ihnen durch die Tatsache erleichtert wird, für dieses mörderische Tun von der Justiz nicht verfolgt zu werden. Und dann gibt es noch Personen, die der Zeit zu entfliehen versuchen. Sie müssen die Vergeblichkeit ihres Handels relativ rasch einsehen. Sie sind schnell am Ende, denn der Preis dafür ist nichts anderes als der Tod. Zeit ist nun mal eine Sache von Leben und Tod. So bleibt nur eins: sie zu nehmen, wie sie ist. Tut man das, stellt man sogleich fest, dass sie erheblich abwechslungsreicher, bunter und viel freundlicher zu den Menschen ist, als die zu ihr.
Nochmals die Frage: Was ist das, die Zeit? Menschen können bekanntlich andere Menschen auf den Mond schießen, doch die Frage, was »Zeit« ist, die können sie bis heute nicht allgemeinverbindlich beantworten. Antworten gibt es zwar genug – annähernd jeder und jede hat eine eigene –, keiner aber hat eine, die sämtliche Fragenden zufriedenstellen könnte. Es gelang bisher niemandem, zu den Wurzeln des Zeitbaumes der Erkenntnis vorzudringen. Ein guter Grund, sich mit der Auskunft zufriedenzugeben, die der Mathematiker Johann Heinrich Lambert am 13. Oktober 1770 in einem Brief an Immanuel Kant, der sich zu dieser Zeit gerade über die Tiefen und die Untiefen der »Zeit« Gedanken machte, gegeben hat:
»Die beste Definition wird wohl immer die sein, dass Zeit Zeit ist.«
Eine Auskunft, der man nur schwerlich widersprechen kann. Aber nicht, weil sie so aussagekräftig und klug, sondern weil sie so trivial und zirkulär ist. Lambert hätte Kant genauso gut schreiben können, »Zeit« sei das, was wir haben, während wir tun, was wir machen. Ein wenig schlauer – mit der Betonung auf »wenig« – fühlen wir uns, wenn wir uns die Erklärungsversuche der Vertreter der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ansehen: Die Physiker, in diesem Falle Albert Einstein, halten die Zeit für »eine hartnäckige Illusion.« Sie sind damit nicht alleine, da bereits Leo Tolstoi von »Zeit« als der »Illusion des Lebens« sprach. Existenz-Philosophen, Martin Heidegger besonders, sprechen von der Zeit als dem »Sein zum Tode«. Die Theologen sehen in der Zeit »den Anlauf zur Ewigkeit«, die Psychologen ein »Empfinden ohne Sinnesorgan«, die Sozialwissenschaftler ein »Ordnungsmittel des Vergänglichen«. Die Ökonomen behaupten, »Zeit ist Geld«, und erklären sie so zu einem wichtigen »Rohstoff«. Politiker sehen in der Zeit nicht viel mehr als die Dauer einer Legislaturperiode. Jede Wissenschaftsdisziplin hat ihre eigene Definition. Es müssen daher schon Personen mit einer gewissen Neigung zur Selbstüberschätzung sein, die sich an den Versuch machen, eine allgemeingültige Antwort auf die Frage: »Was ist Zeit?« zu finden.
»Zeit« – das ist und bleibt aller Voraussicht nach auch in nächster Zukunft ein äußerst verwickeltes Rätsel. Nichts anderes hat Thomas Mann im »Zauberberg« behauptet, als er die Frage stellte: »Was ist die Zeit?« Seine Antwort: »Ein Geheimnis – wesenlos und allmächtig.« Daran wird sich auch nichts ändern, zumindest so lange nicht, wie auch in Zukunft all denen, die sich auf den Weg begeben, um Genaueres über die Zeit herauszubekommen, bei ihren Expeditionen ins Unbekannte unterwegs weiterhin der Proviant ausgeht.
»Zeit ist Zeit.« Sie lässt sich nicht auf etwas anderes zurückführen. Es existiert nichts »hinter« ihr. Sind wir also mit der Auskunft Adalbert Stifters zufrieden, dass »kein Sterblicher noch ausgesagt hat, was die Zeit ist, und kein Sterblicher weiß, was die Zeit ist«. Selbst der große Zeitdenker Martin Heidegger musste das einsehen. Der Wochenzeitung »DIE ZEIT« (!) gegenüber hat er seine Ratlosigkeit im Hinblick auf die Frage, was Zeit ist, offen eingestanden:
»Man könnte meinen, der Verfasser von ›Sein und Zeit‹ müsste dies wissen. Er weiß es aber nicht, so dass er heute noch fragt.«
Tröstende Philosophenworte, die es ratsam erscheinen lassen, sich vorerst einmal mit dem, was man über »Zeit« weiß, zufriedenzugeben und im Zustand partieller Unaufgeklärtheit fröhlich weiterzuleben.
Wenn wir über das Wesen der Zeit auch nur mit Halbwissen aufwarten können, so wissen wir zumindest, was Zeit nicht ist. Sie ist, obgleich wir mehr denn je von ihr und über sie sprechen, kein Ding, kein Gegenstand. Sie ist nicht vergleichbar mit einem Regenschirm, den man irgendwo hat stehen- oder liegenlassen, wie das Spitzensportler gerne behaupten. Sie läuft auch nicht, wie Fußballfans, deren Mannschaft nach Toren zurückliegt, stets kurz vor dem Abpfiff unterstellen, den Spielern davon. Liegenlassen kann man nur Regenschirme, nicht jedoch die Zeit, und weglaufen können nur die Kicker. Oder hat jemand die Zeit schon mal beim Wegrennen beobachtet?
Trotz dieser Unklarheit wissen wir relativ gut Bescheid über den Wandel des »Zeitgeistes«, den »Geist der Zeiten«, den es im Verlaufe der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir wieder einmal Zeugen – und wie immer, wenn es um Zeit geht, zugleich auch Täter und Opfer – sowohl eines Zeitenwechsels wie auch der Veränderung unseres Umgangs mit dem Zeitlichen. Es lohnt sich, um mehr über das Wesen der Zeit in Erfahrung bringen zu können, diese Veränderungen etwas genauer anzusehen.
Dabei lassen sich drei unterschiedliche »Zeit-Epochen« unterscheiden:
Die vormodernen Zeiten
Die modernen Zeiten
Die postmodernen Zeiten
Beginnen wir mit den ersten Zeiten, den Zeiten der Vormoderne.
Vorgestern, grob gerechnet vor etwa einem halben Jahrtausend, gingen die Menschen mit den letzten Sonnenstrahlen ins Bett und standen beim ersten Hahnenschrei wieder auf. Uhren waren in solch einer Welt nicht notwendig und daher auch nicht in Gebrauch. Der Lauf der Natur, die Jahreszeiten und der Gang der Sonne beschützten, bedrohten und organisierten den Gang der Menschen über ihren gesamten Lebenslauf. Man lebte zeitlos, sprach viel übers Wetter, doch niemals über Zeit, da die Zeit zu dieser Zeit nichts anderes als das Wetter war. Wie das Wetter sich änderte, so änderten sich auch die Zeiten. Bis heute spiegelt sich dieser Sachverhalt in den romanischen Sprachen darin wider, dass »Zeit« und »Wetter« in diesen ein und derselbe Begriff sind. Die Tage hatten zu dieser Zeit noch kein Datum. Es gab also keinen bezifferbaren Zeitpunkt und daher auch keinen Anlass für die Feier von Geburtstagen. Die Lebensjahre der Menschen in der Vormoderne blieben ungezählt, was sie von einigen jener Probleme entlastete, die wir heutigen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen mit dem Älterwerden haben. Karl der Große, von dem wir wissen, dass er im Jahr 800 in Rom zum Kaiser gekrönt wurde, hatte, wie auch die meisten seiner Untertanen, wahrscheinlich keine Ahnung, dass dieses Ereignis im Jahr 800 stattfand. So wie die Tage, so wurden auch die Jahre zu dieser Zeit – mit Ausnahme von einigen wenigen Klöstern – nicht gezählt. »Gezählt« wurde nach Generationen und Regentschaftsphasen.
Um etwas vom Geist dieser vormodernen, heute exotisch anmutenden Zeit zu vermitteln, erwähne ich zwei Schriftstücke, die den damaligen Zeitgeist spüren lassen. Zuerst ein Text aus einem alten Handbuch für Beichtväter, bei dem die damals herrschende Vorstellungswelt vom göttlichen Eigentum der Zeit im Detail nachempfunden werden kann. Nicht die Menschen, wie das heutzutage als selbstverständlich gilt, entschieden damals über Zeit, sondern ausschließlich der Allmächtige im Himmel. Mit Gottes Eigentum aber schachert man nicht und treibt auch keinen Handel mit ihm. Diejenigen, die das trotz aller religiösen Vorschriften taten, machten sich sündig und mussten mit dem Makel leben, als Wucherer bezeichnet und geächtet zu werden. Den Grund dafür findet man in der schlüssigen Argumentation, wie sie der folgende Text aus einer der vielen damals kursierenden Anleitungen für Beichtväter wiedergibt:
Der Wucherer leiht dem Schuldner nicht, was ihm gehört, sondern nur die Zeit, die Gott gehört. Er darf also keinen Gewinn aus dem Verleih fremden Eigentums machen. Die Wucherer sind Diebe, denn sie handeln mit der Zeit, die ihnen nicht gehört; und mit dem Eigentum eines anderen gegen den Willen des Besitzers zu handeln, ist Diebstahl. Und da sie außerdem mit nichts anderem als mit erwartetem Geld, das bedeutet mit Zeit handeln, treiben sie mit Tagen und Nächten Handel. Der Tag aber ist die Zeit der Helligkeit und die Nacht die Zeit der friedvollen Ruhe. Also handeln sie mit Licht und friedvoller Ruhe. So wäre es nicht gerecht, wenn sie das ewige Licht und den ewigen Frieden erlangten.
Aus heutiger Sicht betrachtet, ist das starker Tobak. Zumindest für die vielen, die ihr Einkommen dem Sachverhalt zu verdanken haben, dass heutzutage völlig anders mit Zeit umgegangen wird. Angestellte von Banken und Versicherungen, Vermögensberater, Finanzjongleure, Börsenspekulanten, aber auch Kleinsparer können sich glücklich schätzen, dass sich die Zeiten zwischenzeitlich geändert haben. Bevor auf diese Veränderungen im Detail eingegangen wird, soll noch das angekündigte zweite Dokument zitiert werden. Es verbot den Handwerksleuten das, was man von ihnen heute erwartet und verlangt. Es verbot ihnen, sich etwas Neues auszudenken.
In der Thorner Zunfturkunde von 1523 findet man folgende, aus heutiger Sicht sehr seltsam klingende Ermahnung:
Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken oder erfinden oder gebrauchen, sondern jeder soll aus bürgerlicher und brüderlicher Liebe seinem Nächsten folgen und sein Handwerk ohne des Nächsten Schaden treiben.
Früher nahmen die Menschen, das zeigt dieses hier zitierte zweite Dokument eindrucksvoll, ihre Zukunft als unbeeinflussbares Schicksal wahr. Sie fühlten sich den Wechselfällen des Lebens und dem Willen Gottes ausgeliefert. Was für die Menschen später dann selbstverständlich wurde, dass man sein Schicksal beeinflussen und selbst in die Hand nehmen und zwischen verschiedenen Risiken und Chancen wählen kann, das war den vormodernen Menschen unbekannt und auch undenkbar. Fortschritt und Fortschrittsdenken sind in der Geschichte ein relativ spät auftauchendes Phänomen. Als das Fortschrittsdenken sich verbreitete und den alltäglichen Umgang mit Zeit und Zukunft markant beeinflusste, hatte man die Vormoderne bereits hinter sich gelassen und war in einer ganz anderen Zeit, in der »Neuzeit« genannten neuen Zeit angekommen. In dieser Zeit suchte man die Zeit dann nicht mehr am und im Himmel, man fand sie durch den Blick auf die Zeiger der mechanisch gesteuerten Turmuhr. Heute sehen wir darin den Beginn der Zeiten der Moderne.
Die Räder-Uhr, sie wurde am Ende des Mittelalters in einem unbekannten Kloster Oberitaliens erfunden, führte zu einem fundamental neuen Zeitdenken und Zeitbewusstsein und in der Folge dann zu einem radikal veränderten Zeithandeln. Die Menschen Europas begannen, »einen eigenartigen und bislang unerhörten Wunsch zu verspüren. Sie wollten wissen, wie spät es ist« (Adolf Holl). Das war dann der Augenblick, an dem die »Zeit« zu einem Thema wurde. Von da an redete man über Zeit, nicht zuletzt, weil sie in Form großer, mechanischer Uhren an Kirchtürmen und Rathäusern sicht- und hörbar wurde. Man richtete das Zeithandeln nicht mehr nur an den Veränderungen des Wetters, denen der Natur, auch immer seltener am Lauf der Sterne und dem Stand der Sonne aus, man blickte von da an immer häufiger zu den Kirch- und Uhrtürmen, um sich am Stand der Zeiger der dort installierten Zeitmesser darüber zu informieren, was die Stunde geschlagen hat. Nicht mehr die Sterne regierten die Menschen, sie taten das jetzt mit fleißiger Unterstützung der Uhr selbst. Gott verlor die Lufthoheit über die Zeit. Er wurde »zeitlich« enteignet. Mächtige Personen, Landesherren, Fürsten, Regenten aller Art, aber auch einflussreiche Kaufleute übernahmen an seiner Stelle die Herrschaft über die Zeit und die Uhren. In dem Maße, wie der Glaube an die Kräfte im Himmel an Intensität verlor, wuchs der an die Verrechnung von Zeit in Geld. Das Privileg der Zeitgestaltung lag nicht mehr bei Gott, die Menschen nahmen es nun selbst in Anspruch. Dieser radikale Wechsel des Zeitdenkens und der Zeitwahrnehmung öffnete eine Menge neuer Verhaltensmöglichkeiten und Handlungsoptionen. Unter anderem gehörte dazu auch die Wahlmöglichkeit, zu den pünktlichen oder zu den unpünktlichen Menschen zu gehören.
Die an Kirchtürmen, Rathäusern oder eigens gebauten Uhrtürmen installierten mechanischen Uhren regelten den zeitlichen Ablauf des Tags in immer größerem Ausmaß. Es ließen sich erstmalig in der Geschichte des Alltagslebens Terminabsprachen machen, die nicht vom Wetter oder vom Sonnenstand abhängig waren. Zuerst indirekt, später dann offen und problemlos, wird das kirchliche Verbot aufgehoben, die Zeit durch Zinseinnahmen zu »verkaufen«. Die ersten Banken – Institutionen, die bekanntlich ja nichts anderes tun, als mit leerer Zeit Handel zu treiben – wurden gegründet und ebenso – auch dieses Geschäft setzt den Handel mit naturferner, abstrakter Zeit voraus – die ersten Versicherungsgesellschaften. In der Stadt, in der zur gleichen Zeit damals auch die doppelte Buchführung erfunden wurde, in der Handelsmetropole Genua, wird 1407 die erste Aktiengesellschaft der Welt aus der Taufe gehoben. Es ist die Bank des Heiligen Georg. Ab diesem Zeitpunkt hat auch das Geld einen Heiligen. Der Kapitalismus nimmt – nicht nur auf diesem Wege – religiöse Züge an und bekommt durch das Räderwerk der Uhr und deren von allen Qualitäten gereinigter Zeit seine alles entscheidende Starthilfe. Zeit wird durch das Zeit-ist-Geld-Denken zu einer knappen Ressource, mit der es fortan gilt, kalkulatorisch umzugehen. Sie ist nicht mehr länger ein Geschenk des Himmels. Spitzt man es zu, dann war es die mechanische Uhr, die den Handelskapitalismus und später dann auch die Industriegesellschaft so richtig auf Betriebstemperatur gebracht hat.
Vor etwa 250 Jahren, Wirtschaftshistoriker kennzeichnen diese Zeit als die der beginnenden industriellen Revolution, intensivierte sich die wirtschaftliche Aktivität. Die Arbeitswelt, speziell die Organisation der Arbeit, und die sozialen Verhältnisse erfuhren eine tiefgreifende Umgestaltung. Die wiederum führte zu einer breiten Entwicklung von Technologien, die vor allem der Beschleunigung der Arbeitsabläufe dienten. Maschinen übernahmen immer mehr Arbeitsprozesse, so dass die Menschen immer weniger mit und immer häufiger an Maschinen arbeiteten. Mit der Folge, dass sie sich gezwungen sahen, den taktförmigen Zeitvorgaben von Apparaturen zu gehorchen und sich ihnen unterzuordnen.
Ohne die flächendeckende Verbreitung von Uhren und ohne Erziehung zum Uhrzeitgehorsam – dafür sorgten die Schulpflicht und der Militärdienst – wäre dies alles nicht möglich gewesen. Die Uhrzeiger eroberten die Macht über das Zeitleben, sowohl im Arbeits- als auch im Privatleben. Zu Anfang geschah das noch im Stundentakt, später dann im Takt von Minuten, und heute sehen wir uns nicht selten gezwungen, im Sekundentakt zu reagieren und zu organisieren. Strebsamkeit und Pünktlichkeit wurden zu Tugenden erklärt und zogen als »Kopfnoten« in die schulische Leistungsbewertung ein. Dass der wachsende Druck zur Veruhrzeitlichung und zur Verfleißigung nicht von allen Zeitgenossen gleichermaßen euphorisch willkommen geheißen wurde, zeigt die Fabel, die Paul Scheerbart vor 100 Jahren, als die Industriegesellschaft an ihrem Höhepunkt angelangt war, eingefallen ist:
Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, dass durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe.
Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tag gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, dass eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt:
»Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, dass Ihr mich so ehren wollt! Ich muss Euch aber gestehen, dass es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich tot zu schuften!«
»Wozu denn?« schrien die Ameisen ihres Stammes – und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne – sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.
Z eitdisziplin, genauer: Uhrzeitdisziplin, galt politisch, ökonomisch, aber auch privat als der Königsweg zu mehr Güterwohlstand, höherem Einkommen und rascherem Fortschritt. Inzwischen wissen wir, dass dieser Weg erfolgreich war, dass er aber nicht ohne Opfer und problematische Folgen beschritten bzw. befahren wurde. Für ihre »Veruhrzeitlichung« haben die Menschen auch ihren Preis zahlen müssen. Der heißt vor allem Zeitnot, Hetze, innere sowie äußere Unruhe, Einsamkeit, Orientierungs- und Heimatlosigkeit. Im signifikant wichtigsten Objekt der modernen Anbetung, dem Auto, konzentrieren sich die Vor- und auch die Nachteile der epochalen Errungenschaften der Industriegesellschaft. Carl von Ossietzky, ein prominentes Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsdiktatur, hat sehr früh bereits Zweifel angemeldet, ob es sich beim Fortschritt »Auto« wirklich nur um einen handelt, der allseits begrüßenswert ist. 1926 notierte er:
Wie die Ägypter die Krokodile anbeteten, die sie fraßen, beten wir die Automobile an, die uns totfahren.
Versehen wir die revolutionären Veränderungen unserer zeitlichen Lebenswelt mit einem pauschalierenden Etikett, dann eignete sich dafür die Formel: »Vom heiligen zum eiligen Geist.« Solider formuliert lautet sie: »Von der lebensorientierten Arbeitszeit zur arbeitsorientierten Lebenszeit.« Die Folge: Das ganze Leben, nicht nur das Arbeitsleben, hat sich dem Maß und dem Takt der Uhrzeit zu unterwerfen. Dass die Menschen mit der mechanisierten Zeit der Uhr leben können, das wissen wir heute. Ob sie jedoch gut damit leben können, das ist immer noch ungewiss. Und weil es das ist, steht es immer wieder neu, auch heute wieder, zur Debatte. Nicht zuletzt ist das auch der Grund, weshalb stets neue Regeln für den Umgang mit Zeit gefunden und für verbindlich erklärt werden müssen.
Staatliche Arbeitszeitgesetze und in regelmäßigen Abständen neu auszuhandelnde Tarifverträge sind daher notwendige Folgen der Veruhrzeitlichung unseres Alltagslebens. Ergänzt werden müssen sie von mehr oder weniger formellen und informellen institutionellen und organisatorischen Regelungen. Ein originelles Beispiel dafür findet man in einer schon etwas älteren Kirchenordnung aus dem Baltikum. In ihr werden leidenschaftliche Prediger zu zeitlicher Rücksichtnahme gegenüber ihrer Gemeinde ermahnt. Sie werden gebeten, es bei ihren Predigten, was deren Dauer angeht, nicht allzu sehr zu übertreiben, »damit die Zuhörer nicht überschüttet, die Schwangeren nicht beschwert, die schlecht Gekleideten nicht frieren und die Armen ihr Essen richten können«. Ein Hinweis, der an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Die kontinuierlich wachsende Vertaktung des individuellen und des sozialen Zeithandelns vollzieht sich nicht von selbst. Auch wird sie nicht von einer mehr oder weniger unsichtbaren Hand gesteuert. Sie wurde – und das geschieht auch noch heute, nur mit anderen Methoden – von breitangelegten Erziehungs- und Umerziehungsmaßnahmen flankiert. Die pädagogischen Grundlagen dafür legte unter anderem der in Halle an der Saale wirkende Theologe August Hermann Francke. In seiner Glauchauer Neujahrspredigt von 1713, der er den programmatischen Titel: »Vom rechten Gebrauch der Zeit« verliehen hatte, verkündete er ein umfassendes Programm zur Zeiterziehung. Sie gipfelt in der Forderung, aller lebenspraktische Umgang mit Zeit müsse sich am Gang der Uhrzeiger ausrichten. Die Aufforderung Luthers: »Schicket Euch in die Zeit« radikalisierte er zu der Verpflichtung: »Erkauffet die Zeit.« Eine Formel, die nur wenig später vom Amerikaner Benjamin Franklin in das bekannte Schlagwort: »Time is money« umformuliert wurde. Mit solchen und ähnlichen auf die Veruhrzeitlichung der Menschen zielenden Anweisungen wurde das Programm zur Verfleißigung der Bevölkerung zu einem umfassenden pädagogischen Programm. In der Praxis schlug sich dieses dann in detailliert durchorganisierten schulischen Zeitordnungen und in eng terminierten Unterrichtsplänen nieder. Sie nötigen die Schüler und die Schülerinnen bis heute, in aller Frühe, ohne Rücksichtnahme auf ihre Lernfähigkeit zu dieser Zeit, ihr Bett zu verlassen, um sich auf den Schulweg zu machen. Vergessen aber sollten wir nicht, dass der herrschende Güterwohlstand, auf den wir nicht verzichten wollen, ohne solche Erziehungsprogramme nur schwerlich erreichbar gewesen wäre.
Die Beherrschung möglichst aller Bedingungen menschlichen Daseins – wir nennen dieses Programm des In-den-Griff-bekommens Fortschritt – hat uns mannigfaltige neue Denk- und Handlungsperspektiven eröffnet. Letztlich haben wir unseren Güterwohlstand diesem Perspektivenwechsel zu verdanken – aber auch unseren Zeitnotstand. Die Ablösung der Naturrhythmen durch den menschengemachten mechanischen Takt hat uns zu neuen Horizonten der Freiheit geführt – dies aber nur um den Preis wachsender funktionaler Abhängigkeiten. Wir sind heute weitestgehend unabhängig von den Folgen von Naturgewalten, haben die äußere und auch die innere, die menschliche Natur zum großen Teil im Griff, abhängiger denn je sind wir jedoch vom Ölpreis und den Kursschwankungen auf den Finanzmärkten. Unsere Erlösungshoffnungen richten sich nicht mehr auf die Ewigkeit, sondern auf die rechtzeitige Auszahlung unserer Lebensversicherung. So gesehen ist die Moderne eine Epoche zunehmender Unbescheidenheit, wachsender Demutsverweigerung und steigender Maßlosigkeit. Sie ist im Guten wie im Schlechten in ihren Erfolgen wie in ihren Misserfolgen von der größenwahnsinnigen Unterstellung gezeichnet, man könne, nur weil man an den Uhrzeigern drehen kann, dies ebenso mit den Zeiten tun.
Eines Tages aber, der kalendarische Wechsel zu einem neuen Jahrtausend war absehbar, erkannte man, dass »Flexibilisierung« der richtige Name für jenes Zeitverhalten ist, woran es den Menschen unserer Gesellschaft noch fehlt. Dies war, wie wir heute feststellen können, der Anfang vom Ende der mehr als 500-jährigen Geschichte der an der mechanischen Uhr ausgerichteten modernen Zeitordnung. Das, was jetzt beginnt, nennen wir die postmodernen Zeiten.
Heute nun stehen wir erneut vor einem epochalen Wandel des Zeitbewusstseins, der Zeitwahrnehmung und des Zeithandels. Auch diesmal verändert er die Welt und die Zeit, aber nicht ganz so dramatisch und folgenschwer wie vor 500 Jahren, als die Zeit der Uhr die Zeiten der Natur als Zeitgeber ablöste. Man muss sich nur aufmerksam umsehen, um eine ganze Reihe von Hinweisen zu finden, dass das kürzlich noch unumschränkt herrschende, am Verlauf der Zeiger ausgerichtete Zeitverständnis seit der Jahrtausendwende ins Wanken gerät. Folgende Indizien sprechen für diesen Sachverhalt:
Die ehemals an jeder Straßenecke anzutreffenden Uhren verschwinden aus dem öffentlichen Raum oder werden, sind sie defekt, nicht mehr repariert.
Die Transportgeschwindigkeit unserer wichtigsten Güter, das sind die Informationen, ist bei Lichtgeschwindigkeit und damit am Ende der Beschleunigungsmöglichkeiten durch Schnelligkeit angekommen.
Es sind nicht mehr die Pünktlichen, die im Berufsleben Karriere machen, es sind die Flexiblen, die mit Beförderung und Einkommensgewinnen rechnen können.
All dies sind Beobachtungen, die auf eine Entwicklung hindeuten, in der die Uhrzeit ihre Leuchtturmfunktion als zeitliches Orientierungsmittel im Alltagsleben verliert. Diejenigen, die die Uhr für zeitlos hielten, haben sich getäuscht. Das zeitpolitische Monopol der Uhrzeit rechtfertigte sich ja maßgeblich durch ihren Beitrag bei der Beschleunigung der Lebens-, insbesondere aber der Arbeitsverhältnisse. Zwar haben auch die Dampfmaschine, die Elektrizität, der Düsenantrieb und die Lasertechnik ihren Anteil an der Beschleunigung der Lebensverhältnisse, die Uhr aber überragt sie in dieser Hinsicht deutlich. Sie sorgte für die Messbarkeit, die Kontrollierbarkeit und auch die Beherrschbarkeit der Beschleunigung, ganz besonders aber für die der Beschleunigung der Beschleunigung. Zugleich jedoch hat sie der modernen Gesellschaft ihre taktförmige Funktionsweise und ihr Verlaufsprogramm, das des »Eins-nach-dem-anderen«, vorgegeben und aufgezwungen.
Doch machen wir uns nichts vor, auch wenn sich vieles derzeit ändert, die Richtung, in die der »Fortschritt« fortschreitet, bleibt die gleiche. Auch nach dem Wechsel der Zeitstrategie von der »Beschleunigung durch Schnelligkeit« zur »Beschleunigung durch Zeitverdichtung« geht es auch weiterhin um Temposteigerung und einen noch intensiveren und noch breiter angelegten Zugriff der Zeit-ist-Geld-Imperative auf die Lebenswelt. Warum aber dann überhaupt der angedeutete »Zeitenwechsel?«
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