Wilderer

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Wilderer

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Reinhard Kaiser-Mühlecker

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und führt den Betrieb seiner Vorfahren. Er verfasste zahlreiche Romane und einen Band mit drei Erzählungen. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« (2016) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, zuletzt erschien den Roman »Enteignung« (2019). Siegfried Lenz formulierte zum Werk Kaiser-Mühleckers: »Es ist wunderbar, wie Sie schreiben«, und Peter Handke: »Zwischen Stifter und Hamsun sind Sie ein Dritter.«

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Jakob führt den Hof der Eltern und kämpft gegen den Niedergang. Als die Künstlerin Katja sich als Praktikantin anbietet, scheinen sich die Dinge zum Guten zu wenden. Gemeinsam bauen sie eine biologische Tierhaltung auf, sie heiraten und bekommen einen Sohn. Doch Jakob findet keine Ruhe, sein grausamer Zorn bricht immer wieder hervor. Hat Katja ihn getäuscht, hat sie nur mal einen wie ihn haben wollen, einen Bauern?

 

Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt von Herkunft und existentieller Verlorenheit in einer Welt, die sich radikal wandelt.

 

»Ich sehe es wirklich als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, darzustellen, also erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Reinhard Kaiser-Mühlecker

Impressum

Originalausgabe

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: © Grace Helmer/Bridgeman Images

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491454-1

Persisches Sprichwort

Es dämmerte; konnte kaum später als vier Uhr Früh sein. Für einen Moment dachte er, es könnte doch später sein, ein trüber, verhangener Tag, aber der Wetterbericht hatte keine Veränderung der seit Wochen anhaltenden Hochdrucklage vorhergesagt. In dem Dämmerlicht, das in seinem Zimmer herrschte, war ein Flackern, war ungreifbare Bewegung, weil die Blätter der Linde, die bis ans Fenster reichten, sich rührten; es ging ein leichter Wind – vielleicht also doch ein Wetterumschwung, der sich schließlich auch zu so früher Stunde ankündigen konnte? Diese Eindrücke schoben sich schemenhaft durch seinen Kopf, als kämen sie von weither und hätten nichts mit ihm zu tun. Und auch, dass er die Nachtkästchenlade aufzog und hineingriff, war wie losgelöst von ihm. Er drehte nicht einmal den Kopf, sah nicht einmal hin. Das Metall war nur wenig kalt. Angenehm, beruhigend fühlte es sich an, auch als es gegen seine Schläfe drückte. Er hielt die Luft an, spannte den Finger an und betätigte den Abzug.

»Klack«, machte es. Ein leeres, langweiliges Geräusch, und er stieß die angehaltene Luft wieder aus. Wie war das möglich? Seit Jahr und Tag immer nur dieses Geräusch. Es war im Grunde unmöglich, so unmöglich,

Es war Ende Juli, endlich trocken, endlich heiß nach dem verregneten, kühlen Frühjahr; er könnte aufstehen, es gab Arbeit genug, und er war auch nicht mehr müde, obwohl er erst nach Mitternacht ins Bett gegangen war, aber er wollte nicht. Das Geräusch ging ihm nach, dieses leere, langweilige Geräusch, das ihn sein halbes Leben schon begleitete, ja das das Geräusch seines Lebens geworden war. Mit elf oder zwölf hatte er in einer alten Tasche unter dem Dach den Revolver gefunden, der dem Großvater gehört haben musste und in dem eine einzige Patrone gesteckt war. Vom ersten rascheren Herzschlag an schien sie ihm für ihn, für niemanden als ihn bestimmt zu sein. Alle paar Wochen, höchstens Monate wieder dieses leere, langweilige, zermürbende Geräusch: Klack … Dass ihn jemand ertappen könnte, befürchtete er nicht; seit er das obere Zimmer, das früher dasjenige seines Bruders gewesen war, bezogen hatte, betrat niemand es mehr. Und selbst wenn ihn je einer dabei erwischt hätte: Es hätte ihn nicht gekümmert, es wäre fast nicht wahr gewesen, fast nicht wirklich, weder für ihn noch für den anderen.

Als seien bis zu diesem Zeitpunkt seine Ohren vom Schlaf verschlossen, zugestöpselt, versiegelt gewesen, drang erst jetzt das Dröhnen von der Autobahn an

»Scheiße«, sagte er.

Er sprang auf, lief durch das Zimmer, riss die Tür auf und stürzte die Treppe hinab und lief durch den Flur ins Vorhaus.

»Nau«, sagte der Vater, der dort, das Handy in der Hand, herumstand. »Nau, Jakob!«

Jakob fasste nach der neben der Tür hängenden Leine und rannte hinaus. Fast stolperte er über den

»He«, rief der Vater ihm hinterher. »Zieh dir doch erst mal was an!«

Instinktiv schlug Jakob die Richtung zum Bach ein, und tatsächlich entdeckte er Landa bald; sie stand auf der Wiese und krümmte sich. Er wurde langsamer. Vielleicht war sie ja doch nur deshalb rausgelaufen und würde gleich zurückkommen.

»Landa«, rief er, außer Atem, obwohl er nur ein kurzes Stück gerannt war, »Landa, komm!«

Die Hündin richtete sich auf und blickte zu ihm hin, ganz kurz, dann duckte sie sich weg, als geriete sie schon so aus Jakobs Blickfeld, als würde sie dadurch unsichtbar, und trabte in die entgegengesetzte Richtung davon. Jakob schlang sich die Leine um die Hüfte und verknotete sie vor dem Bauch. In einer Mischung aus Laufen und Schleichen folgte er der Hündin; er sah, wie sie unter der Autobahnbrücke durch- und an den Fischteichen vorbeilief, die Jakob auf der entwässerten Wiese angelegt hatte, welche früher, als das Drainagesystem noch funktioniert hatte, die Kuhweide gewesen war; die Teiche hatte er an Städter verpachtet, nicht ohne zuvor selbst versucht zu haben, Fische darin zu halten, was ihm nicht gelungen war.

Bevor sie zwischen den Erlen mit ihren wächsern glänzenden, an der Spitze eingebuchteten Blättern verschwand, blieb sie an einem der Teiche stehen, den Kopf nach vorn gereckt, die Lefzen leicht hochgezogen und eine Pfote angehoben, wie ein Vorstehhund,

Sobald Jakob in das eiskalte, klare, bernsteinfarbene und an dieser Stelle kaum knöchelhohe Wasser hinuntergestiegen war, entdeckte er einen Steinwurf entfernt die Hündin, die mit gespreizten Vorderläufen vor einer tiefen Stelle stand und ins Wasser zu starren schien, das da ein Grau annahm, das jenem des Schliers ähnelte, der in den hiesigen Feuchtgebieten unter dem Mutterboden lag. Jakob konnte sehen, wie die Muskeln über ihrem Widerrist zuckten. Obwohl das Rauschen des Bachs nicht sehr laut war, eher ein Plätschern, war es laut genug, dass sie ihn nicht hörte. Schritt für Schritt stieg er durch das unter ihm davonflitzende Wasser. Die Steine, abgeschliffen und überzogen von Algen oder Moos, fühlten sich weich an und waren rutschig, und nur hin und wieder trat er auf etwas Kantiges; was es jeweils war, erkannte er nicht immer, denn die durch das Blätterdach oder eher Strauchwerk dringenden Sonnenstrahlen ließen die Wasseroberfläche blitzen, so dass er geblendet war und nichts sehen konnte und vorsichtiger vorangehen und auftreten musste. Landa war nur noch ein kleines Stück entfernt. Ein paar Meter. Fast war er

»Verdammte Zauk«, zischte Jakob und zog seinen Fuß hoch und betrachtete die Fußsohle, aus der am Ballen hinter der großen Zehe helles Blut, dünn, dünn wie das Wasser, mit dem es sich vermischte, sickerte. »Du scheißverdammte Zauk. Ich bring dich um.«

Er verknotete die Leine wieder vor seinem Bauch und rannte, kaum noch Rücksicht auf seine durch die Kälte des Wassers tauber und tauber werdenden Füße nehmend, bachaufwärts. Er lief und lief. Schrie ihren Namen wieder und wieder. Es war eine Jagd, die von Anfang an verloren war, eine Jagd, bei der der Jäger die Gejagte nicht ein einziges Mal mehr zu sehen bekam, eine Jagd, die er aber nicht aufgab, nicht aufgeben konnte. Erst nach langem gestand er sich ein, dass es sinnlos war, weiterzulaufen, weiterzuhumpeln, weil er sie nicht einholen oder aufspüren würde, und dann gab er auf. Heiser und zerschunden war er, zerschunden

Als er zu Hause eintraf, waren seine Boxershorts immer noch nass und klebten an ihm. Seine Füße und Beine schmerzten und waren zugleich nicht zu spüren; desgleichen sein Geschlecht; nur der Puls, der dumpf darin hämmerte, war zu spüren. Die Haustür stand offen wie zuvor; wie er sie zurückgelassen hatte. Der Vater und die Mutter saßen in der Küche und frühstückten; im Radio lief Klaviermusik, blechern klimpernd wie alles, was aus dieser Kiste kam, und auf dem Plastikkruzifix an der Wand saßen zwei Gelsen.

»Wo kommst du denn her?«

»Ist noch Kaffee da?«

»Nur noch ein Schluck. Da, Jakob. Nimm ihn ruhig. Ich mache gleich noch eine Kanne.«

»Ja«, sagte Jakob.

»Ist sie wieder ausgebüxt?«

»Ja.«

»Du musst sie anketten.«

»Ja.«

»Oder einen Zwinger bauen.«

»Ja.«

»Geh dich doch umziehen, du verkühlst dich noch.«

»In Spanien«, sagte der Vater, »habe ich da ziemlich ausgeklügelte Systeme gesehen. Irgendwo muss ich Fotos haben. Muss ich dir mal zeigen, Jakob, warte schnell.«

»Ja«, sagte Jakob schon im Gehen, ohne darauf zu achten, was der Vater auf seinem Handy suchte, ohne sich zu fragen, von welchen »ausgeklügelten Systemen« Bert reden mochte. »Wenn sie auftaucht, sagt es mir.«

Er ging in den Heizraum, stellte die Tasse – die John-Deere-Tasse, seine liebste – mit dem lauwarmen, zu schwachen Kaffee auf die Stehleiter, zog die Boxershorts aus und hängte sie am Wäscheständer auf. Er zog die Knie ein paarmal hoch und fühlte sich danach etwas besser. Er nahm trockene Wäsche und eine Hose vom Ständer und zog sich an; die Socken hingen über den Gummistiefeln; er nahm sie, zupfte ein paar Strohhalme ab und streifte sie über die immer noch tauben Füße. Die Zehen waren weiß, wie tot; berührte er sie, spürte er sie nicht. Dann stieg er in die Stiefel und griff nach der Staubmaske. Er nahm den Ohrenschutz mit eingebautem Radio vom Haken, drehte an dem einen der beiden kleinen Räder und setzte sich den Schutz auf. Es lief gerade das Journal, die Sieben-Uhr-Nachrichten; er drehte etwas leiser; immer noch war von nichts anderem als von der Seuche die Rede. Er griff nach der Tasse und verließ den Heizraum; alle paar Schritte einen Schluck nehmend, ging er in den Stall. Für einen Moment hatte er sogar Landa vergessen, aber als er die leere schwarze Tasse mit dem gelben, springenden Hirschen in grünem Feld drauf abstellte, wie immer einfach irgendwo, fiel ihm wieder ein, dass die Hündin nicht

»Ja, Landa. Ja.«

Landa sah ihn an, kniff die Augen zusammen und machte, als er mit dem Streicheln aufhörte, ein paar Schritte von ihm weg und streckte sich im Schatten aus und hob den Kopf nicht mehr. Jakob folgte ihr, hockte sich neben sie und streichelte sie noch ein wenig. An den Vorderpfoten sah er eingetrocknetes Blut und dachte an seinen eigenen Fuß: ein tiefer Schnitt quer über den Ballen, der nicht schmerzte.

»Hast du dir auch weh getan, Landa?«

Aber schon bevor er sah, dass sie auch an der Weiche Blut hatte, wusste er, dass es nicht ihres war. Er seufzte und erhob sich und machte sich wieder an die Arbeit. Ab und zu schaute er nach ihr; sie schlief den ganzen Tag, und ihr Fressen rührte sie nicht an, so dass er es später der Katze in die Schüssel kippte, die es allerdings ebenfalls verschmähte.

Der Tag verging. Abends, nach getaner Arbeit, schaltete Jakob die Stromversorgung des Weidezauns ein,

»Komm, Landa«, sagte Jakob, sie hob jedoch nur kurz den Kopf und ließ ihn wieder sinken.

»Komm jetzt«, sagte er und fasste sie am Halsband, zog daran, ließ aber gleich los; er wusste, wie wenig sie das mochte; wer mochte es schon, gewürgt zu werden? Aber sie verstand und kam in die Höhe, streckte und schüttelte sich und folgte ihm ins Haus. Kaum war die Haustür zu, legte sie sich auf ihre Decke und döste weiter.

»Verstest du das, Jakob?«

Ihre Eltern hätten einen Milchviehbetrieb, auf dem sie mitarbeite, und wie denn sein Betrieb aussehe? Er antwortete, dann schrieb sie erneut. Ein paar Tage ging es hin und her. Hatte er die Frau gefunden, die er suchte? Er fragte sich das, ungläubig, dass etwas so Entscheidendes so zufällig, so plötzlich geschehen konnte. Kurz bevor die Coins aus waren, versuchte er es noch einmal. Diesmal sagte sie, vielleicht könnten sie anderntags auf WhatsApp wechseln, sie überlege es sich. »Schade, wenn du mir nich mehr schreiben wilst, Yakob.« Natürlich wollte er ihr schreiben. Sie sollte bloß nichts anderes glauben. Er kaufte Coins. Was waren schon dreißig Euro, wenn man ans Leben dachte? Und was, tags darauf, als ihr Handy plötzlich nicht mehr funktionierte und sie deshalb nicht auf einen anderen Kanal wechseln konnten, sechzig? Die Befürchtung, für geizig gehalten zu werden, und die wachsende Lust an dieser scharfen Braut, an die er Tag und Nacht dachte, standen seinem natürlichen Misstrauen im Weg. Erst nachdem er 120 Euro überwiesen hatte, begriff er oder gestand er sich ein, dass er auf einen Betrug hereingefallen war.

»Kann es sein, dass du mich verarschst?«

»Du weist, dass ich dir meine Nummer nicht geben kan.«

»Verdammt nochmal. Tagelang schon verarschst du mich!«

Und hätte sie doch einfach nur »Entschuldigung«

So etwas machte einen zurückhaltend … Nach einer halben Stunde schaltete er das Telefon aus und legte es unters Bett und nahm sich eine neue Flasche Bier. Er trank sie halb im Liegen und während er an die Wand starrte. Es störte ihn nicht, dass das Bier nicht gekühlt war, er ließ es ohnehin nur so in sich hineinlaufen, fast ohne zu schlucken und ohne es recht wahrzunehmen. Es war ein Zeitvertreib, der eine angenehme Wirkung hatte. Er dachte an nichts, oder wenn er an etwas dachte, bemerkte er es nicht; als die Flasche leer war, nahm er sich noch eine und stellte sich damit ans Fenster. Draußen der in einem fort an- und abschwellende Lärm des Nachttransits. Er setzte die Flasche an und ließ das Bier in seine Kehle rinnen. Dann wischte er sich den Mund ab und ging, die Flasche in der Hand, nach unten. Er musste Licht machen; alle schliefen schon; Landa lag im Vorhaus und hob nicht einmal den Kopf. Jakob nahm die Taschenlampe aus der Küchenlade und ging hinaus in die Werkstatt. Die Haustür ließ er offen stehen; wenn Landa aufwachte, würde sie vielleicht abhauen, und wäre ihm das am Ende nicht doch tausendmal lieber als alles andere? Er öffnete das Werkstatttor und sog den Geruch ein, den er so mochte, den Geruch von Holz und Metall und Öl und Fett. Auf der Anrichte,

»Du verdammte Zauk«, sagte er, kniete sich neben sie und streichelte sie. »Du scheißverdammte Zauk.«

Auf einmal musste er lächeln; er schüttelte den Kopf, stand auf und ging nach oben und legte sich ohne einen weiteren Gedanken an den Hund ins Bett.

Wieder war es kaum vier Uhr, als er aufwachte, diesmal aber nicht von selbst. Die Rufe des Vaters weckten ihn.

»Jakob! Komm! He, Jakob!«

Es war kein übler Traum gewesen. Jakob atmete durch, stand auf und ging nach unten.

»Was ist?«, fragte er.

Jakob zuckte mit den Schultern.

»Weiß nicht.«

»Ja, was hat der denn?«

»Es ist eine Sie, Papa.«

»Ja, Herrgott, ist das jetzt wichtig? Schau ihn dir doch an!«

»Sie hat gewildert. Vielleicht plagen sie Knochensplitter.«

»Unsinn. Wie der sich windet. Der hat irgendwas erwischt. Du musst den Tierarzt rufen.«

Auch die Mutter war aufgewacht; unter ihrem alten, dünn gewordenen Pyjama bewegten sich die durchschimmernden Brüste; Jakob sah schnell weg.

»Was ist denn los? Was ist mit dem Hund?«

»Sie war wieder wildern.«

»Er hat wo einen Rattenköder erwischt.«

Die Mutter sah zuerst den Vater an, dann ihren Sohn, als überlege sie, wem sie glauben solle.

»Bring sie raus, Jakob«, sagte sie schließlich, als könne sie sich nicht entscheiden und als sei das auch nicht von Bedeutung, zumindest nicht für sie, sondern als sei einzig von Bedeutung, dass das Vorhaus nicht noch mehr verdreckte.

»Ja«, sagte er, kniete sich neben das Tier, wie er es vor ein paar Stunden ebenfalls gemacht hatte, packte es und und trug es hinaus.

Der Vater ging ihm hinterher. Jakob konnte ihn in seinem Rücken spüren und hätte sich nicht gewundert, wäre der Alte ihm auf die Hacken getreten.

»In die Melkkammer.«

»Ruf den Tierarzt an, Jakob.«

»Es ist vier, Papa. Warten wir einmal ab. Wenn es in der Früh nicht besser ist, rufe ich ihn an.«

Jakob trug Landa in die Kammer; auf dem Boden lag ein großer Karton, auf dem ein paar Farbdosen standen, die er zum Streichen der Fenster verwendet hatte.

»Stell die Dosen weg, Papa.«

Der Vater nahm die Dosen und stellte sie aufs Fensterbrett über dem Regal, auf dem das Gewehr lag, und rückte sie zurecht. Jakob legte den Hund ab und ging aus der Kammer. Gleich darauf kam auch der Vater hinterher. Sie standen einander gegenüber. Der Vater sah schwarz aus in dem fahlen Morgenlicht, schwarz wie ein Vogel, wie ein schwarzer Vogel.

»Machst du dir denn gar keine Sorgen, Jakob?«

»Warum machst du dir solche? Scherst dich doch sonst nicht um sie.«

Es stimmte, der Vater schien Landa bisher nie wirklich registriert zu haben, so wenig, wie er alles andere, das nichts seins war oder ihm nicht von Nutzen war, beachtete. Und das war es, was Jakob vielleicht auch meinte: Du scherst dich doch sonst um nichts.

Er ging ins Haus und hinauf in sein Zimmer; er wusste, dass der Vater draußen blieb. Sein Herz pochte, er konnte nicht noch einmal einschlafen. Eine Stunde, eineinhalb, fast zwei lag er reglos da. Um sechs stand er auf und ging wieder runter. Er ging hinaus. Es war hell, und die Vögel sangen, und ein paar Spatzen hüpften vor

»Ich glaube, ich rufe ihn an«, sagte Jakob und zog das Handy aus der Hose.

»Jetzt kannst du dir’s sparen.«

Jakob ging in die Hocke und streckte die Hand nach Landa aus, aber irgendetwas hinderte ihn, sie zu berühren. Es war still. Und obwohl keine fünf Minuten vergingen, ehe sie tot war, schien es Jakob, als sei es zumindest eine Stunde gewesen. War es der Blick des Vaters, den er immer wieder auf sich spürte? Landa hatte sich nicht mehr gerührt; hatte einfach irgendwann zu atmen aufgehört.

Der Vater stand auf und verließ die Kammer. Er versteht es nicht, dachte Jakob und korrigierte den Gedanken: Er würde es ja doch nicht verstehen. Hätte ich zulassen sollen, dass Manfred sie über den Haufen schießt, wie er es schließlich nicht bloß einmal angekündigt hatte, wenn sie nicht aufhörte zu wildern? Zulassen sollen, dass sie in ein Auto rennt und einen Unfall verursacht, bei dem am Ende noch wer stirbt? Man konnte schließlich nicht annehmen, dass immer alles gut ausging. Er stand ebenfalls auf. Den Tierarzt müsste er dennoch anrufen. Er würde ihm sagen, dass er sie so gefunden hatte. Vielleicht würde der Tierarzt sie mitnehmen und untersuchen, vielleicht aber auch bloß die Tierkadaververwertung verständigen und sie bitten, den Kadaver abzuholen – für ihn, Jakob, war das nicht

»Jakob?«

Der Vater tauchte von irgendwoher auf.

»Ja.«

»Was hast du in der Werkstatt gemacht?«

»Ein paar Tücher geholt, um sie abzudecken. Die alten Presstücher.«

»Ich meine in der Nacht.«

Erstarrte er? Nein, es durchrieselte ihn nur etwas, ein Schauder, der sich aber nicht unangenehm anfühlte, sondern auf eine merkwürdige Weise sogar fast angenehm.

»In der Nacht? Nichts.«

Lächelte auch der Vater, zu dem Jakob zwar immer noch »Papa« sagte, den er bei sich aber nur noch »Bert« nannte? Lächelte auch er, bloß so unmerklich wie Jakob selbst, für den Bruchteil einer Sekunde? Selbst wenn er etwas ahnte, war es bedeutungslos. Obwohl es lange schon so war, dass Jakob sich um alles hier kümmerte, weil der Vater ohnehin fast nie da war, waren sie doch auf eine komische Weise früher immer ein Gespann gewesen, ein Team, vor allem, weil der Vater das so gesehen hatte; seit einiger Zeit waren sie das nicht mehr, und wieder ging es vom Vater aus.

Fünf Jahre ungefähr war es her, dass die Großmutter nach dem Tod des Großvaters gesagt hatte, sie habe das auf sie übergegangene Vermögen, von dem niemand genau wusste, wieviel es war, weil der Großvater immer nur in Häusern gerechnet hatte – in Bauernhäusern, Zinshäusern; dabei handelte es nicht nur um Häuser, sondern um alles Mögliche –, der »rechten Partei«, wie sie sie absichtlich zweideutig nannte, vermacht; und dann war es trotzdem noch länger unklar, ob das tatsächlich stimmte, bis es auf einmal klar schien, denn der Vater verhielt sich seiner Mutter gegenüber verändert. Er wurde in ihrer Gegenwart nicht mehr kleinlaut

»Halt endlich dein Maul, du!«

Jetzt lächelte er, bloß so unmerklich … Hatte er aber etwas gesagt? Jakob hatte jedenfalls nichts gehört, denn er hatte sich den Ohrenschutz aufgesetzt und an dem schwarzen Rädchen rechts gedreht, und anstelle des Autobahnlärms hörte er – es war kurz nach halb acht, die Nachrichten vorbei – irgendeine fröhliche Geigenmusik, bestimmt Haydn oder Beethoven oder Mozart