Johannes Lehmann
Buddha – Leben Lehre Wirkung
Der östliche Weg zur Selbsterlösung
FISCHER Digital
Dr. Johannes Lehmann (1929–2011) studierte in Halle, Westberlin und Edinburgh Theologie, Publizistik, Psychologie und Philosophie. Er war Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
Johannes Assirvadam Lehmann – als Sohn eines Missionars im Südindischen Madras geboren – schildert in diesem Buch das Leben und die Lehre des Gotama Buddha vor dem Hintergrund seiner Zeit. Er führt den Leser in das indische Denken ein, erklärt die dafür charakteristischen Vorstellungen wie Wiedergeburt, Karma und Mâyâ und beschreibt die Weiterentwicklung des Buddhismus nach dem Tode des Erhabenen zum Mahajânâ-, Zen- und Tantrajânâ-Buddhismus. Schließlich untersucht der Autor auch, welche Auswirkungen der Buddhismus auf das Christentum, die griechische Philosophie und die Philosophie der Neuzeit hatte.
Der Anhang enthält ein Literaturverzeichnis und ein Glossar der wichtigsten Begriffe des Buddhismus.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561129-6
Das Leben des Buddha ist das älteste Vorbild der Menschheitsgeschichte, wie man sich aus eigener Kraft und ohne göttliche Hilfe von Leid und Schuld befreien kann. Die Lehre des Buddha ist zugleich eine der ältesten Erlösungslehren der Erde, deren Schöpfer wir kennen und der noch heute Millionen Anhänger hat.
Aber ähnlich wie bei Jesus haben im Laufe der Zeit Verehrung und Tradition vieles von dem verdeckt, was ursprünglich gemeint war. Der Buddha, der jeden Gott leugnete, wurde am Ende selbst zum Gott, seine Philosophie der Selbsterlösung wurde zur Religion, seine heute noch gültigen psychologischen Erkenntnisse erstarrten zu rituellen Formen.
Die eigentliche Lehre von der Selbsterlösung des Menschen, die jener wandernde Bettelmönch im gelben Gewand vor zweieinhalbtausend Jahren ein Menschenleben lang in den Dschungeln der Gangesebene verkündete und vorlebte, ist dagegen für uns Heutige noch immer eine Möglichkeit, über uns selbst und unsere Selbstverwirklichung nachzudenken.
Ich will versuchen, den Weg des Buddha, seine Welt und seine Gedanken so darzustellen, daß man Verständnis für die uns fremde Welt indischen Denkens gewinnt und damit den Ansatzpunkt des Buddhismus verstehen lernt, zugleich aber auch abschätzen kann, wieweit die indische Lehre der Selbsterlösung für den einzelnen heute noch gültig und anwendbar ist.
So fremd, wie sie uns scheint, ist sie offenbar nicht: Wir finden die indische Lehre von der Seelenwanderung nicht nur bei den griechischen Philosophen wieder; nachem der Buddha im Mittelalter in den christlichen Heiligenkalender geriet, ist sogar die Frage berechtigt, ob das Christentum nicht auch dies oder jenes vom Buddhismus übernommen hat – Parallelen gibt es jedenfalls genug.
Sie werden besser verstehen helfen, welchen Weg der ursprüngliche Buddhismus gegangen ist. Es ist der Weg der Selbstverwirklichung, der zur Gelassenheit und zur Gelöstheit führt – nicht um sich von der Welt abzuwenden, sondern um in ihr zu bestehen. Der Buddha war der erste, der das Jogasystem, die Meditation, aus der asketischen Einengung der Weltabkehr zur praktischen Übung für die Weltbewältigung gemacht hat. In einer Zeit, in der die traditionellen Wertmaßstäbe des Westens zunehmend fragwürdig werden, weil sie in letzter Konsequenz zur Selbstvernichtung der Menschheit führen, ist dieser von Buddha aufgezeigte östliche Weg der Selbsterlösung aktueller denn je.
Der Mann, den man den Buddha nannte, den Erleuchteten, war kein Religionsstifter wie Zarathustra oder Mohammed, obwohl aus seiner Lehre eine Weltreligion entstand. Er war kein frommer Mensch wie Jesus, denn obwohl ihn seine Anhänger später als Gott verehrten, glaubte er selbst an keinen Gott. Er war kein Sozialreformer und kein Revolutionär, aber als einziger seiner Zeit machte er keinen Unterschied zwischen dem vornehmen Brahmanen und dem ärmsten der Parias.
Er war alles das nicht, was man erwartet. Aber er lebte nach seinen Erkenntnissen und überzeugte dadurch seine Anhänger und die Nachwelt.
Mehr als vierzig Jahre war er nach seiner Erleuchtung barfuß und im gelben Asketengewand durch die glühende Hitze Indiens von Dorf zu Dorf gezogen, hatte schweigend mit seiner Schale seinen Lebensunterhalt erbettelt, Kaufleuten und Königen, Bauern und Brahmanen, Heiligen und Kurtisanen von seinem Weg der Erlösung erzählt; hatte während des Monsuns unter einem Dach geruhsam meditiert, während drei Monate lang das Land im Regen ertrank.
Seine Welt war das wasserreiche Sumpfgebiet der Gangesebene mit ihrem tropischen Dschungel, ihren Reisfeldern und kleinen Lehmdörfern, ihren Elefanten, Pfauen und üppigen Bambushainen; ihren geschäftigen Miniaturresidenzen der Fürsten, in denen die Kaufleute Handel trieben, die frommen Brahmanen diskutierten und die Bettler am Wegrand saßen; eine Welt der betäubenden Düfte und Blumen, aber auch der Wolken sirrender Moskitos, die Malaria und Elephantiasis übertrugen.
Als er mit achzig Jahren an einer Lebensmittelvergiftung starb und ins Nirvâna einging, war er nie weiter als ein paar dutzend Tagesreisen von seiner Heimatstadt an den Ausläufern des Himalaja entfernt gewesen. Aber bei seinem Tode – so die Legende – »da bebte die große Erde bis zum tiefsten Grunde … verwaist war, als Buddha starb, das Weltall.«
Wirklichkeit und Legende begannen sich bald zu verwischen, und es wird schwer sein, beide wieder zu trennen in einem Land, das keinen Sinn für Geschichte hat, sondern nur für Geschichten. Der Buddha selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen, und seine Jünger haben seine Lehre und die Erzählungen aus seinem Leben, die »Ich-Berichte«, jahrhundertelang nur mündlich tradiert, bevor sie in einer Sammlung Heiliger Schriften aufgezeichnet wurden, inzwischen eingewoben in ein zeitloses Muster von Wundern und Legenden.
War der Buddha am Ende selbst nur eine Legende, eine personifizierte Chiffre für eine Idee, die irgendwann einmal in der Geschichte der Menschheit entstand? Wie bei vielen Großen der Welt hat man diesen Gedanken auch bei Buddha einmal durchgespielt – ohne Erfolg.
Was aber wissen wir wirklich vom Buddha? Immerhin ist er die älteste historische Figur, über die die indische Geschichte überhaupt Auskunft geben kann – in einer Zeit, in der die übrige Welt längst ein festes und gesichertes Gewebe von Daten hatte.
Im Jahre 570 vor Christus, dem vermutlichen Geburtsjahr des Buddha, wurde in Griechenland der Geschichtsschreiber Xenophon geboren, philosophierten bereits Thales und Anaximander über den Urstoff der Welt, war Pythagoras noch ein Kind und Solon, der Staatsmann und Gesetzgeber, noch am Leben. Zu dieser Zeit »weinten die Kinder Israels an den Wassern Babylons« in der babylonischen Gefangenschaft; in Persien begann Zarathustra zu lehren, und in China hatte Laotse in seinem »Buch vom Weg des Menschen« bereits die »Philosophie des Nichthandelns« begründet. Zu Buddhas Lebzeiten wurde in Persien Xerxes geboren und in Griechenland Perikles und Sophokles. In Italien erreichte die Kultur der Etrusker ihren Höhepunkt, im Norden und Westen Europas begann die Eisenzeit, die Kelten drängten nach Italien.
Aus Indien kennen wir in dieser Zeit nur ein einziges Datum, und das ist nicht einmal sicher: das Geburtsdatum des Buddha.
Zwar geben die alten buddhistischen Texte das genaue Todesjahr ihres Meisters mit 544 vor Christus an und beginnen von da an mit ihrer Zeitrechnung. Das Jahr 1980 entspräche damit dem Jahr 2524 buddhistischer Zählung. Es gibt jedoch noch eine zweite Zahlenangabe, die um einiges vom buddhistischen Kalender abweicht, aber dafür den Vorteil hat, daß sie mit der übrigen Chronologie besser übereinstimmt. Sie stammt aus einer alten ceylonesischen Chronik und gibt an, der indische König Asoka sei zweihundertachtzehn Jahre nach dem Tode des Buddha zum König gekrönt worden.
Da des Alter des Buddha in den Texten überall mit achtzig Jahren angegeben wird, könnte man nun leicht das Geburtsjahr errechnen, wenn man von der Regierungszeit König Asokas ausgeht. Hier aber stößt man, je nachdem, wo man nachschlägt, auf nahezu beliebige Zahlen zwischen 263 und 274 vor Christus für den Regierungsantritt Asokas, wobei sich die meisten Zahlen allerdings zwischen 272 und 274 einpendeln. Rechnet man zu einer dieser Zahlen nun die zweihundertachzehn Jahre bis zum Tode des Buddha und die achzig Lebensjahre hinzu, so kommt man auf ein geschätztes Geburtsjahr des Buddha um 570 vor Christus.
Um diese Zeit, so erzählt nun die Legende, lebte an den Ausläufern des Himalaja »ein Fürst der Sakja, unbesiegbar, reinen Gemüts, von fleckenloser Tugend, den man deshalb Suddhodana nannte«, »einen, der reinen Reis besitzt«. Dieser Sakja-Fürst aus der Familie der Gotama hatte eine Frau mit Namen Mâjâ, »erhaben über alle irdischen Frauen«, die auf wunderbare Weise schwanger wurde: »Auf sie, als Ebenbild der Himmelsfürstin, ließ sich der Geist hinab, den Eingang wählend in ihren Mutterleib.«
Als sie, obwohl »truglos im Gemüte«, merkte, daß sie ein Kind erwartete, verließ sie die Residenzstadt Kapilavatthu und zog sich in den Hain von Lumbinî zurück. Dort nun »fühlte Mâjâ, die Königin, daß der Entbindung Zeit für sie gekommen sei. Rings von Dienerinnen in großer Zahl umgeben, ruhte sie schweigend auf schöngeschmücktem Lager. An dem achten Tag war’s des vierten Monats, einer Jahreszeit von heiterem und erfreulichem Charakter«, als sie dann das Kind gebar, das den Namen Siddattha erhielt.
Aber auch hier ist das Wunder das Selbstverständliche: »Tretend aus ihrer rechten Seite, macht der Mitleidvolle der Mutter weder Angst noch Schmerzen … langsam dem Mutterleib entsteigend, ließ er in jeder Richtung seinen Ruhm ausstrahlen … ruhig, aufgerichtet, und nicht kopfüber fallend, glorreich scheinend, herrlich geschmückt, lichtstrahlend – so verließ er den Mutterleib, wie wenn die Sonne aufgeht.«
Es wird dann weiter berichtet, daß sich der Himmel auftat und die Götter zur Anbetung erschienen und Vater Suddhodana erschrak, als er sah, »von welchen Wunderzeichen seines Sohnes Geburt begleitet ward«. Daraufhin erschien ein Brahmane, »der Zeichendeutung kundig« und sagte dem Kind eine große Zukunft voraus: »Dies neugeborene Kind von überreicher Begabung wird der ganzen Welt Befreiung verschaffen« und ihr »himmlischer Lehrer« sein, worauf auch schon die Wunder der Natur hindeuteten: »Im Garten Lumbinî erblühten außer der Zeit, die freien Plätze füllend zwischen den Bäumen, seltne herrliche Gewächse in großer Menge.«
Es scheint, daß die Geburt eines Weltenerlösers überall das gleiche Ritual verlangt, ob es nun am Himalaja oder in Palästina ist, ob fast sechshundert Jahre vor der Zeitenwende oder im Jahre Null. Denn was die Legende von Mâjâ erzählt, berichtet der Evangelist Lukas auch von Maria. Da steht der Satz »der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten«, da gibt es bei der Geburt Naturwunder wie den Stern von Bethlehem und die himmlischen Heerscharen, da werden aus dem zeichenkundigen Brahmanen »die Weisen aus dem Morgenland«. Und auch der vorausschauende Lobpreis fehlt nicht, wenn Zacharias verkündet: »Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen.«
Erst wenn wir noch mehr solcher Parallelen kennengelernt haben, sollten wir auf die Frage eingehen, ob die Buddhalegenden die Berichte über Jesus beeinflußt haben oder nicht. Vorerst aber können wir die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Erzählungen dazu benutzen, um den realen Kern der legendären Schilderung herauszufinden.
Wir müssen dabei von der Tatsache ausgehen, daß die Legendenbildung immer nach dem gleichen Schema vorgeht, in diesem Falle also jungfräuliche Empfängnis, Beteiligung des Himmels an der Geburt, Zeichendeuter und Lobpreis aneinanderreiht, um mit derart vorgefertigten Versatzstücken das besondere der Geburt hervorzuheben. Solche Versatzstücke sind zwar typisch, aber auch auswechselbar. Dagegen kann man erfahrungsgemäß dort einen historischen Tatbestand vermuten, wo Unverwechselbares genannt wird wie zum Beispiel Eigennamen und Orte.
Nun kann man schwer eine solche Behauptung aufstellen, wenn bisher niemand die Königsstadt Kapilavatthu gefunden hat und es von vornherein aussichtslos erscheinen muß, nach zweieinhalbtausend Jahren den Wald von Lumbinî wiederzufinden. Infolgedessen hat die Wissenschaft auch bezweifelt, ob diese Orte überhaupt historisch seien.
Allerdings hatte man eine Vorstellung davon, wo der Stamm der Sakja lebte, zu dem die Familie der Gotama gehörte; außerdem fand man in einem alten Gedicht die Beschreibung einer Handelsstraße, die eine ungefähre Eingrenzung möglich machte, denn dort wurden die am Wege liegenden zum Teil heute noch bekannten Ortschaften aufgezählt: von Sâvatthî kam man nach Setabjâ, von da über Kapilavatthu nach Kusinârâ und Vesâli.
Dann entdeckte man die Reiseberichte zweier chinesischer Pilger. Der eine, Fa-Hien, war in den Jahren 399–414 nach Christus in Indien gewesen; der andere, Hiuan Tsang, im 7. Jahrhundert nach Indien gereist. Beide hatten Kapilavatthu und den Hain Lumbinî besucht und den Reiseweg beschrieben. Sie mußten also, auch Jahrhunderte nach dem Tode des Buddha, existiert haben.
Hiuan Tsang hatte sogar noch eine inzwischen achthundertfünfzig Jahre alte Säule gesehen, die König Asoka zur Erinnerung an die Geburt des Buddha im Haine Lumbinî errichtet hatte, obwohl die Siedlung im Hain damals bereits verlassen war.
Immerhin reichten diese Angaben zusammen mit bis dahin wenig hilfreichen und dunklen Andeutungen in den Heiligen Büchern der Buddhisten aus, um sich erneut auf die Suche zu machen, und das Erstaunliche geschah: Etwa drei Kilometer nördlich der heute nepalesischen Bezirksstadt Bhagvanpur konnte man im Jahre 1898 mit absoluter Sicherheit in einer öden Flachlandschaft den Hain von Lumbinî lokalisieren, obwohl dort kein Wald mehr stand. Man fand die sechseinhalb Meter hohe Säule des Königs Asoka wieder, die inzwischen umgestürzt und im Erdreich verschwunden war. Zwar fehlte ihr das Kapitell mit dem Pferdekopf, das Hiuan Tsang noch gesehen hatte, aber es war die echte, heute mehr als zweitausendzweihundert Jahre alte Säule, denn auf ihr entzifferte man die Inschrift: »Zwanzig Jahre nach seiner Krönung kam König Devânapija Pijadasi (= Asoka) hierher und bezeugte seine Verehrung, weil der Buddha, der Weise aus dem Sakja-Geschlecht, hier geboren worden ist. Er ließ ein Steinrelief und eine Steinsäule errichten, um anzuzeigen, daß hier der Erhabene geboren wurde.«
Inzwischen haben Ausgrabungen die Ruinen eines Klosters und Reste eines Steinreliefs zutage gefördert, das möglicherweise sogar aus der Zeit Asokas stammt. Es zeigt die Geburt des Buddha aus der rechten Hüfte der Mâjâ, die sich dabei an einem Salabaum festhält.
Damit ist nicht nur das Alter der legendären Geburtsgeschichte erwiesen, sondern auch die Tatsache, daß zumindest dieser Ortsname authentisch ist: Er wird von Asoka auf der Säule ausdrücklich erwähnt.
Allerdings hat im Gegensatz zur Geburtsstätte Jesu dieses »buddhistische Bethlehem« nicht von den Pilgerströmen profitiert, obwohl König Asoka auf der Säule feierlich verkündete, daß das Dorf Lumbinî von Steuern befreit sei und statt des üblichen Viertels nur ein Achtel an Naturalabgaben zu leisten habe. Selbst nach der Wiederentdeckung des Geburtsortes besteht das Dorf Rummindei, wie das alte Lumbinî im Distrikt Rupandehi heute heißt, nur aus fünfzehn elenden Bambushütten und ist die Endstation einer Buslinie im kleinen Grenzverkehr zwischen Indien und Nepal.
Nun versuchte man natürlich auch die Stadt Kapilavatthu zu lokalisieren, die nicht weit vom Hain Lumbinî entfernt liegen konnte. Doch hier hatten die Archäologen bisher weniger Glück. Nicht weniger als sechs Plätze wurden als Heimatstadt des Buddha identifiziert, wobei allerdings der Ort Piprâvâ, fünfzehn Kilometer westlich von Lumbinî, die größte Chance hat, das alte Kapilavatthu zu sein: Hier fand man nicht nur Überreste buddhistischer Monumente, wie sie in Pilgerorten üblich sind – und welcher Platz außer Lumbinî hätte in dieser Gegend sonst noch Pilger anziehen können? Man fand auch eine Urne, aus deren Inschrift hervorging, daß sie die Asche des Buddha enthielt.
Durch die Lokalisierung von Lumbinî können wir uns aber nun ziemlich genau die Gegend vorstellen, in der der Buddha aufgewachsen ist. Im Vergleich zur nepalesischen Bergwelt ist es eine wenig reizvolle, aber sehr fruchtbare Schwemmlandschaft, die bereits zur Gangesebene gehört. Aber kaum zwanzig Kilometer nördlich von Lumbinî, das etwas über hundert Meter über dem Meeresspiegel in der Terai-Ebene liegt, steigen die bis zu eintausendeinhundert Meter hohen Berge der Churia-Gebirgskette auf, hinter deren Wall sich dann der Himalaja (= Schneewohnung) bis nahezu neuntausend Meter auftürmt.
Diese Terai-Ebene, zum Teil heute noch mit Dschungeln und immergrünen Regenwäldern bewachsen, liegt etwa auf der Höhe Südmarokkos, der Kanarischen Inseln oder Floridas und gilt mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von fünfundzwanzig Grad seit jeher als die Reiskammer des Gebirgslandes. Darauf deutet bereits der Name von Siddatthas Vater hin, aber auch der chinesische Pilger Hiuan Tsang erzählte noch vom »fruchtbaren Land« des Erleuchteten.
Hier also lag das Reich der Sakja, das nach alten Berichten im Osten bis zum Fluß Rohinî reichte. Dieser Fluß, der heute noch den gleichen Namen trägt, mündet bei Gorakhpur, etwa hundertsechzig Kilometer nördlich von Benares, in die Rapti (Aciravatî), die im Süden und Westen ungefähr das Gebiet der Sakja umgrenzt haben dürfte.
Daß sich nun von der Königsstadt Kapilavatthu außer späteren Pilgerbauten kein Rest erhalten hat, obwohl sie als völkerreich und voll von Wagen, Pferden und Elefanten beschrieben wird, könnte einen nun freilich wieder an der Zuverlässigkeit der Tradition zweifeln lassen. Schließlich reden die alten Texte ständig vom Königssohn Siddattha und von »Mâjâ, der Königin«, so daß man eine größere Residenz erwarten wollte.
Und hier, jenseits der Erinnerung an Namen und Ortschaften, könnte die Legende auch tatsächlich wieder das ihrige getan haben, um den verehrten Meister in einem besseren Lichte erscheinen zu lassen. Zwar wird der »Stolz der Sakja« oft genug erwähnt und auch auf den Reichtum der Familie verwiesen, aber Legenden haben nun einmal einen Hang zum Außergewöhnlichen. Am Ende war Siddattha gar kein Prinz und Kapilavatthu folglich auch keine königliche Residenz, sondern ein einfaches Landstädtchen mit Lehm- und Holzbauten, die keine bleibenden Spuren hinterließen. Schließlich gibt es auch gute Gründe, die an der königlichen Abstammung des Zimmermannssohnes aus Nazareth Zweifel erlauben. Unt tatsächlich existiert auch eine Stelle in den buddhistischen Texten, die ähnliche Gedanken nahelegen. Der Buddha erzählt da von seiner Erleuchtung, und nach Stil und Eigenart könnte dies ein authentischer Bericht sein. In dieser Schilderung, die wir später noch ausführlich kennenlernen werden, heißt es an einer Stelle »Ich erinnere mich, daß ich einmal, während mein Vater arbeitete, im kühlen Schatten eines Jambu-Baumes saß …«, oder wie andere übersetzen »… als mein Vater bei der Feldarbeit war.« Pflegen Könige ihre Felder zu pflügen oder überhaupt zu arbeiten?
Man ist sich inzwischen einig, daß die spätere Legendenbildung bei der Abstammung des Buddha einen dramatischen Gegenpol geschaffen hat, um seinen Entschluß, in die »Hauslosigkeit« des Mönchtums zu gehen, besonders bedeutsam erscheinen zu lassen. Für diese Annahme spricht auch, daß die Biographie eines konkurrierenden Sektengründers aus der Zeit des Buddha nicht nur in diesem Punkte, sondern auch bis in andere Einzelheiten hinein die gleichen biographischen Elemente aufweist wie die Buddha-Legende.
Wer aber war dann Suddhodana, der Vater des Buddha? Man hat sich darauf verständigt, in ihm einen »adligen« Grundbesitzer zu sehen, der im wechselnden Turnus mit anderen Adligen der Kriegerkaste eine Art Präsidentschaft ausübte und in dieser Funktion auch mit dem König von Kosala verhandelte, den die Sakja als Souverän anerkannten. Das mag wie ein Kompromiß klingen, um die Legende nicht ganz zu desavouieren, hat aber etwas für sich: Die »Ich-Erzählungen« des Buddha erwähnen nie, daß Suddhodana König gewesen sei, sondern sprechen nur von einem sorgenfreien Leben.
Aber vielleicht kann man noch einen Schritt weitergehen. Die von Hermann Oldenberg gebrauchte Formulierung eines »adligen Grundbesitzers« entstammt der Vorstellungswelt des letzten Jahrhunderts mit ihren adligen Gutsbesitzern und Junkern. Sie läßt sich aber nur höchst ungenau auf die Gesellschaftsordnung zu Buddhas Zeiten übertragen, die bereits vom Kastenwesen geprägt war.
Dieses Kastenwesen, am ehesten noch mit den mittelalterlichen Zünften vergleichbar, war eine soziale Rangordnung, die ursprünglich von der Hautfarbe ausging und die hellhäutigen eingewanderten Arier von der dunkelhäutigen Urbevölkerung Indiens schied. Kaste war »Varna«: Farbe.
Während die indogermanischen Einwanderer sich stolz die Arija, die Edlen nannten, sprachen sie in den Veden, ihren alten Heiligen Schriften, von der Urbevölkerung der Dasa nur verächtlich als von den »Schwarzhäutigen«, den »Nasenlosen«, den »Mißredenden von feindlicher Sprache« und von den »Unholden«.
Denn als die Arier um das Jahr 1000 vor Christus von Pandschab aus in das östlich gelegene Gangestal vorstießen, hatte sich in dem von ihnen bereits besetzten Gebiet schon ein Herr-Knecht-Verhältnis herausgebildet, das sich in vier Hauptkasten manifestierte: der Priesterkaste der Brahmanen, dem Stand der Krieger, den Bauern und Gewerbetreibenden und der Kaste der Dienenden. Die Angehörigen der ersten drei Kasten waren Arier. Die vierte Kaste der »Schudras« bestand mit ihren zahlreichen Unterkasten aus Leuten von »dasischer Hautfarbe«.
Wenn also von einem »adligen Grundbesitzer« die Rede ist, dann ist zunächst einmal gemeint, daß Suddhodana ein Arier war, der zur Kriegerkaste oder zu den Bauern gehören konnte. Welchen Rang Suddhodana innerhalb seiner Kaste tatsächlich einnahm, wissen wir nicht; seine gesellschaftliche Stellung läßt sich nur aus seinem vermuteten Reichtum schließen.
Nun gibt es aber eine Stelle in einem alten buddhistischen Text, die diesen sozialen Status der Sakjas insgesamt anzweifelt. Es wird da berichtet, daß sich ein Brahmane bei Buddha beschwert, die Sakja hätten sich über ihn lustig gemacht, als er das Versammlungshaus in Kapilavatthu besuchte. »Das aber, o Gotama«, heißt es dann weiter, »gehört sich nicht, daß die Sakja, die nichts weiter als einfache Hausdiener sind, einen Brahmanen weder verehren, noch hochschätzen, noch anerkennen, noch ihm die Ehre erweisen und Geschenke machen.«
Wenn damit nicht die Überheblichkeit der Brahmanen charakterisiert werden soll, könnte diese Stelle nahelegen, daß die Sakja und damit auch die Familie des Buddha in Wirklichkeit nicht zu den führenden Kasten gehörte, ja nicht einmal Arier waren. Der »Stolz der Sakja« hatte möglicherweise eine ganz andere Ursache. Wir wissen nämlich, daß gerade das Gebiet der Sakja erst relativ spät von den arischen Einwanderern eingenommen worden ist. Die mit den Kosala verwandten Sakja könnten deshalb als »Dienende« also auch zu den Ureinwohnern aus dem Himalaja gehören.
Im »Brahman der hundert Pfade«, einem Werk des Veda, wird erzählt, wie sich Agni Vaischvânara, der Gott des Feuers, vom Pandschab aus nach Osten zum Ganges wandte und über die Flüsse »hinwegflammte«, die auf seinem Wege lagen. So kam er auch zum Fluß Sadânîrâ, der von den Schneebergen im Gebirge herabströmte, aber über ihn flammte Agni nicht hinweg. Und dann heißt es: »Den überschritten vordem die Brahmanen nicht, denn Agni Vaischvânara war nicht über ihn hinweggeflammt. Jetzt aber wohnen östlich von dort viele Brahmanen.«
Wo dieser Fluß genau zu suchen ist, wissen wir zwar nicht, aber da er in der Geschichte als Grenze der Kosala und der Videha bezeichnet wird, können wir wenigstens die Gegend angeben: Es ist das Gebiet westlich und südlich von Kapilavatthu, dem Geburtsort des Buddha (auf heutigen Karten Oudh und Nordbihar). Der Buddha selbst wird in den alten Texten allerdings als Arier geschildert. In einer seiner Ich-Erzählungen redet er von seiner »hellen, reinen Hautfarbe«, und in einer recht blumigen legendären Erzählung wird er sogar als blauäugig beschrieben:
»Sein Körper glich des goldnen Berges Gipfel,
des Elefanten Nacken seine Schultern,
des Frühlings Donner seine Stimme und sein
tiefblaues Auge dem des Rinderkönigs …
das Antlitz hellglänzend wie der Vollmond,
sein Gang den Schritten gleich des Löwenkönigs …«
Wie der Buddha in Wirklichkeit aussah, wissen wir nicht. Von Indien bis China, von Tibet bis Ceylon haben ihn die Gläubigen später so dargestellt, als wäre er einer der ihren.
Wir werden uns auch in Zukunft damit begnügen müssen, Fakten und historische Tatsachen aus Bildern und Erzählungen abzuleiten – nicht weil es der Buddhismus so verlangt, sondern weil dies der indischen Mentalität entspricht, die keinerlei Sinn für Zahlen und historische Genauigkeit hat. Ein Volk, das dem »Königssohn« Siddattha vierundachtzigtausend Frauen andichtet und von dreihundertdreißig Millionen Göttern redet, obwohl keine Sprache der Welt auch nur soviel Worte hat, um sie zu benennen – ein solches Volk empfindet phantasievolle Erzählungen als äquivalent für die Realität, weil man ja versteht, was gemeint ist.
Die Geburt im Hain von Lumbinî, so erzählen die alten Geschichten, brachten dem ganzen Land Reichtum, Elefanten, Pferde, Wagen und kostbare Gefäße. Verborgene Schätze stiegen von selbst aus dem Erdboden und »aus der Mitte des Schneegebirges kam freiwillig, lautlos, von weißen Elefanten eine Herde und eine Schar von Rossen aller Farben … obwohl von Menschen nie gezähmt, doch lenksam, kam angesprengt … aus der Wüste, wo sie geboren waren«. Die Kühe gaben nun »duftig reine Milch in Strömen«, die Hungersnöte hörten auf, jede Art von Krankheit verschwand, die Leute wurden fromm – und »weil so viel von guter Vorbedeutung zusammentraf«, nannte man das Kind »Siddattha«.
Damit wird ein Name erklärt, der sinngemäß heißt »jeder Wunsch ist erfüllt«. Die Grundbedeutung des Wortes ist freilich wesentlich plastischer und spiegelt die Erfolgsvorstellung einer bäuerlichen Gesellschaft wider: So wie Suddhodana einer war, »der reinen Reis besitzt«, so war Siddattha »einer, der weißen Senf besitzt«: Damit war jeder Wunsch erfüllt.
Aber obwohl bei der Geburt des zukünftigen Buddha das Weltall jubilierte, wurde sein eigenes Schicksal nicht verschont: Acht Tage nach seiner Geburt starb seine Mutter Mâjâ, offenbar im Kindbett; nach der Legende aber aus »Übermaß an Freude«, nachdem sie all die Wunder bei der Geburt ihres Kindes gesehen hatte.
Gelehrte des letzten Jahrhunderts haben aus dieser seltsamen Begründung geschlossen, daß der Tod weniger aus solch einem freudigen Anlaß eintrat, sondern weil die Legendenbildung selbst den Tod notwendigerweise brauchte. Denn so wie Maria nach katholischer Tradition keinen Geschlechtsverkehr und damit keine weiteren Kinder hatte, weil die »Mutter Gottes« keine Frau im üblichen Sinne war, so sollte nun auch die buddhistische Tradition den Tod der Mâjâ erfunden haben, weil auch sie einen Erlöser geboren hatte. Nicht umsonst, so argumentierte man, bedeutet Mâjâ in der indischen Philosophie »Schein«, »Trug«, »Illusion« und »Täuschung« – alles Begriffe, die Buddha durch seine Selbsterlösung überwinden wollte.
Doch das ist allzusehr aus dem christlichen Kulturkreis und seiner Leibfeindlichkeit heraus gedacht, die dem indischen Denken von Grund auf fremd ist. In einem Land, wo es Tempel gibt, deren Erbauer alle nur denkbaren Formen des Geschlechtsverkehrs mit den drastischsten Darstellungen in Stein gemeißelt haben, kann man keinen Unterschied zwischen Gottesnähe und Geschlechtlichkeit konstruieren, im Gegenteil. Und daß ausgerechnet der Name der Mutter die zukünftige Philosophie ausdrücken soll, ist bei den durchaus reellen Namen von Vater und Sohn unwahrscheinlich.
Für eine spätere Erfindung des frühen Todes der Mutter spricht allerdings die Tatsache, daß stereotyp berichtet wird, Siddattha habe »Vater und Mutter« verlassen, als er in die »Hauslosigkeit« ging und Mönch wurde. Aber ein anderer Erzählfaden berichtet auch, daß nach dem frühen Tod seiner Mutter deren Schwester Mahâpadschâpatî (»die sehr Nachkommenreiche«) die Pflege übernahm und als zweite Frau des Suddhodana seine Stiefmutter wurde. Sie könnte gemeint sind, wenn von »Vater und Mutter« die Rede ist. Jedenfalls wird heute allgemein akzeptiert, daß Mâjâ an den Folgen der Geburt gestorben ist und daß Mahâpadschâpatî den Jungen zusammen mit einigen Halbgeschwistern aufgezogen hat.
Das ist auch so ziemlich alles, was wir von ihr erfahren. Erst Jahrzehnte später ist sie für den »Erleuchteten« Anlaß zu Skepsis: Als nämlich seine Stiefmutter die Lehre des Buddha annahm und selbst ein Nonnenkloster gründete, fürchtete der Buddha um den Fortbestand seiner Lehre. »Tausend Jahre würde die reine Lehre bestehen bleiben«, sagte er damals zu seinem Lieblingsjünger Ânanda, wenn nicht »die Weiber« wie »Mehltau« das Reisfeld, »das in vollem Gedeihen steht«, ruinierten. Und dann stellte er eine eklatant falsche Prognose: »Nun aber, Ânanda, wird Heiliges Leben nicht lange bewahrt bleiben; nur fünfhundert Jahre, Ânanda, wird jetzt die Lehre der Wahrheit bestehen.«
Fünfhundert Jahre nach seinem Tode erreichte der Buddhismus in Indien trotz der Weiber gerade seinen Höhepunkt; erst mehr als tausend Jahre nach seinem Tode ging er dort im Ansturm des Islam unter.
Mit dem Tod seiner Mutter Mâjâ endet auch schon die Kindheitsgeschichte Siddatthas. Zwar gibt es noch Berichte, die den Besuch eines Weisen beschreiben, der die zukünftige Herrlichkeit des Buddha prophezeit; die Begegnung mit dem König von Magadha, und schließlich eine Versuchungsgeschichte mit Mâra, dem indischen Satan. Aber sie sind so offensichtlich Bausteine der üblichen Heiligenverehrung, daß man sie historisch außer acht lassen kann.
Die einzige Stelle, die man trotz aller legendären Ausschmückungen vielleicht ernster nehmen sollte, stammt aus einer »Ich-Erzählung«; denn was auch immer daran wahr sein mag, sie hat erzählerische Atmosphäre und fällt damit aus den oft formelhaften Buddhageschichten deutlich heraus:
»Ich war zart«, heißt es da, »höchst zart, übermäßig zart. Für mich waren am Wohnort meines Vaters Teiche angelegt, in denen für mich allein blaue, rote und weiße Lotosblumen blühten. Ich benutzte nur Sandelsalbe aus Benares; aus Benaresseide war auch mein Kopftuch, mein Wams, mein Unter- und Obergewand. Tag und Nacht wurde über mir ein weißer Schirm gehalten, damit mich weder Kälte, noch Hitze, noch Staub, noch Schmutz, noch Tau berührte. Ich besaß drei Paläste, einen für die kalte Zeit, einen für die heiße Zeit und einen für die Regenzeit. Ich verbrachte die vier Monate der Regenzeit in dem für die Regenzeit bestimmten Palast und wurde von weiblichen Musikanten aufgewartet.«
Diese Geschichte will zweierlei sagen: Einmal soll sie deutlich machen, daß Buddhas Jugend wohlbehütet und sorglos verlief und daß er reicher Leute Kind war; eine Tatsache, die die Legenden bis hin zu den vierundachtzigtausend Nebenfrauen phantasievoll ausschmücken. Dabei ist die pädagogische Absicht dieser Legenden nicht zu übersehen: Sie zeigen uns einen Siddattha, der bereits die Buddhaschaft vorausnimmt, indem ihn die Welt und ihr materieller Reichtum gleichgültig läßt. Denn was auch immer Siddattha an Geschenken und Spielzeug bekam: »Sein Geist ließ sich durch den bunten Flittertand nicht stören.«
Statt dessen wuchs Siddattha »täglich … an Schönheit seiner Person und geistigen Vortrefflichkeiten«, so daß er »schon nach einmal erhaltener Unterweisung seine Lehrer übertraf« – wie der zwölfjährige Jesus, der die Schriftgelehrten im Tempel durch sein Wissen in Erstaunen setzte.
Als zweites macht uns die Erzählung deutlich, daß Siddattha ein zartes und schwächliches Kind gewesen sein muß. Wenn das so gewesen sein sollte, dann könnte dies einen nützlichen psychologischen Hinweis abgeben. Wir könnten uns den späteren Buddha als einen Jungen vorstellen, der durch seine körperliche Konstitution eher zum kontemplativen als zum aktiven Leben neigte und dessen Zartheit ihn für Krankheiten eher anfällig machte als einen vitaleren Typ.
Dies könnte erklären, warum der entscheidende Durchbruch der Erleuchtung darin bestand, Leiden, Krankheit und Tod durch Nichtbeachtung zu überwinden und sich dadurch von ihnen zu lösen.
Das nächste, was wir aus der Jugend des Siddattha erfahren, ist seine Heirat, die mit sechzehn Jahren stattgefunden haben soll. Weil Siddatthas Geist »der Welt abgewandt war«, hatte sein Vater sich für ihn unter den Stammestöchtern umgesehen, die »im Ruf der Anmut und Bildung« standen und schließlich in der eigenen Verwandtschaft ein Mädchen gefunden »würdig, seines Sohnes Gemahlin zu werden und durch muntere Schalkheit dessen Herz zu gewinnen«.
Dieses Mädchen, »zart und lieblich, sanftmütig und bescheiden im Betragen, erhaben wie die Königin des Himmels, stets heiter, Tag und Nacht in gleicher Weise« war Jasodharâ, seine Cousine mütterlicherseits (die Tochter des Bruders seiner verstorbenen Mutter Mâjâ).
Wir hören dann von der Geburt seines Sohnes Râhula, den ihm Jasodharâ, »die Tugendreiche«, als der Buddha neunundzwanzig Jahre alt war, gebar. Diese lange Dauer zwischen Heirat und Geburt des Sohnes versuchen die Legenden mit der Lehre Buddhas zu erklären, die sie beharrlich bereits in die Jugendzeit Siddatthas verlegen.
Da der Buddha später die Lösung von der Begierde predigte, wird dies auch schon auf sein Eheleben projiziert: »Als Gift die wilde Gier betrachtend, beherrschte er der Sinne Leidenschaften … nach ernster Unterredung nur verlangend.«
Das paßt natürlich sehr schön in das legendäre Gemälde, muß aber nicht stimmen, denn schon die vierundachtzigtausend Nebenfrauen ruinieren dieses Bild heiligmäßiger Abstinenz. Statt dessen könnte man auch mit einigem Recht annehmen, daß Siddattha bereits eine Anzahl Töchter hatte, daß aber nur der Sohn als Stammhalter genannt wird. Dem entspräche die heute noch in Indien gültige Einstellung, daß man auf die Frage, wieviel Kinder einer habe, etwa zur Antwort bekommt: ein Kind (= ein Sohn) und zwei Töchter.
Die Geburt Râhulas brachte im Leben des Siddattha die entscheidende Wende und beendete abrupt seine »bürgerliche« Biographie. Er gab sein gewohntes Leben auf, verließ seine Familie und ging als Mönch in die »Hauslosigkeit«. In einem der wenigen »Ich-Berichte«, die noch am ehesten den Eindruck einer alten Überlieferung vermitteln, heißt es dazu lapidar: »Jung an Jahren habe ich einstmals, in blühender Jugendkraft als Jüngling mit schwarzem Haar, im ersten Mannesalter, mir Haupthaare und Bart scheren lassen, habe die Mönchsgewänder angelegt und bin aus dem Haus in die Hauslosigkeit gezogen, obgleich meine Eltern dies nicht wünschten, obgleich sie Tränen vergossen und weinten.«
Um diesen entscheidenden Schritt zu verstehen, muß man die geistige und religiöse Situation seiner Zeit kennen.
Siddattha lebte in einer Zeit der religiösen Unruhe, in der die Brahmanen ihre unangefochtene Stellung als Priester verloren. Jahrhundertelang hatte niemand daran gezweifelt, daß allein die Brahmanen wußten und schließlich sogar bestimmten, was die Götter wollten. Jahrhundertelang hatten sie das einzige Mittel verwaltet, um die Götter gnädig zu stimmen: das Opfer. Wenn sie am Morgen nicht opferten, so glaubte man, würde die Sonne nicht aufgehen können.
Lange, viel zu lange hatten sich die Brahmanen in ihrer Selbstüberschätzung für Übermenschen, ja sogar für »Menschengötter« gehalten, ohne die die Götter im Himmel nicht existieren konnten. Die Brahmanen waren von den Dienern der Götter zu ihren Herren geworden; sie waren es, die über Erlösung und Verdammnis entschieden, nicht die Götter. Sie allein waren es, die durch ihren Lebenswandel, durch Askese und Weltabgeschiedenheit, ihr Heil und damit das Heil der Welt bestimmten.
Nicht umsonst nannten sie sich nach Brahman, der All-Seele. Brahmanas ist ein Wort, das sich aus der Wurzel b-r-h ableitet, die »stark sein« bedeutet und ebenso »heilige Macht« wie »Opferwort« bezeichnet. Denn durch ihre Opferhandlungen und durch bestimmte Zauberformeln machten sie das Brahman überhaupt erst zum »Haupt dieses Alls«. Durch ihr Zauberwort wurden »Himmel und Erde zusammengehalten«, deshalb war »der Brahmane das Haupt dieses Alls«.
Diese Machtstellung, die die Brahmanen auch dadurch nutzten, daß sie sich zur vornehmsten Kaste erklärten und außerhalb der Gerichtsbarkeit standen, hatten sie erst allmählich gewonnen.
Als die Arier etwa um 1500 vor Christus oder davor in den Nordwesten Indiens einwanderten, waren nicht die Priester, sondern die Krieger die mächtigste Gruppe. Ihre Häuptlinge und Könige waren es, die die Opferhandlungen vollzogen, die Brahmanen assistierten dabei lediglich. Indem sie aber alle Zauberformeln und Opferriten sammelten und sie nur innerhalb ihrer Sippe überlieferten, konnten sie mit Hilfe dieses Geheimwissens ihre Machtstellung aufbauen.
Dabei verhielten sie sich genauso wie die Druiden in Gallien, »die es nicht für Recht hielten«, ihre Lehren aufzuschreiben, denn – so Julius Cäsar in seinem »Gallischen Krieg« – »einmal wollen sie nicht, daß ihr Wissen zum Allgemeinbesitz werde, und dann sollen diejenigen, die sich dieses Wissen aneignen, sich nicht auf die Schrift verlassen und so ihr Gedächtnis vernachlässigen«.
Zwar behauptet der griechische Geograph Strabo um die Zeitenwende, die Inder hätten ohnehin nicht schreiben können, denn sie »kennen nicht einmal die Buchstabenschrift und verhandeln alles aus dem Gedächtnis«, aber das ist schlicht unzutreffend. Längst schon schrieben die Arier ihr Sanskrit in einer dem semitischen Alphabet entlehnten Schrift (allerdings von links nach rechts); nur eben: Das »Wissen« der Arier wurde absichtlich nicht aufgeschrieben, sondern in jahrelanger Mühsal – es ist von zwölf Jahren die Rede – auswendig gelernt und durch Rezitieren weitergegeben. Wurde ein Angehöriger der nichtarischen Kaste versehentlich Zeuge einer solchen Rezitation, so wurde ihm zur Strafe glühendes Blei in die Ohren gegossen. Schließlich aber wurde dieses »Wissen« – das Sanskritwort dafür heißt »veda« – doch noch aufgeschrieben: Es sind die »Veden«, die älteste Literatur der Inder. Sie enthalten neben ausufernden Erzählungen Hymnen, Lieder, Opfersprüche und Vorschriften für die Opferhandlungen. Sie gliedern sich in den Rig-Veda und die zeitlich jüngeren Sâma-Veda, Jadschur-Veda und Atharva-Veda – eine ungeheure Sammlung, die den Umfang der Bibel um das sechsfache übertrifft, und von der wir aber leider nicht wissen, wann ihre Niederschrift erfolgte.