Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «Le dernier des injustes» bei Éditions Gallimard, Paris.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2017
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«Le dernier des injustes» Copyright © 2015 by Éditions Gallimard, Paris
Sämtliche Abbildungen und Fotos stammen als Fotogramme aus dem Film «Le dernier des injustes» unter der Regie von Claude Lanzmann (2013), Copyright © 2015 by Éditions Gallimard
Redaktion der deutschen Ausgabe Frank Strickstrock
Redaktionelle Mitarbeit Jessica Küster
Der deutsche Text folgt der deutschen Fassung des Films von «Le dernier des injustes», «Der Letzte der Ungerechten»; die verwendeten Untertitel produzierte DeLuxe-Videotitel, Wien; Übersetzung: Petra Metelko
Copyright © 2013 by Synecdoche – Le Pacte – Dor Film – France 3 Cinema – Les Films Aleph.
Die Zitate von Benjamin Murmelstein stammen aus: Benjamin Murmelstein, «Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto», Copyright © 2014 by Czernin Verlags GmbH, Seiten 43–46 sowie 58/59. Titel der Originalausgabe: Benjamin Murmelstein, «Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann», Copyright © 2013 by Editrice La Scuola; Copyright © der Erstausgabe: Cappelli 1961
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63210-5 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-40026-9
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-40026-9
Wenn Benjamin Murmelstein von der russischen Grenze spricht, handelt es sich um die Demarkationslinie zwischen dem Teil Polens, den die Deutschen nach ihrer Invasion besetzten, und dem der Roten Armee, die ihrerseits am 17. September 1939 in Polen einmarschiert war. Eine Teilung Polens, die der Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939 vorsah.
Hier irrt sich Murmelstein; die Landung der Alliierten in Nordafrika begann am 8. November 1942.
Chametz, in aschkenasischer Aussprache Chometz, ist das jiddische Wort für das hebräische Hamets und heißt wörtlich übersetzt Gesäuertes. Gemeint sind Nahrungsmittel, die eine der fünf Getreidearten Weizen, Hafer, Roggen, Gerste und Dinkel enthalten und bei ihrer Herstellung mehr als 18 Minuten mit Wasser in Berührung waren, ohne gebacken zu werden. Sie müssen nach dem jüdischen Brauch vor Pessach aus dem Haus entfernt und an Nichtjuden verkauft oder weitergegeben werden.
Der Mann Moses und die monotheistische Religion, die letzte Veröffentlichung von Sigmund Freud, die in seinem Todesjahr 1939 erschien.
Für Iris van der Waard
Der Rabbiner Benjamin Murmelstein war der letzte Vorsitzende des «Judenrates» von Theresienstadt. 1975 filmte ich ihn eine Woche lang in Rom. Der Fall Theresienstadt war in meinen Augen zugleich Nebenprodukt und zentraler Faktor der Entstehung und des Ablaufs der «Endlösung».
Aber ich habe die vielen Stunden Interview am Ende nicht in den Aufbau von Shoah einbeziehen können, so reich sie auch waren an Enthüllungen aus erster Hand. Es hat lange gedauert, bis mir klar war, dass Benjamin Murmelstein und Theresienstadt einen eigenen Film verlangen.
Theresienstadt liegt sechzig Kilometer nordwestlich von Prag. Ursprünglich war es eine Festungsanlage, Ende des 18. Jahrhunderts von Kaiser Joseph II. zu Ehren seiner Mutter Maria Theresia erbaut. Sie wurde von den Nazis als Standort ausgewählt für das, was Adolf Eichmann selbst «Vorzeige-Ghetto» nannte. Im März 1939, ein Jahr nach der Annexion («Anschluss») Österreichs, hatte Deutschland die Republik Tschechoslowakei zerschlagen, sie durch den Vasallenstaat Slowakei ersetzt und das «Protektorat Böhmen und Mähren» (wie das Hitler-Regime die Tschechische Republik umtaufte) errichtet. Die Entscheidung, ein Ghetto aus Theresienstadt zu machen, wurde im November 1941 getroffen. Wie in allen Ghettos in Polen nach Oktober 1939 wurde ein Rat der Alten eingesetzt, bestehend aus zwölf Mitgliedern und einem sogenannten «Judenältesten» – die Wortwahl ist abwertend und eine Anspielung auf tribalistische Verhältnisse. Es gab in Theresienstadt während des vierjährigen Bestehens des Ghettos, zwischen November 1941 und Frühling 1945, drei aufeinanderfolgende «Judenälteste».
Der erste, Jakob Edelstein, war aus Prag, Zionist und für die Jugend. Nach zwei Jahren der Nazihölle, in der den Juden alles, buchstäblich alles verboten war, begrüßte er die Schaffung von Theresienstadt mit blindem Optimismus und hoffte darauf, dass das harte Leben, das sie erwartete, eine Vorbereitung für ihr zukünftiges Leben in Palästina sein möge. Die Nazis verhafteten ihn im November 1943, deportierten ihn nach Auschwitz und töteten ihn sechs Monate später durch einen Genickschuss, nachdem sie vor seinen Augen auf dieselbe Weise seine Frau und seinen Sohn ermordet hatten. Der zweite Älteste hieß Paul Eppstein, er war aus Berlin und kam ebenfalls durch einen Genickschuss ums Leben, am 27. September 1944 in Theresienstadt selbst in der Kleinen Festung, die als Gefängnis und Hinrichtungsstätte diente.
Benjamin Murmelstein, der dritte und letzte, Rabbiner aus Wien und Stellvertreter von Josef Löwenherz, dem Vorsitzenden der Kultusgemeinde der österreichischen Hauptstadt, wurde im Dezember 1944 zum Ältesten ernannt. Murmelstein war von außergewöhnlicher Statur und ein brillanter Kopf, der Intelligenteste der drei und, vielleicht, der mutigste. Anders als Jakob Edelstein konnte er sich mit dem Leid der Alten nicht abfinden. Obwohl es ihm gelang, das Ghetto bis in die letzten Kriegstage zu erhalten und seinen Bewohnern die von Hitler verordneten Todesmärsche zu ersparen, zog er sich den Hass einer Reihe Überlebender zu. Als Besitzer eines Diplomatenpasses des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes wäre es ihm ein Leichtes gewesen zu fliehen. Er tat es nicht und zog es vor, sich von den Tschechen verhaften und einsperren zu lassen, nachdem man ihn der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt hatte. Er saß achtzehn Monate im Gefängnis, bevor er in allen Punkten der Anklage freigesprochen wurde. Er ging ins römische Exil, wo er ein ziemlich hartes Leben führen musste. Er reiste nie nach Israel, obwohl er den tiefen Wunsch dazu hegte und das Land aufrichtig liebte.
Alle Judenältesten fanden ein tragisches Ende. Benjamin Murmelstein ist der Einzige, der überlebte. Das macht sein Zeugnis so unendlich wertvoll. Er lügt nicht, er ist ironisch, sardonisch, hart gegen andere und sich selbst. Bezug nehmend auf den Titel von André Schwarz-Barts Meisterwerk «Der Letzte der Gerechten» nennt er sich selbst «Der Letzte der Ungerechten». Somit hat er dem Film und in der Folge diesem Buch seinen Namen gegeben. Vor unseren Gesprächen im Jahr 1975 hatte er auf Italienisch ein Buch mit dem Titel Terezin. Il ghetto-modello di Eichmann (Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto) geschrieben, erschienen 1961. Der Ton des Buches und der unserer Unterhaltungen ist sehr unterschiedlich: Das Buch stellt mit einer brüderlichen Anteilnahme und der schriftstellerischen Gabe Murmelsteins die Opfer und ihr entsetzliches Leid in den Mittelpunkt. In den Gesprächen verteidigt er eher sein Tun.
Bei seiner ersten Erwähnung im Film sind wir im Jahr 1943, bei der Ankunft eines «Transports» deutscher Juden aus Hamburg. Die Deutschen hatten gerade beschlossen, Deutschland «judenrein» zu machen und die letzten Personen mit einem besonderen Status, die bis dahin hatten zu Hause bleiben können, wenn auch unter schlimmsten Verhältnissen, nach Theresienstadt zu deportieren. In Theresienstadt waren seit 1941 vor allem tschechische und österreichische Juden. Dank den Ersteren, Mitgliedern des Technischen Büros, die Baupläne erstellen mussten und hervorragende Zeichner waren, verfügen wir über eine unvergleichliche Sammlung von Kunstwerken, die Zeugnis davon geben, wie das Leben im «Vorzeige-Ghetto» wirklich war. Gebaut für maximal 7000 Soldaten, nahm Theresienstadt zu Spitzenzeiten 50000 Juden auf. Die meisten dieser genialen Künstler, die in tiefster Nacht aufstanden, um heimlich ihre Bilder und Zeichnungen zu schaffen, die sie dann in der Erde vergruben, wurden in den Gaskammern der Vernichtungslager ermordet. Aber ihre Namen sind für immer in unserem Gedächtnis. Jene großen Musiker, Schauspieler, Schriftsteller, Regisseure, die eine Zeitlang in Theresienstadt waren, bevor sie weiter im Osten starben. Ein Wort zum Schluss: Während Murmelstein von Eichmann damit beauftragt worden war, die Zwangsumsiedelung der österreichischen Juden in Wien zu organisieren, gelang es ihm von 1938 bis zum Ausbruch den Krieges, mehr als 120000 Juden zur Flucht zu verhelfen.
Wer in aller Welt kennt heute noch Bohušovice und seinen Bahnhof? An der viel befahrenen Eisenbahnstrecke Prag– Dresden und weiter nach Berlin.
Doch zwischen November 1941 und Frühling 1945 kamen 140000 Juden auf diesen Bahnsteigen an. Besser gesagt, sie wurden hier abgeladen. Um unter übelsten Bedingungen in das drei Kilometer entfernte Theresienstadt gebracht zu werden, das auf Tschechisch Terezín heißt, jene Stadt, die Hitler den Juden zum Geschenk gemacht hatte. Es war in allen Nazizeitungen zu lesen: «Der Führer schenkt den Juden eine Stadt.» Was für ein Geschenk!!
In seinem Buch «Theresienstadt. Eichmanns Vorzeige-Ghetto» schreibt Benjamin Murmelstein: