Thomas von Steinaecker
Die Verteidigung des Paradieses
Roman
FISCHER E-Books

Thomas von Steinaecker wurde 1977 geboren und lebt als Autor, Journalist und TV-Regisseur in Augsburg. Er veröffentlichte die Romane ›Wallner beginnt zu fliegen‹, ›Geister‹, ›Schutzgebiet‹ und ›Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen‹, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, darunter dem aspekte-Literaturpreis und dem Bayerischen Kunstförderpreis.
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Er möchte ein guter Mensch sein. Aber Heinz lebt in einer Welt, die Menschlichkeit nicht mehr zulässt. Deutschland ist verseucht und verwüstet, Mutanten streifen umher, am Himmel kreisen außer Kontrolle geratene Drohnen. Zusammen mit seinem besten Freund, einem elektrischen Fuchs, dem Fennek, wächst Heinz in einer kleinen Gruppe Überlebender in den Bergen auf. Er nimmt sich vor, die verlorene Zivilisation zu bewahren, sammelt vergessene Wörter und schreibt die Geschichte der letzten Menschen. Doch was nützen Heinz Wissen und Kunst jetzt noch? Da gibt es plötzlich das Gerücht, weit im Westen existiere ein Flüchtlingslager. Und die Gruppe bricht auf zu einem mörderischen Marsch ins vermeintliche Paradies … Thomas von Steinaecker schreibt einen atemberaubenden Roman: literarisch virtuos, philosophisch radikal und zutiefst berührend.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, D-60596-Frankfurt am Main, Hedderichstr. 114
Mit zwei Reklamen von Sascha Hommer
Covergestaltung: hissmann, heilmann, hamburg / Sonja Steven
Coverabbildung: Frank Mädler
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ISBN 978-3-10-403024-1
Gemäß Sicherheitsvorschrift § 3T anonymisiert.
Z.B.: Es brauche »eine besondere Begabung«, um »nach Paris zu dürfen« etc.
Visual-File 82903993-GJ / KILL-Protokoll: 12097721 + 12097789 + 12097801 + altes Gruppenmitglied (im Folgenden AG) + rup3/Fennek + ggj1/Kaninchen (pink) auf 46° 9’ N, 5° 25’ O. 12097789 + AG ab. 12097721 + 12097801 + rup3/Fennek + ggj1/Kaninchen (pink) Standort haltend. 12097789 terminiert AG (Stein auf Kopf). 12097789 zerlegt AG (mit Steinen / Händen). 12097721 hinzu. AAA+-Emotion/negativ. Ggj1/Kaninchen (pink) entzündet Feuer. Kochen + Teilverzehr von Fleisch (AG) durch 12097721 + 12097789 + 12097801 + rup3/Fennek + ggj1/Kaninchen (pink).
Z.B.: »Warum dürfen sich die Antragsteller im Camp nicht weiterbilden?«, »Eigentlich sind wir doch Asylanten-Toys für Sie«, »Wenn 87 % aller Asylanten rückgeführt werden, wie es im Lager heißt, was für einen Sinn hat dann ein angebliches Rettungscamp wie dieses?« etc. [Originalwortlaut gemäß § 78.990 modifiziert] (siehe weiter Audio-File 12097 721 / TSTSTS07-P1)
Z.B.: umfassende Aufklärung über Situation, längerer Aufenthalt mit einer »fairen Chance«, nach »Paris« zu gelangen.
§ 1 Personalisierung des Gesprächs. Beispielsatz: »Versetzen Sie sich einmal bitte in meine Lage.« § 2 Produktion von Vertrauen durch Preisgabe angeblich vertraulicher Informationen, einzuleiten mit Ausschalten der Recorder-Attrappe und dem Satz: »Ich verrate Ihnen jetzt einmal etwas, aber Sie müssen mir versprechen, dass das unter uns bleibt.«: 1. Nur sehr begrenzter Raum innerhalb der Environment-Shields der NEU, 2. Große Sozialprobleme bei Asylanten-Integration, 3. Seit MK (d.i. Mitteleuropäischer Katastrophe) schwere gesamtglobale ökonomische Krise, vor allem in der NEU.
§ 3 Veranschaulichung durch die sog. »Gutemensch-Parabel«: »Stellen Sie sich vor: Ein dreijähriges Mädchen aus der Zone. Vollwaise. Nennen wir es Michaela. Wer würde ihm nicht ein neues Zuhause geben wollen? Also nimmt eine Mittelklasse-Familie es bei sich auf. Es handelt sich um eine sozial sehr engagierte, idealistische Familie, die in einem 5-Zimmer-Haus in einem schönen Vorort von Paris wohnt. Er Architekt, sie Lehrerin. Deren eigene elfjährige Tochter, nennen wir sie Marianne, freut sich sehr über die kleine neue Spielkameradin. Nachdem sich Michaela gut eingelebt hat und alle mit der neuen Situation glücklich sind, erklärt sich die Familie bereit, ein weiteres dreijähriges Kind aus der Zone aufzunehmen. Nennen wir es Michael. Es wird ein bisschen eng im Haus, aber es ist immer noch gemütlich. Auch bei den Finanzen kommt es nun hier und da zu Engpässen. Aber die Berichte in den Medien über die menschenunwürdigen Zustände in der Zone lassen unsere idealistische Familie nicht ruhen. Sie adoptieren einen weiteren zweijährigen Jungen, nennen wir ihn Heinrich. Ein Jahr später sind die Eltern geschieden, alle adoptierten Waisen aus der Zone müssen in ein Heim, ihre eigene Tochter, Marianne, muss in psychiatrische Behandlung. Am Ende lebt die Familie, die in eine finanzielle Notlage geraten ist, unter menschenunwürdigen Zuständen in einer viel zu kleinen Wohnung. Ein weiteres Jahr später schlitzt sich die arme Marianne die Pulsadern auf und stirbt. Die idealistische, herzensgute Familie ist NEU. Ihre Tochter, Marianne, unsere Zukunft. Was denken Sie über diese Parabel, [hier Nummer des Asylantragstellers einsetzen]?«
…
Stellungnahme zum eingeleiteten Instantmahnungsverfahren vom ▇▇▇▇:
Parallel zu den Interviews las ich [d.i. ▇▇▇▇ (anonymisiert)], außerhalb meines Dienstes + nach Sondertarif P abzurechnend im Auftrag der ZDE die handschriftlichen Texte von 12097721, von ihm »Hefte« genannt. Bei der Bekanntgabe seines Finaltranfers in Interview 14 reagierte 12097721 mit A-Emotion/positiv [→ 12097721: aufstehen, auf mich zutreten, Handschütteln + Artikulation bedeutungsunklarer Sätze (Zitat: »Es scheint, dass sich mein Leben immer dann zum Besseren wendet, wenn ich jemandem die Hand schüttele.«)] Rechtfertigung für Erwiderung dieser Geste = § 987 des Peking-Vertrags, obwohl Hundertprozentklarheit meinerseits, dass Paragraph ebd. durchschnittlich 0,3 Mal p.a. seit seinem Bestehen bemüht wurde. Happyacceptance, dass dies Grund zur Soft-Abmahnung. Zugleich aber Smiley ++-Bitte, zu bedenken, dass 12097721 als E-Klon mit der Bestimmung »Künstler« / Unterkategorie »Literatur« in seiner Gesamterscheinung konstruiert wurde, Verhalten seines Gegenübers (d.i. ich) zu seinen Gunsten zu manipulieren (→ z.B. Beeinträchtigung des Urteilsvermögens wegen Emotionen/positiv/Unterkategorie Mitleid). Zudem Bitte Smiley ++, zu erwägen, dass die abgeleisteten Überstunden zur Lektüre der »Hefte« von 12097721 mich negativanfällig gemacht haben (Intimbeispiel: Zum ersten Mal in meiner 94-monatigen Karriere als Helferin Klasse 1A beobachtete ich am ▇▇▇▇ um 5:34 Uhr MEZ von meinem Office aus einen Flugeinheits-Finaltransfer + empfand ich, während ich der Drohne nachschaute, die mit 12097721 + der ihm ausgehändigten Entertainment-Einheit rup3/Fennek über die Dünen der Wüste von Orléans Richtung Paris flog, AAA+-Emotionen/negativ/Unterkategorie Rührung sowie ▇▇▇▇.).
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.
Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden,
und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis,
und die Finsternis hat es nicht erfasst.
Ich wache auf, ich habe Durst. Nicht nur ein bisschen, sondern Durst à la: Noch zehn Minuten, und ich bin tot. Es ist mitten in der Nacht. In meinem Zimmer haben meine Eltern den Homie, unseren Haus-Computer, ausgeschaltet, damit ich nicht an ihm herumspiele. Also muss ich hinüber zum Lichtschalter, und das, obwohl ich wirklich riesige Angst vor der Dunkelheit habe. Und wenn ich riesig sage, meine ich schrecklich. Ich nehme also all meinen Mut zusammen, steige aus dem Bett und stolpere los. Bei jedem Schritt kleben meine nackten Füße kurz am Parkettboden fest. Dazu taucht in meinem Kopf ein absolut unheimliches Bild auf: wie sich die Haut der Sohlen in die Länge zieht. Endlich ertaste ich an der Wand den Schalter. Für einen Moment hatte ich befürchtet, ich befände mich gar nicht in meinem Zimmer, sondern in einer gewaltigen, leeren Halle ohne Ausgang auf einem fremden Planeten. Aber da ist der Schalter, ich wische darüber, und es ist mein Zimmer, auf dem Boden liegt mein Spielzeug, da steht mein Kleiderschrank, da mein Tisch mit dem Mal-Screen. Trotzdem sieht im elektrischen Licht alles anders aus als tagsüber. Als wäre hier gerade eben erst etwas geschehen, das nichts für Kinder ist. Im hellen Kegel, der aus meiner Tür in den Flur fällt, husche ich los, am Zimmer meiner Eltern und dem meines kleinen Bruders vorbei, vorbei am Erbstück, dem Wandteppich, der eine golden schimmernde Stadt mit Zinnen und Türmen zeigt. Endlich in der Küche, rufe ich außer Atem: »Licht!« Sofort führt der Homie meinen Befehl aus. Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um den Kühlschrank zu öffnen, strecke mich nach der Milchpackung, jetzt habe ich sie, sie ist schwerer als gedacht, aber heute rutscht sie mir nicht aus der Hand so wie letztes Mal. Ich drücke die Lasche auf. Leise ploppend zerplatzt eine durchsichtige Blase in der dreieckigen Öffnung. Das Hologramm auf der Packung ist Schönheit deluxe: Eine Kuh und ein alter Mann mit Schlapphut, grauem Bart und einem knorrigen Stab in der Hand schmiegen die Köpfe aneinander. Vor lauter Seligkeit haben beide ihre Augen zu Schlitzen verengt. Darunter steht ein Wort, von dem ich, obwohl ich noch nicht lesen kann, weiß, was es bedeutet, weil es meiner Mutter so wichtig ist. ARTGERECHT. Nur mal fürs Protokoll: Ich habe niemanden aufgeweckt und bin ganz allein nachts in die Küche geschlichen. Wenn ich meinen Eltern morgen davon erzähle, werden sie staunen. Vielleicht werden sie stolz auf mich sein. Wie die Zeit vergeht. Genau so sagen sie das manchmal. Ich führe die Kanten des Kartons an den Mund und spüre, wie die Milch durch meinen Körper fließt, durch meine Kehle, meine Brust, jetzt durch mein Herz, weiß und kalt.
Nur in absoluten Ausnahmesituationen rufe ich mir solche Glücksmomente deluxe aus der Voruntergangszeit ins Gedächtnis. Anders als sonst blieb ich also heute Morgen noch auf meiner Matratze liegen, während die anderen schon unten in der Stube rumorten. Jedes einzelne Altwort aus meiner Ich-hole-mir-Milch-aus-dem-Kühlschrank-Erinnerung flüsterte ich vor mich hin. Es ist ein ziemlicher Jammer, dass hier auf unserer Alm keiner mehr all die schönen Wörter braucht. Aber klar, was sollen die anderen auch mit Parkett, was mit Erbstück oder artgerecht anfangen, wenn das, was wirklich zählt, Vorräte, Ernte und Fleisch heißt? Ich stelle mir manchmal vor, die Altwörter wären kleine befellte Wesen und würden sterben, wenn man sich nicht richig um sie kümmert.
Ich muss gestehen, obwohl es ein wenig strange klingt: Ich habe das Gefühl, dass ich für diese Altwörter verantwortlich bin. Vielleicht versuche ich deshalb, sie mir so genau zu merken. Während ich putze, ausaste, die Schweine füttere oder was auch immer tue, sage ich mir all die inneren Listen, die ich in den vergangenen Jahren erstellt habe, wieder und wieder vor. Das hilft. In meiner aktuellen Top Ten der besten Altwörter ever steht zurzeit Salbader auf Nummer eins. Aber auch die Nummer zwei, weidlich, ist heftig. Genauso wie Amnestie. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Demonstration, Plenarsaal, Internet. Ich bin verrückt. Es ist schrecklich.
Aber ich wollte ja eigentlich von heute Morgen erzählen, von meinem fünfzehnten Geburtstag. Also. Ich bin aufgewacht, habe noch, wie gesagt, ganz kurz über ein paar Altwörter nachgedacht und bin wirklich freudigst aus unserer Schlafstube durch die Bodenluke die Leiter hinuntergeklettert, um Cornelius, Jorden, Chang, Özlem und Anne, die schon beim Frühstück saßen und besprachen, was es zu tun gebe, einen »wunderbaren Guten Morgen« zu wünschen. Das »wunderbar« habe ich ein klein wenig betont, weil dieses »wunderbar« ein gutes Wort ist, um daran anzuknüpfen, zum Beispiel mit »Einen wunderbaren Geburtstag wünsche ich dir!« oder so etwas in der Art. Kann schon sein, dass ich dabei ein wenig zu erwartungsvoll geguckt habe. Jedenfalls hat Jorden das alles wieder einmal in den falschen Hals bekommen.
»Schaust’n so?« Er blickte nur kurz von seinem Teller auf und grummelte dann in seinen langen dünnen Bart: »Is was?«
Na ja. Irgendwie war schon was: Niemand gratulierte mir zu meinem Geburtstag. Aber natürlich auch kein Grund zum Heulen, schließlich war ich ja nun wirklich kein Kind mehr. Also redete ich mir ein: Lass die erst mal richtig wach werden. Bestimmt ist Cornelius der Erste, der gleich was sagt. Irgendwie nahm ich es als ein Zeichen, dass er seinen himmelblauen Leinenanzug angezogen hatte, von all seinen Anzügen der mit den wenigsten Löchern. Cornelius trug ja trotz der Hitze immer wieder einen seiner sogenannten Sommeranzüge. Aber heute, da war ich mir sicher, trug unser weltbester Leader eben den himmelblauen extra wegen mir.
Plötzlich zischte er in Richtung Tür: »Gschgsch!« Vorfreude; doch dann sah ich das verschwommene haarige Gesicht an der Scheibe, die dunkle Gestalt, den Affen, der neugierig seine feuchte Schnauze gegen das Fenster presste. Sofort sprang Jorden, der wieder einmal in der allermiesesten Stimmung war, auf, stürmte nach draußen und begann, um ein Altwort zu gebrauchen, unflätig zu schimpfen und zu schreien. Seelenruhig wandte der Pavian unserer Hütte seinen fetten roten Popo zu und hoppelte über die Wiese, schaute sich herausfordernd lange um und setzte sich erst wieder in Bewegung, nachdem Jorden einen Stock in seine Richtung geschleudert hatte. Jetzt kam Leben auch in die anderen Affen, die in der großen Eiche am Waldrand hockten. Vor Begeisterung über das Schauspiel kreischten und sprangen sie auf den Ästen herum. Eines der Weibchen fletschte grinsend die Zähne, und es kam mir so vor, als würde es mich, Heinz, den Honk, auslachen.
In der Hütte machte sich derweil einer nach dem anderen bereit, an die Arbeit zu gehen. Ich war wirklich so nahe dran, Cornelius zu fragen, ob er nicht etwas vergessen habe. Bisher war doch immer der erste Februar, egal ob ich Mist gebaut hatte oder nicht, mein Festtag gewesen, Heinz-Tag.
Als hätte sie in diesem Augenblick meine Gedanken erraten, sagte Özlem etwas Herzliches, die Sommersprossen auf ihren hohen Wangenknochen tanzten, ich strahlte ihr ins Gesicht, freute mich riesigst – sie meinte allerdings gar nicht mich, sondern redete, während sie ihre schwarzen Locken zu einem Pferdeschwanz band, mit Chang, mit dem sie händchenhaltend abzog. Ich hörte, wie der Name Romy fiel. Sie sprachen ihn ganz fürsorglich aus. Also wollten sie nach der kranken Kuh schauen, die wir so getauft hatten und die seit gestern lahmte. Jorden war da schon weggestampft, klar, um erst einmal zu trainieren, wie er es nannte. Die anderen sagen, früher habe er sich fast ausschließlich um die Tiere und die Felder gekümmert – und jetzt mache er nur mehr seine sinnlosen Übungen. Aber die gute alte Anne, dachte ich mir, unsere Gemeinschaftsomi wird sich doch etwas für mich ausgedacht haben! Sie trat zu Cornelius, er streichelte ihr über die Schulter. Er flüsterte ihr irgendwas zu, wieder hörte ich Romy, immer bloß Romy, Anne seufzte tief, wie sie es manchmal tut, band sich ihren selbstgeflochtenen Strohhut ums Kinn und blinzelte in meine Ecke. Ich richtete mich auf. Sie sah mich gar nicht, schnarrte ein »Also dann« in Cornelius’ Richtung, und weg war sie.
Ich schwöre, all das hätte mich beinahe getötet. Ich knetete die Hände. Überlegte intensiv. Waren sie sauer auf mich? Manchmal konnten sie ja ganz schön angepisst sein, weil ich wieder, anstatt zu arbeiten, vor mich hin geträumt hatte. Früher hat Cornelius mich unseren Pinocchio genannt und gesagt, ich solle mal gut aufpassen, dass mir vor lauter Lügen nicht eine lange Nase wächst. Vor ungefähr einem Jahr hat es mir überall tierisch in den Beinen und Armen gezogen, und ich dachte schon, ich sei krank, und wenn ich sage krank, meine ich krank-krank, bis die anderen erklärten, ich komme jetzt wohl in das, was Pubertät heißt. Dann werde es bald erst so richtig schlimm mit mir. Ganz schlimm ist es nicht geworden, finde ich, aber ich bin seitdem fast jeden Monat ein Stückchen gewachsen, weswegen ich ab und zu heimlich vor unserem Spiegel im Klo stehe, dessen Glas grüne Flecken zuwuchern wie Schlingpflanzen die Tümpel im Wald. Immer wieder betaste ich meine Nase. Sie ist, wenn meine Berechnungen stimmen, mindestens einen Zentimeter länger geworden. Und obwohl ich weiß, dass das eigentlich nicht sein kann, befürchte ich manchmal echt, dass dieser eine Zentimeter vor allem die Folge meiner pinocchiomäßigen Untaten ist.
Als ich beispielsweise dachte, es wäre mir endlich gelungen, eine Zeitmaschine zu bauen. Das ist mir sogar jetzt noch peinlich, wenn ich das nach so vielen Jahren aufschreibe. Cornelius hatte mir damals erzählt, dass ein Mann im Vorvorjahrhundert eine Geschichte über so einen Wunderapparat geschrieben hatte und die schlauesten Forscher vor dem Untergang so nah – er hatte seinen kleinen Finger ausgestreckt –, wirklich so nah daran gewesen waren, eine Zeitmaschine zu konstruieren. Eine Art Auto, mit dem man durch die Jahrhunderte fahren konnte, vor, zurück, ganz wie man wollte. Ich rüstete also den alten, kaputten Solarjeep auf dem Schrottplatz, oben, beim Latschenfeld, um, schraubte eine Stange an, verknotete Kabel im Motor, drückte den Starter – und als ich ihn loslasse, denke ich: Yeah! Ich hab’s geschafft! Ich bin genau zwei Tage vor den »schwarzen Samstag«, den Untergang, gereist. Jetzt liegt es allein an mir, die Menschen in der Großen Ebene zu warnen. Ich rette die Städte vor der Vernichtung! Amen dazu! Niemand wird sterben! Happiness deluxe. Ich rannte los. Ich durfte keine Zeit verlieren. Auch wenn ich damals erst acht oder neun war, ist das wirklich zum Sterben peinlich. Und wen traf ich natürlich als Erstes? Jorden himself, was mich damals allerdings nicht weiter aus dem Konzept brachte, weil er ja früher als Ranger auf der Unteralm gearbeitet hatte. Ich war wirklich absolut davon überzeugt, dass er nichts von der bevorstehenden Katastrophe wusste. Ich also aufgeregt: »Herr Ranger, Herr Ranger!« Wie ein Honk. Er: »Hä?« Ich: »Bitte! Ich weiß, das hört sich unglaublich für Sie an, aber ich komme aus der Zukunft, um …« Er schüttelte den Kopf: »Mensch, Heinz. Was soll nur mal aus dir werden?« Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Keine Zeitmaschine. Keine Weltrettung durch Heinz, den Helden. Nada. Niente. Honk bleibt Honk. Wenn ich mir das so durch den Kopf gehen lasse, bin ich wirklich der größte Lügner, den man sich denken kann. Es ist schrecklich. Denn wer lügt, ist ein schlechter Charakter, und das darf ich auf gar keinen Fall sein, als einer der letzten zivilisierten Menschen und so. Aber das alles konnte doch unmöglich der Grund dafür sein, dass heute, an meinem Geburtstag, alle so zu mir waren! Das ist doch schon so lange her!
Den breiten Rücken mir zugewandt, kramte Cornelius in unserer Gemeinschaftskommode. Ihm schien es komplett egal zu sein, dass ich noch da war. Ich starrte auf den runden, kahlen Fleck auf seinem Hinterkopf, den er sorgfältig mit seinem wie immer akkurat auf Schulterlänge geschnittenen grauen Haar zu verbergen suchte. Unser Mini-Kühlschrank schaltete sich an. Erst summte er auf, dann hustete er elektrisch. Um ihn herum hatte sich, wie schon die Wochen zuvor, eine kleine Wasserlache gebildet. Innen ist er fast vollständig vereist. Vielleicht ist es wirklich, wie Chang mal meinte, meine Schuld, und ich habe ihn als kleiner Junge zu oft geöffnet und mit meinen Fingern über den wunderschönen Frostpelz gestrichen. Vielleicht stirbt er nach neun Jahren auch einfach an Altersschwäche. Nur: Was werden wir dann am Schlachttag mit dem Fleisch machen, das jetzt schon kaum mehr Platz darin findet, so zugewuchert wie sein Inneres ist, obwohl wir ihn wieder und wieder abgetaut haben? Als ich endlich aufstand, genau in diesem Augenblick, spornstreichs, um es mit einem der foxysten aller Altwörter zu sagen, drehte sich unser weltbester Leader um und hielt mir eine Mappe mit Heften und einen Stift hin. Triumphierend grinste er über seine gelungene Deluxe-Überraschung.
»Pardon, junger Mann, einen Moment«, sagte er und deutete mit seiner freien Hand auf das Geschenk, wobei er seine buschigen Augenbrauen in die Höhe zog, als wüsste er selbst nicht so genau, wo all die Sachen plötzlich herkamen. »Einen Moment mal. Hier habe ich etwas für Sie.« Das macht er manchmal, wenn er besonders gute Laune hat, das mit dem »Sie« und so. Das tötet mich. Ich liebe es. »Ich glaube, jetzt ist die Zeit dafür gekommen. Die anderen – Banausen«, bei dem Wort kratzte er sich zweimal am Hinterkopf, »die anderen Banausen können damit sowieso nichts anfangen. Voilà!« Hinter seinem dichten, grauen Bart hellte sich seine Miene auf: »Führe von nun an Buch über alles, was geschieht, Heinz! Von diesem Tag an bist du der Bewahrer unserer Gemeinschaft!«
Diese Sätze hat er natürlich nicht genau so gesagt. Aber, ich schwöre, es war ein extrem feierlicher Tonfall in seiner tiefen Stimme. Und dann streckte er mir auch noch die Hand entgegen. Das ist ein alter Brauch, den man nur in den allerwichtigsten Momenten praktizierte. Zusammen mit dem »Sie« hat mich das beinahe verrückt gemacht, und wenn ich verrückt sage, meine ich glücklich. Vorsichtig blätterte ich in den Heften, die nur an den Rändern ein kleines bisschen angegilbt, ansonsten wirklich makellos weiß waren. Meine Finger strichen über den Stift mit der goldenen Gravur Faber.
Ich weiß noch, wie geschockt ich als Kind war, als Cornelius mich darüber aufklärte, dass alles, was wir sprechen und denken, nur aus – Achtung: sechsundzwanzig Buchstaben besteht. Sechsundzwanzig! Ich meine, das ist ziemlich wenig. Schon in den ersten Monaten nachdem mich Chang und Jorden in der Großen Ebene gefunden hatten, hatte Cornelius mit meinem Unterricht begonnen. Der Junge soll ja mal kein Plebs werden, wie er sich ausdrückte. Also führte er mich in die alte Elite-Kunst der Handschrift ein. Mit dem wenigen Papier auf der Alm mussten wir allerdings haushalten. Wir hatten nur zwei Ausgaben von Cornelius’ Retro-Print-Philosophie-Magazin »Der Doyen deluxe«, dessen, das gebe ich gerne zu, mir völlig unverständliche Artikel in der foxysten Altwörtersprache geschrieben sind, die man sich nur ausdenken kann. Bald waren die zwei Hefte von oben bis unten mit meinen enger und enger und übereinander geschriebenen Übungszeilen verschmiert. Aber komischerweise konnte ich auch danach nicht aufhören. Ich kritzelte weiter auf die Tischplatte, bis Jorden mich dafür anbrüllte, später heimlich in den Staub, der sich überall bei uns ansammelt, oder draußen in die Erde. Etwas war da in mir, dass ich jeden Tag von neuem irgendwelche Sätze oder kleine Phantasie-Storys notieren musste, auch wenn sie der nächste Regen fortwusch. Wie dankbar wäre ich damals für solche Hefte gewesen! Doch wie immer bei Cornelius war alles Teil eines größeren Plans, wie immer hatte er den Masterplan. Denn erst heute, mit fünfzehn Jahren, bin ich alt und klug genug für die Aufgabe, die er sich für mich ausgedacht hat, auch wenn ich schon vor ein paar Jahren auf meiner linken Kopfhälfte weiße Haare bekommen habe. Das stimmt wirklich. Tausende von weißen Haaren. Aber nur links. Wenn ich richtig informiert bin, färbten sich früher viele Leute, besonders aus der Elite, ihre Haare weiß, nur um so distinguiert auszusehen wie ich.
Väterlich fasste mich unser weltbester Leader mit seinen großen Händen an den Schultern und zog mich an sich. Sein Brustkorb hob sich schneller, ich konnte sein Herz schlagen hören.
»Hundertmillionen Dank!«, murmelte ich, meine Stimme kippte dabei gicksend, wie sie es seit etwa einem Jahr tut, wenn ich nicht aufpasse, und was eigentlich heftigst peinlich ist. In diesem Moment war es zu 100 % egal.
Regelmäßig hat Cornelius mir eingeschärft, es seien nicht zuletzt vermeintlich läppische Wörter wie »bitte« und »danke«, die einen selbst nach dem Weltuntergang noch Mensch bleiben ließen. Hier eine seiner Favoritgeschichten aus dem letzten Jahrhundert, er hat sie mir immer wieder erzählt: Zum Tode Verurteilten wird befohlen, die Hinrichtungskammer zu betreten. Vor der Tür macht der eine einen Schritt zurück, streckt den Arm aus und sagt höflich: »Bitte, nach Ihnen.« Der andere muss darüber lächeln. Er sagt: »Vielen Dank«, verbeugt sich und geht hinein.
Ich sitze allein in der Hütte. Eigentlich sollte ich schon längst im Wald sein, Pilzesammeln und so weiter. Die Affenchefs in den Eichen haben ihr Vormittagsgebrüll angestimmt, um die Jüngeren, die sich wieder einmal an die Haremsdamen herangemacht haben, in ihre Schranken zu weisen. Ein paar Monate nach dem Untergang sind sie plötzlich dagehockt. Die anderen meinen, dass die ursprünglich neun Tiere, aus denen mittlerweile eine Herde von zweiunddreißig geworden ist, aus einem Zirkus stammen. Nach der Katastrophe müssen sie sich durch eine der drei eingestürzten Schleusen gezwängt haben und bergauf bis hierher gewandert sein. Was wieder einmal dafür spricht, dass es sich anscheinend nirgendwo so gut leben lässt wie hier.
Irgendetwas ist mit mir passiert. Ich schreibe wie ein Verrückter und will gar nicht mehr von diesem Tisch weg. Jedes Mal, wenn ich die weißen Seiten entlangfahre, über dieses allerseltenste Material, Papier, Papier! aus der Voruntergangswelt, gibt mir das Power wie noch nie. Deshalb hier meine Entscheidung: Ab dem heutigen Tag werde ich jede freie Minute dafür verwenden, aufzuschreiben, was uns widerfährt. Ich schwöre, ich werde dabei die foxysten Altwörter verwenden, die sich in meiner Sammlung finden lassen. Und, das ist jetzt my own private Masterplan: Nächstes Jahr überreiche ich unserem weltbesten Leader Cornelius ein einwandfreies Buch in Heften, als Gegengeschenk, damit er sieht, er hat sich nicht in mir getäuscht. Im Ernst. Ich werde dafür sorgen, nein, ich werde dafür Sorge tragen, dass in meinen Aufzeichnungen, meinen Notaten, die Kultur des Homo sapiens überdauert, hier auf der Rosenalm, in unserem Resort, durch meine Hand. Denn ich weiß: Man kann nicht nur gehen, sondern auch wandeln. Man kann nicht nur fressen, sondern auch speisen. Man kann nicht nur hören, sondern auch lauschen. Gerne wandle ich. Gerne speise ich. Gerne lausche ich.
Und vielleicht sind ja die Hefte auch der Beweis dafür, dass das Muster unter meiner linken Achsel, das irgendwer dort vor dem Untergang eintätowiert hat wie die Faber-Gravur in den Stift, ein winziges Quadrat, in dem schwarze Schlieren ineinander verhakt sind, doch mehr bedeutet, als die anderen meinen. Ich habe stets daran geglaubt, dass das Zeichen ein Hinweis darauf ist, dass ich ursprünglich für eine besondere Position in der Gesellschaft vorgesehen war, obwohl ein derartiger Tattoo-Brauch den anderen unbekannt ist. Einzig Cornelius hatte gesagt, das könne durchaus sein, auch wenn er selbst noch nie davon gehört habe. Heute spüre ich, dass mich diese Hefte der Lösung des Rätsels meiner Tätowierung ein Stück näher bringen.
Es ist der erste Februar des Jahres elf nach dem Untergang. Mein fünfzehnter Geburtstag. Gesegnet sei der Name des süßen LORDs.
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Früher, mit vier oder fünf Jahren, wenn ich durch das Latschenfeld und jene in die Felswand gehauene Treppe hochstieg, die zum Eingang des Steinernen Meeres führt, konnte ich bis über die Grenzen unseres Resorts hinaus und in die Hölle sehen: die Große Ebene. Mit Jordens Fernglas waren die Löcher in den Schutzschirmen über den ehemaligen Siedlungen gut zu erkennen. Fehlfunktionen ließen das Wetter unter den Kuppeln verrücktspielen. In Waldeinsamkeit II loderten Flammen auf, in Avalon A5 wütete ein nicht enden wollender Orkan, und in Schönau schneite es wie in einer antiken Wunderkugel, die jemand ununterbrochen schüttelte. Manchmal stellte ich mir dann die Menschen darin vor. Wie sie beim Autofahren, bei der Arbeit im Büro oder im Schlaf in ihren Betten eingefroren waren, erstarrt und doch unversehrt, Dornröschen-Style, als warteten sie nur darauf, eines Tages ihre Tätigkeit zu Ende führen zu dürfen, wenn alles wieder gut wäre.
Zwischen den Kuppelruinen erstreckte sich im Licht der sengenden Sonne die graue Steppe mit ihren Hügeln. Vor dem Untergang war das einzig Gute an ihr gewesen, dass sie die riesigen Solarfelder Strom produzieren ließ, Strom, der easy für sämtliche Siedlungen, Altstädte, Garden-Zones und ich weiß nicht was gereicht hatte.
Ich wünschte, ich hätte mir die Male, die ich dort oben, am Ende der Felstreppe stand, das alles, die Siedlungen und die Steppen, genauer eingeprägt. Denn eines Tages, im Jahr drei nach dem Untergang, bildeten sich in der Großen Ebene plötzlich Nebelbänke, die immer dichter wurden, bis nur mehr die Spitzen der Schutzschirmkuppeln daraus hervorschauten. Cornelius’ einzige Erklärung dafür war, dass jetzt auch noch die Shields über den Speicherseen ausgefallen sein mussten und die Hitze derart angestiegen war, dass sogar das Grundwasser verdunstete. Seitdem war die Hölle unsichtbar geworden.
Über dem Hochtal mit der Unteralm, der Rosenalm und den Wiesen und Wäldern unseres Resorts spannt sich dagegen immer noch der schönste blaue Himmel. Beim Untergang hat unser Kraftfeld vom einprogrammierten Zyklus der vier Jahreszeiten, der hier eigentlich für Wanderer das Feeling des alten Deutschlands entstehen lassen sollte, auf eine einzige umgeschaltet, einen ewigen Sommer, mit warmen, aber nie unerträglich heißen Tagen, und mit Nächten, in denen es regnet, aber nie stürmt. Wir leben hier also seit elf Jahren unter, wie unser weltbester Leader Cornelius es halb im Spaß, halb im Ernst sagt, traumhaften Bedingungen. Er hat wiederholt betont, wie wichtig es ist, dass wir unter uns bleiben. Die wenigen anderen Survivors, denen er, Jorden, Chang, Özlem und Anne bei ihrer anfänglichen Suche nach Nahrung und nützlichen Gegenständen in der Großen Ebene begegnet sind, waren zusehends verwahrlost, bis binnen weniger Monate nach dem Untergang Einzelkämpfer und Banden die Ruinen der Städte durchstreiften. Selbst Jorden und Chang hatten deshalb seltener und seltener das Resort verlassen. Wir alle, bis auf mich natürlich, haben in Voruntergangszeiten genug Horrorgeschichten gehört und gesehen, um zu wissen, was da unten als Nächstes folgen würde. Und warum sollen wir hier auch weg? Das Vieh, das wir züchten, die Gemüsegärten und Felder, die wir angelegt haben, und die Beeren und Pilze in den Wäldern ernähren gerade mal und ganz genau sechs Personen. Zwei, drei mehr, und wir könnten alle, wie Jorden es einmal gesagt hat, nach kurzer Zeit nur mehr mit dem Messer unterm Kopfkissen schlafen.
Es ist also ein ziemlicher Vorteil, dass unser Resort als Bio-Zone schon immer streng abgesperrt war. Die anderen, die davon mehr verstehen als ich, haben viele Überlegungen und Mühe darauf verwandt, dass das auch so bleibt. Wegen der Steppenbewohner haben wir die drei uns bekannten Schleusen auf deutscher Seite getarnt. Was auf österreichischem Gebiet geschieht, davon wissen wir nichts. Aber, ich hoffe mal, das Steinerne Meer mit seinen Spalten, Geröllfeldern und Graten wird uns vor möglichen Eindringlingen schützen. Dass aber von dort in den elf Jahren, seit wir hier wohnen, bislang niemand und nichts gekommen ist, deutet darauf hin, dass auch weiter im Süden alles zerstört ist, vielleicht sogar noch schlimmer als in Deutschland. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es dort zugehen muss. Unser weltbester Leader benutzt in Bezug auf die Survivors außerhalb unseres Resorts gern eines der foxysten Altwörter aller Zeiten: Würde. Im Unterschied zu all den anderen haben wir unsere Würde bewahrt.
Aber manchmal, besonders wenn mich der Blick aus dem sonnenverbrannten, dreckigen Gesicht in unserem einzigen Spiegel im Klohäuschen streift und mich zusammenzucken lässt, bis ich bemerke, Scheiße, das bin ja ich!, kriege ich Angst. Und ich glaube, da geht es den anderen auch nicht anders. Die Angst, eines Tages aufzuwachen und zu einer jener miserablen Gestalten in der Großen Ebene geworden zu sein. Auch deshalb führen wir den Kampf gegen das Vergessen. Ohne die allwissenden Stimmen der PMs, der Personal-Manager, aus den Transmitter-Plugs im Ohr, auf die man sich vor dem Untergang verlassen konnte, weil sie auf fast jede Frage eine Antwort wussten, wie heißt diese Pflanze?, wer regierte im Jahre 117 das Römische Reich?, und so weiter, kommen uns die Namen für die Dinge, die uns umgeben, langsam abhanden. Ich stelle mir manchmal vor, wie sich in unseren Köpfen mit jedem Tag auf der Alm ein weiterer Teil unseres einstigen Wissens verabschiedet, bis uns die Welt, die Berge, Tiere und Pflanzen, immer weniger zu sagen haben und wir am Ende, im Nebel unseres Gedächtnisses tiefer und tiefer nach den spurlos verschwundenen Namen forschend, nur noch stammeln: »Knackdings« für Holz, »Hartdings« für Steine oder irgendwann »ah« für Sonne, »mampf« für Nahrung, »muh« für Milch.
Erst vor kurzem wollte Cornelius, als er nach dem Abendessen das Geschirr abräumte, ein altes deutsches Volkslied anstimmen: »Es klappert die Mühle am rauschenden Bach«. Bei »klipp-klapp, klipp-klapp, klipp-klapp …« hat er gestockt. Als er »Alle Vöglein sind schon da« zu singen begann, wiederholte er »alle Vöglein, alle …« – und wiederholte es immer aufgeregter, ohne dass ihm der nächste Vers einfiel. Nach eigener Aussage ist Cornelius inzwischen nicht mehr in der Lage, die Reihenfolge der deutschen Kanzler und Kanzlerinnen wiederzugeben, ebenso wenig wie die Daten des Dreißigjährigen Krieges, der Gründung des Deutschen Kaiserreiches oder das Geburts- und Todesjahr des weltbesten Dichters Johann Wolfgang von Goethe.
Die alte Anne, unsere Gemeinschaftsomi, ist die Einzige, die selbst noch die merkwürdigsten Namen für die seltensten Kräuter und Tiere weiß, obwohl sich in den vergangenen Jahren eine schlimme Veränderung vollzieht: Immer öfter vergisst sie die selbstverständlichsten Dinge. Sie behauptet, dass das gar nicht das Schlechteste sei, wobei sie mit dieser Meinung wirklich zu 110 % allein ist. »Amnesie«, hat sie einmal erklärt, »kann auch ein Segen sein, das könnt ihr mir glauben.« Für sie war damit das Thema erledigt. Sie war ja am liebsten allein unterwegs und bastelte an ihren Strohtalismanen, weswegen Chang sie »schrullig« nennt. Wie Jorden bleibt sie zuweilen über Nacht weg, weil sie »Luftveränderung« braucht, wie sie sagt. Sie wandert, soweit wir wissen, im Resort herum und schläft in irgendwelchen Verschlägen, die sie sich selbst zusammengezimmert hat. Oft schon hat Cornelius sie deshalb geschimpft, weil ihr da draußen leicht etwas zustoßen könnte. Er hat mir erzählt, dass sie früher ganz anders war. Lauter Altredensarten und -wörter hat er benutzt, um sie zu beschreiben: eine, die mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hielt, eine ehrliche Haut; einen rauen Charme habe sie besessen. Er selbst habe ihren Rat immer sehr geschätzt. Ja, er tue es noch immer. Sie habe sich in der NOROFORK engagiert, der No-Robots-for-Kids-Bewegung, und vehement die Meinung vertreten, dass kein noch so perfekt auf das jeweilige Kind programmierter Robot-Tutor einen Lehrer aus Fleisch und Blut ersetzen könne. Die Gesellschaften, die sie und Bernd, ihr Mann, Cornelius’ bester Freund, gaben, seien legendär gewesen. Kostümpartys! Aber dann, ziemlich genau ein Jahr vor dem Untergang, sei Bernd zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen. Anschließend sei Anne wie ausgewechselt gewesen. Alles, worin sie bis dahin aufgegangen war, sei mit einem Mal egal gewesen. Sie habe sogar monatelang Schweigeexerzitien in einem Kloster zugebracht, sie, die doch sonst so leidenschaftlich debattieren konnte! Tragisch sei es, so Cornelius, dass gerade an dem Punkt, an dem Anne endlich wieder die Kraft spürte, noch einmal neu anzufangen, dass sich genau an diesem Punkt die Katastrophe ereignete.
In den ersten Jahren im Resort hatten Anne und Özlem viel Zeit zusammen verbracht. Beide verband ja dieses special interest für Pflanzen und Tiere. Doch das ist vorbei. Schleichend ist Anne unberechenbar geworden. Momente, in denen sie redselig und, ich lüge nicht, der superbeste Mensch der Welt ist und uns gute Laune macht mit ihren scharfen, treffenden und lustigen Bemerkungen, mit denen sie nicht einmal Cornelius verschont, können abruptest umschlagen. Plötzlich stottert sie, sie habe vergessen, was sie eigentlich sagen wolle, und brummt noch missmutig irgendetwas hinterher, das keiner recht versteht. Vor ein paar Monaten meinte Özlem, nach einem besonders krassen Stimmungsumschwung Annes, gefolgt von endlosem wirren Murmeln, sie befürchte, unsere Anne habe einen Hirntumor oder sie leide an Alzheimer. Was wir bloß unternehmen könnten. Die Begriffe, Alzheimer und Tumor, nahm ich sofort in meine Altwortliste auf, genauso wie dieses Amnesiedings.
Ich suche seitdem noch mehr Annes Gesellschaft. Und vielleicht hilft es ihr und ihrem Gedächtnis ja, wenn ich bei ihr bin. Erlaubt sie es, begleite ich sie den Bach entlang und die Wiesen hinunter, wo das Rauschen des Flusses zu hören ist und ihr Reich liegt: ihr Kräuter- und Gemüsegarten, den sie nur für sich selbst bewirtschaftet. Und was für ein Garten das ist! Als kleiner Junge konnte ich mich nicht sattsehen an den Beeten, denen Anne die Namen der Kontinente gegeben hat und die mit Mini-Wahrzeichen aus Stroh geschmückt sind. Zwischen den Blumen und Büschen erheben sich winzige Pyramiden, auf Steinen thronen Schlösser, Felsen stellen das welthöchste Gebirge dar, den Himalaya, und durch Gestrüpp schlingelt sich ein Rinnsal, der Amazonas. Zwischen all dem stand dann Anne mit ihrem breiten Hut, die Herrscherin ihres Strohplaneten, die, wenn ich sie darum bat, zu jedem Gebäude eine Geschichte parat hatte, wobei in ihrem lederbraunen Faltengesicht ihre Augen zu funkeln anfingen. Aber das war einmal. Immer öfter ist ihr Blick nur noch stumpf.
Als Maßnahme gegen das gemeinschaftliche Vergessen hat Cornelius vorgeschlagen, dass wir unsere Kühe nach den wichtigsten Erfindern, Künstlern, Sportlern und Politikern der Menschheitsgeschichte benennen. Eine ziemlich gute Idee, finde ich. So werden wir täglich an sie erinnert. Auf unseren Wiesen weiden Nero, Tizian, Einstein, Hitler, Kafka, Kennedy, Beckenbauer, Bijoy und Hu. Außerdem hängt von den Rosenstämmen vor der Hütte, die Cornelius liebevoll pflegt, der Name der jeweiligen Sorte in transparenten Hüllen. Einst haben sie in einem Krankenhaus in der Großen Ebene zur Aufbewahrung menschlichen Blutes gedient, das behauptet zumindest Chang. Unser Kampf gegen das Vergessen, er endet nie.
Vielleicht beunruhigt mich deshalb an diesem leuchtend hellen Vormittag des ersten Februars im Jahre elf nach dem Untergang, während ich mich am Esstisch in der Hütte über mein schönes neues schwarzes Heft beuge, die Frage, ob es etwas zu bedeuten hat, dass alle bis auf Cornelius nicht nur vergessen haben, dass ich an diesem Tag fünfzehn Jahre alt werde; ja, kann es sein, dass sie mich vergessen haben? Vielleicht ist ja diese Pubertät daran schuld, dass jetzt noch härtere, noch unangenehmere Zeiten anbrechen, in denen ich für die Gemeinschaft noch unwichtiger bin als bisher? Was interessiert die anderen, ob ich mich für den Bewahrer ihrer Geschichte halte oder einfach nur weiter derjenige bleibe, der ich für sie immer schon war: Krummbumm Heinz?
Ich habe kurz meine Arbeit beiseitegelegt und durchs Fenster in den Himmel über dem Hochtal geblickt, den die Schwalben ziepend durchschneiden. Ich bin ganz ehrlich: Ich betete, und zwar nicht zum allerbesten LORD, sondern heimlich, da der LORD Konkurrenz nicht ausstehen kann, zu meinem Vater. Ich besitze ja kaum Erinnerungen an die Epoche vor dem Untergang, was daran liegen kann, dass ich, als ich zu den anderen stieß, erst vier Jahre alt gewesen bin. Vielleicht ist auch jene Krankheit daran schuld, die laut Anne Trauma genannt wird. Das ist allerdings auch nur eine Vermutung, weil Anne zwar über medizinisches Wissen wie sonst niemand in der Gemeinschaft verfügt, jedoch trotzdem nicht müde wird zu betonen, dass die Jahre, in denen sie als Krankenschwester gearbeitet habe, so weit zurückliegen, dass das schon nicht mehr wahr sei. Ich muss zugeben: Rasend gerne hätte ich so ein Trauma. Denn hat Anne nicht auch gesagt, fast jede Erkrankung sei vor dem Untergang heilbar gewesen?
Vielleicht ist es ja bloß Wunschdenken, nichtsdestotrotz meine ich, eine vage Vorstellung davon zu haben, wer mein Vater war. Das Wort »Weltraumforscher« ist wirklich so fremd und selten, dass es irgendeinen Grund geben muss, warum es mir ausgerechnet dann in den Sinn kommt, wenn ich an meinen Vater denke, den ich mit Papi anreden würde. Auch erinnere ich mich an ein Zimmer im obersten Stockwerk unseres Hauses, dessen Betreten »strengstens verboten« war. Trotzdem schlich ich mich öfter hinein – um staunend vor einem riesigen Screen zu stehen, der den Querschnitt einer Raumstation animierte, vor einer Unzahl kleiner, weißer Modelle von Raumschiffen, die von der Decke baumelten, und vor einem Fernrohr an der Dachluke, das steil in den Himmel gerichtet war und in dem ich, als ich mit pochendem Herz daran trat, tatsächlich den dunklen Punkt einer Sonde zu sehen glaubte, ehe ich im Erdgeschoss die elektronische Melodie der Eingangstür hörte und leise aus dem Büro meines Vaters lief. Und dann ist da noch dieses Gefühl, das der Begriff »Wochenende« in mir auslöst. Die Wochenenden, deren Beginn Cornelius weiter verkündet, weil er es wichtig findet, dass uns nicht die alte Ordnung der Tage abhandenkommt, die Wochenenden waren früher oft nicht okay gewesen, und wenn ich sage nicht okay, meine ich nicht okay. Regelmäßig fehlte jemand. Papi. Er fehlte eigentlich immer, aber an den Wochenenden fiel es uns ganz besonders auf, weil am Montag alle anderen Kinder erzählten, was sie mit ihren Eltern unternommen hatten. Wenn mein kleiner Bruder und ich meine Mutter nach Papi fragten, antwortete sie nur knapp: »Der ist weit, weit weg.« Man konnte nicht einmal über den Transmitter mit ihm sprechen. Über diesen Wochenenden, die in meiner Erinnerung außerdem totenstill waren, lag eine fast unerträgliche Spannung. Bei jedem winzigen Geräusch hielt ich die Luft an. Oft schaltete Mutter, was sie sonst, war Papi da, selten tat, die TV-Wall an, wo viel von NOAH, der Marssiedlung, die Rede war, Astronauten in strahlend weißen Anzügen schwebten und winkten, ihre Stimmen und Mundbewegungen waren nicht synchron, so weit entfernt waren sie, Raketen starteten dröhnend, senkrecht und unendlich langsam stiegen sie in den tiefblauen Himmel. Diese Starts verfolgte Mutter so konzentriert, dass sie alles um sich herum zu vergessen schien. Aus irgendeinem Grund war ich mir damals sicher, dass Papi, immer wenn er nicht zu Hause war, ins Weltall flog, auf einer wichtigen und supergeheimen Mission in Sachen Marsbesiedelung. Im strengstens verbotenen Büro schaute ich dann durchs Fernrohr, weil ich dachte, es würde, wie in einem der Märchen, die F-87 meinem Bruder und mir zum Einschlafen erzählte, dem Betrachter auch die entferntesten Dinge zeigen, solange man sie sich fest genug wünschte. Doch leider erschienen in der Linse bloß schwarze Flecken.
In meiner Vorstellung befand sich mein Vater bei der Katastrophe, die sich ja an einem Samstag ereignete, in einer Station in der Umlaufbahn der Erde, so dass er, anders als meine Mutter und mein kleiner Bruder, von denen ich das Schlimmste annehmen muss, überlebte. Der Screen des Raumschiffs übermittelte ihm die schrecklichen Bilder, der Bord-Homie sprach ihm sein Bedauern zur fast vollständigen Vernichtung seiner Art aus und beglückwünschte ihn gleichzeitig dazu, dass sein Sohn zu den wenigen Survivors gehörte. Seitdem beobachtet Papi aufmerksam, was unter ihm auf dem blauen Planeten alias Erde geschieht. Fieberhaft arbeitet er daran, Kontakt mit den wenigen Bewohnern der Mars-Kolonie aufzunehmen, um eines Tages zusammen mit ihnen auf seinen Heimatplaneten zurückzukehren. Tatsächlich, ich lüge nicht, ist jeden Monat tagsüber für ein paar Tage hinter dem Schutzschild ein winziger, grünlich schimmernder Punkt zu sehen, dessen Ursprung mir keiner erklären kann. Das könnte, oder sagen wir: das musste das Raumschiff meines Vaters sein. Und der Tag würde kommen, da würde es mich holen.
Als ich Özlem einmal davon erzählte, bekam sie zu meiner Überraschung feuchte Augen. »Das ist wunderschön.« Und nach einer Pause, in der sie mich lange ansah: »So ist es wahrscheinlich. So muss es sein.« Sie hat mir über den Kopf gestreichelt, liebevollst wie selten, so dass ich schon währenddessen wusste, dass ich mich stets danach sehnen würde. »Glaube weiter daran, ja? Versprich mir das«, hat sie gesagt. Und ich nur so: nicknicknick.
Mit den Jahren jedoch ist das Bild, wie mein Vater da in einer schneeweißen Kapsel seine Runden zieht, für mich immer unwahrscheinlicher geworden. Ich muss gestehen: In letzter Zeit schäme ich mich sogar dafür, dass ich nicht nur die Gemeinschaft belogen habe, sondern am Ende und am meisten mich selbst. Und auch an diesem Februarsommertag klangen die Bitten, die ich halblaut in Richtung Himmel sprach, »Hilf mir«, »Komm zurück«, absolut baby-like und nicht angemessen für einen Jungen, der gerade fünfzehn Jahre alt geworden war.
In diesem Moment spüre ich den sanften, aber entschiedenen und so vertrauten Griff kleiner, weicher Pfoten am Hosenbein. F-87, mein alter Robot-Fennek und einziger best friend, hat meine Stimmung sofort bemerkt und ist unter dem Tisch hervorgekommen, wo er eingerollt gelegen hat.
»Ach, F-87. Es ist wirklich schlimm«, sage ich. »Du hast alles mitbekommen, oder? Wenn Cornelius nicht an die Hefte gedacht hätte … es interessiert sich echt keiner für mich …«
F87