
»Unsere ganze Geschichte ist bloß Geschichte des wachenden Menschen; an die Geschichte des schlafenden hat noch niemand gedacht.«
Georg Christoph Lichtenberg
Zunächst ist es nur ein Moment der Irritation, doch dann nimmt man es wirklich wahr: Die Zeit der Dämmerung ist gekommen. Die Farben verblassen. Das Licht wird schwächer und sanfter, die Schatten werden länger. Es ist das allmähliche Dunkelwerden am Abend, das crepusculum, wie die Römer diese Phase nannten. In den Bergen verdunkeln zuerst die Täler und Schluchten, doch bald werden auch die Hänge farblos. Nur die noch direkt von der Abendsonne beleuchteten Gipfel scheinen golden nachzuglühen.
Bald berührt die Sonnenscheibe den Horizont. Man sieht Rot-, Gelb- und Orangetöne – das Licht trifft in der Atmosphäre auf verschiedene Luftschichten. Die höheren, nicht vollständig durchsichtigen, werfen das Sonnenlicht teilweise zurück und zerstreuen es. Um die Abenddämmerung in ihrer ganzen Dimension und Dramatik zu erfassen, empfiehlt sich ein Aussichtspunkt, von dem man westwärts auf weite Landschaft oder offenes Meer blicken kann.
Ist es ein klarer Tag, fällt die Temperatur und die relative Luftfeuchtigkeit steigt. Krähen machen sich auf den Weg zu ihren Schlafplätzen. Hier und da kann man schon einen Stern erkennen. Auch die blinkenden Positionslichter der Flugzeuge sind zu sehen. In Städten gehen hier und da Lampen an.
Schon sind wir in der dunkleren Phase der Dämmerung, der blauen Stunde. Ein weiches Licht färbt den Himmel tiefblau. Eine Lieblingszeit der Fotografen. Doch auch andere wurden von ihr inspiriert: Für Jacques Guerlain, die legendäre französische »Nase«, war sie Veranlassung für eine Duftkomposition. Die Idee dafür soll ihm während eines Spaziergangs in der Dämmerung gekommen sein, als die Natur in diesem blauen Licht geradezu badete und ihn das Gefühl überkam, der Mensch befinde sich in dieser stillen Stunde »mit der Welt und dem Licht in Einklang«. Es sei die Zeit, so wird Guerlain weiter zitiert, »wenn die Nacht noch nicht zu den Sternen gefunden habe«. Sein Damenparfüm trägt passenderweise den Namen L’heure bleue und verbreitet einen orientalisch blumigen Geruch mit einem Hauch von Vanille.
Vor dem Heimweg ein letzter Blick in den Himmel: War das noch eine flinke Schwalbe oder doch schon eine Fledermaus, die zwischen den Häuserreihen umherfliegt und den Luftraum systematisch nach Insekten abzusuchen scheint? Bald sieht man nur noch den seltsam ruckenden Flug der Fledermäuse.
»Die Sonne sinkt herab im West,
der Abendstern geht auf;
die Vögel schlummern schon im Nest,
und ich such meines auf.
Der Mond im Gefilde
Des Himmels thront milde
in schweigender Pracht
und lächelt der Nacht.«
William Blake, Lieder der Unschuld und Erfahrung
Nacht ist dort, wo die Sonne fehlt – nämlich wenn die Erde sich bei ihrer täglichen Rotation so weit gedreht hat, dass man sich auf ihrer Schattenseite befindet. Der sogenannte ›Terminator‹, die Tag-Nacht-Grenze, bewegt sich in Äquatornähe mit 1670 Stundenkilometern in westlicher Richtung über die Erde. Thomas Hardy beschreibt dieses Gefühl der Bewegung in seinem Roman Am grünen Rand der Welt: »Für jemanden, der in solch einer klaren Mitternacht allein auf einem Hügel steht, wird die Rotation des Erdballs zu einem fast greifbaren Erlebnis. Vielleicht wird dieses Gefühl von dem Panorama der Sterne hervorgerufen, die über das Irdische wandern, vielleicht hängt es auch mit dem weiten Blick zusammen, der sich von einem Hügel aus bietet, mit dem Wind oder mit der Einsamkeit; der Eindruck, dass man dahingetragen wird, ist jedenfalls, was immer die Ursache sein mag, sehr lebendig und unabweislich.«
Was geschieht nicht alles in der Nacht! Bleibt man wach, bringt die Dunkelheit die gewohnten Koordinaten der Wahrnehmung in Bewegung. Die Fesseln der Kontrolle lösen sich, die Vorstellungskraft wird freier, Geruchs- und Geschmacksinn werden geschärft, Geräusche, die tagsüber untergehen, werden besonders deutlich wahrgenommen. Auch das Gefühl für Zeit und Raum verändert sich. Mehr als sonst kann man sich als winzigen Teil des Universums begreifen.
Es ist paradox: Gerade die Dunkelheit, die mit dem Einbruch der Nacht einsetzt, öffnet den Blick in die Ferne, in die Unendlichkeit des Weltalls. Am klaren Nachthimmel kann man bei günstigen Bedingungen rund sechstausend Sterne erkennen – wir sehen dabei auch Lichter aus einer Zeit, lange bevor unser Sonnensystem existierte.
Auch wenn der Gegensatz zwischen Tag und Nacht durch die leichte Verfügbarkeit künstlicher Lichtquellen heutzutage weniger stark ist als in vormodernen Zeiten, ist die Nacht für den Menschen doch noch immer rätselhafter, erklärungsbedürftiger als der Tag. Janusköpfiger zudem: Mag man sie als gefährlich und bedrohend empfinden – sie bietet doch immer zugleich Freiräume, die man am Tag nicht hat. Zusammenkünfte, die der Verfolgung ausgesetzt und im Licht des Tages zu auffällig sind, finden nachts statt. Und die Nacht ist die Zeit der Liebenden, die für den Wechsel in andere Identitäten, für das Experimentieren mit sozialen Rollen, für Gewagtes. Mancher erwartet sehnsüchtig die Nacht, in der ihm alles möglich scheint, in der sich Sehsüchte erfüllen, die tags unmöglich sind. Die Nacht nährt sowohl Furcht als auch Faszination.
Der französische Schriftsteller Charles Péguy fragte sich einmal, wie sich eigentlich Tag und Nacht zueinander verhalten. Er interpretierte es auf seine Weise:
»Es sind die Tage, die die Nacht durchlöchern, durchbrechen; keineswegs unterbrechen die Nächte den Tag. Es ist der Tag, der die Nacht anlärmt – ansonsten würde sie schlafen. Die Einsamkeit, das Schweigen der Nacht ist so schön und so groß, daß es sogar die Tage umgibt und umschließt und umhüllt. … Es ist die Nacht, die stetig ist. Die Nacht ist das Gewebe der Zeit, der Vorrat des Seins. … Es ist der Tag, der sticht, und die Tage sind bloß Inseln im Meer. Unterbrochene Inseln, welche das Meer unterbrechen.«
Als die Erde vor viereinhalb Milliarden Jahren entstand, gab es keine Nacht. Einen Tag im landläufigen Sinne aber auch nicht. Denn erst mussten sich Unmengen von Staub legen, damit Sonnenlicht zur Erdoberfläche durchdringen konnte und es überhaupt einen Unterschied zwischen Tag und Nacht geben konnte. Auch war die Erdumdrehung viel schneller als heute, die Nächte damit viel kürzer. Erst das Auftauchen des Mondes und seine Gravitation versetzten der Erdbewegung eine Bremse. Da der Mond der Erde anfänglich viel näher war und sich seitdem allmählich fortbewegt, war der Trabant sehr viel größer und deutlicher sichtbar.
Heutzutage lassen sich selbst vom Weltraum aus vielerorts Ansammlungen von künstlichem Licht auf der Nachtseite der Erde ausmachen. Doch schon immer war der sonnenabgewandte Teil der Erdoberfläche nicht völlig dunkel. Vulkanausbrüche erhellten hier und da die Erde. Flüssiges Magma, das sich aus ihrem Inneren ergoss, tauchte die Umgebung in ein rotes Zwielicht. Blitze gibt es, seitdem sich die Atmosphäre gebildet hat. Feuer gibt es freilich erst, seitdem Pflanzen wachsen, die Sauerstoff erzeugen. Jetzt konnten Blitzschläge Waldbrände hervorrufen.
Schon seit Urzeiten legte das Nordlicht seine faszinierenden Schleier um die Arktis. Und überall auf der Welt warf der Mond seinen Schein auf die Erdoberfläche, während er am Nachthimmel seine Bahnen zog, und spendete dabei je nach Phase und Wetterlage mal stärkeres, mal schwächeres Licht.
Erst der Mensch kam auf die Idee, die Nacht bewusst durch Feuer zu erhellen.
Und in der Moderne gelang es ihm, die Nacht durch künstliches Licht beliebig zum Tage zu machen.

»Der Mond zeigte sich über den Wipfeln der Bäume; ein balsamischer Windhauch, welchen die Königin der Nächte aus dem Orient mitbrachte, schien ihr wie frischer Odem in die Wälder vorauszugehen; das einsame Gestirn stieg nach und nach am Himmel empor: bald in raschem, ungehindertem Lauf, bald über Wolkengruppen hinkletternd, welche den Gipfeln einer mit Schnee gekrönten Bergkette glichen. Alles wäre Stille und Ruhe gewesen ohne das Fallen einiger Blätter, die Erscheinung eines plötzlichen Windstoßes und das Geächze einer Waldeule; in der Ferne hörte man das dumpfe Gebrause des Niagarafalls, das in der Stille der Nacht sich von Wüste zu Wüste fortpflanzte und in den einsamen Wäldern erstarb. In solchen Nächten erschien mir eine unbekannte Muse; ich sammelte einige ihrer Klänge und verzeichnete sie beim Sternenlicht in mein Buch, wie ein gewöhnlicher Musiker die Noten aufschreiben würde, die ein großer Musiker ihm diktierte.«
François-René de Chateaubriand, Memoiren (während seiner Reise nach Nordamerika 1791)
Die sprichwörtliche Stille der Nacht wird oft als unheimlich wahrgenommen. »Der Tag hat Augen, die Nacht Ohren«, sagt ein schottisches Sprichwort. Das Bellen oder Heulen eines Hundes, das Knarzen eines Baumstammes, das unerwartete Zuschlagen einer Tür, das Schreien eines Kindes, selbst Schritte, die niemandem zuzuordnen sind, jagen einem leicht den kalten Schweiß auf die Stirn. Nachts kann man sich nur beschränkt auf die Sinnesorgane verlassen, die tagsüber am wichtigsten sind: die Augen. In gewisser Weise tritt das Gehör an ihre Stelle und man orientiert sich an Geräuschen. Fehlen auch diese, kann dies ziemlich verstörend sein, man findet sich nicht mehr zurecht. Abgesehen davon ist absolute Stille gar nicht so leicht zu finden. Am Meer geht ein leichter Wind und man hört das Brechen der Wellen am Strand. An der Decke des Zimmers läuft ein Ventilator oder der Kühlschrank brummt im Hintergrund. Auf dem Dach des Hotels summt die Klimaanlage …
Manche träumen davon, in einer lauen Sommernacht unter einem offenen Sternenhimmel zu nächtigen – um dann festzustellen, dass einem die ungewohnte Situation mit ihrer fremden Klangkulisse, den Windbewegungen und der früh einsetzenden Morgendämmerung den Schlaf rauben kann. Bei jemandem, der damit nicht vertraut ist, werden Schutzinstinkte aktiviert, die einen tiefen Schlaf verhindern. Das ist ein Problem, das die Tuareg, ein bis heute weitgehend nomadisch lebendes Berbervolk in der Sahara, nicht kennen. Sie schlafen auf Matten im Freien und haben ihr Gehör für Geräusche geschult. Ihr Schlafrhythmus hängt nicht von Helligkeit und Dunkelheit ab, sondern eher davon, ob ihre Tiere am Tag oder während der Nacht weiden. Oft sind die Tuareg während der kühleren Nacht auf Wanderschaft – das Schlafdefizit machen sie dann einfach später wett.
An jedem Ort klingen die Nächte ein wenig anders. Der österreichische Forschungsreisende Alfons Gabriel beschrieb seine Erfahrung in Durch Persiens Wüsten:
»Noch andere Laute werden in Sandwüsten vernommen und können die Ursache der verschiedensten Gehörstäuschungen werden, besonders, wenn sich die Nacht herabgesenkt hat und mit der Dunkelheit die Verlassenheit doppelt fühlbar wird. Diesmal ist es ein Poltern und Brummen, das bald von fern und bald von nah ertönt und von überhöhten Dünen herrührt, von denen Teile in den Binnenhof abgleiten. Zu sehen ist nichts als Sand, herzzerreißend öder Sand, und in schwindelerregender Höhe der Weltenraum, das blinkende Himmelsgewölbe. Starr ist alles rundum, nur wenn ein Windstoß in die Dünen greift, dann hastet es wie tausend kleine Schlangen im Nachtlicht über den Boden.«
Gabriel war nicht der Einzige, der solchen Eindrücken lauschte. Um das durch Sandlawinen hervorgerufene »Singen« oder Dröhnen von Dünen aufzunehmen, begab sich der Toningenieur Trevor Cox vor einigen Jahren zu den Dumont-Dünen in die kalifornische Mojave-Wüste, nahe der Geisterstadt Kelso. Die Nächte waren dafür besonders günstig, denn tagsüber pfiff ihm meistens der Wind um die Ohren: »In der Abenddämmerung und am Morgen jedoch legte sich der Wind, und es trat Stille ein. Nachts wurde diese nur einmal unterbrochen, als Kojoten in der Nähe wie Gespensterbabys im Rudel heulten und mit ihrem fast musikalischen Fiepen und Schwatzen an meinen Nerven zerrten.« Es forderte Cox einiges ab, einen geeigneten Abhang auf der Düne zu finden, der steil genug war, dass er herunterrutschen und eine Lawine auslösen konnte. Das Ergebnis allerdings konnte sich hören lassen: Cox erinnerte das Geräusch »an das Dröhnen eines am Boden rollenden Propellerflugzeugs auf einem Flugplatz«.
Tropische Nächte unterscheiden sich von denen gemäßigter Breiten durch den gewaltigen akustischen Pegel, der sich mit dem Einzug der Dunkelheit einstellt. Glucksen, Schreien, Klappern – alles Getier scheint zu erwachen. Das folgende Zitat aus Marguerite Duras’ Roman Der Liebhaber beschreibt eine Szenerie im Süden Vietnams, wo sie geboren wurde:
»Manchmal in Vinhlong, wenn meine Mutter traurig war, ließ sie den Tilbury anspannen und wir fuhren aufs Land hinaus, um uns die Nacht der Trockenzeit anzusehen … Licht stürzte vom Himmel in Fluten von reiner Transparenz, in Wirbeln aus Stille und Reglosigkeit. Die Luft war blau, wir nahmen sie in die Hand. Der Himmel war ein unentwegtes Zucken aus Lichterglanz. Die Nacht machte alles hell, das ganze Land zu beiden Seiten des Flusses, soweit das Auge reichte. Jede Nacht war besonders, jede konnte benannt werden nach der Zeit ihrer Dauer. Die Laute der Nächte waren die Hunde auf dem Land. Sie heulten das Geheimnis an. Sie antworteten einander von Dorf zu Dorf, bis zum völligen Ende von Raum und Zeit der Nacht.«
Dass es in tropischen Nächten noch deutlich tumultuöser zugehen kann, belegt Louis-Ferdinand Céline bei seiner Beschreibung einer zentralafrikanischen Nacht in Reise ans Ende der Nacht:
»Und dann schloss sich die Nacht mit all ihren Ungeheuern dem Tanze an, unter tausend- und abertausendfachem Gequake aus Krötenmäulern. Der Wald wartet nur auf dieses Signal, um aus all seinen Tiefen loszuzittern, loszupfeifen, loszukreischen. Ein gewaltiger Liebesbahnhof, lichtlos, berstend. Ganze Bäume quellen über vor lebenden Leckerbissen, verstümmelten Erektionen, Entsetzlichkeiten. Schließlich verstand man in der Hütte sein eigenes Wort nicht mehr. Ich musste selber über den Tisch jaulen wie ein Waldkauz, damit mein Gegenüber mich verstand. Ich war bedient, ich habe das Landleben nie ausstehen können.«
Wer nachts lieber wach bleibt, dürfte vermutlich auch für die Faszination spätabendlicher oder sogar nächtlicher Lektüre empfänglich sein. Die Welt um sich herum zu vergessen und sich ganz in der Lektüre eines Buches zu verlieren, ist in der Stille der Nacht einfacher. Wenn man im Bett liest, ist es neben der Dunkelheit dann auch die vertraute Geborgenheit, die eine ganz besondere Atmosphäre schafft.
Gutenachtgeschichten gibt es inzwischen nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Welche sich besonders für die nächtliche Lektüre eignen – ob aufwühlende Krimis, eher Beruhigendes oder ein Sachbuch (wie dieses) –, hängt ganz vom Leser ab. Jeder muss in sich selbst hineinhören, welche Gedanken er besonders gerne mit in den Schlaf nimmt.
Für den Schriftsteller Alberto Manguel entwickeln die Bücher seiner Bibliothek bei Nacht »Stimmen«, die viel über die Welt, den Platz der Bücher in derselben sowie die Menschen erzählen, die die Bücher geliebt, verteufelt, verbannt oder sogar verbrannt haben. »Bei Licht lesen wir das, was andere ersonnen haben; in der Dunkelheit erfinden wir unsere eigenen Geschichten.« Und er schrieb: »Die Bibliothek, die in den Morgenstunden die Sehnsucht nach einer streng an Vernunftprinzipien orientierten Weltordnung widerspiegelt, taucht nachts voller Freude ein in das elementare, fröhliche Durcheinander der Welt.« Gerne stellt man sich vor, wie er »das Lesen in der dichten Stille« genießt, »wenn die Lichtkegel der Leselampe die Regale« seiner Bibliothek spalten, wie sein Blick zwischendurch abschweift und den im Lampenlicht tanzenden Staubteilchen folgt.
Bibliotheken, die rund um die Uhr geöffnet sind, befördern diese besondere Lesegewohnheit. Was sich an amerikanischen Universitäten schon lange eingebürgert hat, setzt sich in Europa bisher allerdings nur zögerlich durch. An den Hochschulen von Dortmund, Freiburg, Konstanz und Karlsruhe hat man gute Erfahrungen damit gemacht. Obwohl immer mehr Medien online verfügbar sind, schätzen viele Studenten offenbar die Gemeinschaft der anderen Lesenden und Lernenden.
Etliche Menschen früherer Zeiten dürften bei der Lektüre eines Buches im Kerzenschein eingeschlafen sein. Man kann nur hoffen, dass ihr Bett nicht in Flammen aufgegangen ist. Nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen sind die Bedenken, dass das Lesen mit elektronischen Geräten zu später Stunde dem Schlaf danach abträglich sei, weil das Licht die Bildung des schlaffördernden Hormons Melatonin unterdrückt. Gedruckte Bücher haben hier gegenüber Lesegeräten oder Smartphones einen Vorteil, weil das zum Lesen notwendige Licht nicht so intensiv ist. Vielleicht kommt jemand auf die Idee, Bücher zu drucken, deren Buchstaben mit leuchtender Druckerschwärze gedruckt sind. Dann müsste man nicht einmal mehr die Lampe eingeschaltet lassen.
Marguerite Duras zählt zu denen, die sich ausdrücklich zu den Qualitäten nächtlichen Lesens geäußert haben: In einem Interview meinte sie: »Man kann nicht bei zwei Lichtern gleichzeitig lesen, dem Licht des Tages und dem Licht des Buches. Man sollte bei elektrischem Licht lesen, den Raum im Dunkeln, und nur die Seite beleuchtet.«
Oft erfolgt das Lesen bei Nacht im Geheimen; dann hat es noch einen zusätzlichen besonderen Reiz. Hinweise finden sich hier und da in der Literatur. Geoffrey Chaucer zum Beispiel lässt seine Protagonistin im Buch der Herzogin wie folgt sprechen:
»So als mir war, ich fänd’ kein Schlaf;
zu später Stund’ nach mancher Nacht,
auf meinem Bett nahm ich den Sitz
und bat, man reiche mir ein Buch,
ein Ritterbuch, das gab man mir
zu lesen, bis die Nacht vorbei,
denn mich dünkt dieses bessre Spiel
als Schach und andrer Zeitvertreib am Brett.«
Etwas mehr ist über die Lektüre bekannt, die Samuel Pepys nach einem geselligen Abend, den er mit Gesang und Wein mit Freunden verbracht hatte, mit auf sein Zimmer nahm. Es handelte sich um das Buch L’école des filles (Die Mädchenschule), ein, wie er versicherte, »anstößiges Buch«, das ihn wohl gerade deswegen zur Mitnahme reizte. Anfänglich versucht Pepys, sich einzureden, er tue dies reinen Gewissens, denn er lese das Buch nur »zum Zwecke der Information« – aber je länger die Lektüre fortschreitet und je mehr Wirkung sie entfaltet, desto klarer wird Pepys die Lächerlichkeit seines Selbstbetrugs. Scham und Zerknirschung setzen ein und schlussendlich entscheidet er sich dazu, das Buch – nach Gebrauch freilich – zu verbrennen. Immerhin vertraute er das seinem Notizbuch und damit der Nachwelt an. Die meisten dürften pornografische Schriften eher unter der Bettdecke im Licht einer Taschenlampe studiert und darüber kein Wort verloren haben.

»Man muss die Nacht gesehen haben, bevor man den Tag begreift.«
Anne Sexton
»In der Nacht ist jede Katze ein Leopard.«
Italienisches Sprichwort
»Jede Nacht, wenn ich schlafen gehe, sterbe ich. Und am nächsten Morgen, wenn ich aufwache, werde ich wiedergeboren.«
Mahatma Gandhi
»Nur im Dunkeln sieht man die Sterne.«
Martin Luther King
»Wozu sind die Tage? Um uns aufzuwecken. Um die endlosen Nächte zu unterbrechen. Wozu dienen die Nächte? Um durch die Zeit in eine andere Welt zu fallen.«
Laurie Anderson
»Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?«
Novalis
»Ich verfluche die Nacht, doch verbirgt sie mich vor dem Tag.«
William Drummond
»Die Nacht hat tausend Augen, und der Tag nur eins.«
Francis William Bourdillon
»Was hat die Nacht mit dem Schlaf zu tun?«
John Milton
»Jeder Tag hat seine Plage, und die Nacht hat ihre Lust.«
Johann Wolfgang von Goethe
»Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne, desto tiefer die Trauer, desto näher ist Gott!«
Fjodor Dostojewski