Marie Jalowicz-Simon
Untergetaucht
Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945
Bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Hermann Simon
Marie Jalowicz um 1944
Marie Jalowicz, Tochter eines jüdischen Anwalts, geboren 1922 in der Stadt, überlebte die Zeit des Nationalsozialismus untergetaucht mitten in Berlin. Nach der Befreiung 1945 blieb sie in Berlin und wurde Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität.
Ihr Sohn Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, bat sie kurz vor ihrem Tod, die Geschichte ihres Überlebens auf Band zu sprechen. Auf dieser Grundlage hat die Autorin Irene Stratenwerth zusammen mit Hermann Simon die hier veröffentlichte Fassung erstellt.
Marie Jalowicz Simon starb 1998 in Berlin
Erschienen bei FISCHER E-Books
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: © Privatbesitz
© Hermann Simon und Irene Stratenwerth 2014
Alle Rechte vorbehalten
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2014
Karte: Peter Palm, Berlin
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402897-2
Zu den Hauptmerkmalen des Pessach-Festes gehört das Verbot, Gesäuertes (hebr. Chamez) zu genießen oder auch nur zu besitzen. Es wird an diesen acht Tagen nur ungesäuertes Brot = Mazza gegessen. Nach Pessach aber isst niemand Mazze, auch wenn es dann nicht verboten ist. In der Pessach-Haggada, der Erzählung, die am Sederabend vorgelesen wird, heißt es: »Warum ist diese Nacht so anders als die übrigen Nächte? An allen anderen Nächten können wir Gesäuertes und Ungesäuertes (Chamez und Mazza) essen, in dieser Nacht nur Ungesäuertes.«
Margarete Draeger wurde 1933 als Lehrerin zwangspensioniert, weil sie jüdische Vorfahren hatte. Nach verschiedenen anderen Tätigkeiten wurde sie 1942 Zwangsarbeiterin bei Siemens, tauchte vor der Deportation unter, wurde aber 1944 entdeckt und nach Auschwitz deportiert.
Marie Simon berichtet über dieses Ereignis nicht mehr als diesen Satz. Aus dem Tagebuch von Hermann Jalowicz geht Näheres über den Tod von Betti Jalowicz hervor. »5.5.38 Mit Mariechen bei Betti. Röntgenaufnahme vom Kopf. Große Schmerzen. – Nachts sehr ernste Unterhaltung mit Mariechen. Erschütternd durch die abgeklärte Ruhe des Kindes. Vorher hatte sie allerdings heftig geweint 6.5.38 Mariechen schläft seit dem 4. Mai in Betti’s Bett 12.5.38: Bei Betti mit Mariechen. Unterhaltung mit Dr. Jakob. Mir wurde im Krankenhaus schlecht. – Zu Fuß mit Mariechen zum U-Bahnhof Gesundbrunnen. Unterhaltung sehr ernst und bewegt 31.5. In der ganzen Zeit seit ihrer Rückkehr (wie vor dem Krankenhaus) keine ruhige Nacht. (…) – Es sieht trüb aus. Betti spricht zwar nicht mehr so traurig wie früher, aber sie denkt traurig. Ende Mai sagte sie mir, sie könne die Schmerzen kaum ertragen, wir sollten sie nicht sehr beweinen, wenn sie nicht mehr da wäre, wäre es eine Erlösung für sie. Juni 1938: In der letzten Woche des Monats trat eine erhebliche Verschlechterung ein. (…) Während Betti in Schmerzen auf ihrem letzten Lager liegt, schmieren draußen Kinder an die Türen und Fenster jüdischer Geschäfte. Später wurden auch andere jüdische Schilder beschmiert, so die Schilder Jacobi’s, Eger’s, Michelsohn’s und auch meine Schilder. (…) Am Dienstag 28/6 drang Dr. Gorze in mich, Betti ins Krankenhaus zu bringen. Mariechen und ich lehnten ab, da das nicht Betti’s Wunsch entspreche und sie unheilbar sei. 30.6. Um ¾ 3 Uhr weckte mich die Schwester, ich weckte Mariechen. Wir saßen still bei Betti, ich hielt ihre Hand in meiner Hand, bis um 6 Uhr früh ihr Herz zu schlagen aufgehört hatte.«
Nach nationalsozialistischer Gesetzgebung war das betäubungslose Schächten der Tiere verboten. Deshalb wurden betäubte Tiere geschächtet, das Fleisch wurde dann als »neukoscher« bezeichnet. Fleisch von betäubten Tieren gilt nach orthodoxer religiöser Auffassung als »treife«, also unrein.
Seiner Freundin Hilde Hauschild hinterließ Arthur Eger einen kurzen Abschiedsbrief mit folgendem Text: »Dir liebe Hilde ein besonderes Adieu. Verzeih mir! Dank Dir zum letzten mal für all die Freude die Du mir gemacht. Ich konnte es früher und auch jetzt nicht lohnen. Möge Gott es Dir lohnen und ein glückliches Schicksal Dir bescheren. Trauere nicht weine nicht, ich bitte Dich darum. In inniger Liebe. Dein über das Grab, Arthur«.
Im Palästina-Amt in Berlin, das seit 1924 als gemeinnützige Institution bestand, organisierten zionistische Gruppen unter Federführung der Jewish Agency bis 1941 die Auswanderung deutscher Juden nach Palästina.
Kammergerichtspräsident war von 1933 bis 1942 Heinrich Hölscher (geb. 1875).
Am 24. März 1942 verbot das Reichsministerium des Innern grundsätzlich auch die Benutzung von innerstädtischen Verkehrsmitteln; nur Fahrstrecken zur Arbeit über sieben Kilometer Entfernung galten als genehmigt.
Heute Reinhardtstraße.
Heute Sonnenallee.
Wie die Ausstellung der Postausweise vor sich ging, beschrieb Marie Simon 1993 in einem Vortrag so: »Zahlreiche untergetauchte jüdische Frauen konnten sich durch einen Postausweis – einen echten Ausweis, ausgestellt auf einen falschen, nichtjüdischer Namen – jederzeit legitimieren, ohne Verdacht zu erregen. Die Beschaffung ging so vor sich: Mirjam Cohn schrieb sich regelmäßig Briefe an dieselbe Adresse, gerichtet an Marta Müller bei Schmidt…, passte den Postboten ab, um die Sendung in Empfang zu nehmen, machte dabei ein gefälliges Schwätzchen, bot eine Zigarette an und bat nach geraumer Zeit den Briefträger, auf dem Postamt zwecks Ausstellung eines Ausweises zu versichern, er kenne Marta Müller persönlich. Hier war eine Schachtel Zigaretten fällig; ich kenne keinen Fall, dass ein Postbote der netten Frau den kleinen Dienst verweigert hätte.«
Wahrscheinlich Heinz Koch (1894–1959), der 1940 Gastprofessor an der Universität Sofia und Direktor des gesamten deutschen Schulwesens in Sofia war.
Damals Miersdorf, heute Zeuthen-Miersdorf.
Benno Heller wurde nach seiner Verhaftung am 23. Februar 1943 zunächst in Berlin in Polizeihaft genommen und dann nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er wahrscheinlich gezwungen, als Arzt zu arbeiten. Im Herbst 1944 kam er ins KZ Sachsenhausen, danach in das Außenlager Lieberose-Jamlitz, wo er zuletzt Mitte Januar 1945 gesehen wurde. Die Umstände und der genaue Zeitpunkt des Todes von Benno Heller sind unbekannt.
Heute Karpacz.
Mit der Abkürzung CV ist der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gemeint. Die »Naumann-Gruppe« hieß offiziell »Verband deutschnationaler Juden« und war eine deutschnational orientierte Organisation, die in scharfer Opposition zum Zionismus stand. Vorsitzender der Organisation war Max Naumann.
In den 1920er Jahren wurden zahlreiche politische Morde durch deutschnationale Untergrundgruppen begangen. Die Opfer waren meist sogenannte Verräter aus den eigenen Reihen. Die Bezeichnung Feme leitet sich von einem mittelniederdeutschen Begriff für Bestrafung ab.
Häkchen.
Nach den bereits in der Tora festgehaltenen religiösen Speiseregeln ist nur Fleisch von Tieren, die gespaltene Hufe haben und Wiederkäuer sind, koscher.
Ein Minjan bezeichnet nach traditionellem Verständnis eine Gruppe von mindestens zehn jüdischen Männern, die nötig sind, um einen vollständigen Gottesdienst abzuhalten.
In Berlin-Weißensee befindet sich einer der größten jüdischen Friedhöfe in Europa.
Laut Anklageschrift des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshof vom 16.1.1945 wurde Gertrud Neuke am 15. September 1944 festgenommen. Möglicherweise gab es bereits vorher eine nicht aktenkundige erste Verhaftung oder schon vor diesem Tag eine Festnahme durch die Gestapo.
Marie Simon kann die Ausbombung des Hauses aus der Erinnerung nicht genau datieren. Der Tod von Friederike Graß ist aber dokumentiert. Im Beerdigungsschein steht: »Am 9.3.1945 um 21.15 Uhr aus ihrer zerstörten Wohnung geborgen.« In dieser Nacht wurde das Wohnhaus Am Oberbaum 2 bombardiert. Für den 10. März 1945 ist die Zerstörung des Hochbahnhofes Stralauer Tor/Osthafen, der diesem Haus unmittelbar gegenüber lag, registriert.
Die Bezeichnung bzw. örtliche Zugehörigkeit für die Kolonie, in der das Grundstück Nitzwalder Straße 13 liegt, lautet Kaulsdorf-Süd. Wuhlheide bezeichnet ein Flurstück und die nächstgelegene S-Bahn-Station.
Später Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik.
Erst als Marie Simon diese Erinnerungen 1998 diktierte, wusste sie, dass die Einordnung der Kochs als »Arisierer« so nicht richtig war. Das Sommerhaus in Wuhlheide wurde im September 1938 für 6400 RM von Hermann und Marie Jalowicz an das Ehepaar Koch verkauft. Der größte Teil des Kaufpreises war zur Begleichung von Schulden vorgesehen, die Hermann und Betti Jalowicz bei verschiedenen Verwandten hatten. Der Betrag entsprach etwa dem damaligen Marktwert des Grundstücks. 500 RM für Mobiliar und Hausrat wurden an Hermann Jalowicz bar ausgezahlt. Im Februar 1940 setzte das Ehepaar Koch, wahrscheinlich mit Hilfe von Hermann Jalowicz, ein Testament auf, in dem Marie Jalowicz als Erbin ihres Nachlasses für den Fall eingesetzt wurde, dass die Kochs keine eigenen Nachkommen haben würden. Dieser Erbfall trat für Marie Simon überraschend 1994 mit dem Tod von Johanna Koch ein.
Das Gelände in der Kaulsdorfer Straße 90 gehörte Felix Walter, einem Juden aus Erkner. Es wurde vom Deutschen Reich zunächst »verwaltet« und 1942 beschlagnahmt. Das auf dem Gelände errichtete Lager diente zunächst als Durchgangsstation für deutsche Siedler aus Wolhynien, dann als Lager für französische Kriegsgefangene. Ab 1942 waren hier über tausend Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene untergebracht, die für die Deutsche Reichsbahn arbeiten mussten, unter ihnen viele Frauen und Kinder. Im Winter 1943/44 wurde das Lager durch einen Bombenangriff zerstört, danach aber teilweise neu errichtet. Nach Ende des Krieges diente es als Sammelplatz für Gefangene, Zwangs- und Fremdarbeiter verschiedener Nationen vor der Rückkehr in ihre Heimatländer. Heute erinnert eine Ausstellung des Museums Marzahn-Hellersdorf vor Ort an die Geschichte des Lagers.
Die sowjetischen Streitkräfte trafen um den 22. April 1945 in Kaulsdorf/Mahlsdorf ein. Das Zwangsarbeiterlager in der Kaulsdorfer Straße 90 wurde am 23. April von sowjetischen Soldaten befreit.
Toshe = auch.
Die Deutsche Reichsmark war ab 1943 auf dem internationalen Devisenmarkt wertlos und nicht mehr konvertierbar.
Der Fragebogen, den Marie Jalowicz, dort am 23. Juli 1945 zur Registrierung ausfüllte, ist im Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum erhalten.
Die von der Alliierten Kommandatur am 14.8.1945 festgesetzte Ausgangssperre galt von 23.00 bis 5.00 Uhr.
Als Zwangsarbeiterin in Berlin. Die Aufzeichnungen der Volkswirtin Elisabeth Freund. Herausgegeben und kommentiert von Carola Sachse, Berlin 1996.
Häftling Nr. 124868, in: Neuköllner Pitaval, Wahre Kriminalgeschichten aus Berlin, Rotbuch Verlag 1994; S. 79ff.
»Vermögenserklärung« vom 23.7.44; hier gibt Fritz Goldberg in der Rubrik »Wohnung« an: »C2, Landsbergerstr. 32 […] bis 6.2.43, dann illegal«. (Brandenburgisches Landeshauptarchiv Rep. 36 A Oberfinanzpräsident Berlin Brandenburg [II] Nr. 11552.)
Lebenslauf Marie Jalowicz vom 8.10.1945, Landesarchiv Berlin, Signatur C Rep 118-01 Nr. 2754. Auch in dem dazugehörigen Fragebogen formuliert sie: »Ich habe mich der Gestapo entzogen und drei Jahre illegal gelebt.«
»Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen.«
Roman von Wilhelm Raabe, Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge.
Von Marie Jalowicz sind zwei Anträge zur Anerkennung als Opfer des Faschismus überliefert, und zwar einer vom 8.10.1945, mit dem sie sich als politische Kämpferin anerkennen lassen wollte (heute im Landesarchiv) und der zweite vom 23.10.1945 bei der »Abt.: Opfer der Nürnberger Gesetzgebung« als verfolgte Jüdin (heute im Centrum Judaicum). Auf dem zweiten Fragebogen ist handschriftlich vermerkt »politisch anerkannt«. Ich kenne keine Parallele dafür, dass sich jemand aus dem Kreis der Verfolgten bemühte, sowohl als Opfer der Nürnberger Gesetzgebung als auch aus politischen Gründen anerkannt zu werden.
Lebenslauf Marie Simon vom 16.10.1972, Personalakte im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin.
Am Lebensende die ganze Wahrheit sagen. IM GESPRÄCH: Hermann Simon und Detlev Lücke über Marie Simon, die als Berliner Jüdin im Untergrund überlebte, »Freitag«, 19. Mai 2000, S. 17.
Ebenda.
Zufluchtsort der Unwissenheit.
Es war sehr kalt draußen und schon dunkel geworden. Die Kneipe lag in der Wassertorstraße, einer Gegend von Kreuzberg, in der ich noch nie gewesen war. Ich betrat den noch ganz leeren Raum. »Hallo?«, rief jemand aus einem Hinterzimmer. Durch die offene Tür sah ich eine Frau, die dort saß und an einem Pelz herumnähte. Sie schien diese Beschäftigung nur sehr ungern aufzugeben, um zu mir nach vorn zu schlurfen.
Benno Heller hatte mich hierhergeschickt. Ich sollte mich in der Kneipe an die einzige Bedienung, eine Frau namens Felicitas, wenden. Sie war eine seiner Patientinnen. Eigentlich hätte sie als sogenannte Halbjüdin den gelben Stern tragen müssen, doch das tat sie nicht. Der Frauenarzt hatte mich schon ein paarmal irgendwo untergebracht, aber diesmal hatte er mich gewarnt: diese Felicitas mache nur krumme Dinger. Gern hatte er mir ihre Adresse nicht gegeben. Aber er wusste niemand anderen mehr, der mir helfen konnte.
In mir stieg ein furchtbares Grauen, eine tiefe Angst auf: Alles in dieser Situation und in dieser Gegend war mir fremd. Dennoch überwand ich mich dazu, Felicitas in wenigen Worten zu erklären, warum ich gekommen war.
Sie dachte kurz nach. Dann verkündete sie: »Ick hab’s! Der Jummidirektor muss bald kommen. Der jehört hier abends zu den Ersten. Det könnte wat sein.« Ich sollte mich einstweilen an den Tresen stellen und mich verhalten wie ein gewöhnlicher Gast, der sein Glas Bier trinkt.
Nach kurzer Zeit betrat der Mann, den sie »Gummidirektor« nannte, die Kneipe. Ich war entsetzt. Er war, grob geschätzt, Anfang fünfzig und schwer gehbehindert. Er bewegte sich, als ob seine Beine aus Gummi wären. Seinen Spitznamen trug er wegen dieser eigenartigen Motorik und weil er, wie ich später erfuhr, tatsächlich der Direktor eines kleinen Betriebes war.
Seine Sprache war wie sein Gang. Er brachte eine Art Wortsalat oder Wortbrei hervor, und das erst nach diversen Anläufen. Um verstanden zu werden, sagte er immer wieder dasselbe, in der Hoffnung, dass es nun deutlicher herauskäme. Mich packte erneut eine entsetzliche Angst. Eine Ärztin aus unserem Bekanntenkreis hatte mir einmal von den sogenannten Tabespatienten erzählt, die sie in der Psychiatrie betreute: Menschen, die unter Spätfolgen einer Syphilis litten. Von ihr wusste ich, dass diese liefen, als hätten sie Gummibeine, und dass sie sich nicht mehr richtig artikulieren können. Sie sagen nicht »Topflappen«, sondern »Topfappen«, dann verbessern sie sich zu »Opfappen«– genau wie dieser Mann, der nun vor mir stand.
Was Felicitas mit ihm besprach, konnte ich nicht hören. Aber nachträglich wurde mir klar, dass sie mich für fünfzehn Mark an ihn verkauft hatte. Sie wollte zwanzig, er bot zehn, und dann einigten sie sich in der Mitte. Bevor ich das Lokal mit ihm verließ, schenkte Felicitas ihrem Stammgast noch ein Bier ein und sagte zu mir: »Ach, komm doch noch mal eben mit.« Im Hinterzimmer erzählte sie mir, was sie ihm für eine Geschichte aufgetischt hatte: Ich sei eine alte Bekannte von ihr. Mein Mann sei an der Front, ich wohne bei den Schwiegereltern. Das Verhältnis zu diesen Leuten sei für mich so unerträglich geworden, dass ich sie gebeten habe, mich unterzubringen, ganz egal, wo. Sie raunte mir auch noch zu, dass Karl Galecki, der Gummidirektor, ein bis an den Rand des Wahnsinns fanatisierter Nazi war.
Dann gingen wir los. Draußen war es so eisig, dass es uns den Atem verschlug. Er bot mir seinen Arm. Wir sprachen kein Wort miteinander.
Der Schnee war überfroren und glitzerte hell. Es war annähernd Vollmond. Ich hob meine Augen zum Himmel: Riesengroß war das Gesicht vom Mann im Mond zu erkennen, ein feistes Antlitz mit einem hämischen Grinsen. Ich war todunglücklich. Hunde können wenigstens den Mond anheulen, dachte ich, ich darf nicht einmal das.
Und dann riss ich mich zusammen. Ich dachte an meine Eltern und begann im Stillen mit ihnen zu sprechen: »Ihr braucht euch nicht die geringsten Sorgen um mich zu machen«, sagte ich: »Eure Erziehung hat mich tief geprägt. Was ich hier erlebe, hat auf mich, auf meine Seele, auf meine Entwicklung nicht den geringsten Einfluss. Ich muss es einfach nur überleben.« Das tröstete mich ein bisschen.
Das Domizil des Gummidirektors lag nicht weit von der Kneipe entfernt. Doch wegen seiner schweren Gehbehinderung kamen wir nur sehr langsam voran. Schließlich standen wir vor einer großen Mietskaserne mit einem Torbogen. Der Durchgang führte auf einen Hof. Dort stand die langgestreckte Baracke, in der er wohnte. Etwas weiter entfernt sah ich eine zweite Baracke, in der seine Werkstatt untergebracht war.
Marie Jalowicz, 1942, im Alter von zwanzig Jahren.
Mit einer Taschenlampe leuchtete er unsicher die Eingangstür ab, um das Schlüsselloch zu finden – es herrschte ja Verdunkelung. Ich erblickte das Namensschild neben der Klingel. Und dann machte ich meinen ersten Fehler. Um meine schreckliche Angst zu überspielen, versuchte ich es mit einer humoristischen Einlage, machte eine scherzhafte Verbeugung und sagte: »Guten Abend, Herr Galezki.«
Er stutzte. Ich war offenbar der erste Mensch in seinem Leben, der ihn nicht »Galekki« nannte. Aber woher konnte ich wissen, wie man ein polnisches »c« aussprach? Um das zu erklären, musste ich mir schnell eine Lüge ausdenken: In meiner Kindheit habe bei uns gegenüber ein Herr Galecki gewohnt, der Pole war und auf »Galezki« bestand. Der Gummidirektor fragte prompt bohrend nach: Ob das ein Verwandter von ihm sein könnte? Welchen Beruf der hatte? Und so weiter.
Und dann betraten wir das Innere der Baracke. Er lebte dort ganz allein. Seine Frau, so teilte er mir stammelnd mit, habe ihn verlassen, weil sie nicht mit einem Krüppel zusammenleben wollte. Jahre seines Lebens hatte er in Krankenhäusern und Sanatorien verbracht. Und hier frönte er nun der Leidenschaft, die ihm half, seine Einsamkeit zu ertragen: seinen Fischen. In dem langgestreckten Raum waren die Wände rechts und links mit Aquarien zugepflastert. Ab und zu war eine Stelle ausgespart, an der ein Möbelstück stand. Aber im Großen und Ganzen lebten in dieser Baracke vor allem Fische. Ich fragte ihn, wie viele es seien. Er konnte sie längst nicht mehr zählen, es waren unermesslich viele verschiedene Arten.
Dann klärte er mich langwierig und immer wieder um die Aussprache von einzelnen Wörtern ringend darüber auf, dass er feste Lebensgewohnheiten habe und daran auch nichts ändern wolle. Ich reagierte sehr tolerant darauf: »Selbstverständlich gehst du jeden Abend in deine Stammkneipe. Wir tun uns zusammen, aber wir wollen uns doch nicht gegenseitig stören«, beruhigte ich ihn, und: »Selbstverständlich isst du wie immer bei deiner Mutter zu Mittag.« Wir duzten uns von Anfang an. Es war dieses spontane Kneipen-Du des Pöbels.
Ganz hinten in seiner langgestreckten Baracke stand sein Bett zwischen den Aquarien, ganz vorne eine Couch. Dort sollte ich schlafen. Er zeigte mir, wo ich eine Decke, Kopfkissen und Bettwäsche fand.
Dass er ein fanatischer Nazi war, hätte ich auch ohne Felicitas schnell herausbekommen. Denn stolz erzählte er mir nun, dass er im Sanatorium ein Modell der Marienburg aus Streichhölzern zusammengeklebt und dem Führer übereignet habe. Ich sollte raten, wie viele Streichhölzer er dafür gebraucht hatte. Ich nannte irgendeine sehr hohe Zahl, die aber natürlich noch viel zu niedrig war. Begeistert korrigierte er mich und zeigte mir ein paar Zeitungsartikel, in denen dieses kleine Wunderwerk abgebildet war und gerühmt wurde. Ich rühmte es ebenfalls.
Ziemlich weit hinten in dieser merkwürdigen Wohnstätte hing ein Bilderrahmen mit einem leeren Passepartout an der Wand. »Ach Gott«, dachte ich, »da hat einer vielleicht auf diese Art und Weise das nihil darstellen wollen oder eine ähnliche Verrücktheit.« Beim Einrahmen war offenbar ein Haar in das Passepartout geraten: Es lag diagonal auf der freien Fläche und hatte einen merkwürdigen Farbverlauf.
»Ahnst du, was das ist?«, fragte er mich und deutete darauf.
»Nein«. Selbst wenn ich es geahnt hätte, hätte ich das niemals preisgegeben. Schließlich rückte er damit heraus: Er habe dieses Stück auf komplizierte Weise beschafft und es sich durchaus etwas kosten lassen, sagte er mit geschlossenen Augen. Es sei ein Haar von des Führers Schäferhund.
»Ach«, sagte ich, »ich habe es nicht gewagt, so eine Vermutung zu äußern, um dich nicht zu kränken, wenn es nicht zutrifft. Aber das ist ja wunderbar!«
Er zeigte mir dann noch die Küche und etwas, was ich in diesem irrsinnigen Aquarium gar nicht erwartet hatte: eine Seitentür führte zu einem normalen, anständigen Badezimmer.
Dann saßen wir noch zusammen. Ich hatte mich an den Wortbrei, den er herauswürgte, gewöhnt und starrte ihn auch nicht neugierig an. So legte er allmählich alle Hemmungen ab und ließ seiner Nazigesinnung völlig freien Lauf. Ich aber hatte schreckliche Angst, mich zu verraten. Ich konnte mir zwar verkneifen, etwas Falsches zu sagen, aber meine körperlichen Reaktionen hatte ich nicht alle unter Kontrolle. Zum Beispiel sagte er: »Die Uden, die Uiden, die Jueden muss man alle umbringen.« Ich spürte, wie ich errötete, sprang auf, zeigte auf ein Aquarium und sagte: »Schau mal, die Fischchen haben sich gerade anders getummelt als sonst.« Da klatschte er in die Hände: Bravo! Wie gut ich doch seine Lieblinge beobachtete!
Ich geriet in eine solche Angst und Verzweiflung, dass ich mit den Fischen Kontakt aufnahm. Ich kannte keine Broche, keinen hebräischen Segensspruch für sie, und ich war mir nicht sicher, ob Gott überhaupt existierte. Aber andererseits war er – hakodausch boruch hu – mein verlässlicher Kumpan, und zu diesem sagte ich: »Du musst die Broche so formuliert nehmen, wie sie mir einfällt. Wenn du mir nicht einmal einen Siddur lässt, nicht einmal ein Gebetbuch und auch kein Nachschlagewerk, kannst du keine sprachliche Perfektion von mir verlangen.«
Ich glaube, er war auch vernünftig und einsichtig. Meine improvisierte Broche lautete: »Gelobt seist du König der Welt, baure ha dogim, der die Fische geschaffen hat.« Ich sprach die Fische in Gedanken auch direkt an: »Ich bin in Lebensgefahr und von allen verlassen. Ihr seid unschuldige Kreaturen genau wie ich. Seid bitte, ihr stummen Fische, meine Fürsprecher, wenn die Menschen mich im Stich lassen.«
Etwas später verkündete der Gummidirektor: »Ich muss dir mal was sagen, was mir sehr schwerfällt, ich mach’s auch kurz.« Mit gesenktem Kopf und mit Tränen in den Augen erklärte er, er müsse mich enttäuschen, er sei zu keiner wie immer gearteten sexuellen Beziehung mehr imstande. Ich versuchte, das neutral und freundlich hinzunehmen. Aber mich überwältigte ein solcher Jubel und eine solche Erleichterung, dass ich nicht mehr sitzen bleiben konnte. Ich floh auf die Toilette.
Es wurde der erhabenste und erhebendste Klobesuch meines Lebens. Ich stellte mir, natürlich in Kurzfassung, einen Freitagabendgottesdienst vor, wie ich ihn in der Alten Synagoge oft erlebte hatte. »Ich rufe euch, meine lieben Chorknaben, singt!«, dachte ich und ließ sie in meiner Erinnerung singen. All das diente dazu, Gaumel zu benschen, das heißt für die Errettung aus Lebensgefahr zu danken.
Ich weiß zwar nicht, worunter Galecki damals wirklich litt, aber ich hielt ihn für einen Syphilitiker. Wenn ich das Bett mit ihm hätte teilen müssen, wäre ich in Lebensgefahr gewesen. Nachdem ich wusste, dass es dazu nicht kommen würde, war ich zutiefst erleichtert und fühlte mich wie befreit. Haschem li welau iro – Gott ist mit mir, ich fürchte nichts – rezitierte ich im Stillen, bevor ich zu ihm zurückkehrte.
Die Baracke des Gummidirektors wäre wirklich ein ideales Versteck für mich gewesen, wenn dieser Mann nicht so ein furchtbarer Nazi gewesen wäre.
Kindheit und Jugend in Berlin
Meine Eltern waren schon elf Jahre verheiratet, als ich am 4. April 1922 als ihr erstes und einziges Kind zur Welt kam. Diese späte Schwangerschaft war für beide eine große Überraschung.
Hermann und Betti Jalowicz waren beide in Berlin-Mitte, aber in völlig unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen. Mein Großvater Bernhard Jalowicz war ein Partiewarenhändler in der Alten Schönhauser Straße – ein Trinker, der seine Frau verprügelte. Er hatte bei seiner Geburt noch Elijahu Meir Sachs geheißen. Nachdem er aus Russland geflohen war, hatte er im Jahre 1870 Papiere mit dem Namen Jalowicz von einer Witwe in Calbe gekauft.
Seinen Söhnen gelang es, die Schule bis zum Abitur zu besuchen und zur Universität zu gehen. Neben dem Studium der Rechtswissenschaften engagierte sich mein Vater in der zionistischen Sportbewegung. Ostjüdische Zuwanderer galten als degeneriert durch die beengten Wohnverhältnisse im Ghetto und durch die immer gleichen Tätigkeiten wie etwa das Hausieren. Dieses Stigma sollte durch viel Bewegung an der frischen Luft in einer neuen jüdisch-nationalen Gesinnung bekämpft werden. Zeitweise war mein Vater der verantwortliche Redakteur der überregionalen »Jüdischen Turnzeitung«.
Im Sportverein Bar-Kochba war auch meine Mutter Betti aktiv. Ihr Vater war ein Enkel des berühmten Rabbiners Akiba Eger und gehörte damit zum jüdischen Gelehrtenadel. Dieser Jichus hatte es ihm ermöglicht, in die sehr reiche russisch-jüdischen Familie Wolkowyski einzuheiraten und die riesige Mitgift seiner Frau in den Aufbau eines großen Speditionshauses am Alexanderplatz zu investieren.
Meine Mutter war 1885 als Jüngste von sechs Geschwistern zur Welt gekommen. Sie war eine kleine, rundliche Person, die durch Geist, Witz und enormes Temperament gewann, sobald sie den Mund aufmachte. Schön an ihr war die ungewöhnliche Kombination von dunklen Haaren und blauen Augen, weniger schön waren ihre kurzen und dicken Beine.
Hermann und Betti Jalowicz, die Eltern von Marie, um 1932.
Mein Vater, damals ein gutaussehender junger Mann, hinter dem viele Frauen her waren, begegnete Betti Eger zum ersten Mal am Telefon. »Ich habe so viel Gutes über Sie gehört«, soll er gesagt haben: »Da kann ich wohl nur enttäuscht werden, wenn ich Sie treffe.« Meine Mutter stieg sofort auf diesen Ton ein. Die beiden lernten sich kennen und verliebten sich. Ihre Eheschließung wurde 1911 im Rahmen einer Haustrauung in der Rosenthaler Straße 44 vollzogen. Die riesige Wohnung meiner Großeltern Eger lag den neuerbauten Hackeschen Höfen direkt gegenüber.
In seinen ersten Berufsjahren als Anwalt hatte mein Vater eine Sozietät mit seinen Kollegen Max Zirker und Julius Heilbrunn in einer Kanzlei in der Alexanderstraße. Mit Zirker war er schon zur Schule gegangen. Nach dem Studium war dieser zu einem behäbigen Mann geworden, der sich, ebenso wie sein Sozius, gern auf gesellschaftlichen Anlässen sehen ließ. Mein Vater blieb währenddessen am Schreibtisch sitzen und erledigte die juristische Kleinarbeit der Kanzlei.
Bei Betti Jalowicz baute sich allmählich eine besinnungslose Wut auf: Sie hatte das Gefühl, dass Zirker und Heilbrunn ihren Ehemann hemmungslos ausnutzten. »Wir bauen uns eine eigene Praxis auf. Wir werden’s schon schaffen«, ermutigte sie meinen Vater immer wieder. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezogen die beiden ihre eigenen Kanzlei- und Wohnräume in der Prenzlauer Straße 19a, wenige hundert Meter vom Alexanderplatz entfernt.
Meine Mutter widmete sich dieser Praxis mit großem Elan. Sie hatte es immer bedauert, dass sie selbst kein Abitur machen und nicht studieren durfte. Als ihre älteren Brüder Rechtswissenschaften studierten, hatte sie heimlich mitgelernt. Als junge Frau war sie zur Bürovorsteherin der großen Anwaltskanzlei ihres Bruders Leo geworden und hatte dort nicht nur das gesamte Personal angeleitet, sondern selbst ganze Schriftsätze entworfen. Diese waren juristisch oft so brillant formuliert, dass kein Buchstabe und kein Satzzeichen geändert werden musste.
Mein Vater interessierte sich zwar auch sehr für Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, die tägliche Routine als Anwalt aber war ihm ein Gräuel, und in kaufmännischer Hinsicht war er absolut unfähig. So konnte es passieren, dass er mit Türenknallen abging, wenn ihm ein Mandant auf die Nerven fiel. »Geh du doch zu dem, es ist deine Praxis«, sagte er dann zu meiner Mutter.
Andererseits liebte er es, ganze Gesellschaften mit kuriosen Ereignissen aus seinem Berufsalltag zum Lachen zu bringen. Dazu gehörte die Anekdote über den Mandanten, der ihm hochaufgeregt seine Vorladung zu einem Termin zeigte. »Oh, Herr Doktor, sehnse, sehnse!«, sagte er und deutete auf das Datum. Mein Vater verstand erst, als dieser erklärte: Es war Jom Kippur. »Herr Doktor, das is Puderbeutel sein Kopp!«, lamentierte der Mandant. Sein Prozessgegner hieß Puderbeutel, und er war überzeugt, dieser Lump habe, um ihn ins Mark zu treffen, dafür gesorgt, dass er den Jom Kippur entweihen und bei Gericht erscheinen müsse.
Gern erzählte mein Vater auch von der alten Jüdin, die einmal zu ihm gekommen war, um zu fragen: »Bedarf a Mann a Frau zu schluggn?« Während sie noch sprach, war sie schon dabei, sich die Sachen vom Leibe zu reißen, um ihm die Spuren der Gewalt zu zeigen. »Lassen Se zu, lassen Se zu!«, hatte er entsetzt abgewehrt.
Zu seiner Kundschaft gehörte auch nicht-jüdisches Proletariat, wie jener Mann, der sein Anliegen nur stammelnd vortragen konnte. Mit Mühe verstand mein Vater, dass jemand im Krankenhaus gestorben war und diesem die Goldzähne ausgebrochen worden seien. Er erkundigte sich sehr vorsichtig und taktvoll, an welchem lieben Angehörigen denn so schändlich gehandelt worden sei. Der Mann fragte irritiert: »Warum lieber Angehöriger?« Er war Leichenträger und wollte das Virchow-Krankenhaus verklagen, weil es gefledderte Leichen an die Friedhöfe lieferte. Während es doch seiner Meinung nach das Recht der Leichenträger war, ihr kleines Einkommen durch Leichenfledderei aufzubessern.
Meine Großeltern mütterlicherseits waren beide schon vor meiner Geburt gestorben. Danach übernahm meine Tante Grete die Wohnung in der Rosenthaler Straße 44. Zu allen höheren Feiertagen richtete sie dort ein Diner für den ganzen Familienkreis aus. Jedes Jahr fanden in dem riesigen Esszimmer auch unsere unvergesslichen Sederabende statt.
Als Älteste thronte, solange ich mich zurückerinnern kann, meine Großtante Doris in der Runde. Sie war stets in graue Seide gekleidet, trug ein Band um den Hals und hatte einen Gesichtsausdruck, der mich an eine Bulldogge erinnerte. Doris Schapiro war einst schwerreich gewesen und vor der Revolution aus Russland nach Berlin geflohen. Auch ihre Tochter Sylvia Asarch, die ein ähnliches Schicksal hatte, war immer dabei.
Familientreffen im März 1932 im Sommerhaus in Kaulsdorf. Obere Reihe, von links: Herbert Eger, Sylvia Asarch, Mia Eger, Edith Lewin (eine Nichte aus Riga), Betti Jalowicz, Julius Lewin; untere Reihe: Kurt-Leo Eger, Margarete (Grete) Eger, Marie Jalowicz; vorne: Hanna-Ruth Eger, Hermann Jalowicz.
Kinder gab es in der Familie nur wenige – außer mir nur meinen Cousin Kurt-Leo und meine Cousine Hanna-Ruth. Umso wichtiger war Onkel Arthur für uns, ein sehr kinderlieber und lustiger Mann. Arthur bestand aus den unglaublichsten Widersprüchen. Schon rein äußerlich fiel er aus dem Rahmen. Die Egers waren normalerweise klein und entweder dick oder mager. Arthur überragte sie alle um mindestens einen Kopf. Alle hatten unauffälliges, dunkles Haar, seins war flammend rot. Auch durch sein Wesen fiel er aus dem Rahmen: Arthur war Kommunist und zugleich leidenschaftlich orthodox. Mit seinen religiösen Vorstellungen und Vorschriften machte er seine Schwester Grete, mit der er zeitweise zusammenwohnte, ziemlich meschugge.
Arthur handelte mit Scherzartikeln. Eine Zeit lang hatte er einen Laden in der Münzstraße, später führte er einen Marktstand, aber seine Unternehmen machten regelmäßig bankrott.
An Feiertagen gab es ewig Ärger mit ihm: Wenn nach dem Gottesdienst längst alle in der Rosenthaler Straße eingetroffen waren und darauf warteten, dass das Festessen aufgetragen wurde, kam er stets als Letzter. Eine der damals üblichen Redensarten lautete: »Na, Arthur schließt wiedermal die Schul zu.« Immer traf er vor der Synagoge noch Bekannte und unterhielt sich stundenlang mit ihnen.
Ansichtskarte von Arthur Eger, Soldat im 1. Weltkrieg, 1915, im Bild links. Text: »Wie könnte man leben, wenn man Millionär und der Krieg vorbei wär, aber sonst sind wir gesund. Viele Grüße Arthur«.
Wenn er aber am Sederabend vom Auszug der Juden aus Ägypten berichtete, tat er das mit einem solchen tiefen Ernst, als wäre er selbst dabei gewesen. Und jedes Mal, wenn die Liturgie nach der Mahlzeit fortgesetzt wurde, wurde er eine Spur blasser und verkündete, glaubwürdig erschrocken: »Der Sederabend kann nicht weitergehen, es sind Diebe eingedrungen, die den Afikaumon gestohlen haben.« Gemeint war ein besonderes Stück der Mazze, das wir Kinder versteckt hatten. Wenn wir es herausrückten, bekamen wir zur Belohnung eine Süßigkeit – so war der Brauch.
Schon lange bevor ich zur Schule kam, wollte mir Arthur die hebräischen Buchstaben beibringen. Dies entsprach einer alten jüdischen Sitte. Mein Vater erzählte, wie er als Kleinkind auf dem Schoß seines Großvaters gesessen hatte und dieser zu ihm sagte: »Mein Junge, du bist nun schon drei Jahre alt. Du sollst nicht erst die deutschen Buchstaben lernen und dann unser heiliges Alphabet, sondern umgekehrt.«
Die Art und Weise, in der Arthur diesen Unterricht anfing, brachte meine Mutter allerdings zur Weißglut. Der erste Buchstabe, den er mir aufmalte, war ein »He«. Und er sagte: »Siehst du mein Kind, das ist ein Hei. Und nun wiederhole mal: Hei.«
Das zeigte ich natürlich stolz meinen Eltern: »Schaut mal, das ist ein Hei.«
»Wo hast du diesen Mist her?«, hieß es da sofort. Denn »Hei« statt »He« – das war eine ältere, als unmodern und unfein geltende Aussprache, die ich auf gar keinen Fall lernen sollte.
Mit Tante Grete stritt Arthur sich ständig. Zum Beispiel weil er es liebte, Tee mit vielen Stückchen Zucker zu trinken. Sie hielt das für Verschwendung. »Zucker sparen: grundverkehrt! Der Körper braucht ihn, Zucker nährt«, diesen blöden Reklamespruch zitierte Arthur, sobald Grete protestierte, und ließ dabei ein Stück nach dem anderen in seine Tasse gleiten. Mal betonte er den Vers wie ein kleines Kind, das ein Gedicht aufsagt und dann steckenbleibt, das nächste Mal wie ein Schmierenkomödiant. Und Grete rief immer wieder »genug!« – bis meine sehr gestrenge und herbe Tante selbst vor Lachen explodierte. Da hatte Arthur bereits mehr als zehn Stück Zucker in seiner Tasse.
Als ich etwa zehn Jahre alt war, beobachtete ich einmal, wie er ein oder zwei Tage nach Pessach am Tisch saß, sich ein Stück Brot mit Mazze belegte und albern kichernd immer wieder sagte: »Chomez u Mazzoh«[1] – Gesäuertes und Ungesäuertes. Kein vernünftiger Mensch aß nach den acht Pessach-Tagen noch Mazze, aber er machte sich einen Spaß daraus. Da begriff ich, dass Arthur ein Schauspieler war. Man wusste aber nie, wo der Spaß aufhörte und der Ernst anfing.
Die Wohnung in der Rosenthaler Straße war auch der Schauplatz so mancher Familienanekdote, die nur hinter vorgehaltener Hand weitererzählt wurde. Eine davon handelte von meiner Tante Ella und trug sich zu, als ich noch ein kleines Kind war.
Um die Jahrhundertwende war sie für ein paar Monate nach Boldera bei Riga geschickt worden, wo eins der Landgüter der Familie Wolkowyski lag. Damals muss sie eine hübsche, lustige junge Frau gewesen sein, für die es höchste Zeit war, unter die Haube zu kommen. In Riga lernte sie Max Klaczko kennen, und schon bald darauf wurde geheiratet. Dass er ein unerträglicher Psychopath war, ein Nörgler, der ihr das Leben zur Hölle machte, merkte sie erst später.
Mit ihrer Tochter Edit kamen Ella und Max Klaczko einmal aus Riga zu Besuch nach Berlin. Während Ella glücklich war, in ihrer vertrauten Kindheitsumgebung in der Rosenthaler Straße zu sein, ging ihr Mann allein los, um sich die Stadt anzusehen. An jenem Abend im Jahre 1926 blieb er lange aus. Als man schon begonnen hatte, sich Sorgen zu machen, klingelte es. Ein Polizist stand vor der Tür und sagte mit den üblichen Beileidsfloskeln: »Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Gatte beim Überqueren des Fahrdamms bei der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche tödlich verunglückt ist.«
Ella soll einen Freudenschrei ausgestoßen, den Polizisten umarmt und einen so wilden Tanz mit ihm ausgeführt haben, dass dieser sich kaum auf den Beinen halten konnte. Damit er den Mund hielt, musste man anschließend reichlich zahlen – wobei der Polizeibeamte noch betonte, er sei nicht korrupt. Sogar Onkel Arthur, der zeit seines Lebens pleite war, bot an: »Soll ich noch was dazulegen? Es ist eine ganz schöne Summe.«
Nach wenigen Tagen war Ella Klaczko zur vorbildlich trauernden Witwe ausstaffiert, nicht nur äußerlich, sondern auch in der gesamten Haltung. Ihre tatsächliche Lage war elend: Ihr Gatte hinterließ ihr mit seinem Schreibmaschinengeschäft in Riga nichts als Schulden. Ella blieben nur ein paar Schreibmaschinen, mit denen sie in ihrer Wohnung ein Schreib- und Übersetzungsbüro eröffnete.
Oft erzählte mir meine Mutter von den Delikatessen, die sie kennengelernt hatte, als auch sie für ein paar Monate auf Gut Boldera gewesen war. Manchmal fuhren wir auch in ein russisches Feinkostgeschäft in Charlottenburg. Es war für mich immer ein Fest, diese schönen Sachen zu kaufen. Besonders guten Tee gab es in Dosen mit Goldverzierung, mit einer seltsamen Beschriftung. Ich fragte: »Warum ist denn hier ein verkehrtrummes R?« Meine Mutter erklärte es mir: Das war ein Я (»Ja«). So lernte ich das russische Alphabet kennen.
Wir kauften zum Beispiel gezuckerte Kljukwa – Moosbeeren, die dick in Puderzucker eingehüllt waren und zum Tee genascht wurden. Oder Kil’ki – Sprotten in Öl – und Grillerbsen: leicht angeräucherte, ganz feine Erbsen. Ich weiß gar nicht, ob das alles wirklich so gut schmeckte oder ob das Sensationelle daran mich so entzückte. Meine Mutter erzählte aus ihrer eigenen Kindheit, dass sie schon im Hausflur erschnuppern konnte, wenn Besuch aus Russland da war. Das Juchtenleder der schweren Ledermäntel war bis ins Treppenhaus zu riechen und auch dieses ganz besondere, intensive französische Parfüm. Diese Düfte waren für sie identisch mit dem Versprechen: Jetzt gibt es Delikatessen. Auch wir bekamen von den Verwandten aus Riga besondere Köstlichkeiten mitgebracht, zum Beispiel Kalkun – farciertes Putenfleisch. Meine Mutter war begeistert, weil es sie an ihre Kindheit erinnerte, und mir schmeckte es auch sehr gut.
Kurz nach meinem sechsten Geburtstag kam ich in die Grundschule in der Heinrich-Roller-Straße. Es war 1928, die Zeit der großen Arbeitslosigkeit. Im Einzugsgebiet dieser Schule wohnten viele sehr arme Leute. Meine Eltern wollten mich trotzdem nicht in eine exklusive Privatschule schicken. Ich sollte das soziale Umfeld samt seiner Sprache – dem Berliner Dialekt – kennen- und mich darin behaupten lernen. Gleichzeitig wollten sie den Kontakt zu dieser Welt aber auch begrenzen.
Das Einschulungsfoto: Marie Jalowicz wird im April 1928 sechs Jahre alt.
Zur Schule brachte mich viele Jahre lang jeden Morgen mein Vater. Dieser gemeinsame Morgenspaziergang mit einem guten Gespräch festigte unsere enge Bindung sehr. Abgeholt wurde ich von der Lewin, meinem Kinderfräulein. Sowie ich zu Hause ankam, wurde ich nackt ausgezogen und von Kopf bis Fuß gewaschen. Die Sachen wurden entweder in die Wäsche getan oder zum Auslüften aufgehängt, und ich wurde vollkommen umgezogen. Denn ich hatte angeblich den typischen muffigen Volksschulgeruch angenommen.
Die dritte Klasse übersprang ich. Meine Eltern hatten schon vor 1933 ein drängendes Gefühl der inneren Unruhe: Ich sollte schnell durch die Schule. Wie einst meine Mutter und meine Tanten wechselte ich von der Grundschule auf das Sophien-Lyzeum über. Die drei Jahre, die ich dort verbrachte, prägten mich nicht besonders. Was mich am meisten beeindruckte, war die Verhaftung unserer Rechenlehrerin, Frau Draeger.[2] Es muss 1933 gewesen sein: Ich bekam von meinem Sitzplatz aus mit, wie sie daran gehindert wurde, unseren Klassenraum zu betreten. Zwei Männer in Zivil standen vor der Tür. Ich sah, wie sie leichenblass wurde. Wenig später hörte ich Handschellen klicken. Natürlich erzählte ich zu Hause davon. »Versuch doch mal, unauffällig rumzufragen, wer das auch gesehen hat«, sagte mein Vater. Das tat ich dann auch, mit dem Ergebnis, dass ich angeblich das einzige Kind war, das diese Szene beobachtet hatte.
Meine Mutter wurde nur dreiundfünfzig Jahre alt. Am 30. Juni 1938 starb sie an den Folgen der Krebskrankheit, an der sie lange gelitten hatte.[3] Wir ersparten unseren nichtjüdischen Bekannten den Konflikt, ob sie zu einer jüdischen Beerdigung erscheinen sollten, indem wir die Trauerkarten an sie absichtlich zu spät abschickten.
Unsere Lage war elend. Mein Vater verdiente fast nichts mehr und hatte überall Schulden. Als Notar durfte er schon seit 1933 nicht mehr tätig sein. Bis September 1938 galt noch seine Zulassung als Rechtsanwalt aufgrund einer Ausnahmeregelung für jüdische »Frontkämpfer« aus dem Ersten Weltkrieg. Dann war auch das vorbei. Es blieb uns nichts als eine kleine Rente und das, was ich durch Nachhilfeunterricht dazuverdienen konnte.
Tante Grete hatte längst aus der Rosenthaler Straße ausziehen müssen und wohnte jetzt mit Arthur in einer kleinen Wohnung im selben Haus wie wir. Sie betrieb dort ein Schreibbüro und ernährte sich und ihren Bruder damit mehr schlecht als recht.
Auch Arthur starb in diesem Sommer, nur zwei Monate nach meiner Mutter. Er ist buchstäblich verhungert. Er war damals in der Einhaltung der Speiseregeln strenger als das orthodoxe Rabbinat und hatte unter anderem kein Fleisch mehr zu sich genommen, seit 1933 das rituelle Schächten verboten worden war. Ich war dabei, als Grete dennoch einmal ein Fleischgericht auftrug. Mit blitzenden Augen fragte er: »Wie kommt der Glanz in diese Hütte?«
»Ja, nu weißte, es is neukoscher«, erklärte Grete. Da schob er den Teller weg und sagte: »Neukoscher ist alttreife!«[4]
Wegen seiner Magengeschwüre musste er in den Monaten vor seinem Tod mehrmals ins Krankenhaus. »Sein eigentliches Leiden ist geringfügig«, sagten die Ärzte zu Grete, »es geht ihm so schlecht, weil er jede Nahrungsaufnahme verweigert.« Und das war kein Spiel, kein Scherz mehr, sondern seine Antwort auf die politische Situation: Er wollte sich selber zum Opfer bringen.[5]
Die große Wohnung in der Prenzlauer Straße 19a war viel zu teuer für uns geworden. Wir brauchten eine andere Unterkunft und fanden diese durch einen ehemaligen Mandanten, der Nazigegner und uns treu ergeben war. Dieser Herr Weichert war so kurzsichtig, dass er fast blind war, und so schwerhörig, dass er fast taub war, aber er fuhr wie ein Wilder mit einem kleinen Lieferwagen durch die Stadt. Eines Tages kam er zu uns und sagte: »Ich habe das Richtige für Sie.«
Er hatte uns völlig missverstanden und dachte, dass wir ein Häuschen kaufen wollen, was angesichts unserer Lage grotesk gewesen wäre. Denn im Spätsommer 1938 mussten wir nicht nur unsere Wohnung aufgeben, sondern auch das Grundstück mit dem Sommerhäuschen in Kaulsdorf in der Wuhlheide verkaufen, das mein Vater sieben Jahre zuvor gemeinsam mit meiner Mutter erworben hatte. Neue Eigentümer wurden Hannchen und Emil Koch, Bekannte meiner Eltern, die aus Kaulsdorf stammten und unser Holzhaus bereits als Mieter bezogen hatten.
Aber Herr Weichert hatte auch die Leute, an die er uns vermittelte, falsch verstanden: Diese hatten kein Häuschen zu verkaufen, sondern Nähmaschinen. Herr und Frau Waldmann waren Juden und mussten den kleinen Konfektionsbetrieb, den sie in der Prenzlauer Straße 47 betrieben hatten, aufgeben. Deshalb stand bei ihnen ein großes Zimmer leer, und dort zogen wir ein.
Kurz nach dem Tod meiner Mutter wurde nun diese Margarete Waldmann zur letzten, großen Liebe meines Vaters. Sie war viel jünger als er, hatte einen kleinen Sohn und fühlte sich wahnsinnig geehrt, weil mein Vater sie so anhimmelte. Es schmeichelte ihr, wenn er sie andichtete und sie – obwohl wir keinen Pfennig Geld hatten – mit Delikatessen verwöhnte. Ich war empört. Mit meinen sechzehn Jahren durchschaute ich, dass sie mit ihm spielte. Es waren weder Reife noch Intelligenz nötig, um das zu erkennen.
Zugleich war die Rede davon, dass er eine Scheinehe mit einer Schulleiterin namens Dr. Schiratzki eingehen sollte, um mit ihr gemeinsam auszuwandern. Der Vorschlag stammte vom Palästina-Amt.[6] »Heirate die!«, dachte ich, »ich will mit dir nichts mehr zu tun haben!«
Meinem Vater war außerhalb der Quotenregelungen ein sogenanntes Veteranenzertifikat für Palästina in Aussicht gestellt worden, eine Einwanderungserlaubnis für verdiente Kämpfer der zionistischen Bewegung. Dieses Zertifikat hätte wahrscheinlich auch für mich gegolten, und wir wären beide aus Deutschland entkommen. Es wurde dann aber auf dubiose Weise an jemand anderen verschoben, und die Sache zerschlug sich.
Die Waldmanns bemühten sich ebenfalls um Auswanderung. Ihre einzige Möglichkeit hieß Schanghai. Die endlos weite Reise dorthin wollten sie mit der transsibirischen Eisenbahn bewältigen. Meinem Vater versuchte diese Frau weiszumachen, sie werde im letzten Moment aus dem Zug springen: »Mein Mann fährt mit dem kleinen Martin weg, und ich gehöre dann ganz dir«, versprach sie ihm. »Glaub diesen Mist doch nicht!«, hielt ich dagegen. Es gab furchtbaren Krach zwischen uns, er hätte mich beinahe geschlagen. Ich war noch zu unreif, um zu verstehen, dass diese aberwitzige jünglingshafte Liebesbeziehung ein letztes Aufflackern vor dem Tode war.
Die Situation spitzte sich zu. Wenn wir nicht auf die Straße gesetzt werden wollten, so dachte ich, musste ich etwas tun. Das bedeutete: Ich musste dem Ehemann dieser Frau zu Willen sein. Ich war in sexueller Hinsicht schon erfahren und dachte: Was soll’s. Bringen wir es hinter uns.
Es passierte auch nur zweimal. Herr Waldmann und ich gingen in das einstmals sehr gutbürgerliche jüdische Hotel »König von Portugal«. Und wen traf ich da auf der Treppe? Meine Turnlehrerin. Wir lächelten uns an. Die war also auch mit einem Mann da. Und ich war noch Schülerin.
Im Herbst 1938 wurden alle Juden mit polnischen Pässen aus Deutschland abgeschoben. Das betraf auch einige Jungen aus meiner Klasse in der neugegründeten jüdischen Oberschule in der Wilsnacker Straße. Die meisten dieser Mitschüler waren waschechte Berliner, sie waren hier geboren oder schon als Säuglinge hergekommen. Nun plötzlich mussten sie weg. Unsere Klasse reagierte außerordentlich diszipliniert auf den Abschied: Wir schwiegen eine Weile, und dann ging der Unterricht weiter. Über das, was sich ereignet hatte, gab es nichts zu reden.
Die Plätze dieser Klassenkameraden blieben nur kurze Zeit leer. Denn als Nächstes wurden alle jüdischen Schüler aus den nichtjüdischen Schulen entlassen und drängten in unsere Klassenräume. Es wurden immer mehr Stühle hineingestellt. Manche mussten auf dem Schoß schreiben.
Als Schulrat für uns zuständig war ein Professor Hübener, ein Neuphilologe, der jahrelang mit unserer Klassenlehrerin, dem jüdischen Fräulein Philippson, ein Verhältnis gehabt hatte. Ein sehr mutiger Mann war er nicht. Es war ihm offenkundig unangenehm, für diese jüdische Schule zuständig zu sein. Als er erkrankte, wurde an seiner Stelle der Direktor eines anderen Gymnasiums zur Abnahme der Abiturprüfungen eingesetzt. Unser Mitschüler Reinhard Posnanski erschrak, als er davon hörte, und meinte: »Um Gottes willen, der Schröder ist SS-Standartenführer!«