Jürgen Schreiber
Die Stasi lebt
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Jürgen Schreiber, geboren 1947, preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor, war bis 2007 Chefreporter beim Tagesspiegel. Er schrieb für das SZ-Magazin, die Stuttgarter Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Schreiber war Gründungsmitglied von Die Woche und erhielt zweimal den Wächter-Preis der deutschen Presse sowie 1991 den Th eodor-Wolff-Preis. Bisher sind drei Bücher von ihm erschienen: Ein Maler aus Deutschland, 2005, Meine Jahre mit Joschka, 2007, und Sie starb wie Che Guevara, 2009.
Originalausgabe Mai 2009
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ISBN 978-3-426-55912-3
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Wie David Gill Geschichte machte, klingt verblüffend einfach. Anfang 1990 war der 23-Jährige bereit, »für eine Nacht« vor der Ostberliner Stasi-Zentrale Wache zu schieben. Obwohl eher zufällig in die Demonstration hineingeraten, ist der gelernte Klempner aus Herrenhut 48 Stunden später »Koordinator des Bürgerkomitees Normannenstraße«. In dem verbotenen Bezirk schafften bis dahin 20000 Geheimdienstler. Jetzt hatten Demonstranten das Herz der Finsternis besetzt. Transparente mit der Kampfansage »Stasi – Raus!« flatterten in der Kälte.
Heute weiß schon niemand mehr, wie die Angst roch bei der Eroberung der Zitadelle. Nur aus den Papieren steigt sie weiter auf, die Angst vor dem »Großen Bruder«, die Angst vor der eigenen Courage bei der Zerschlagung der DDR-Staatssicherheit. Mit schlecht kopierten Grundrissen in der Hand tasteten sich die Bürgerrechtler in die verzweigte Welt des Imperiums, drangen zur holzgetäfelten Büroflucht des allmächtigen Mielke vor (Lenins Totenmaske lag auf dem Schreibtisch), um am Ende des Abenteuers 178 laufende Kilometer Stasi-Akten als Erbmasse in die Wiedervereinigung einzubringen. Der politische Wille der Demokratiebewegung stoppte das von den Dunkelmännern mit Hochdruck begonnene Schreddern der Verschlusssachen.
Das Schlüsselwort dabei hieß »offene Aufarbeitung«. Ein von den Verfassern des »Stasi-Unterlagen-Gesetzes« bewusst gewählter Therapiebegriff, Reflex auf die Erfahrung der Unterdrückung. War schon die Entmachtung der 91000 Köpfe starken Schattenarmee durch »das Volk« ein unglaublicher Kraftakt, grenzte es an ein Wunder, mit der sogenannten Gauck-Behörde eine Institution für den Umgang mit dem heißesten DDR-Stoff zu schaffen. Ohne ihre Hilfe wären die hier versammelten Innenansichten einer Diktatur nicht zustande gekommen.
Sofern die unterschiedlichen Texte eine Botschaft haben, dann die von einem Paralleluniversum, dessen labyrinthische Verflechtungen der gewöhnliche DDR-Bürger vermutete, der gewöhnliche BRD-Bürger aber überhaupt nicht ahnte. Dabei hatte ich nie den Ehrgeiz, eine Anatomie der Staatssicherheit vorzulegen, die Anspruch auf ein Gesamtporträt erhebt. Es wäre schon viel gewonnen, typische Aspekte des totalitären Herrschaftsapparates zu beschreiben und ihre Muster aufzudecken. Gelänge es, mit diesen Artikeln, (die eine gewisse Fassungslosigkeit nicht verhehlen), Einblicke in die schwarze Kammer des Verdrängten zu geben, hätte der Autor viel erreicht.
Journalisten beschleicht oft das Gefühl, das Publikum höre nicht richtig zu. In diesem Fall sorgten nicht wenige der hier abgedruckten Berichte für Schlagzeilen. Das gilt insbesondere für meine Recherchen über Stasi-Lauschangriffe auf West-Politiker. Nicht zuletzt Alt-Kanzler Helmut Kohl drängte danach darauf, das Stasi-Unterlagengesetz zu verschärfen. Die stellenweise hochnotpeinlichen Abhörprotokolle sind seitdem für Journalisten tabu.
Die meisten meiner Gänsehaut-Begegnungen mit Stasi-Offizieren fanden in beklemmender Stimmung statt. Deshalb muss ich alle enttäuschen, die Reporter um ihren Job beneiden. Man wünscht seinem ärgsten Feind nicht, sonntagmorgens bei einem Ex-General klingeln zu müssen, um ihn nach einem Mann zu fragen, der von der Stasi in eine Falle gelockt und in Dresden geköpft wurde. Die Mächtigen von gestern saßen an Tischen mit Häkeldeckchen, entpuppten sich als unbelehrbar, unternahmen nicht den geringsten Versuch, einnehmend zu wirken. Keiner der Lamettaträger konnte mir erklären, welche Art Gesellschaft die Verbindung von Allmachtsphantasien und Karteikarten hervorbringen, wohin ihre wahnhaften Träume führen sollten – außer in den totalen Überwachungsstaat. Viele hochrangige Dienstgrade waren mit dem Fall der Mauer tief gestürzt. Mancher, der in meinen Rückblenden noch als Stasi-Stratege agiert, hatte die Angst des Deklassierten im Blick und musste sich als Pförtner oder Nachtschaffner verdingen.
Wenn ich gefragt werde, welche Reportage mir die wichtigste war, nenne ich die Geschichte des Stasi-Verdachts in der Schauspielerehe von Jenny Gröllmann und Ulrich Mühe. Das Ausmaß ihrer antiken Tragödie kann niemanden unberührt lassen. Wenn ich sagen soll, warum ich diese und jene Geschichte erzähle, kann ich nur wiederholen: Damit sie nicht vergessen wird! Indem wir von den Tätern berichten, verteidigen wir die vielen Stasi-Opfer, denen man Existenz und Würde nahm. Das kurze Gedächtnis der öffentlichen Meinung vergisst ihr Leiden zu gern.
Was David Gill vom »Bürgerkomitee Normannenstraße« betrifft, saß der frühere Stasi-Abwickler bei unserem letzten Treffen im alten Bürohaus der Ost-CDU beim Berliner Dom. Deren Generalsekretär flog 1990 als Stasi-Informant mit dem Tarnnamen »IM Küster« auf. Von solchen Zufällen inspiriert, richten wir Bilder in einer bestimmten Erzählweise ein, die uns mal besser, mal weniger gut gelingt. Die Wirklichkeit schreibt die besten Romane.
Jürgen Schreiber
Januar 2009
Chronik einer Familientragödie
Cottbus, 22. Februar 1956: Der Stasi-Major Sylvester Murau wird zum Tode verurteilt und dann auf dem Schafott hingerichtet. Jetzt kommt die ganze Wahrheit ans Licht: Seine Tochter hat ihn verraten – und heiratete später den Mann, der ihren Vater ans Messer lieferte.
Am 16. Mai 1956 ging die Sonne über Dresden um 4.14 Uhr auf. Zu spät für den 49 Jahre alten Sylvester Murau, den der Scharfrichter in der Untersuchungshaftanstalt George-Bähr-Straße 5 zwischen Nacht und Morgen aufs Schafott zwang. Die schräge Schneide der »Fallschwertmaschine« trennte ihm den Kopf, zwischen dem vierten und fünften Halswirbel vom Rumpf. Vollstreckungsdauer: drei Sekunden. Die Richtstätte schwamm im Blut, das sich in pulsierenden Kaskaden auf den Boden ergoss.
Da waren die vor Entsetzen und Qual weit aufgerissenen Augen des gefesselten Opfers. Das Röcheln. Die klaffenden Schnitte. Der gebrochene Blick. Über allem der unerträgliche Geruch der Angst – Routine für Henker Walter Böttcher. Vor Murau tötete er über sechzig Kandidaten. An diesem linden Frühlingstag (bei Temperaturen bis 18,6 Grad) enthauptete der gelernte Schmied im Erdgeschoss des labyrinthischen Baus zwei weitere Gefangene. Als wäre das Grauen noch zu steigern, legten die Gehilfen den vom Leib geschlagenen Schädel beim Einsargen gern zwischen die Beine des Delinquenten.
Eine spezielle »Ofenmannschaft« wartete in dem von Kiefern umstandenen Krematorium Tolkewitz auf Muraus Torso. Die bürokratische Ordnung der geheimen Kommandosache verlangte, »Abköpfen« und Verbrennen binnen Stunden abzuschließen. Im Einäscherungsbuch steht für Murau die laufende Nummer 144080 und 7.45 Uhr. Mit roter Tinte ist angemerkt: »Po«, Polizeiliche Zuführung. Am 18. Mai 1956 beurkundet das Standesamt V den »Sterbefall 121/56« mit der Todesursache »Myocardinfarkt«, Herzinfarkt. Urne 553 verschwindet in Feld IV. Bis zur Wende wächst Gras darüber.
Niemand weiß, was Murau in der kaum zu ermessenden Verlassenheit seiner letzten Stunden empfand. Ein lebender Leichnam schon in der Nacht aus Blei. Laut Hinrichtungsprotokoll um 0.30 Uhr »Feststellung der Personengleichheit« samt Mitteilung, sein Gnadengesuch sei abgelehnt. Auf drei Blatt, vorn und hinten mit Bleistift beschrieben, hatte er am 14. Mai Präsident Wilhelm Pieck gebeten, seine »Bitte zu erhören«. Das Aus verkündeten Anstaltsleiter Jonak und »Genosse Staatsanwalt Jahnke«, Kollege von Max Haberkorn. Der vertrat am 22. Februar 56 die Anklage gegen den vormaligen Schweriner Stasi-Major Murau vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Cottbus »wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der Verfassung der DDR«. Der allgemeingehaltene Vorwurf beinhaltete »Spionage, Staatsverbrechen, Fluchthilfe«.
Die Turmuhr ruckte auf 4.10 Uhr, Murau musste zur Enthauptung. Der dafür bestimmte Raum grenzte an die Todeszellen. Knappes Verlesen des Urteils im Beisein von zwei Stasi-Mitarbeitern und Dr. Ahnert: »Anschließend wurde er dem Scharfrichter übergeben.« Das Procedere glich bis ins Detail dem der NS-Zeit; die DDR schrieb die braunen Richtlinien einfach um. In den ersten Erlassen stand noch das Wort »Führer«. Die Antifaschisten arbeiteten ungeniert mit Nazi-Guillotinen, nur das Dresdner Richtschwert war eine Eigenkonstruktion. Und bei den Kommunisten läuteten die Anstaltsglocken nicht, wenn die Köpfe rollten.
Der Verurteilte mag gefleht, gezittert, geweint haben, als er in der Abgeschiedenheit mit der auf ihn einstürmenden Panik kämpfte. Vor der Exekution habe er einen »verbissenen Eindruck« gemacht, sich »ablehnend und widerspenstig« bei der Frage nach letzten Wünschen gebärdet, berichteten Augenzeugen. Murau rauchte, döste. Vielleicht fügte er sich resigniert ins Unausweichliche, erwartete bloß das Ende des Schreckens. Gewiss eilten in den von Eiseskälte durchzogenen Minuten die Gedanken zur Tochter Brigitte. Er dürfte sie verflucht haben, gemartert von dem unerträglichen Gedanken, dass sie ihn schlussendlich ins Unglück stieß.
Er rief das Kind immer »Gitti«. Ein Porträt überliefert die damals 21-Jährige als ausgesprochen damenhafte Erscheinung. Brünettes, gewelltes Haar, sanft geschwungene Augenbrauen, Ohrclips, schmale Nase, ganz vom Papa. Die verheiratete Cullmann trägt einen keck gestreiften Pullover.
Am 12. Juli 1955 kündigte sie dem über Westberlin ins hessische Heubach geflüchteten Vater brieflich ihr Kommen an. Er lebte zurückgezogen im Hinterhaus der »Goldenen Krone«. Mit Brigittes nachfolgendem Telegramm vom 17. Juli klopft der Tod sanft bei ihm an. Die Nachricht lautete: »Treffe Montag 10.03 Uhr in Dieburg ein. Gitti.« Die acht Wörter kosteten laut DDR-Gebührenordnung »für den Verkehr nach Westdeutschland« drei Mark – und in grausiger Konsequenz Sylvester Murau den Kopf. Er hatte sich in der neuen Heimat korrekt angemeldet. Aber, so das Rathaus: »Eine Abmeldung ist … nicht verzeichnet.«
Wie auch. Die DDR-Staatssicherheit (SSD) ließ den Abtrünnigen in die Sowjetzone verschleppen; die Details des von SED-Ganoven ersonnenen Verbrechens sind selbst für die Zeit des Kalten Krieges ohne Vergleich. Ende Oktober 1954 bietet Gitti der Stasi schriftlich ihre Hilfe an. Sofort starten die Greifer den operativen Vorgang »Lump« – den Plan zur »Zurückführung des Republikflüchtigen«, Jargon: »Die Ziehung«. Einen mit Schreibmaschine getippten dreiseitigen Bericht der Tochter über den abgängigen Vater quittiert samt Nachtrag Abteilungsleiter Albert Schubert für die Bezirksverwaltung Schwerin: »Erhalten: 26. November 1954«. Der 31-Jährige ist zudem »Stellvertreter Operativ«. Im Beförderungsvorschlag für den Hauptmann lobt ein Oberst Müller anno 55 vielsagend, Schubert habe erst kürzlich »wieder eine äußerst schwierige Werbung durchgeführt, die eine große Perspektive für die Sicherungsorgane gibt«. Brigitte Cullmanns Post berührt auch die Situation ihres ersten Mannes, Leutnant der »Kasernierten Volkspolizei Luft«. Seit ihr Papa rübermachte, fürchtet sie um die Karriere des Gatten. Gitti erhält im Haus Mielke zunächst das Kürzel »Cu«, später den Decknamen »Honett« mit Zusatz »IME«, Informeller Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz; Archivmappe 10381/79, Aufdruck: »Gesperrte Ablage«.
»Honett« bedeutet »anständig, ehrenhaft, rechtschaffen«. Das klingt wie Hohn angesichts der Rolle, die der Lockvogel spielt. Der heimlich-unheimliche Regisseur Schubert verkehrt mit der Dame unter dem Alias »Schwartz«, porträtiert sie präzise für streng vertrauliche Dossiers: »Ihre politische Standhaftigkeit und tiefe Überzeugung von der Richtigkeit ihres Auftrages wurde unter anderem dadurch charakterisiert, dass ihr sowohl die Gefährlichkeit ihrer Aufgabe als auch die Tatsache bewusst war, dass der mit ihrer Hilfe zur Strecke zu bringende Feind mit der Todesstrafe zu rechnen hatte.« Der Feind war niemand anderes als ihr eigener Vater.
Zusammen mit dem Schlosser Heinz H. und dem Angestellten Joachim T. bildete die Honett zu »Lumps« Nachteil ein Trio Infernal. Die Zyniker vom Dienst sprachen von »operativer Kombination«. Die Männer, kurz darauf Nummer 2878.55 und 2881.55 im Gefängnis Moabit, verurteilte die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin (West) am 7. Oktober 55 zu zwölf beziehungsweise zehn Jahren Zuchthaus. Der Schuldspruch wegen »gemeinschaftlicher Verschleppung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher schwerer Freiheitsberaubung« wurde am 4. Mai 56 durch Bundesgerichtshof-Entscheid rechtskräftig. Friseuse Gitti drehte wieder für die Schweriner Produktionsgenossenschaft des Handwerks, PGH, Locken, umhegte die Tochter: eine brave Hausfrau. Ihr Vater hatte noch zwölf Tage zu leben.
Die Geständigen H. und T. kannten sich vom Rummelplatz. Ersterer, knapp 25, führte im Milieu den Namen »Wagner«. Für die Medien ein »Berufsverbrecher«. Die Stasi gewann ihn in einer HO-Kneipe beim Berliner Alexanderplatz. Der Vorbestrafte besaß keinen Führerschein, zog deshalb den unbescholtenen Kumpel mit in die Sache.
Für Horch & Guck drehten federführend »Peter«, dessen Vorgesetzter und als Wortführer der »Schweriner« an dem großen Ding. Der Auftrag hieß: den Abgehauenen »unter allen Umständen« zurückbringen. An der Aktion werde sich »eine junge Frau von uns« beteiligen, vorgestellt als »Tochter des zu entführenden Mannes«. Da sie verheiratet sei, dürften die beiden unterwegs keine Dummheiten mit ihr machen. Mitte Juli lernten sie auf »Peters« Veranlassung die »gewisse Brigitte Cullmann im Friedrichshain« kennen.
Sofern die Tochter, wie telegraphisch avisiert, 10.03 Uhr in Dieburg ausstieg, passte dazu bestens der Nachtzug vom Berliner Ostbahnhof, Abfahrt 19.09 Uhr. Der D 2 fuhr Leipzig, Bebra, Frankfurt: Ankunft 7.58 Uhr. Anschluss mit dem E 576 nach Darmstadt. 9.40 Uhr weiter nach Dieburg. Die einfache Tour kostete sechzig Mark plus zwei Mark Zuschlag. Wahrscheinlich schloss Murau am Gleis seine Gitti in die Arme, ahnungslos, in wessen Fänge er geriet.
Seit dem Abtauchen war er in einer psychologisch schwierigen Situation: Als Faustpfand hatte der SSD seine Lebensgefährtin, die geschiedene Frau Anni Murau, kassiert. Die zwei Kinder lebten im Osten. Sein früherer Arbeitgeber jagte »den Verräter«. Im Hessischen hatte er noch nicht Fuß gefasst, hoffte aber auf ein neues Leben. Eine im Westen gemachte Aufnahme zeigt den 1907 in Mewe Geborenen mit Schlips und Kragen. Auffallend hohe Stirn, vager, in die Ferne gerichteter Blick, typisch für Passfotos.
Der 24-jährige T. steuerte den von der Firma Severin gemieteten Opel-Kapitän zum Tatort. Als »Karl-Heinz Schmidt, Berlin Grunewald, Bismarckallee 17«, zahlte er 570 Mark an. Den gefälschten Ausweis lieferte die Stasi. Zur Reise via Autobahn Helmstedt gab’s für Benzin, Reparaturen und Spesen vorab vierhundert Mark auf die Hand.
»Peter« und der »Schweriner« chauffierten den polizeilich gesuchten H. via Leipzig, Erfurt, Sonnenberg zur Zonengrenze gen Bayern. Zwischen Burggrub/Heik und Neundorf schlüpfte er durch den Eisernen Vorhang – und rein in T.s Karre.
Treffpunkt Busstation Dieburg, 22. Juli 55, gegen 13 Uhr. Die Cullmann erklärte, ihr Vater wolle ein Darmstädter Lokal besuchen. Gemeinsam fuhren die drei dorthin, guckten eine geeignete Wirtschaft aus. Dabei kam ihr Auto von der Straße ab. H. verdrückte sich mit Gitti. Bruchpilot T. rettete mit Mühe seine Pistole FN, Kaliber 7,65 und fünf Schuss Munition. Tausch des lädierten Wagens gegen einen Mercedes 180 Diesel. Vor der Bar »Maxim« erklärte Gitti ihnen laut späterem Urteil, »dass mit einer freiwilligen Rückkehr ihres Vaters in die Sowjetzone nicht zu rechnen sei«. Drinnen brachte sie scheinbar zufällig Murau mit den am Nebentisch sitzenden Spezln zusammen. Zechen bis vier Uhr früh, weitersaufen in Heubach. Dem ausgeflogenen Vogel die Leimrute in Kneipen auszulegen verriet intime Kenntnis. Der Alkohol war sein Verderben, in Bierlaune erzählte er gern vom Stasi-Job.
Ausflug am Sonntag, 24. Juli. H. und T. holten die Cullmann samt dem Angesäuselten um 17.30 Uhr ab. Erste Etappe bis Aschaffenburg. Unterwegs Kognak, Bier. In Schweinfurt Besuch des »Texas«, Mainberger Straße 48, das sich als »Varieté und Tanzlokal« empfahl. Murau ist sturzbesoffen. Im Polizeibericht steht: »Die Willenlosigkeit kann darüber hinaus … durch andere Narkotika herbeigeführt worden sein.« »Beim Verlassen der Bar«, so das Gericht, »gab die Cullmann ihrem Vater zu verstehen, dass man nunmehr nach Hause, also nach Heubach, fahren würde.« Es ging aber Richtung Schafott.
Dreihundert Kilometer mit dem Todeskandidaten quer durch die Republik. Bei Kronach über Äcker auf DDR-Territorium. Ankunft gegen ein Uhr. Jenseits des Stacheldrahts bildeten »Peter«, der »Schweriner«, ein Fahrer, zwei Vopos das Empfangskomitee, quartierten Murau in die Stasi-Limousine um. T. hinterher zum Richter: »Halb zog man ihn, halb sank er hin.« Im Tross bis Berlin-Lichtenberg, Sitz der SSD-Zentrale. Anderntags zahlte »Peter« den beiden Männern je 5000 Mark Belohnung.
T. legte 1240 Mark in eine goldene Schweizer Uhr an. Bei der Festnahme am 2. August hatte er noch 1590 Mark in der Tasche. H. brachte bis zur Ergreifung 1200 Mark durch. 3500 Mark habe er vergraben.
Sylvester Muraus Häftlingskarte sagt nichts darüber, wo er bis zur Hinrichtung einsaß. Der Ex-Major war selbst lange genug Teil des Machtapparates, um zu wissen, dass ihm mit der Einlieferung zunächst ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen auf dieser Erde nicht mehr zu helfen war. Ihn vermisste niemand. In Westberlin hatte der Flüchtling 323826 einen miserablen Start. Beim Aufnahmeverfahren machte er einen »geradezu finsteren Eindruck, dem, allein durch seine äußere Erscheinung hervorgerufen, einiges in puncto Vernehmung zuzutrauen ist«. Der Polizei lagen Hinweise vor, er habe in Schwerin »ständig« Häftlinge misshandelt, sei ein Schläger. Von »Kieferbrüchen« ist die Rede. Sein Kommen galt als »recht undurchsichtig«.
Die Entführungsumstände ließen Murau keinen Zweifel: Das Regime wollte am Überläufer ein Exempel statuieren. Sofort kam sogar das Gerücht auf, er sei zur Abschreckung vor versammelter Truppe aufgeknüpft worden, habe Tage gehangen. Denn Mitte der fünfziger Jahre gingen mehrere Schweriner Kader stiften. Spektakulär Bruno und Susanne Krügers Flucht; er Vernehmungsoffizier, sie Sekretärin. Sylvester und Anni Murau begleiteten die Frau nach Marienfelde. Er zahlte ihre Fahrkarte. Krügers offenbarten sich westlichen Diensten. Auch da schlug die Stasi zu. Tod durch die Dresdner Guillotine am 14. September 55.
Ihr Leidensgefährte Murau hätte formal vors Bezirksgericht Schwerin gehört. Dort amtierte mit Hans Lischke ein der SED-Doktrin nicht 150-prozentig ergebener Vorsitzender. Deshalb suchte man sich nach den Worten von Werner Barfus, 16 Jahre Sekretär am Obersten DDR-Gericht, eine gefügigere Richterin: »Det war die Lucie.« Korrekt: Lucie von Ehrenwall. In ihrem Cottbuser Zimmer 105 bezeugten heimelige Blumentapeten. Gardinen, übertrieben farbenfrohe Sessel und die einem Riesenbonbon ähnelnde Deckenlampe die Banalität des Bösen. Praktischerweise lag der Stasi-Knast neben dem Justizpalast.
Wehe dem, der sein Schicksal in Ehrenwalls Hände legen musste, im Volksmund »Blut-Lucie« genannt. Außer Murau überantwortete die einstige Exportsachbearbeiterin bis zu zehn weitere Angeklagte dem Henker. Ihre, so hieß das, »Hinrichtungsstrecke« legt den Verdacht nah, die gnadenlose Adlige habe den Werktätigen strafend Gesinnungstreue beweisen müssen. Eine Beurteilung lobt an ihr »Intelligenz«, »sicheres Auftreten« und kritisiert: »Ihr Verhalten erweckt mitunter den Eindruck, dass sie sich gern in den Vordergrund stellt.« Eine ehrgeizige Nervensäge also.
1932 trat »Lucius« in die KPD ein, besuchte 45/46 die Volksgerichtsschule Potsdam mit »befriedigend«, stieß ohne Jurastudium zum Obersten DDR-Gericht. Dort erlebte Sekretär Barfus die Juristin hautnah: »Sie war der Partei ergeben bis zum Tz.« Ruhiges Gebaren. »Ich kann nicht bestätigen, dass sie eine große Klappe hatte.« Nach harten Sitzungen weinte sie sich bei der »Kadertante« aus.
Wer sterben muss wie Murau, stirbt einen vielfach erlittenen Tod. Die seiner Liquidierung vorausgehende Pseudoverhandlung lief auf ein finsteres Schauspiel hinaus: Racheengel Ehrenwall, erhöht auf Podest und thronartigem Stuhl. Das Licht fiel durch schöne Rundbogenfenster in den Saal. Ausschluss der Zuschauer wegen »Gefährdung der öffentlichen Ordnung« 9.10 Uhr. Der Verlorene »verzichtete« auf einen Verteidiger, aus welchen handfesten Gründen auch immer. Das nie publizierte, mit Hammer und Zirkel gesiegelte Urteil 1 Ks 30/56 durchzieht eine heruntergekommene Sprache. Es strotzt von Schreib- und Tippfehlern. Kein Wort über die Entführung aus Heubach. »Im Namen des Volkes« wird der Verschleppte auf acht Seiten niedergemacht. Ende des kurzen Prozesses um 16.50 Uhr.
Aus dem »Schuldspruch« kann nur mit Vorbehalt zitiert werden. Die kaum erträgliche Mischung von Dichtung und Wahrheit ist ein politisches Konstrukt. Demnach besuchte der Fleischersohn die Mittelschule, lernte Metzger. Murau arbeitete als Viehhändler, Kohlelader, Lokheizer. 1944 wegen Wilddieberei und verbotenen Waffenbesitzes zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, Haft in Celle. Nach dem Krieg brachte er seine geschiedene Ehefrau mit den Kindern nach Wismar. Dort arbeitete er bei der Volkspolizei. Im November 49 übernahm ihn die Stasi Schwerin; Vize-Abteilungsleiter. Entlassung im April 51, angeblich, weil er die Zeit beim faschistischen Selbstschutz in Polen verschwieg. Seine Version liest sich diametral anders. Mit blauem Farbstift brachte er zu Papier, nach Morden auf Usedom habe er die Kreis-Chefin E. und den SED-Chef C. als Täter angesehen. Deshalb flog er raus.
In Ehrenwalls seelenloser Prosa heißt es, der geflohene Krüger habe Murau im Oktober 53 in Westberlin mit dem US-Agenten »Reinhold« bekannt gemacht. Von dem habe er den Auftrag erhalten, Schweriner SSD-Mitarbeiter für den Spionagedienst anzuwerben. »Für die Annahme dieses Auftrages bekam der Angeklagte 40.– DM der Bank Deutscher Länder.« 35 Personen habe er als ihm bekannte MFSler bestätigt. Im Oktober 54 Verlassen der Republik mit dem Ziel, »die bereits in der DDR begangenen Verbrechen in größerem Umfang fortzusetzen«. In drei Briefen an die Kinder »infame Hetze« gegen Organe der Staatssicherheit. Er sei sich im Klaren darüber gewesen, seine Informationen würden »zur Führung des Kalten Krieges gegen die DDR, durch den die Imperialisten die Entfesselung eines neuen Weltkrieges erstreben«, verwendet. Die krause Story endet mit dem Verdikt: Die Schwere des Verbrechens erfordere die härteste Strafe, die Todesstrafe.
Vierzig Jahre nach der Hinrichtung die Suche nach Muraus Tochter Gitti. Das Urteil gegen H. und T. reflektiert ihren Part an einem Dutzend Stellen. Die in Heftern der VEB Organisations-Technik Eisenberg gehüteten Stasi-Schriftstücke konkretisieren ihren Anteil bei der Staatsaktion noch krasser. Lauter blutige Topsecret-Papiere, in denen die Erregung über den geglückten Menschenraub von West nach Ost nachhallt. Originalton: »Die IM ›Honett‹ hat sich während des gesamten Einsatzes als eine klug handelnde, standhafte und politisch verantwortungsbewusste Genossin erwiesen.« Geständnisgleich der auf einem anderen Blatt stehende Vermerk von Major Wiegmann, »Leiter des Referates 3«, über die unter KS 25/26 erfasste »Patriotin«: »1954 wurde sie in einen operativ bedeutsamen Vorgang in Richtung Operationsgebiet (gemeint: BRD) einbezogen, wo sie bei der Liquidierung eines gefährlichen Feindes eine entscheidende Arbeit geleistet hat.« Interne Kladden rühmen »Mut und Tapferkeit«, besingen an anderer Stelle die »aktive Mitarbeit«.
Die heute 62-Jährige schien wie vom Erdboden verschwunden. Stattdessen finden wir in Berlin die nunmehrige Brigitte Schubert, seit 9. Juli 79 in zweiter Ehe mit Albert Schubert verheiratet – unterm Tarnnamen »Schwartz« führte er sie in Sachen »Lump«. Kann eine Romanze schäbiger beginnen? Muraus Ende ist ihrer Beziehung eingeschnitzt wie anderen Liebenden das Herz in die Rinde eines Baumes. Verhängnisvolle Leidenschaft hieße so etwas in schlechten Filmen.
MfS-Kollege Eichler, »HA Kader und Schulung«, verdichtet am 13. November 71 den gespenstischen Umriss ihrer beider Geschichte in anerkennendem Tonfall fürs Protokoll: »Genosse Oberst Schubert … führte aus, dass er im Auftrag des Genossen Generalleutnant Beater im Jahr 1955 mit der Genossin Cullmann inoffiziell zusammengearbeitet habe und mit ihrer aktiven Hilfe ihr Vater als Verräter seiner gerechten Strafe zugeführt werden konnte.« Im Verschleppungsjahr erhält er gemäß Befehl 121 und 220 je »1000.– M. Prämie«. Kopfgeld? Der Vorschlag zur Auszeichnung mit dem »Vaterländischen Verdienstorden« in Bronze (rechts unten von Mielke in gefälliger Handschrift paraphiert) lobt 61 im beliebten Pathos: »Genosse Schubert hat an einer Reihe von operativen Vorgängen persönlich gearbeitet, wobei solche gefährlichen Feinde festgenommen wurden, die die Höchststrafe erhielten.« Auf Deutsch: Rübe ab. Vorgesetzte nennen ihn »kühn, ohne die Wachsamkeit zu verletzen«. Berliner Ermittler sehen in ihm heute »den für die Verschleppung Verantwortlichen«.
Ein Hochhaus in Berlin-Hellersdorf. Verspieltes, ovales Namensschild an der Doppeltür im zwölften Stock. Von innen sperrt ein schwerer Riegel, als müsse die Abschottung das gemeinsame Geheimnis verschließen: die Paarung von zwei Zentralfiguren der Operation »Lump«, die gleichsam über Muraus Leiche ging. Auf das Läuten kommt die Tochter des Geköpften an die Tür. Blick durch den Spion. Brigitte Schubert, geschiedene Cullmann, geborene Murau, erklärt: »Mein Mann ist nicht zu Hause.« Neulich sei im Fernsehen gewesen, man solle Fremden nicht aufmachen. Auf den Hinweis, es gehe um die Hinrichtung ihres Vaters und die Frage, ob sie sich an ihre Tour zu ihm nach Heubach anno 55 erinnere, eine hörbare Schrecksekunde – die Vergangenheit hat sie eingeholt. Danach: »Es wird viel Unsinn geschrieben. Das ist sehr lange her.« Minutenlang hallt die geisterhafte Unterhaltung über die Lebenden und den Toten durch den Flur. Aus Furcht vor Nachbarsohren macht sie auf.
Frau Schubert tritt aus der Wohnung: »Sie können ruhig sehen, wie ich heute aussehe.« Jüngst sei sie in Kur gewesen. Gitti trägt ein Medaillon mit flötenspielendem Turbanträger. Die modische Brille farblich passend zur Bluse mit floralem Muster. Nicht ohne Eitelkeit bemerkt sie: »Bekannte sagen, ich habe mich gegenüber früher kaum verändert.« Sie gibt 15 Minuten für das Gespräch.
Eintritt beim Generalmajor a.D. Besuch vom Klassenfeind war in keiner Wahrscheinlichkeitsrechnung des 73-jährigen Tschekisten vorgesehen. Er kommt, Hosen nicht ganz korrekt geschlossen, im weißen Sporthemd aus dem Bad. Ein grauer Greis mit der aus der Fasson geratenen Figur des Büromenschen, selbst schlurfend bedrohlich, ohne jedes Interesse an einem angenehmen Eindruck. Die Frau wünscht, dass er schweigt: »Albert, ich möchte dieses Gespräch führen.« Vielleicht ein Ausdruck von Erleichterung, dass die lange Flucht vor sich selbst ein Ende hat. Es wäre ihr lieber, er verließe das Zimmer. Der Gatte trollt sich in die Essecke, sitzt ihr wie ein böser Vogel im Nacken. Sie nimmt am Couchtisch Platz. Das sehr weiße Gesicht und der Hals beim Zurücktasten ins Gestern zunehmend von fliegender Röte überzogen. In Stimme und Blick liegt etwas Lauerndes. »Honett« will wissen, was man über sie weiß.
Das gepflegte Ambiente erzählt vom privilegierten Leben; Bonzensalär rund 3000 Ost-Mark monatlich. Häkeldecken, Rosen auf dem Tisch. Auf dem Sideboard Porzellanhirsch und Nippes. Über dem Sofa eine südliche Landschaft mit Boot und Steg. Im Büfett die Sammlung kobaltblauer Gläser. Von Schuberts Allmacht blieb nur Spießigkeit übrig. Wo steht die Kristallvase »im Wert von 840 Mark«, die er samt 25-Mark-Strauß zum Sechzigsten von Schreckensmann Mielke erhielt? Wo liegt der »Generalsehrendolch mit Gravur«, Präsent beim Abschied anno 84 samt »Handwerker-Hobbykoffer mit Zubehör für 1059,60 Mark«, von unermüdlichen Kalfaktoren akribisch festgehalten. Nicht zu vergessen die Walther-Pistole 408636, Initialen »AS«, Geschenk von Generalleutnant Neiber.
Ein Gespräch am Abgrund. Frau Schubert gibt millimeterweise Einblick in die schwarze Kammer der Erinnerung. 1954 sei ihre Mutter wegen des geflüchteten Sylvester in Haft gewesen. Wiewohl geschieden, lebten sie in der Schweriner Speicherstraße 8 zusammen. Der Papa sei eines Tages verschwunden. »Er hat nur einen Zettel auf dem Nachttisch hinterlassen.« Es sei ihr darum zu tun gewesen, »den Vater zurückzuholen, damit Mutti freikommt«. Ihr Ziel Dieburg habe sie nicht gekannt: »Ich dachte, es ist Duisburg.« In Heubach habe Murau »Treue zur Arbeiterklasse« gelobt. Und: »Der Vater ist freiwillig mitgekommen!« Im Urteil gegen H. und T. (den sie auf dem Foto nicht erkennen will) steht freilich: Sie hätten aus Cullmanns Mitteilung gewusst, »dass die Verbringung des Murau in die Sowjetzone gegen dessen Willen erfolgte«.
Verglichen mit Gittis lakonischem Abriss, sind die der Gauck-Behörde vorliegenden Dokumente von bestürzender Klarheit. Ihr Albert persönlich beglaubigte wie notariell die ruchlose Komplizenschaft: »Die IM ›Honett‹«, notierte der Kenner für Stasi-Zwecke, »verfügte damals auf Grund der gegebenen Umstände als einzige Person über die Möglichkeit, die Hauptrolle … zu übernehmen.« Mikroskopisch genau wie für einen packenden Vortrag verbürgt sein »Bericht« am 7. September 78: »Nach erfolgter Überprüfung auf Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit sowie der ihrerseits vorliegenden Bereitschaft« sei sie zielgerichtet vorbereitet und »zum Einsatz gebracht« worden. Die faktengetreue Heroisierung der IM (und damit auch seine) entlarvt heute beide. Mielke spendiert ihr im Februar 79 die Verdienstmedaille, Dank an die Akteurin für »hohe persönliche Einsatzbereitschaft und exakte Durchführung übertragener komplizierter Aufgaben«. Konspirativ perfekt durfte sie »Lumps« wegen in Personalbögen auf die Frage: »Sind Sie oder Ihre Verwandten vorbestraft?« wahrheitswidrig »nein« sagen. »Schwartz«-Schubert vereinbarte 64 mit der SEDlerin, »die gesamte Angelegenheit mit ihrem Vater« in Unterlagen zu verschweigen. Murau sei »frühzeitig verstorben« zu nennen. Das stimmte irgendwie.
Im Gespräch erwähnt sie des Vaters Sauftouren, das unstete Leben, Gewalt gegen die Familie. Er habe hinter Gittern gesessen: »Wer Murau jetzt zum Helden machen will, ist schiefgewickelt.« Fast wortgleich hatte sie ihn 54 laut Personalakte als Säufer und tripperkranken Schläger beim MfS denunziert. Mit einer anderen habe er nach Amerika abhauen wollen. Der SSD nutzte das private Unglück, trickste Murau aus, vollendete damit gnadenlos die Familientragödie. Dass er für die Flucht in der DDR bestraft werden sollte, dafür hat sie noch heute Verständnis, lässt sich in diesem Sinne ein: »Sibirien ja, aber nicht die Todesstrafe.« Ende 55 kam die Mutter aus der Haft frei. Danach habe man »kein einziges Mal mehr darüber gesprochen«. Sie wiederholt: »Kein einziges Mal.«
Schweigen über das Unsagbare. Verdrängen, um eigene Beklemmung in Schach zu halten. Nur indem die Tochter das Kapitel strich, konnte sie dem letzten, trostlosen Eindruck vom Vater wehren, lebendig noch, aber ein hilfloses Bündel Mensch im SSD-Auto. Gedächtnislücken auch als Mittel, den Alptraum vom Schädel im Auffangkorb der Guillotine zu bannen, der zur Mitgift ihres Ehebundes zählt. Vielleicht braucht es die nach außen demonstrierte Härte als Selbstschutz, damit ihnen der peinigende Schatten des Murau nicht die Gegenwart zerstört.
Ein erfolgloser Versuch. Die nie verjährenden Bilder flackerten auf. Chaos in der Seele eingedenk des Enthaupteten. Scham, Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild (und was abseits der juristischen Schuldfrage an menschlicher Regung sonst noch auf der Empfindungsskala steht) fraßen sich fest im Gemüt. Die mit Gittis Rekrutierung unterstellte Unfähigkeit zu trauern kehrte sich inwendig gegen die Tochter, manifestierte sich in Krankheit. Fürsorglich rubrizieren MfS-Aufzeichnungen Krisensymptome und Verstörung: »Auf Grund der mit ihrem operativen Einsatz verbundenen starken physischen und psychischen Belastung, zum Teil auch bedingt durch die gegnerische Pressekampagne war ihr Gesundheitszustand lange Zeit sehr angegriffen.« Ferner: »Die IM ›Honett‹ befand sich auch über einen längeren Zeitraum stationär in ärztlicher Betreuung.« Von »Weinkrämpfen« ist die Rede.
Im gutsituierten Gehege des Generalmajors wahrte Muraus Kind den Schein, fürchtete immer den Sturz in die Wahrheit. Sie stand unter 2 P Js 81/57 im BRD-Fahndungsbuch, bangte sehr um den Sohn, der als Sportler in der BRD starten sollte, sprach deshalb alarmiert beim SSD vor. Schwer durchschaubar, warum »Honett« und »Schwartz« nach diesem Horrortrip füreinander entbrannten. Vielleicht mussten sie sich finden, weil die Last der archaischen Geschichte allein nicht zu ertragen war. Was auch immer für Kräfte in der Allianz zum Zug kamen, nichts ist intimer, als die Nachtseite im anderen zu kennen.
Schubert unterbricht bellend das Gespräch. »Ich weiß nicht, was das hier soll.« Die Wut kocht in ihm. »Aufbrausendes Wesen« ist der einzige Makel seiner sonst 1-a-Zeugnisse. Er poltert: »Kümmern Sie sich besser um die vom Westen erschossenen Vopos.« Wieder bittet Brigitte den Choleriker um Ruhe. Begütigend: »Er hat eine Bypass-Operation hinter sich. Er darf sich nicht aufregen. Ich mache mir Sorgen.« Eine Demonstration von Mitleid, während es um beider Anteil an der Auslieferung Muraus an den Henker geht.
Die Unterhaltung über die Operation »Lump« dauert schließlich eine gute Stunde. Es fällt kein Wort des Bedauerns. Ja doch, am Grab in Tolkewitz zeigt sich Frau Schubert interessiert. »Dass er dort liegt, wusste ich nicht.« Ferner: Geld habe sie für den Einsatz nicht bekommen, lediglich Fahrkosten habe man ihr ersetzt. Tatsächlich sind Zahlungen für sie erst ab 1. Oktober 78 belegt, 4000 Mark insgesamt. Umso mysteriöser, warum sie wie verhext agierte: Die Honoraranweisung stammt übrigens von Schubert, liest sich wie Nadelgeld für seine Zukünftige. Zwei Tage nach der Heirat, am 11. Juni 79, schloss ihre Stasi-Akte in miserablem Stil: »Auf Grund familiärer Veränderungen des IM machte sich notwendig, die Zusammenarbeit zu beenden.« Am Anfang und am Ende ihrer trübseligen Spitzelkarriere steht die Signatur des Mannes, der ihr Schicksal ist – Schubert: Mit jeder Beförderung setzt er seinen Namen theatralischer.
Brigitte Schubert, eine deutsch-deutsche Karriere. Am 6. Mai 19341951VP196274FDGBSSD18