Der kleine Vampir und die Letzte Verwandlung
Bilder von Amelie Glienke
Dieses Buch ist für alle, die davon träumen, Vampir zu werden – und für Burghardt Bodenburg, der trotz seiner Verwandlung immer noch mein Freund ist.
Angela Sommer-Bodenburg
«Na, wie findest du unseren Abend zu zweit, unseren –», Antons Vater machte eine Pause, «unseren … Männerabend?»
«Nett», meinte Anton.
«Nett?», wiederholte sein Vater. «Mehr nicht?» Leicht gekränkt zog er die Augenbrauen in die Höhe.
Schließlich hatte er sich ja auch große Mühe gegeben, aus dem Abend einen Erfolg zu machen. Er war extra früh von der Arbeit nach Hause gekommen, er hatte aus Antons Lieblingspizzeria die Holzfällerpizza mitgebracht, und er hatte Anton so viel Schokoladeneis essen lassen, wie er wollte. Ja, und nach dem Essen hatten sie Schach gespielt und Fernsehen geguckt.
Anton musste grinsen. Anna von Schlotterstein hasste es, wenn er Dinge, die ihr wichtig waren, nur «nett» fand. Am meisten hasste sie es jedoch, wenn er sagte, sie wäre nett.
«Es gefällt mir, so ohne Mutti», sagte Anton. Es war Montagabend, und am Morgen war seine Mutter mit ihrer Klasse, einem vierten Schuljahr, zu einer Klassenfahrt aufgebrochen. Sie würde erst am Samstagnachmittag zurückkommen.
«Aber ich hätte lieber einen Vampirfilm gesehen», fügte er hinzu.
Antons Vater hatte zwar gefragt, was er gern sehen wollte. Aber dann hatte er einen Bericht über «Monster-Tsunamis» entdeckt und den ohne weitere Diskussion eingeschaltet. Zuerst hatte Anton den Bericht auch recht spannend gefunden. Doch nach kurzer Zeit hatten ihn die ständigen Werbespots schläfrig gemacht, und schließlich war er eingenickt.
«Du hättest lieber einen Vampirfilm gesehen?» Sein Vater studierte die Programmzeitung. «Pech für dich, heute zeigen sie keinen.»
«Wir hätten ja eins von meinen Videos einlegen können.»
«Hast du die nicht schon hundertmal gesehen?»
«Und selbst wenn … Die kann ich tausendmal sehen.»
«Du mit deinen Vampiren!», lachte Antons Vater.
Dann fragte er mit einem verschwörerischen Augenzwinkern: «Glaubst du, sie schauen mal vorbei in dieser Woche?»
«Wer?»
«Na, deine Freunde – die, die das ganze Jahr hindurch Fasching feiern. Wenn Mutti nicht zu Hause ist, können wir die beiden doch mal einladen.» Antons Vater glaubte immer noch, dass Rüdiger von Schlotterstein, der kleine Vampir, und seine Schwester Anna zwei ganz normale, harmlose Kinder waren, die nur eine etwas ausgefallene Vorliebe für gruftiges Aussehen und schwarze Klamotten hatten. «Ich weiß, Mutti ist nicht so begeistert von Anna und Rüdiger. Aber ich finde die beiden irgendwie –» er suchte nach dem passenden Ausdruck, «ja, spaßig!»
Anton verkniff sich eine spitze Entgegnung. Der kleine Vampir und seine Schwester waren alles andere als «spaßig»!
«Ich kann sie ja mal fragen, ob sie vorbeikommen wollen», sagte er. «Falls ich sie sehe.»
Dabei seufzte er. Gesehen hatte er Anna und Rüdiger schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr. Das letzte Treffen war vor mehr als sechs Wochen gewesen, an einem Freitag. Da hatte der kleine Vampir kurz nach Mitternacht an sein Fenster geklopft. Er war sehr in Eile gewesen und hatte gesagt, er brauche unbedingt den Umhang von Onkel Theodor.
Anton hatte den Umhang aus seinem Schrank geholt, wo er ihn vor den neugierigen Blicken seiner Eltern versteckt hielt. Früher hatte der Umhang Onkel Theodor gehört, jenem Vampir, der durch einen Holzpflock von Friedhofswärter Geiermeier ums – ähm – Leben gekommen war. Wie alle Vampirumhänge bestand er aus uraltem transsylvanischen Spezialstoff, und man konnte mit ihm fliegen.
Viele Male hatte Anton schon Onkel Theodors löchrigen und nach Moder riechenden Umhang getragen; entweder auf nächtlichen Ausflügen mit seinen Vampirfreunden oder allein, wenn es einen dringenden Grund gab, die Vampire auf dem Friedhof zu treffen.
«Und wofür brauchst du den Umhang?», hatte Anton gefragt.
«Familienangelegenheiten», hatte der kleine Vampir bloß geantwortet. Er hatte Onkel Theodors Umhang unter seinem eigenen verschwinden lassen und war mit einem «Mach´s gut, Anton!» davongesegelt.
Seitdem hatte Anton nichts von ihm gehört. Und auch Anna hatte ihn nicht besucht.
«Du hast es mit Mutti nicht immer leicht, hab ich recht?», sagte Antons Vater jetzt.
Anton warf ihm einen überraschten Blick zu. «Sagst du das wegen Rüdiger und Anna?»
Sein Vater räusperte sich. «Mutti ist manchmal vielleicht etwas zu … wie soll ich sagen? … überbesorgt.»
«Überbesorgt?»
«Ja. Sie macht sich über vieles Sorgen. Ich natürlich auch. Aber Mutti macht sich deutlich mehr Sorgen als ich.»
Anton grinste. «Ich schätze, sie hat Angst, dass ich von Anna oder Rüdiger gebissen werde.»
«Nein!» Sein Vater lachte – etwas zu laut, wie Anton fand. «Sie macht sich Sorgen, dass du die Schule vernachlässigst und dass du dein Privatleben und deine Freunde zu sehr in den Mittelpunkt stellst. – Und außerdem fürchtet sie, dass du eine Schwäche für eine bestimmte Sorte von Mädchen entwickeln könntest.»
Anton runzelte die Stirn. «Eine bestimmte Sorte von Mädchen?»
«Ja. Wilde Mädchen, die sich an keine Konventionen und Regeln halten. Die immer tun und lassen, was sie wollen. Und die offenbar auch keine Eltern haben, die sich um ihre Erziehung kümmern.»
«Keine schlechte Beschreibung von Anna!», dachte Anton.
Laut sagte er: «Soll das etwa der Sinn unseres Männerabends sein: dass du mir mal gründlich den Kopf zurechtrückst?»
«Nein», versicherte sein Vater hastig. «Denk das bitte nicht, Anton. Ich will dir ganz bestimmt nicht den Kopf zurechtrücken. Dabei käme ja auch nichts heraus, oder?»
«Allerdings!»
«Ich möchte mir einfach einen gemütlichen Abend mit dir machen, wir zwei Männer zusammen.» Antons Vater schenkte sich noch etwas von dem Jasmintee ein. Seit neuestem war Jasmintee Antons Lieblingstee; es musste allerdings der mit den echten Jasminblüten sein.
«Wollen wir noch etwas spielen?», fragte sein Vater, nachdem er seinen Tee getrunken hatte.
Anton schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Wenn seine Mutter zu Hause gewesen wäre, hätte sie ihn mit Sicherheit schon vor einer Stunde ins Bett geschickt. «Und was?»
«Mensch-ärgere-dich-nicht.»
Anton schüttelte den Kopf. «Zu zweit macht das keinen Spaß. Außerdem werde ich langsam müde.»
Er stand auf.
«Träum was Schönes», sagte sein Vater. «Und überleg dir mal, was wir morgen Abend anstellen wollen – an unserem zweiten Männerabend!»
«Ja.» Anton gähnte.
In seinem Zimmer öffnete er das Fenster und blickte in die Nacht hinaus.
Aber keiner der Vampire zeigte sich. Enttäuscht schloss er das Fenster wieder und ging ins Bett.
Anton hatte schon eine Weile geschlafen, als jemand laut und fordernd gegen sein Fenster klopfte. Sofort war er hellwach. Jetzt klopfte es wieder – und sogar noch lauter. Anton sträubten sich die Haare. Niemals würden Rüdiger oder Anna derartigen Lärm machen! Erstens waren sie immer sehr vorsichtig, und zweitens passte es nicht zu ihnen. Konnte es Tante Dorothee sein, die stets hungrige Tante der beiden?
Auf Zehenspitzen schlich Anton zum Fenster und spähte durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen. Beinahe hätte er aufgeschrien: Ein totenbleiches Gesicht mit einem riesigen, weitaufgesperrten Mund, aus dem zwei grässlich lange, nadelspitze Vampirzähne ragten, presste sich direkt gegen die Scheibe. Es war ein Anblick, den Anton seinem schlimmsten Feind nicht gewünscht hätte.
«Lumpi …», stammelte er.
Lumpi war der große Bruder von Rüdiger und Anna. Er litt unter furchtbaren Stimmungsschwankungen und war jähzornig und unberechenbar.
«Lass mich endlich rein!», rief Lumpi mit seiner mal hoch, mal tief kieksenden Stimme. Er war in der Pubertät Vampir geworden und würde für alle Ewigkeit in dieser schwierigen Entwicklungsphase stecken bleiben.
«Ich beeil mich ja», murmelte Anton. Was blieb ihm auch anderes übrig? Wenn er Lumpis Befehl nicht befolgte, schlug der vermutlich die Scheibe ein.
Anton öffnete das Fenster, und Lumpi sprang ins Zimmer. Der Mond war fast voll, und in seinem Licht sah Anton mit einer gewissen Erleichterung, dass Lumpis Lippen dunkelrot waren. Demnach hatte der Vampir bereits … gegessen.
«Einen wunderschönen guten Abend!», krächzte Lumpi und reckte sich zu seiner vollen Größe. Dann deutete er mit einem Kopfnicken auf Antons zerwühltes Bett. «Hast du etwa schon geschlafen?»
«Ja.»
«Du gehst aber früh in die Falle!»
Bei dem Wort «Falle» zuckte Anton zusammen. Dann erst begriff er, dass es nur ein anderer Ausdruck für «Bett» war.
«Ich hab morgen Schule», sagte er.
Lumpi verzog die Mundwinkel. «Du bist ein richtiger Musterschüler, was?»
«Meine Mutter sagt, ich kümmere mich viel zu wenig um die Schule», erwiderte Anton.
«Ts, ts, sollte auch nur ein kleiner Scherz sein.» Lumpi bohrte seinen Zeigefinger mit dem spitz zugefeilten Nagel in Antons Brust. «Ich weiß doch, was ich von dir zu halten habe, Anton Bohnsack!»
«So?», sagte Anton betont gleichmütig. Wenn er sich seine Angst anmerken ließ, würde er Lumpi nur umso mehr reizen.
«Und ob! Ich weiß, dass du ein prima Kumpel bist», verkündete Lumpi großspurig. «Wenn mal Not am Mann, äh, Vampir ist – auf dich, Anton Bohnsack, kann unsereiner sich immer verlassen!»
Zweifellos war das als Kompliment gemeint. Anton entspannte sich ein wenig.
Er machte einen Schritt zurück, um Lumpis Grabesatem und seinen Moderausdünstungen zu entkommen.
«Stimmt», sagte er. «Ich tue für euch, was ich kann.»
«Na, wunderbar!», rief Lumpi aus. «Dann sind wir uns ja einig.»
«Einig?»
«Ja! Einig, dass du die Friedenstaube spielen wirst. Oder den Friedensengel, wenn dir das besser gefällt. Oder willst du lieber die Friedensfledermaus spielen?»
«Ich versteh kein Wort», sagte Anton.
«Du hast mal wieder eins von deinen Bohnsack’schen Brettern vorm Kopf, wie?» Lumpi raufte sich die Haare. «Also: Morgen gleich nach der Schule wirst du zu Schnuppermaul gehen und mit ihm Frieden schließen!»
«Aber ich hab überhaupt keinen Streit mit ihm.»
«Ebendeshalb. Weil ihr beide, du und er, keinen Streit habt, kannst du mit ihm reden und all die hässlichen Missverständnisse aus der Welt schaffen.»
«Missverständnisse?» Allmählich dämmerte es Anton, worum es Lumpi ging. «Meinst du das, was in der Gruselnacht passiert ist?»
Während der Gruselnacht hatte Lumpi versucht, Schnuppermaul zu beißen. Das war ihm nur deshalb nicht gelungen, weil Schnuppermaul sich mit Knoblauch eingerieben und Unmengen von Knoblauchpillen geschluckt hatte. Für diese äußerst leichtsinnige Tat war Lumpi vom Familienrat mit einer Woche Flugverbot bestraft worden; das hatte Anton von Rüdiger und Anna erfahren. Was Anton nicht wusste, war, wie sich Lumpis Beißversuch auf seine Beziehung zu Schnuppermaul ausgewirkt hatte.
«Dann seid ihr nicht mehr befreundet, du und Schnuppermaul?», fragte er.
Lumpi wedelte theatralisch mit den Händen. «Wer kann das sagen? Seit der Gruselnacht haben wir uns nicht wiedergesehen.»
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
«Und wir waren schon so weit mit unserer Freundschaft! Nacht für Nacht sind wir auf dem Friedhof spazieren gegangen und haben uns gegenseitig das Herz ausgeschüttet. Aber dann hat diese blöde Gruselnacht alles zerstört. Und nun will er nichts mehr mit mir zu tun haben. Kannst du das verstehen? Ich auch nicht», sagte er, ohne Antons Antwort abzuwarten. «Ich glaub, es liegt an dem schlechten Einfluss von Geiermeier. Ohne Geiermeier wären wir noch immer die allerdicksten Freunde, Schnuppermaul und ich.»
Geiermeier war der Friedhofswärter und Schnuppermaul sein Assistent.
«Und warum willst du dich jetzt wieder mit Schnuppermaul anfreunden?», fragte Anton.
«Warum, warum», zischte Lumpi. «Muss man immer alles erklären?»
«Nein. Aber wenn ich den Grund weiß, kann ich bestimmt viel besser zwischen euch vermitteln», sagte Anton.
Lumpi kratzte sich am Kinn, auf dem – soweit Anton das erkennen konnte –, kein einziger Pickel mehr prangte.
«Es ist wegen meiner Männergruppe», verriet er schließlich.
«Wegen deiner Männergruppe?»
«Ja! Als neugewählter Chef der Männergruppe muss ich mit gutem Beispiel vorangehen.»
«Chef?», wunderte sich Anton. «Habt ihr nicht früher ‹Präsident› gesagt?»
«Früher …» Lumpi zog verächtlich die Mundwinkel herunter. «Wir gehen eben auch mit der Zeit.»
Gehen? Je früher, desto besser!, dachte Anton. Laut sagte er: «Und inwiefern musst du mit gutem Beispiel vorangehen?»
«Nun –», sagte Lumpi. «Wie du weißt, ist es nicht unsere Art, uns zu … ähm … entschuldigen. Aber in seltenen Ausnahmefällen müssen wir eben doch mal über unseren eigenen Vampirschatten springen.»
«Du willst dich wirklich bei Schnuppermaul entschuldigen?», sagte Anton ungläubig.
«Ja …» Lumpi machte ein verlegenes Gesicht. Gleich darauf schnauzte er Anton an: «Lach nicht!»
«Ich lach doch gar nicht», sagte Anton.
«Dein Glück!» Lumpi ließ seine Vampirzähne aufeinanderklicken. «Ich leg mein Schicksal in deine Hände, Anton Bohnsack. Hast du das kapiert?»
«Ja», knurrte Anton, nicht gerade erfreut über diese Aussicht. «Und was ist, wenn ich Schnuppermaul morgen Mittag gar nicht treffe? Oder wenn er nicht allein ist?»
Schnuppermaul und Geiermeier sah man fast immer zusammen. Geiermeier hatte sich geschworen, seinen Friedhof von sämtlichen Vampiren zu befreien, und war Tag und Nacht auf der Pirsch.
«Du wirst das schon hinkriegen.» Lumpi gab Anton eine Kopfnuss, die offenbar kumpelhaft gemeint war, denn sie tat nicht sehr weh.
«Und nun muss ich fliegen», sagte er. «Hab mich schon viel zu lange aufgehalten.»
«Triffst du dich mit Rüdiger und Anna?», nutzte Anton die Gelegenheit, sich nach seinen Freunden zu erkundigen.
«Nein, die sind beschäftigt.» Lumpi kicherte – ziemlich schadenfroh, wie es Anton schien.
«Und womit?», fragte er.
«Sie machen einen Tiefenlehrgang.»
«Einen Tiefenlehrgang?»
«Ja, bei Giselher dem Geschmeidigen.»
Anton kratzte sich am Kopf. Das seltsame, altmodische Wort «Tiefenlehrgang» erinnerte ihn an etwas.
«Du meinst nicht zufällig einen Intensivkurs?», fragte er.
«Nö.» Lumpi grinste breit. «Das wäre ja ein Fremdwort. Und Giselher der Geschmeidige erlaubt uns keine Fremdwörter.»
Auch diese Auskunft erinnerte Anton an etwas. Er kam aber nicht darauf, was es war. «Ist Giselher neu bei euch?», fragte er.
«Giselher ist so neu, dass er noch Eierschalen hinter den Ohren hat, haha!» Lumpi lachte dröhnend.
«So, und jetzt muss ich zu meiner Männergruppe», erklärte er. «Als Chef ist es meine Pflicht, für Recht und Ordnung zu sorgen. Außerdem muss ich aufpassen, dass mir keiner meinen Posten streitig macht. Vor allem nicht Tino der Tückische. Dann bis morgen, Anton!» Mit einem Satz sprang Lumpi aufs Fensterbrett und flog davon.
Anton schloss das Fenster und legte sich wieder ins Bett. Das waren ja reizende Aussichten für morgen … Nur gut, dass wenigstens seine Mutter nicht mit dem Essen auf ihn warten würde!
Seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten Rüdiger und Anna. Auch wenn Anton nicht die leiseste Ahnung hatte, was ein «Tiefenlehrgang» war – zumindest wusste er nun, weshalb sich die beiden so lange nicht bei ihm gemeldet hatten!