Valentin Wolker
»Suche Mann für meine Eltern«
Ein Aushang in einer Bar, eine Reise nach China und die großen Fragen des Lebens
FISCHER E-Books
Valentin Wolker ist erfolgreicher Buchautor, seine Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und in über 30 Ländern erhältlich. Wenn er nicht schreibt, macht er gerne komplett verrückte Sachen. Er schreibt dieses Buch unter Pseudonym, um seine chinesische Schwiegerfamilie und sich selbst zu schützen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Wie weit gehst du, um deine Eltern glücklich zu machen?
Eines Abends entdeckt Valentin einen Aushang in einer Bar. Die Chinesin Meilin hat ihn geschrieben, denn sie hat ein Problem: Sie ist eine Schande für ihre Eltern, ihr einziges Kind, Mitte dreißig und noch nicht verheiratet. Obwohl Valentin eigentlich mit Tom zusammenlebt, nimmt er Kontakt zu ihr auf. Und die drei entwickeln einen riskanten Plan …
Spannend wie ein Krimi berührt ihre Geschichte ein Thema, das wir alle kennen: die Gewissheit, es seinen Eltern nie recht machen zu können. Sie erzählt von Enttäuschungen, Erwartungen, der Treue zu sich selbst und spürt der Frage nach, wie weit Kinder gehen dürfen, um ihre Eltern glücklich zu machen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: Plainpicture
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490343-9
Namen wurden geändert, auch meiner, zum Schutz.
Wie weit musst du gehen, um deine Eltern glücklich zu machen? Zu dieser Frage führte mich eine Reise, die als Zettel in mein Leben kam. Das begann so: Freitagabend, laute Musik, Schummerlicht, draußen stand der Rest eines Sommertages in der Luft, drinnen schwitziges Gedränge vor einer Bar. »Du magst doch Abenteuer, schau mal!« Adrian, ein Freund von mir, hatte einen Aushang entdeckt:
Chinesin sucht Mann, um ihre Eltern glücklich zu machen. Du sollst meine Familie in China kennenlernen.
Flug und Unterkunft werden bezahlt.
Adrian riss einen der Schnipsel ab und streckte ihn mir hin: eine E-Mail-Adresse, die fast nur aus Ziffern bestand. Ich lachte und knüllte das Papier in die Gesäßtasche.
Am nächsten Abend fand ich den Zettel wieder. Ich setzte mich auf den Badewannenrand im fensterlosen Badezimmer, das Licht ausgeschaltet, nur durch den Türspalt schien ein wenig Helligkeit. Ich strich das Papier glatt und überlegte. Es stimmte, ich mag Abenteuer. Ich hatte schon im Himalaya meditiert und in Afrika in einer Schule unterrichtet.
In China war ich noch nie gewesen.
Ich ging ins Arbeitszimmer, fuhr den Computer hoch. Die Vorhänge hatte ich zugezogen. Es war der heißeste Tag des Jahres, 38 Grad. Im Radio warnten sie vor einem Unwetter; die Leute sollten ihre Wohnungen nicht verlassen.
Ich klickte auf »Neue E-Mail«. Diese Adresse mit den vielen Ziffern! Über 1,3 Milliarden Chinesen – ein Tippfehler, und meine Nachricht würde beim falschen landen. Dreimal glich ich das Adressfeld mit dem Zettel ab.
Wie viel Uhr war es in China? Ich googelte. Auf dem Bildschirm entfaltete sich die Weltkarte. Volksrepublik China, was für ein gigantisches Land! An vierzehn Staaten grenzt es, darunter die Mongolei, Russland, Nordkorea, Indien, Pakistan, Afghanistan. Das Ostchinesische Meer. Wo immer diese Frau in China sein mochte – zwischen uns lagen mindestens Polen, Ukraine, Russland und Kasachstan.
In die Betreffzeile tippte ich: »Aushang – Freund in China«.
Im Netz las ich weiter: »Regierung: Einparteiensystem, sozialistisch, autoritär«. 143 Einwohner pro Quadratkilometer. In Deutschland sind es 229. So viel mehr Menschen in China als in Deutschland, aber noch viel, viel mehr Fläche. Die Nationalhymne: »Marsch der Freiwilligen«. Ich drückte auf »Play«. Bläser, Trommelwirbel.
China war Deutschland sieben Stunden voraus. Jetzt war es dort kurz nach drei, mitten in der Nacht. Meine Nachricht würde sie im Schlaf erreichen. Wie oft mochte sie ihre E-Mails abrufen? Vielleicht lebte sie auf dem Land, ging nur alle paar Wochen in ein Internetcafé in der Stadt. Sie würde mir antworten, wenn ich die Sache vergessen hätte. Oder gar nicht.
In der deutschen Übersetzung von »Marsch der Freiwilligen«, der Nationalhymne der Volksrepublik China, las ich: »Voran! Voran! Vorwärts!« Dann schrieb ich:
»Hallo, habe deinen Aushang gelesen, dass du einen Deutschen suchst, der sich in China als dein Freund ausgibt. Gibt es mehr Infos? Wann, wo? Wer bist du? Ich bin Valentin, 38 Jahre, aus München. Grüße.
P. S.: Hätte vielleicht Interesse.«
Darunter setzte ich einen Link auf mein Profil bei Facebook; dort konnte sie ein Foto von mir sehen. Am Samstag, dem 27. Juli 2013, um 20.32 Uhr drückte ich auf »Senden«. Kurz darauf zerriss draußen die Luft. Ich öffnete die Vorhänge. Der Sturm hatte begonnen.
Die Antwort kam am selben Abend, keine zwei Stunden später. 22.23 Uhr, in China musste es kurz vor halb sechs am Morgen sein. Am Sonntagmorgen. Eine Frühaufsteherin? Das wäre das Gegenteil von mir, nicht gerade vielversprechend für eine gemeinsame Zukunft.
Im Absender drei chinesische Schriftzeichen. Keine Anrede, kein Gruß, kein für mich lesbarer Name. Nur das:
»Re: Aushang – Freund in China
Hast du Zeit? Mein Handy ist … Können wir treffen und darüber zu reden?«
Die Nummer hatte eine deutsche Vorwahl.
War sie näher, als ich dachte? Ich legte mich ins Bett, mit einem Gefühl wie vor einer Achterbahn, vor der man nach einem Jahrmarktbummel steht, unsicher, ob man noch fahren soll oder schon genug erlebt hat. Dann schlief ich ein, tief und ruhig, durch eine der unruhigsten Sturmnächte des Jahres.
Am nächsten Tag ging ich zum Sonntagsgottesdienst. 12 Uhr, für Studenten und andere Langschläfer. Ich komme aus einer christlichen Familie, die Mutter Religionslehrerin, ein Onkel Priester. Oft sprach meine Mutter davon, dass es schön wäre, wenn ich einmal »eine katholische Frau« zum Heiraten fände. So hatte sie es in ihrer Familie gelernt, von ihren Eltern, und diese wiederum von ihren. Als ich ihr später von meinem ersten Freund erzählte, sagte meine Mutter: »Es wäre nicht schlimm, wenn die Frau evangelisch wäre.«
Tom kannte ich nun seit fünf Jahren, seit zwei Jahren wohnten wir zusammen. Normalerweise verbrachten wir die Sonntage gemeinsam, aber dieses Wochenende war er mit seinem Chor verreist. Am Abend kam er nach Hause, berichtete von Proben, Pausen, Dirigentengewirbel, zu wenig Schlaf.
Vom Aushang erzählte ich nichts.
Tom ist evangelisch. Weder Frau noch katholisch, was würde meine Mutter dazu sagen? Ich konnte sie nicht mehr fragen, denn sie lebte nicht mehr. Zwei Tage, bevor sie mit dem Auto verunglückte, hatten wir gestritten. Sollte sie das Spielzeug weggeben, das auf dem Dachboden lagerte? Eisenbahnen, Baukästen und ja, auch: Puppenhäuser. Dinge, mit denen mein jüngerer Bruder und ich gespielt hatten. »Das heben wir auf«, hatte meine Mutter gesagt. »Darüber freuen sich deine Kinder einmal.« Da waren acht Jahre vergangen seit dem Abend, an dem ich ihr gesagt hatte, dass ich keine Freundin haben würde, keine Kinder. Meine Eltern hatten mich in den Arm genommen an diesem Abend, in unserem Wohnzimmer. Sie hatten mir nichts von ihrer Elternliebe gestrichen. Und doch waren sie enttäuscht; immer wieder brach vor allem die Hoffnung meiner Mutter durch, es würde sich noch alles ändern, so kommen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nach all den Jahren war mir das zu dumm geworden.
Anhand meiner Telefonrechnung kann ich heute nachvollziehen, dass die Chinesin und ich drei Minuten und siebenunddreißig Sekunden miteinander redeten. Es war nachmittags, kurz vor drei, am Montag, dem 29. Juli. Bis zum übernächsten Tag nach dem Mittagessen muss ich den Anruf vor mir hergeschoben haben.
Ich erinnere mich nicht an die Worte, die wir sprachen. Es war einer der Momente, die nicht überraschend kommen und doch so absurd sind, dass wir durch sie hindurchrauschen, ohne wirklich mitzubekommen, was geschieht.
Ich weiß nur: Wir sprachen Deutsch. Sie sagte, sie sei in der Stadt. Sie wollte mich sofort treffen. Und ich muss es geschafft haben, das Treffen auf den nächsten Tag zu verschieben – obwohl ich an dem Nachmittag Zeit gehabt hätte.
Ihren Namen hatte ich nicht verstanden. So bestätigte ich unsere Verabredung ebenfalls ohne Anrede:
»AW: Re: Aushang – Freund in China
Meine Nr. ist … – bis morgen um 15 Uhr am Odeonsplatz, vor dem San Francisco Coffee Shop (rechts neben der gelben Kirche).«
Um die Theatertinerkirche stand ein Baugerüst, nach außen mit Plakaten verkleidet. Der Platz war voller Menschen. Zwei Männer mit blauen Krawatten kippten, den Blick auf die Uhr, ihren Espresso hinunter. Eine Frau legte ihre Sonnenbrille in ein Etui. Auf den Stufen der Feldherrnhalle eine erschöpfte Schulklasse. Die Sonne war nicht zu sehen, doch es war heiß.
Sie war die kleinste Person auf dem Platz. Ich hatte kein Foto von ihr im Kopf, anders als sie von mir. Aber meine Augen richteten sich wie ferngesteuert auf sie.
Sie lächelte. »Hallo, ich bin …« Wieder rauschte ihr Name durch mein Ohr.
»Gehen wir rein, die haben Klimaanlage«, sagte ich.
In dem langgestreckten Café herrschte Hochbetrieb. Wir starrten auf die Tafel über der Theke. Wir sahen uns nicht an. »Nicht so wichtig, was trinken«, sagte sie, »vielleicht Wasser.« An der Kasse legte sie mir mit einer flinken Bewegung vier Münzen hin, abgezählt, zwei Euro achtzig für das Wasser. Dann rannte sie weg. Sie hatte zwei frei werdende Sitzwürfel entdeckt, ganz hinten, links in der Ecke an einem kleinen Tisch, und lieferte sich mit anderen Gästen einen Wettlauf dorthin. Strahlend besetzte sie die Sessel und winkte mich heran.
»Endlich, ich bin so froh, dass du gemeldet hast!«
»Haben dir viele geantwortet?« Ich setzte mich.
»Einer war dreiundsechzig. Der andere wollte viel Geld.« Sie sprach schnell.
»Wieviel?«
»Ich war bereit, das Geld zu zahlen. Aber er wollte im Voraus. Ich hatte Angst, dass er nicht kommt.«
Mit dem Strohhalm durchbohrte ich die Kugel Vanilleeis, die in meinem Eiskaffee schwebte. Wer mir da schräg gegenüber saß und sein Wasser nicht trank, redete, auf Deutsch, nicht perfekt, aber wortgewandt, sah aus wie ein kleiner Junge. Vielleicht ein Meter fünfzig groß, dünn. Dünn, dünn, dünn. Schulterblätter, die wirklich Blätter waren. Kleine Hände, die vor einem türkisfarbenen T-Shirt gestikulierten, unter dem sich flache Brüste abzeichneten. Eine kurze synthetische Sporthose, Gürteltasche, Sandalen. Funktionskleidung. Ein runder Kopf mit einer großen blauen Brille, rechteckige Gläser, deren Kanten parallel zu den vollen schwarzen Augenbrauen standen. Die Haare ebenso voll und schwarz; ungestylt, aber ordentlich fielen sie ihr in die Stirn. Darunter kleine Ohren. Und die Zähne, immer wieder die Zähne. Sie waren unablässig zu sehen, die Lippen ständig geöffnet, als könnte man sie nicht schließen, als wäre dieses Gesicht auf Lachen eingestellt, lebenslang, unwiderruflich. Was sie aber am meisten wie ein kleiner Junge wirken ließ, war ihre Ausstrahlung. Ein schelmisches Grinsen, wie man es von Jungen kennt, die einen Streich planen. Eine gewitzte Begeisterung, eine ziehende Energie, für die an diesem schwülen Sommertag nur wenige die Kraft fanden. Vielleicht war es dieser Junge, in dem ich mich selbst erkannte.
»Du bist wirklich schwul, oder?« Sie hatte ihren Zettel in einer Bar aufgehängt, in die Schwule und Lesben gehen. Mir war sofort klar gewesen, warum die Chinesin einen Mann brauchte und welchen Mann sie suchte. »Ich will nicht Liebe, nicht Probleme.«
»Ich habe einen Freund«, sagte ich.
»Weiß er, dass wir treffen?«
Ich zog den Strohhalm aus der Eiskugel und saugte ihn von unten leer. »Jetzt mal der Reihe nach. Du brauchst Hilfe. Du bist lesbisch, aber deine Eltern warten darauf, dass du ihnen einen Mann vorstellst?«
»Wenn es für dich okay ist, wir können heiraten in China.«
Wir kannten uns keine fünf Minuten, da war das H-Wort gefallen. Die H-Frage gestellt. Ich hatte nicht einmal ihren Namen verstanden, und sie machte mir einen Heiratsantrag.
»Esst ihr Katzen?« Das war alles, was mir als Antwort einfiel. »Dann kann ich dich auf keinen Fall heiraten.« Ich sagte es, als sprächen wir über das Wetter.
Sie lachte erleichtert. »Nein, nein. Katzen essen nur manche Leute in Südchina. Haha. Wir wohnen im Norden. In kleinem Ort, jeder kennt jeden. Alle reden. Deshalb für meine Eltern sehr schlimm, dass ich nicht verheiratet. Hast du Katze?«
Tom und ich hatten zwei Kater, Puma und Felix, sie waren Brüder, geboren auf einem Müllberg in Spanien. Wir hatten sie bei uns aufgenommen. Als wir erfuhren, dass sie ein Virus in sich trugen, das Leukämie auslösen kann, hatten wir beschlossen, ihnen das Leben so schön zu machen, wie wir konnten.
»In China man sagt, wer keine Katzen mag, bekommt nicht hübsch Frau. Haha.«
»Na, da habe ich ja Glück. Wie alt bist du?«
»In meinem Alter ist nicht gut, in China nicht verheiratet zu sein, vor allem als Frau.«
»Geschwister hast du wahrscheinlich nicht?«
Nein, natürlich hatten auch ihre Eltern nur ein Kind in die Welt setzen dürfen, so war es in China staatlich vorgeschrieben, damals. Ein einziges Kind, auf dem alle Hoffnung lastet, alle Wünsche und Träume von Mutter und Vater, die Zukunft der Familie. Jeder in China hoffte, dass dieses eine Kind ein Junge würde, davon hatten wir im Westen gehört. Alle wollen Enkel, aber die Frau, aus der sie kommen, soll die Schande einer anderen Familie sein. Manche töten ihr Kind, wenn sie erfahren, es ist ein Mädchen, vor der Geburt oder sofort danach.
Der Mensch vor mir hatte seine Eltern schon einmal enttäuscht, gleich bei der Geburt. Die Eltern hatten ihre Tochter leben lassen. Aber dieses Leben stand in ihrer Schuld.
Ich umfasste mein Eiskaffeeglas und versuchte, erst meine Gedanken zu ordnen, dann ihre. Wir redeten übers Heiraten, und ich wusste nicht einmal die grundlegenden Dinge von ihr. Was machte sie in Deutschland? Warum sprach sie so gut Deutsch? Und wie hieß sie denn nun? Sie erklärte alles geduldig, aber knapp, als wäre es längst klar und müsste nur in Erinnerung gerufen werden. Sie war 32 Jahre alt, hatte in einer Stadt in Ostdeutschland Biologie studiert. Deutsch hatte sie in China gelernt, war über einen Austausch nach Deutschland gekommen.
»Und du, hast du eine Freundin?«
»Ja.« Stille, als wären ihre Worte ins Wasser gefallen. Das »Ja« klang nicht gelogen, aber ich hatte den Eindruck, sie wollte nicht über ihre Lebensumstände sprechen. Sie wirkte vorsichtig, dabei war ich derjenige, der Grund zur Vorsicht hatte: Ein Aushang, eine Unbekannte, heiraten in einem fernen Land – das klang nach einer Geschichte, die unbedarfte Leute in Schwierigkeiten bringen konnte.
Erst jetzt öffnete sie den Schraubverschluss ihrer Wasserflasche. Sie hatte Deutschland bereist, war über Freunde nach München gelangt. Die letzten Tage hatte sie nur in der Stadt verbracht, weil sie auf Nachrichten wartete.
»Kannst du mir deinen Namen buchstabieren?«, fragte ich.
Mit ihrer kleinen Hand malte sie Buchstaben in die Luft, spiegelverkehrt, so dass ich sie von vorne lesen konnte.
»Meilin?«
Sie nickte.
»Und wie heißt diese Kleinstadt, in der du wohnst?«
Mit gezieltem Griff, ohne Suchen und Wühlen, zog Meilin Papier und Stift aus ihrer Gürteltasche und schrieb mir den Namen einer chinesischen Stadt auf, in deutschen Buchstaben.
»Kannst du meine Mutter treffen?«, hörte ich sie fragen, während ich las.
Ich blickte auf. »Wann?« Durch meinen Kopf schoben sich Kalenderblätter, Juli, August, September, Oktober, November. Im Herbst könnte ich nach China reisen, aber wahrscheinlich wäre das überstürzt.
»Morgen.«
Als ich nicht antwortete, rutschte Meilin mit ihrem Sitzwürfel eine Handbreit auf mich zu. »Sie ist hier. Seit Jahren erzähle ich ihr von deutschem Freund. Jetzt meine Mutter ist nach München geflogen. ›Wenn er nicht kommt zu uns, ich komme zu ihm.‹ Ich habe gesagt, er arbeitet als Arzt in Frankfurt, sehr beschäftigt. Jeden Tag sie fragt: ›Wann treffen wir?‹«
»Da kam meine E-Mail«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihr.
Meilin nickte. »Meine Mutter reist bald ab. Mir bleibt nicht Zeit. Ich habe Problem.«
Nach diesen Minuten in einem Café am Münchner Odeonsplatz kannte ich den Menschen nicht, der mir auf einem Würfel gegenübersaß. Doch so viel stand fest: Meilin war klug und hatte einen klaren Willen. Sie wusste sich zu helfen. Das imponierte mir.
»Pass auf«, sagte ich. »Eine Hochzeit verspreche ich dir nicht. Aber ich helfe dir bei deinem Notfall. Ich treffe morgen deine Mutter.«
Den nächsten Morgen verbrachte ich am Schreibtisch ohne einen Gedanken an meine Verabredung. Mir blieb nichts anderes übrig: Es war der 31. Juli, Abgabetermin für ein Manuskript, dreihundert Seiten. Seit einigen Jahren arbeitete ich als Buchautor, meinen Angestelltenjob hatte ich dafür aufgegeben. Mir blieben nur wenige Stunden, um den Text an den Verlag zu schicken.
Um halb eins schaltete ich das Internet ein und tippte den Namen des Restaurants in die Suchmaschine, den Meilin mir genannt hatte. Es war ein Chinarestaurant. »Dort war ich schon mit meiner Mutter«, hatte sie gesagt. Auf der Suche nach der Adresse kamen mir Gästebewertungen entgegen: »Schlechtestes Chinarestaurant der Welt!«, »Vergewaltigung der Geschmacksnerven«, »Viel zu heiß, bitte Klimaanlage«.
Das Restaurant lag auf einer Ecke. Vierspurige Straßen kreuzten sich, Straßenbahnen, Autos, Menschen, Lärm. Ich lehnte mein Fahrrad an einen Baum und sah hinüber: zwei Stockwerke, große Fenster, dahinter wenig erkennbares Leben. Eine rote Schrift: »Mittags-Büfett«. Hinter den Fenstern im ersten Stock lief prüfend eine Frau vor einem langen Tisch mit Speisen auf und ab. Sie war lässig gekleidet, wie eine Joggerin, die ihre Strecke am nahen Flussufer beendet hatte und sich vor dem Büfett auslief.
Ich ging hinein, die Treppe hinauf. Da saß Meilin allein, sonst sah ich niemanden. Wenigstens schien die Klimaanlage heute zu funktionieren.
»Meine Mutti ist auf die Toilette, sehr aufgeregt.« Das deutsche Wort »Mutti«.
Ich setzte mich und stand gleich wieder auf. Aus der dunklen Nische zum Bad, schräg durch den Raum, kam die Joggerin. Die Ähnlichkeit im Gesicht, in der Kleidung: sportlich, T-Shirt, Funktionshose. Moderne Laufschuhe, gefedert. Die Körper allerdings unterschiedlich, die Mutter war größer, runder, hatte mehr Fleisch. Ihre Haare buschig, fein gelockt, hochtoupiert. Sie strahlte nicht die Spitzbübigkeit ihrer Tochter aus, wirkte gleichmütig, gelassen, majestätisch, das Lachen eher ein Lächeln, eher innerlich als äußerlich.
Gibt man sich in China die Hand? Die Frage schoss erst jetzt durch meinen Kopf. Für die Frau vor mir war ich der langjährige Freund ihrer Tochter, aber ich hatte mich nicht einmal darüber informiert, wie man sich einer Chinesin vorstellt. Ich streckte ihr die Hand hin, wir sind immerhin in einem deutschen China-Restaurant, dachte ich. »Ni hao«, sagte ich, guten Tag, stolz darauf, dass ich wenigstens das wusste. Sie nahm meine Hand, ohne sie zu drücken. Sie sah mich nicht an, sah mir nicht ins Gesicht. Sie blickte durch mich hindurch.
Von Muttis Platz konnte man sehen, wie ich mein Fahrrad abgestellt hatte. Und genau das hatten beide sicher getan, aufgeregt, wie sie waren, in alle Richtungen Ausschau gehalten. Der Freund aus Frankfurt, Arzt, seit Jahren keine Zeit, dann schaut er in München zum Mittagessen vorbei, in Jeans und Polo-Shirt. Mit dem Fahrrad! Wie blind musste man sein wollen, um das zu glauben? Oder hätte ich eine solche Geschichte in China vielleicht auch hingenommen, einfach weil ich nicht wusste, wie weit Orte auseinander lagen, wie ein Arzt dort arbeitete und aussah, wie man sich fortbewegte, was realistisch war und was nicht?
Die Mutter sagte etwas, leise, murmelnd, gütig, den Blick geradeaus, wie zu sich selbst, ein Tonfall ohne Höhen und Tiefen. Sie sprach weder Deutsch noch Englisch, das hatte Meilin mir gesagt. Das machte unsere Kommunikation einfacher; Meilin schwebte zwischen uns wie ein Airbag und übersetzte so in beide Richtungen, dass sich für alle eine stimmige Geschichte entfaltete. »Mutti sagt, du siehst sehr deutsch aus. Sie ist zufrieden.«
Die Mutter reichte mir ein Stück roten Stoff über den Tisch. Es war eine Unterhose mit einem goldenen Drachen und goldenen chinesischen Schriftzeichen darauf. »Paar Geschenke«, sagte Meilin. »In Deutschland Drache heißt Schwiegermutter, ich habe gelernt. In China Drache sehr mächtig. Also ganz ähnlich, hahaha.«
Ich musste lachen. Beim ersten Treffen mit der Mutter meiner Freundin schenkte sie mir eine Unterhose. Die Mutter deutete mein Lachen wohl als Freude über das Geschenk und lachte auch. Nun war sie ermutigt, weitere Geschenke auszupacken: eine Tüte getrocknete Früchte und eine mit Gemüse. »Das hergestellt in Ort, wo wir wohnen.«
Typisch deutsch fand mich die Mutter also. Wie würde ich mir einen typischen Deutschen vorstellen? Blonde Haare, nicht hellblond wie in Skandinavien, mittelblond. Und mittellang. Ein Meter achtzig groß und fünfundachtzig Kilo schwer. So hatte ich es kürzlich in einem Zeitungsartikel gelesen. Das beschrieb in der Tat mich – wenn man zwanzig Kilo abzog. Ich war dünn wie Meilin.
Die Mutter kam mit einem Teller knuspriger Ente vom Büfett, über die abgewetzten Fliesen, unter roten Lampions mit goldenen Schnüren hindurch. Auf halbem Weg machte sie kehrt, um den Teller noch weiter aufzufüllen. Dann stellte sie mir den Entenberg an den Platz.
»Mutti sagt, du bist zu dünn. Typisch deutsch, aber zu dünn, haha.«
»Warum hast du nicht die Wahrheit gesagt?«, fragte ich.
»Ah, sehr gut, sehr schön. Du weißt mit Stäbchen essen.«
»Du hast gesagt, du kommst aus einer kleinen Stadt, jeder kennt jeden. Ich habe im Internet nachgeschaut, die Stadt, die du mir aufgeschrieben hast, hat fast zehn Millionen Einwohner!«
»Sage ich ja. Kleine Stadt. Haha. Nicht mal zehn Millionen, in China kleine Stadt.«
Immer ein »haha« dazwischen. Eine Zehnmillionenstadt, von der ich nie gehört hatte. China war voll davon, acht Millionen, neun Millionen, zehn Millionen. Städte größer als New York samt Vororten, die hier niemand kannte. Meilins Heimat lag zwischen Peking und Shanghai. Dort lebte sie, wie ich nun langsam herausfand, mit ihren Eltern. Ihr Studium hier war beendet. Sie war nur zurückgekommen, um den Freund für die Eltern zu suchen. Den Freund, von dem sie schon so viel erzählt hatte.
Die Mutter aß geräuschvoll, schaute ins Nichts und sprach kaum. Dafür war sie den weiten Weg hierhergekommen? Hätte ich meiner Mutter jemanden vorgestellt, ich hätte sie ermahnen müssen, diese Person nicht pausenlos anzustarren. Nicht Frage an Frage zu reihen. Woher kommen Sie, wo sind Sie geboren, wie heißt Ihre Mutter mit Vornamen, was machen Sie beruflich? Willst du Kinder, hast du Geschwister, ich darf doch »du« sagen? Nein Mama, du kannst nicht zu fremden Erwachsenen »du« sagen. Von einer fehlenden gemeinsamen Sprache hätte meine Mutter sich nicht abhalten lassen. Sie hätte sich alles übersetzen lassen und darauf geachtet, dass die Länge der Sätze stimmte, dass ich nichts wegließ.