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Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Lektorat Christiane Steen

Einband- und Innenillustrationen Julia Ginsbach

Einbandgestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-21773-9 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40052-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40052-8

Dieses Buch ist jenem kleinen neunmalklugen Mädchen gewidmet, das vor über zehn Jahren beschlossen hat, meine Frau, mich und unseren Bauernhof samt allen darauf lebenden Tieren zu adoptieren.

Liebe Fanny, wie gut, dass Du in unser Leben gekommen bist, Dich darin einigermaßen breitgemacht und mir gezeigt hast, wie sich die Welt für eigenwillige, kluge, phantasievolle, mutige und starke Mädchen anfühlt. Mit diesem Logenplatz in Deinem Universum hast Du mich überreich beschenkt. Dafür kann ich Dir gar nicht genug danken.

Für immer Dein Fan, Papamax

Hallo, du!

Wie schön, dass du meine Geschichte liest. Oder dir vorlesen lässt, das funktioniert ja auch prima.

Leider weiß ich gar nicht viel über dich. So ist das bei Büchern: In diesem hier wirst du ganz viel über mich erfahren, aber ich nichts über dich. Leider. Ich weiß aber immerhin, dass du jetzt gerade in diesem Moment in meine Geschichte hineintauchst. Was ich super finde! Vielleicht schreibst du irgendwann ja auch mal ein Buch, und dann ist es umgekehrt: Dann lerne ich dich und deine Geschichte kennen. Das wäre schön.

Aber jetzt ist erst mal meine Geschichte dran. Deine dann, wenn du sie aufgeschrieben hast, gut? Ich möchte dir hier von meinem unglaublichen Abenteuer mit einem kleinen Wasserbüffel erzählen. Unglaublich, weil: Er ist ein sehr spezieller Wasserbüffel, du wirst schon sehen …

Du wirst erfahren, wie ich ihm das Leben rette und wie wir ganz dicke Freunde werden. Wie er mir gegen die Tussen und Schnösel in meiner Schule beistehen will und wir uns dabei fast verlieren. Und warum ein Büffel nicht S-Bahn fahren sollte. Außerdem machst du Bekanntschaft mit einem Jungen aus dem Land der Wasserbüffel, der am Anfang Schanti heißt und sich dann einen neuen Namen gibt, mir zuliebe. Und wie wir drei, der Wasserbüffel, der Junge und ich, zu einer Herde werden. Aber halt, ich verrate schon viel zu viel! Besser, ich fange einfach am Anfang an.

Klamotten und Marotten

Ich heiße Flo. Eigentlich Florentine, so steht’s in meinem Schülerausweis. Aber ich möchte «Flo» genannt werden, das ist schön kurz und passt irgendwie zu mir, finde ich. In der Schule gibt es ein paar Mädchen, die rufen mich immer «Tine». Genau genommen sind es nicht ein paar, sondern die meisten. Na gut, eigentlich sind es alle. Alle Schüler sagen einfach nur «Tine» zu mir. Das wäre die Kurzform von Florentine, sagen sie. Ich will aber nicht Tine heißen. So werden Gänse oder fette Möpse gerufen. Und alte, weinerliche Tanten mit verkniffenem Mund, die nach Putzmittel riechen. Tine … geht gar nicht, oder?

Zu Christine – das ist die, die jede Woche eine neue Frisur kriegt, weil ihr Vater Promi-Friseur ist – sagt keiner «Tine», obwohl Tine auch von ihrem Namen die Kurzform ist.

Weißt du, was ich glaube? Die rufen mich absichtlich «Tine», weil sie wissen, dass mich das ärgert. Und weil sie es lieben, mich zu ärgern. Dann haben sie ihren Spaß. Und ich ärgere mich über mich, weil ich mich so leicht von denen ärgern lasse. Ich habe einfach noch keinen Trick gefunden, wie ich mich nicht ärgern soll.

Mich ärgern zum Beispiel ihre Klamotten. Wie die sich auftakeln mit ihren Marken-Kleidchen und ihren bunten Glitzerklemmen in den Haaren. Als ob sie Prinzessinnen wären, dabei sind ihre Eltern bloß ganz normale Diplomaten oder Geschäftsleute oder Ärzte oder Anwälte, da ist kein einziger König dabei. Ich möchte gar nicht wissen, wie lange deren Normal-Mütter brauchen, um ihnen am Morgen aus ihren Haaren Frisuren zu basteln. Bestimmt stundenlang!

Bei mir würde das nicht funktionieren. Meine Haare kann nämlich keiner frisieren. Es sind einfach zu viele! Und die machen ganz genau das, was sie wollen, und nicht, was die Frisur will. Stehen wild vom Kopf ab, wie es ihnen gerade passt, und irgendwie immer anders. Sie lassen sich einfach nicht zähmen. Da sind meine Haare genau wie ich. Also kann ich das mit dem Frisieren gleich abhaken. Ich nehme meine Haare einfach zusammen und stopfe sie unter den Strohhut, dann ist Ruhe.

Einmal hat die Lehrerin von mir verlangt, ich soll den Strohhut abnehmen, wenn sie unterrichtet. Ich habe ihr gesagt, dass das bei mir nicht funktioniert, wegen der Haare. Sie hat es trotzdem verlangt. Also nahm ich den Hut ab, und WUSCH! gab es eine regelrechte Haar-Explosion, und mein Kopf wurde mindestens hundert Mal größer mit all den Haaren, und die Lehrerin konnte mein Gesicht fast nicht mehr sehen. Die ganze Klasse hat laut gelacht. Da hat sogar die Lehrerin begriffen, dass das nicht funktioniert, und gesagt, ich soll den Hut wieder aufsetzen.

«Wie Sie wünschen», flötete ich. Ich kann nämlich auch vornehm sprechen, wenn es sein muss, und bei dieser Lehrerin muss es immer sein. Und weil es so schrecklich vornehm klingt, sagte ich noch einmal: «Ganz wie Sie wünschen, Mademoiselle de la Pêche!» Ich habe es perfekt französisch ausgesprochen: «Madmuasell dö la Päsch». Ich kann Französisch, weil die Schule, in die ich gehe, die französische Schule ist. Auch Mademoiselle de la Pêche kommt aus Frankreich. Auf Deutsch heißt Mademoiselle de la Pêche «Fräulein vom Pfirsich». Die Pfirsich will doch wahrhaftig, dass wir sie «Fräulein» nennen. Obwohl sie schon mindestens vierzig ist! Ich finde es komisch, zu einer so alten Frau «Fräulein» zu sagen. Aber bitte, wenn sie’s so will, soll sie’s so haben, findest du nicht auch? Eben.

Na ja, seither jedenfalls kann ich meinen Strohhut immer aufbehalten, außer im Sportunterricht bei Monsieur Lelac. Da sagt man «Mösiöh Lölack». Das heißt «Herr der See». In seinen Turnstunden binde ich mir die Haare einfach mit einer Schnur hinten zusammen, funktioniert prima und sieht nicht so albern aus wie die lila oder rosa oder leuchtgrünen Haargummis der anderen Mädchen. Finde jedenfalls ich. Die finden natürlich meine schöne Schnur doof, ist mir aber egal.

Nein, stimmt gar nicht; ich will immer ehrlich sein zu dir: In Wahrheit ist es mir nicht egal. Es ärgert mich. Und zwar mächtig! So wie es mich ärgert, dass die anderen bei jeder Gelegenheit über meine Klamotten herziehen. Was bitte ist an meinen Kleidern falsch? Zum Beispiel mein Blumenkleid: Joséfine, zu der man «Schoseffien» sagen muss – das ist die mit den dünnen blonden Zöpfchen, in die ihre Mutter immer so bunte Seidenmaschen reinflicht, damit man meint, sie hätte dickere Haare –, also die Joséfine hat mich neulich angesehen und gesagt: «Na, Tine, heute schon das Kleid gedüngt?» Und die anderen lachten sich über diesen doofen Witz fast scheckig. Scheckig wurde aber nur ich, weil ich mich so doll über die Joséfine ärgerte, dass ich richtig spürte, wie ich im Gesicht rote Flecken kriegte. Das passiert mir immer, wenn ich mich ärgere. Und dann ärgerte ich mich noch mehr, weil mir vor Ärger keine gute Antwort einfiel. Dabei hätte ich nur auf ihre dünnen Zöpfchen deuten und sagen müssen: «Dünge du mal lieber deinen Kopf», und dann wäre sie platt gewesen. Ist mir aber leider erst hinterher eingefallen.

Ich finde mein Blumenkleid wunderschön. Ich war total glücklich, als ich es entdeckt habe in der Kinder-Tausch-Zentrale. Dort werden natürlich keine Kinder getauscht, sondern Kinderklamotten. Als ich mein Blumenkleid dort gefunden hatte, bin ich nach Hause gelaufen und habe mein hässliches, dunkelblaues Burberry-Kostüm geholt. Ein Weihnachtsgeschenk von Oma, das mir noch nie gefallen hat. Oma hat keine Ahnung von Klamotten. Die guckt nicht, ob es schön ist, sondern nur, was es kostet. Wenn’s teuer ist, ist es auch schön, meint sie.

Für das Oma-Kleid bekam ich mein schönes Blumenkleid von der netten Frau in der Kinder-Tausch-Zentrale, und sie hat mir sogar noch drei Blümchenkleider obendrauf gegeben und gesagt, Blumenmuster passen wunderbar zu meinem Strohhut. Genau!

Oder meine Schuhe. Kannst du mir bitte erklären, was an meinen Schuhen schlecht sein soll? Die kann ich das ganze Jahr über tragen, die funktionieren prima, bei jedem Wetter. Und ich muss niemals überlegen: Hmmm, wird es heute wohl nass oder trocken oder heiß oder kalt, werde ich wohl in der Stadt sein oder auf dem Land bei Opa Ludwig? Und womit komm ich dahin, zu Fuß oder per S-Bahn oder auf dem Fahrrad oder wie? So was brauche ich mir gar nicht erst zu überlegen: Einfach morgens rein in die Schnür-Stiefeletten, abends raus aus den Dingern und fertig, die funktionieren immer und für alles. Außerdem passen meine Schnür-Stiefeletten zu mir. Auch die habe ich ganz alleine in der Kinder-Tausch-Zentrale gefunden. Ich liebe meine Schuhe!

Aber die Mädchen in meiner Klasse zeigen mit ihren Fingern darauf, verziehen ihre Gesichter und sagen: «Iiiii-gitt! Wie kann man nur solche Käsemauken anziehen!»

Mein Schulranzen ist noch so ein Thema. Ich hab mir meinen Schulranzen selbst gemacht. Tante Marie-Claire, bei der ich wohne, hat vergessen, mir einen zu besorgen. Also bin ich in ihren Kellerraum und habe die alte Einkaufstasche raufgeholt. Die ist aus total schönem dunkelblauem Leder und herrlich abgenutzt. Da passen Schulsachen ohne Ende rein. Und wenn man mit den Armen durch die Henkel der Tasche schlüpft, kann man sie tragen wie einen Rucksack. Ist aber unbequem, darum habe ich die Henkel später ersetzt, mit alten Auto-Sicherheitsgurten vom Schrottplatz. Einfach drangenietet und fertig. Sieht gut aus und funktioniert prima. Niemand hat so eine perfekte Schultasche wie ich. Ich wäre neidisch, wenn jemand so eine Schultasche hätte und ich nicht. Aber die aus meiner Klasse natürlich nicht. Die rümpfen die Nase und sagen: «Da kommt die Kuh mit der toten Kuh auf dem Rücken.»

Na ja, jetzt weißt du schon mal einigermaßen Bescheid, mit wem du es in diesem Buch zu tun hast. Hoffentlich legst du es jetzt nicht weg, weil du auch findest, ich sehe komisch aus mit meinen Haaren, dem Schulranzen und den Schnür-Stiefeletten. Und dem Strohhut …

Damit zwischen uns alles klar ist und du dich gleich an mich gewöhnen kannst: hier ein Bild von mir:

Unter Tussen & Schnöseln

Und? Gefällt’s dir? So sehe ich jedenfalls aus.

Was das an meinem Handgelenk ist? Ach so, du meinst mein Armband! Schick, was? Hab ich auch selber gemacht. Aus alten Fahrrad-Ventilen. Die hab ich von Achmed gekriegt, das ist der vom Fahrradladen bei uns um die Ecke. Der hatte die übrig, weil sie wohl nicht mehr an die modernen Fahrrad-Räder passen, und dann hat er sie mir glatt geschenkt, weil ich ihm ab und zu in seiner Werkstatt helfe. Achmed ist nett, der findet auch nicht, dass ich doof aussehe, er nimmt mich einfach, wie ich bin. Achmed sagt, er respektiere mich, weil ich technisch begabt sei. Na ja, jedenfalls kann ich schon fast so schnell einen Fahrradreifen wechseln wie er. Und wenn ich bei irgendeiner Reparatur nicht weiß, wie’s geht, sagt er immer «kein Problem» und zeigt es mir. Und zack, weiß ich’s auch und kann weitermachen. Finde ich super, das mit dem Respektieren.

Davon haben die Mädchen aus meiner Klasse keine Ahnung. Die würden ja auch niemals einen Fahrradreifen wechseln, die hätten viel zu viel Angst, sie könnten sich dabei ihre Fingernägel ruinieren.

Die Jungs in der Klasse respektieren mich eher als die Mädchen. Oder genauer gesagt: Sie respektieren mich wenigstens nicht nicht. Sie lassen mich einfach links liegen.

Links liegengelassen zu werden ist okay für mich, damit komm ich klar. Schließlich will ich ja gar nichts von den Jungs. Es gibt überhaupt nur einen einzigen Jungen in der Klasse, den wirklich alle super finden: Schanti. Die Jungs sehen in ihm so etwas wie ihren Häuptling oder so. Und die Mädchen himmeln ihn an, weil er so gut aussieht. Er ist immer schön braun gebrannt, sogar im Winter. Schanti kommt aus dem Land, wo die höchsten Berge der Welt stehen, aus Nepal. Er hat ähnliche Haare wie ich, die strubbeln auch immer kreuz und quer in alle Richtungen, aber bei einem Jungen scheint das ja niemanden zu stören. Schanti trägt immer Hochwasserhosen und Ringelhemden. Passt gut zu ihm. Darum braucht er am Morgen genauso wenig nachzudenken wie ich, was er heute anziehen soll, es ist eh immer das Gleiche: Hochwasserhose und Ringelhemd. Er zieht klamottenmäßig ein ähnliches Ding durch wie ich. Seinen Stil. Nur dass das bei ihm alle cool finden und bei mir keiner.

Das war nicht immer so. Als Schanti damals neu in die Klasse gekommen ist, da haben sie ihn noch schlimmer auf dem Kieker gehabt als mich und ihn ständig verspottet. Weil er nicht aussieht wie ein Franzose oder ein Deutscher. Sie nannten ihn nur «den Indi». Weil sie nicht kapierten, dass er nicht aus Indien kommt, wo meine Mutter jetzt ist, sondern aus Nepal. Und sie machten sich über ihn lustig, weil er noch nicht richtig Französisch konnte und sein Deutsch ziemlich eigenartig klang. Dabei haben die umgekehrt kein einziges Wort Nepalesisch gekonnt.

Eine Weile hat Schanti ihren fiesen Spott höflich über sich ergehen lassen, aber dann wurde es ihm doch zu viel, und er hat ihnen die richtigen Antworten verpasst. Mit seinen Judo-Tricks. Nachdem einige Jungen von Schanti mal eben ruckzuck zu Boden geschmissen worden sind, wurden die ganz schön still. Und dann wollten plötzlich alle Jungen unbedingt Schantis tolle Judo-Tricks lernen. Sie haben ihn richtig angebettelt, damit er ihnen seine Kampftricks beibrachte. Das hat er dann geduldig getan. Damit war er natürlich der Größte.

Mittlerweile braucht Schanti überhaupt kein Judo mehr. Er ist auch mit seinem Mundwerk ganz schön schlagfertig. Jetzt, wo er fließend Französisch kann und sein Deutsch nur noch ein klitzeklein wenig anders klingt als unseres, ist seine scharfe Zunge seine beste Waffe.

Und die Mädchen? Die finden Schanti inzwischen alle «très charmant», also sehr charmant.

Das Dumme ist: Mir gefällt Schanti auch. Ja, ich geb’s zu, bitte schön! Aber ich habe einen guten Grund: Schanti ist nämlich der Einzige, der mich niemals verspottet hat. Dafür mag ich ihn. Aber das erzähle ich nur dir. Außerdem beneide ich Schanti dafür, dass ihm die guten Antworten auf blöde Sprüche immer genau dann einfallen, wenn er sie braucht, und nicht erst, wenn’s gar nichts mehr bringt. Es wäre nicht das Schlechteste, Schanti als Freund auf meiner Seite zu haben. Aber er lässt mich genauso links liegen wie all die anderen Jungs. Jedenfalls fast genauso. Seit ich ihm mal bei seinem Fahrrad geholfen habe, die rausgesprungene Kette wieder auf das Ritzel zu kriegen, guckt er mich manchmal so seltsam an. So von der Seite, ein wenig verstohlen. Ich weiß aber nicht, was in seinem Kopf vorgeht, wenn er mich so anschaut.

Und ich guck auch nicht zu ihm hin. Jedenfalls nicht absichtlich.

Der letzte Schultag

Wie finde ich das denn? Der letzte Schultag vor den großen Sommerferien ist rum, und ich will längst losfahren, raus aufs Land zu Opa Ludwig, bei dem ich praktisch meine ganzen Ferien verbringe. Stattdessen stehe ich noch immer vor der Schule und warte auf Tante Marie-Claire. Und sie kommt und kommt einfach nicht. Wahrscheinlich hat sie mal wieder vergessen, dass sie mich unbedingt abholen wollte. Meinetwegen müsste sie es ja gar nicht. Aber gestern Abend hat sie noch richtig darauf bestanden.

«Nein, ma chère Flo», sagte sie – sie verwendet nämlich gern französische Wörter –, «nein, meine liebe Flo, ich will dich unbedingt abholen! Immerhin ist das kein Tag wie jeder andere, da sollst du nicht alleine mit der S-Bahn nach Hause kommen, wie sonst. Es ist ja nicht nur der letzte Tag vor den Sommerferien, sondern du bekommst auch noch dein Zeugnis. Und alle stolzen Eltern holen dann ihre Kinder ab, damit sie ihnen ihre Zeugnisse zeigen können. Also, kein Widerspruch: Morgen wird deine Tante Marie-Claire vor deiner Schule stehen und dich in ihre Arme schließen, stellvertretend für deine arme Maman. Ich werde auch eine kleine Überraschung für dich mitbringen, ma chérie, une petite surprise, genau wie alle Papas et Mamans für ihre kleinen Schätzchen.»

Tja, und nun stehe ich da und darf zuschauen, wie sämtliche Tussen und Schnösel von ihren Eltern in Empfang genommen werden. In Momenten wie diesem vermisse ich meine Mutter. Nicht wie eine wirkliche Person – ich erinnere mich ja kaum noch an sie. Ich war erst vier, als sie nach Indien ging. Nein, ich vermisse sie eher wie die Mutter, die ich mir oft ausdenke. Eine, wie in den Kinder-Bilderbüchern. Die immer lächelt. Und nichts vergisst. Und die das Kind nach der Schule fragt, wie es gewesen sei. Und ihm bei den Hausaufgaben hilft. Und für das Kind kocht, jeden Tag. Und es tröstet, wenn es traurig ist, und es streichelt, wenn es sich weh getan hat. Die eben all das tut, was die Mütter in meinen Kinderbüchern tun. Und die einen Mann hat, der mein Vater wäre. Der auf mich aufpasst. Und mich gegen die anderen Kinder verteidigt und gegen ungerechte Lehrer. Oder noch besser: Der mir Judo-Tricks beibringt, sodass ich ihn als Verteidiger gar nicht mehr brauche, weil ich dann mit den Tussen und Schnöseln locker selber fertigwerde. Dann brauche ich mich nicht mehr über die anderen Kinder zu ärgern, und mir fallen die guten Antworten auf ihre Gemeinheiten ein, wenn ich sie brauche, und nicht erst hinterher. Dann bin ich genauso cool wie der Schanti, und er lässt mich nicht mehr links liegen. Und darum ich ihn auch nicht mehr.

Na gut. Tante Marie-Claire hat auch ihre Vorteile. Sie vergisst zwar manchmal, dass ich auch noch da bin, dafür hat sie dann aber so ein schlechtes Gewissen, dass sie sich fast nicht mehr einkriegt vor Liebe zu mir. Das sind die Momente, in denen ich von ihr fast alles kriegen könnte. Und es ist ja nicht so schlecht, dass sie fast immer vergisst, dass eigentlich Schlafenszeit ist und ich ins Bett müsste. Oder sie vergisst regelmäßig, Frühstück zu machen. Darum mach ich es mir selber, und das schmeckt dann richtig gut: Schwarzbrot mit ganz viel Käse drauf. Mein liebstes Essen.

Nun könnte sie aber endlich mal auftauchen. Ich komme mir vor wie ein Paket, das nicht abgeholt wird. Alle starren zu mir. Da, schon wieder. Ausgerechnet Joséfine. Steht da drüben unter der Linde mit ihren Eltern, und alle gucken zu mir. Bestimmt reden die über mich, das merke ich genau. Die Mutter beugt sich zu Joséfine und fragt sie etwas. Jetzt deutet sie mit ihrem rot lackierten Zeigefinger auf mich. Joséfine schüttelt lachend ihre dünnen Zöpfchen. Jetzt schaut auch ihr Vater zu mir. Der will doch nicht etwa herkommen, oder? Zum Glück packt ihn Joséfines Mutter am Ärmel, damit er stehen bleibt. Er zuckt mit den Schultern und dreht sich wieder von mir weg. Endlich verschwinden die drei. Aber Joséfine wendet sich noch einmal zu mir um und zeigt mir die lange Nase. Na warte, Joséfine-Klimbim , komm du mir nach den Ferien wieder unter die Augen …

Schanti

Chantille – das ist die, zu der man «Schantiiö» sagen muss und die schon hohe Absätze trägt – kommt aus dem Schulhaus gestöckelt und stellt sich genau vor mich hin.

«Na, Tine-Trine, jetzt stehst du da mit deinem Streberzeugnis, und keiner will es sehen, was? Arme Tine, hat keinen Papa und keine Mama, oh wie schlimm.» Mit zuckersüßer Stimme heuchelt sie Mitleid. «Hat dich die böse Tante wieder mal vergessen? Wie furchtbar. Dabei kann man sie eigentlich verstehen, denn so jemanden wie dich muss man ja einfach vergessen, weißt du, das ist ganz normaler Selbstschutz.»

Sie lacht laut heraus und schaut sich um, ob da vielleicht irgendwelche Zuschauer sind, vor denen sie angeben kann. Aber da ist kein Publikum. Nur Schanti kommt durch die Tür geschlurft und lässt uns wie immer links liegen.

Ich dreh mich schnell weg, damit Schanti die roten Ärger-Flecken in meinem Gesicht nicht sieht.

«Stimmst du mir nicht zu, Schanti?», trällert Chantille. «Tine-Trine kann man wirklich vergessen, das siehst du doch auch so? Ich hab’s ihr gerade erklärt, aber sie will’s einfach nicht wahrhaben. Na, ich muss jetzt jedenfalls los, denn mein Vater und meine Mutter warten schon auf mich – da drüben, das schicke Paar im silbernen Mercedes S-Klasse … Ich wünsche dir wundervolle Ferien, lieber Schanti. Und dir auch, Tinchen-Trinchen, bestimmt freust du dich auf die Provinz und deinen komischen Opa.»

Endlich dreht sie ab und läuft Richtung Parkplatz.

Gerade noch rechtzeitig, denn der Schulhof verschwimmt vor meinen Augen, weil mir die Tränen kommen. Ich will es nicht, und schon gar nicht will ich, dass Schanti mir beim Heulen auch noch zusieht. Nicht ausgerechnet er. Schnell setze ich mich auf den Treppenabsatz und tu so, als müsste ich an meinen Stiefeln die Knoten neu binden. Was völliger Quatsch ist, meine Spezial-Flo-Patent-Doppel-Knoten halten bombensicher den ganzen Tag. Dann ziehe ich ein paar Mal hoch, atme tief durch und stehe wieder auf.

Schanti ist weg. Puh, was ein Glück!

«Ich warte mit dir zusammen auf deine Tante», höre ich Schantis Stimme.

Wo zum Teufel … Ach, da unten. Schanti hat sich auch auf die Stufen gesetzt, genau neben mich. Während ich heulte und schniefte. Wie peinlich.

«Musst du nicht», sage ich trotzig. «Ich komm ohne dich klar.»

«Weiß ich doch. Ich warte trotzdem», sagt er und schaut gedankenverloren über den jetzt leeren Schulhof. Der hat vielleicht Nerven, der Typ!

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Einfach weggehen kann ich nicht, weil Tante Marie-Claire vielleicht doch noch kommt. Und neben Schanti rumstehen mag ich nicht. Also hocke ich mich neben ihn. Und sehe ebenfalls gedankenverloren über den Schulhof …

«Alles klar mit deinem Rad?», frage ich, weil ich das Stillsein nicht aushalte.

«Nicht wirklich», sagt Schanti, «die Kette springt immer wieder vom … wie heißt das Ding noch mal?»

«Ritzel.»

«Genau, vom Ritzel, da springt die immer wieder runter. Aber jetzt weiß ich ja, wie man sie wieder draufkriegt. Hast du mir ja gezeigt.»

«Na, das schau ich mir besser noch mal genauer an. Hast du ’nen Inbusschlüssel dabei?»

«Inbus …? Keine Ahnung, aber da ist so ein Werkzeugtäschchen unter dem Sattel.»

«Dann hol’s mal her, dein Rad», fordere ich ihn auf, «das erledigen wir am besten gleich.» Ich bin froh, dass es etwas zu tun gibt und wir nicht mehr so komisch nebeneinandersitzen und ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich bin nicht so gut darin, über das Wetter zu reden oder so was.