Rana Awdish
Ich bin ein Mensch, ich bin kein Fall
Die wahre Geschichte einer Ärztin, die als Patientin um ihr Leben kämpft
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Baisch und Simone Jakob
Knaur e-books
Dr. med. Rana Awdish ist Intensivmedizinerin am Henry Ford Hospital in Detroit. Für ihr Engagement zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten und für ihre Bemühungen um eine verbesserte psychologische Ausbildung junger Ärzte wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit Ehemann, Sohn und einer alten Katze lebt die Autorin in Northville, Michigan.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »In Shock. My Journey from Doctor to Patient. What I Learned about Modern Medicine’s Inhumanity« bei St. Martin’s Press, New York.
Dieses Buch ist keine Fiktion und basiert auf dem Leben, den Erfahrungen und Erinnerungen der Autorin. In wenigen Einzelfällen wurden die Personennamen und Details der Geschehnisse verändert, um die Privatsphäre anderer zu wahren.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Rana Awdish
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Regina Carstensen
Zitatnachweis: Einführendes Zitat in Kapitel 1: Saul Bellow, Humboldts Vermächtnis, Kiepenheuer & Witsch 2008 (ins Deutsche übersetzt von Eike Schönfeld); Zitat in Kapitel 9: Haruki Murakami, Birthday Girl, Dumont Verlag 2017 (ins Deutsche übersetzt von Ursula Gräfe); Zitat in Kapitel 10: Walt Whitman, Grashalme, Verlag Deutsche Volksbücher 1948 (ins Deutsche übersetzt von Johannes Schlaf)
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic / shutterstock
ISBN 978-3-426-45264-6
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Randy gewidmet
Vorwort
Die Medizin ist wie eine magische Linse, durch die man den menschlichen Körper betrachten und mit deren Hilfe eine ungeordnete Reihe von Symptomen zu einer Diagnose gebündelt werden kann. Der Arzt sieht eine geschwollene rote »Erdbeerzunge« bei einem fiebernden Kind, untersucht das Herz und stellt daraufhin die Diagnose Vaskulitis. Die brennenden Magenschmerzen eines Mannes erweisen sich als Magenschleimhautentzündung, deren Ursache sich behandeln lässt, was bei unspezifischen Schmerzen nicht der Fall ist.
All das leistet die Medizin, indem sie Fragen stellt und nicht nur darauf achtet, was gemeint sein könnte, sondern auch darauf, was tatsächlich zutreffen kann. Wenn Empathie die Fähigkeit ist, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen und mit ihm zu fühlen, dann ist Medizin im besten Fall eine fokussierte, wissenschaftliche Form von Empathie. Will man sich wirklich eines Patienten annehmen, muss man allerdings bereit sein, Grenzen zu überschreiten und den Blickwinkel eines anderen Menschen mit der Bescheidenheit eines Besuchers einzunehmen, der weiß, dass er den Blick auch wieder abwenden kann. Beides hat die Macht zu heilen.
Als ich die Welt zum ersten Mal durch die transformative Linse der Medizin sah, war ich fünf Jahre alt und hörte meiner Mutter zu, die dem Kinderarzt am Telefon eine scheinbar unzusammenhängende Reihe von Symptomen beschrieb. Mein Bruder hielt sich sabbernd an den Stäben seines Kinderbetts fest und schnappte mehr nach Luft, als dass er atmete. Der Arzt erkannte, dass es sich um eine Epiglottitis handelte, eine oft tödlich verlaufende Schwellung der Atemwege. Er wies meine Mutter ruhig, aber bestimmt an, meinen Bruder sofort in die Notaufnahme zu bringen, wo er sie erwarten würde. Die Fähigkeit, Symptome in eine Diagnose und eine Behandlung zu übersetzen und mithilfe von Wissen und Zuhören Leben zu retten, erschien mir als die großartigste Berufsbeschreibung, die ich mir vorstellen konnte.
Das Medizinstudium war, als wäre man einer Geheimgesellschaft mit eigener Sprache, Uniform und eigenem Verhaltenskodex beigetreten. Wir lernten, den genetischen Code zu entschlüsseln und die DNA zu sequenzieren, die wiederum die Proteine produziert, aus denen die Organe entstehen. Wir bekamen Leichen zum Sezieren und Studieren zugeteilt, deren Körperteile mit lateinischen und altgriechischen Begriffen bezeichnet wurden. Nachdem wir uns im ersten Jahr mit der göttlichen Eleganz des menschlichen Körpers vertraut gemacht hatten, brachte man uns im zweiten bei, wie man seine Pathologien erkannte. Wir lernten von Professoren, die uns in die natürliche Intelligenz der Krankheitserreger einwiesen, von Parasiten erzählten, die ihren Wirt ausbeuten, von kleinen Genmutationen, die zu Herzdefekten und unkontrollierter Teilung von Krebszellen führen. Erst wenn wir den Verlauf der Krankheit verstehen könnten, erklärte man uns, könnten wir sie auch heilen. Dieses Wissen hatte etwas Berauschendes. Ich folgte dem Lehrplan in dem Glauben, das Erlernte würde mich verändern und mir am Ende die Fähigkeit verleihen, Menschen zu heilen.
Nie hätte ich gedacht, wie viele Umwege meine Ausbildung beinhalten würde. Die Fortschritte, die ich durch die Facharztausbildung und das Promotionsstipendium machte, waren allerdings nichts als eine bequeme Lüge, die mein Körper letztlich entlarven würde. Mein Körper schien instinktiv zu begreifen, dass ich, obwohl ich meine Ausbildung abgeschlossen und schon alle möglichen mehr oder minder schweren Fälle gesehen hatte, erst noch erfahren musste, was es tatsächlich bedeutet, krank zu sein. Ich durchlebte eine potenziell tödliche Krankheit – gefolgt von einer langen, schmerzhaften Genesungsphase –, die mich Stück für Stück auseinandernahm und in völlig anderer Form wieder zusammensetzte, bis ich nicht mehr sicher war, wer ich überhaupt bin.
Der Wunsch nach Heilung hat etwas Verführerisches, Faszinierendes. Lebensbedrohliche Erkrankungen dagegen, die ja auch das Potenzial haben, das Leben von Grund auf zu verändern, genießen nicht die gleiche Wertschätzung. Krankheit wird als anomaler Zustand betrachtet. Sie ist wie die Stadt, die wir auf dem Heimweg durchfahren, aber kein Ort, an dem wir anhalten oder länger verweilen wollen. Wir fahren mit zusammengebissenen Zähnen hindurch wie durch einen Gewittersturm, ohne einen Blick für die erhellende Schönheit der Blitze. Dabei könnten wir durch Krankheiten, die unseren Körper zerstören, eine Weisheit erlangen, die uns, außer in unseren dunkelsten Stunden, verborgen bleibt. Aus meinem neuen Blickwinkel als Patientin auf der Intensivstation nahm ich einen blinden Fleck inmitten der Geschäftigkeit der ansonsten hochkompetenten, sachkundigen Behandlung wahr, auch wenn ich das anfangs noch nicht genau beschreiben konnte. Ich durchlebte kurze Momente von Klarheit, die jedoch sofort wieder verschwunden waren. Ich musste mir erst beibringen, sie zu sehen, wie einen Negativraum auf einer Leinwand, und jahrelang Patientin sein, um zu verstehen, dass das heilende Potenzial des Wissens zwar magisch, gleichzeitig aber auch eine Lüge ist.
Die Medizin kann nicht in einem Vakuum heilen; dazu braucht es eine Beziehung.
Für einen Patienten ist es erschütternd, mit der Zerbrechlichkeit all dessen konfrontiert zu werden, was er bisher für eine verlässliche Konstante gehalten hatte. Derart hilflos zu sein und niemanden zu haben, mit dem man offen über dieses Leiden reden kann, ist schlicht und ergreifend surreal. Wir alle möchten gesehen und gehört werden, über unsere Erfahrungen reden und verstanden werden. Wir möchten, dass die Ereignisse unseres Lebens einen Kontext und eine Bedeutung zugewiesen bekommen, und das auf eine Art, die wir nachvollziehen können und die es uns erlaubt, die gewonnenen Erkenntnisse in das Selbstverständnis zu integrieren, das wir von uns haben. Dieses Bedürfnis ist in Zeiten der Krankheit noch stärker. Wenn Organe und Gliedmaßen gesund sind, können wir uns der Illusion hingeben, unser Leben fest im Griff zu haben und Herr der Lage zu sein. Sind wir dagegen krank, lehren uns die Abhängigkeit von anderen, der Kontrollverlust und die Unvorhersehbarkeit der Situation Demut. Derartige Umwälzungen eröffnen uns neue Wege der Kommunikation, die wir in unserem Alltagsleben gewöhnlich ignorieren.
Heilung schaffen kann man dann, wenn man diese neuen Wege der Kommunikation wahrnimmt und in diesem Wissen mit dem Patienten in Beziehung tritt. Einem leidenden Menschen gegenüber vollkommen präsent zu bleiben erfordert eine Art vorausschauende Entschlossenheit. Weil es manchmal schwierig oder gar unerträglich ist. Präsent zu bleiben bedeutet, sich im Vorfeld zu entscheiden, für die gesamte Dauer der Begegnung da zu sein. Diese gezielte Entscheidung mag nur schwer mit der mühelosen Empathie zu vereinbaren sein, die wir uns vorgestellt hatten, bis wir uns daran erinnern, dass alle Formen von Liebe ein gewisses Maß an Arbeit sowie beherzten Einsatz erfordern.
Hat unsere Ausbildung etwas damit zu tun, dass wir diese Wege der Kommunikation normalerweise meiden? Hätten wir gewusst, wie man sie nutzt, wenn wir zufällig darauf gestoßen wären?
Ich arbeite in einem großen Krankenhaus in einer geschäftigen Großstadt. Per Hubschrauber oder Krankenwagen werden Patienten zu uns gebracht, für die es woanders keine Alternativen mehr gibt. Die Behandlung dieser einzigartigen, komplizierten Fälle erfordert ein Maß an medizinischem Fachwissen, Engagement und Teamwork, das alles übertrifft, was ich im Studium und während der Facharztausbildung in anderen Krankenhäusern kennengelernt habe. Ich habe das Privileg, in einer großartigen Institution zu arbeiten. Gemeinsame Ziele und der Stolz auf die harte Arbeit, die wir leisten, sind nur einige der Gründe, warum ich nach meinem Fellowship-Programm beschloss, dort zu bleiben.
Die schwierigen Zeiten, in denen ich wusste, dass wir diese Ziele verfehlt hatten, kann man fast immer verstehen und begründen. Die Medizin ist ein sehr komplexes Gebiet. Fehler kommen selbst in den besten Krankenhäusern vor. Was für mich den Unterschied macht, ist unsere offenkundige Bereitschaft, zuzugeben, dass wir eine lernende Organisation sind. Dadurch nehmen wir unsere Fehler genau in Augenschein, sei es bei der Kommunikation oder bei der Arzneimittelabgabe. Wir geben sie zu, erkennen, wo das Problem genau liegt, und suchen nach einer Lösung. Vielleicht liegt es an unserem Wissen, dass alle Organisationen, die Bemerkenswertes leisten wollen, manchmal scheitern, dass wir gelernt haben, uns in Resilienz zu üben. Wir lassen nicht zu, dass ein Misserfolg, egal wie klein, das Ende der Geschichte ist. Er ist immer der Anfang für eine Verbesserung.
So vollzieht sich Heilung.
Vor Kurzem leitete ich als Oberärztin eine Visite auf ebender Intensivstation, auf die ich selbst vor ein paar Jahren in einem kritischen Zustand eingeliefert worden war. Mein Team bestand aus motivierten Assistenzärzten, die der Reihe nach ihre Anamnese der lebensbedrohlich erkrankten Patienten präsentierten. Die Patientin, deren Fall wir gerade besprachen, stand auf der Warteliste für eine Spenderlunge und lag schon seit Monaten auf ihrem Zimmer. Ich hatte sie vor einigen Jahren kennengelernt, als sie zur Untersuchung ihrer undichten Herzklappe in unser Krankenhaus verlegt wurde.
Als einer der Assistenzärzte seine Präsentation beendet hatte, ergänzte die Intensivkrankenschwester sie mit ihrem Bericht über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Auch sie kannte die Patientin schon mehrere Jahre, wodurch sie ein umfassenderes Verständnis des Falls hatte als der Assistenzarzt. Sie trug grüne OP-Kleidung, hatte sich auf der Hose über dem Knie einen Kaliumwert notiert, als das Labor angerufen hatte und sie auf die Schnelle kein Papier finden konnte. Bei der Visite musste man still stehen, aber sie war zappelig, weil sie an ständige Bewegung gewöhnt war. Sie trug die braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und sprach in kurzen, knappen Sätzen, ohne einen Blick auf ihre Notizen zu werfen.
»Sie hatte heute Nacht einen Rückfall und bekommt eine High-Flow-Sauerstofftherapie, mehr als fünfzehn Liter«, sagte sie. »Am Vormittag hat sie sich aufgezeichnete Predigten von ihrem Pastor angehört. Irgendetwas ist heute anders. Wenn Sie mich fragen, hat sie ganz schön Angst.«
Der Assistenzarzt runzelte die Stirn, weil er gerade berichtet hatte, dass die Patientin klinisch stabil sei. Er wirkte übermüdet, das Weiß seiner Augen war von feinen roten Äderchen durchzogen; der einzige sichtbare Beweis, dass er sich irgendwann in der Nacht kurz hingelegt haben musste, waren ein paar abstehende Haare auf seinem Kopf. Das erinnerte mich an den Wirbel meines Sohnes, und ich musste dem mütterlichen Drang widerstehen, sie glatt zu streichen. Unter seinem weißen Kittel trug er ein Kapuzenshirt. Assistenzärzte tragen oft eine zusätzliche Schicht Kleidung, die sie meist um die zwanzigste Stunde eines dreißigstündigen Diensts anziehen. So lange wach zu bleiben bringt offenbar die Hormone durcheinander, die für die Regulierung der Körpertemperatur zuständig sind, und allen war am Morgen nach dem Nachtdienst kalt.
Ich hatte bei dieser Patientin schon mehrere Rückfälle erlebt, andere von uns ebenso. Normalerweise waren sie ein Anzeichen dafür, dass ihre Herzprobleme sich verschlimmerten, und obwohl sie sich bisher immer davon erholt hatte, machte jeder Rückfall ihr emotional schwer zu schaffen. Es war, als bestünde ihr Körper darauf, sie nur ja nicht vergessen zu lassen, dass sie jederzeit sterben konnte. Im Kampf gegen die Angst setzte sie auf Hoffnung und Gebete.
»Ich habe sie auch gefragt, wie es mit dem Atmen klappt, aber davon hat sie mir nichts erzählt«, sagte der Assistenzarzt entschuldigend.
»Jeder bekommt eine andere Geschichte zu hören. Dass sie der Schwester etwas anderes erzählt als Ihnen oder mir, war zu erwarten«, erklärte ich. Ich wusste, dass sie unterschiedlichen Leuten verschiedene Antworten gab, weil sie zu jedem von uns eine andere Beziehung hatte. »Das macht das, was sie Ihnen erzählt hat, nicht wertlos, es ist nur ein anderer Aspekt«, fügte ich hinzu.
Ich sah eine leere Karteikarte, die aus seiner Tasche ragte.
»Hat sie Ihnen die gegeben?«, fragte ich.
»Ja, ich soll ihr eine Botschaft der Hoffnung für ihre Pinnwand schreiben«, sagte er düster. »Ehrlich gesagt, mir ist nicht ganz wohl dabei, weil ich nicht glaube, dass sie rechtzeitig ein Spenderorgan bekommt. Die von der Transplantationsambulanz sagen, dass sie zu viele Antikörper hat und dass es schwer wird, einen passenden Spender zu finden.« Er schwieg kurz. »Wenn ich etwas Optimistisches schreibe, hätte ich das Gefühl, zu lügen.«
Auf seinem Gesicht spiegelte sich dasselbe Unbehagen, das auch ich oft angesichts von Ungewissheit empfand. Ich sah die Desillusionierung und Erschöpfung, die von der Anstrengung herrührte, mit den Fakten zu ringen, um sie objektiv zu betrachten und korrekt wiedergeben zu können, nicht nur vor uns selbst, sondern ebenfalls vor unseren Patienten. Unsere schwachen Versuche, verhalten optimistisch zu bleiben, obwohl die Realität nur zu erpicht darauf zu sein scheint, jeden Hoffnungsschimmer im Keim zu ersticken. Es ist nicht einfach, sich an die Grenzen echter Hoffnung heranzutasten und zu erkennen, wo die Lüge beginnt.
»Es ist schwierig, nicht wahr? Weil wir keine Ahnung haben, was kommt«, sagte ich in dem Versuch, die richtigen Worte zu finden. »Aber ich kann Sie verstehen«, fuhr ich fort. »Sie wollen keine falschen Hoffnungen wecken. Und das ist nun mal hart. Doch was, wenn wir uns von der Patientin führen lassen? Was glauben Sie, was sie jetzt von uns braucht?«
»Wir müssen ihre Pflege koordinieren, damit sie bereit ist, wenn ein Spenderorgan verfügbar ist. Wir müssen die nötigen Labortests in Auftrag geben und dafür sorgen, dass sie den peripher-venösen Zugang für die OP bekommt. Und wir müssen uns darum kümmern, dass die Flüssigkeitsbilanz ihres Körpers stabil bleibt, indem wir ihre Medikamente aufeinander abstimmen«, schlug ein anderer Assistenzarzt vor.
Ich nickte. »Richtig, um all diese Dinge müssen wir uns kümmern. Aber ist es das, was sie ihrer eigenen Aussage nach im Augenblick wirklich benötigt?«, fragte ich.
Schweigend zuckten die Anwesenden die Achseln, als hätten sie alles in ihrer Macht Stehende getan und wären jetzt ratlos.
»Schauen wir mal, was die anderen so geschrieben haben«, schlug ich vor.
Wir betraten das Zimmer der Patientin, ohne Licht zu machen. Sie schlief, während ihr Körper sich von der schrecklichen Nacht zu erholen versuchte. Wenn sie wach war, brachte sie aufgrund ihrer Lungenerkrankung nur kurze, abgehackte Sätze heraus, nicht mehr als zwei Worte hintereinander. Ich war früher am Vormittag bei ihr gewesen und hatte mit ihr über ihre Angst gesprochen, dass sich ihre Atemprobleme verschlimmerten. Schon sich im Bett aufzusetzen strengte sie in letzter Zeit an. Sie verbrachte immer mehr Zeit mit Beten. Still saß ich an ihrem Bett, in dem Wissen, dass sie nur noch Tage davon entfernt war, den Kampf gegen den Tod zu verlieren. Diese Was-wäre-wenn-Szenarien wurden mit jedem Tag wahrscheinlicher als die Möglichkeit, dass sie rechtzeitig ein Spenderorgan bekam. Ich fand, es war an der Zeit, mit ihr über diese bedrückende Realität zu sprechen. Sie sah mir in die Augen, lächelte und verlieh ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck, dass die neuen Assistenzärzte für diesen Monat noch nicht alle eine Karte ausgefüllt hatten. »Ich will doch nur wissen, dass sie mit mir hoffen«, sagte sie. Ich senkte den Blick und fühlte mich schuldig, weil ich so fest mit ihrem Tod rechnete.
Sie hatte bunte, gerahmte Hochglanzfotos aufgestellt, die sie stolz im Kreis ihrer Familie zeigten und dem Zimmer eine persönliche Note verliehen. Sie waren das Erste, was das Team sah, wenn es ihr Zimmer betrat, und zwangen jeden, sie so zu sehen, wie sie sich selbst sah. Das da bin ich, nicht die Person im Bett, schienen die Fotos sagen zu wollen.
Ich wandte mich der dunkelblauen Wand zu, die mit weißen Karten gespickt war, und las die ermutigenden Botschaften darauf. »Ich bewundere Ihre Entschlossenheit, Ihre Stärke und Ihren Glauben. Danke, dass ich einen Teil dieses Weges mit Ihnen gehen darf« stand auf einer.
»Sie sind der tapferste Mensch, den ich kenne« auf einer andern.
Oder auch: »Ich vertraue darauf, dass wir einander begegnen, wenn Sie das alles hinter sich haben, wieder frei atmen können und gesund sind.«
Wir verließen das Zimmer und versuchten zu verarbeiten, was wir gelesen hatten. War es richtig, jemandem Hoffnung zu geben, der an der Schwelle des Todes stand? War es sinnvoll, der Hoffnung Priorität einzuräumen, auch wenn wir Mühe hatten, ihr die hoch technisierte medizinische Behandlung zukommen zu lassen, die sie zum Überleben brauchte? Meiner Meinung nach ja. Die Karten waren für sie der konkrete Beweis, dass wir ihre Version ihrer Krankengeschichte anerkannten, dass wir ihr Leiden sahen und ihre Ängste verstanden. Indem wir etwas Hoffnungsvolles schrieben, konnten wir uns das ganze Spektrum der Eventualitäten vorstellen: nicht nur den wahrscheinlichsten Ausgang, sondern alles, was darüber hinaus möglich war.
Einer der Assistenzärzte hatte den Einfall, die Karten seien im Grunde so etwas wie ein Tauschhandel. »Wir geben ihr etwas, das sie braucht, und dafür …«
Er brach ab, und der Arzt, der Dienst gehabt hatte, meldete sich zu Wort.
»Nein, sie will, dass wir sie sehen, aber eben nicht nur als krank, sondern auch als geheilt.« Seine einfache Beschreibung dessen, was wir für sie tun konnten, war wundervoll. »Durch diese Karten wird Hoffnung für sie sichtbar«, fuhr er fort.
»Wow.« Ich war verblüfft. »Stellen Sie sich das nur vor. Wenn uns das gelingt, wenn wir es irgendwie schaffen, Hoffnung sichtbar zu machen …« Ich konnte meinen Gedanken nicht zu Ende formulieren.
»Dann wäre das ein Erfolg«, fügte die Krankenschwester hinzu und nickte.
»Tja, das, und wenn sie ein Spenderorgan erhält«, sagte einer der Ärzte mit einem Anflug von Resignation. Die anderen lachten nervös, verschwörerisch wie Kinder. Ich konnte ihr Unbehagen gut nachvollziehen.
Ich wusste, wie viel Wert wir auf Heilung legten, das große Ziel, den endgültigen Sieg. In der Grauzone des Leidens fühlten wir uns weit weniger wohl. Wir glänzten darin, auf eine fast mühelose Art Präzisionsmedizin zu praktizieren, aber wenn Empathie gefordert war, stellten wir uns manchmal nicht allzu geschickt an. Ich erinnerte mich an einen Vorfall, als ich auf die Frage einer tränenüberströmten Patientin – »Aber wie konnte das passieren?« – reagierte, indem ich ihr das komplexe Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen und Verhalten erklärte, das zu ihrer tödlichen Erkrankung geführt hatte. In meiner Ausbildung hatte ich gelernt, dass jede Frage eine Bitte um mehr Information war. Deshalb nahm ich weder die Angst hinter ihrer Frage noch ihre existenzielle Natur wahr. Es sollte Jahre dauern, bis ich versteckte Botschaften wie diese verstand. Und selbst als ich sie als eine Möglichkeit erkannt hatte, mit dem Patienten in Beziehung zu treten, glaubte ich immer noch nicht an die heilende Kraft, einfach nur gegenwärtig zu sein und das Leid eines anderen Menschen zu bezeugen. Ich legte keinen Wert auf das Immaterielle, auf Augenblicke geteilten Verständnisses.
Früher hatte ich mich stets von meinen Patienten distanziert, wie ich es während meiner Ausbildung gelernt hatte und wie es auch mein Team gerade tat. Ich hatte mich dem Paradigma der Medizin verschrieben, das mir meine Mentoren vermittelt hatten und dem zufolge ich Abstand zu meinen Patienten halten sollte, um mich selbst zu schützen. Zu große Nähe, so hatte man mich gelehrt, sei anstrengend und könne Desillusionierung und Burn-out hervorrufen. Als wäre ich aus einem Stoff gemacht, der irgendwann aufgebraucht sein könnte, wenn ich zu viel von mir gab. Ich weiß nicht, ob mich diese Theorie wirklich überzeugte, aber bis ich selbst zur Patientin wurde, konnte ich mir auch kein alternatives Szenario vorstellen, bei dem ich ungeschützt und offen war und dem anderen bereitwillig ein Stück von mir selbst gab. Mir war nicht klar, dass ich von den Patienten mehr als genug zurückbekam, wenn ich ihnen gegenüber offen blieb, und dass Empathie etwas Wechselseitiges ist.
Zum Glück war es mir vergönnt, zu sterben.
Eins
Der Tod ist die dunkle Schicht, die ein Spiegel braucht, damit wir etwas sehen.
Saul Bellow
Rückblickend wird jeglicher Schmerz abstrakt. Es gleicht Barmherzigkeit, dass keiner in der Lage ist, die Intensität von erlebten Schmerzen erneut heraufzubeschwören. Während ich hier sitze und über den Schmerz nachdenke, der mich ins Krankenhaus gebracht hat, kann ich ihn in etwa umschreiben, kann bestimmen, wie groß und wo er zu spüren war, aber er ist nicht länger ein Teil von mir. Das kommt einer Art Sinnesüberflutung gleich, ähnlich wie ein Wort, das endlos wiederholt wird und mit der Zeit seine Bedeutung verliert. Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Schmerz für mich nicht mit dem Leben vereinbar war. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ich vor diesem Moment absolut keine Ahnung von der Bedeutung des Wortes Schmerz hatte und alles, was ich zuvor als Schmerz bezeichnet hatte, nur mehr der Schatten eines Konstrukts namens Schmerz war. Der Schmerz, der mich zerriss, war überaus heftig und kaum zu ertragen.
Instinktiv wusste ich, dass mich Schmerzen von diesem Ausmaß umbringen würden, sollten sie länger andauern.
Qualvoll krümmte ich mich auf einer Trage im Notfallzimmer der Entbindungsstation mit seinen graugrünen Kacheln. Zusammengerollt lag ich auf der rechten Seite, das Gesicht nahe genug an den quadratischen Fliesen, um den Geruch des Bleichmittels wahrzunehmen, der von den Fugen ausging. Mein Blick folgte den Kacheln, die das Entfernen von Blutspritzern erleichtern sollten, bis nach oben zur Decke. Ich zitterte, wurde gedanklich bereits von dem gepeinigt, was als Nächstes kommen würde. Diese Vorkehrung mit den einfach abzuwischenden Wänden verstörte mich, genau wie es mich erschreckte, wenn jemand in der Sendung Dateline, in der Kriminalfälle abgehandelt werden, kurz vor einem Mord im Baumarkt Isolierband gekauft hatte. Dieses dumpfe Einerlei strafte die darauffolgende Gewalttat Lügen.
Die Schmerzen hatten ganz unvermittelt eine Stunde zuvor bei einem Abendessen eingesetzt, das letztlich nicht angerührt wurde. Es war ein ganz typischer, ereignisloser Tag, an den ich mich nicht weiter erinnern würde, hätte er nicht so katastrophal geendet. Stattdessen nahm alles an diesem farblosen Tag seinen Anfang, eine Bezeichnung, die man ihm nur rückblickend zuschreiben kann.
»Es war ein völlig normaler Tag.«
Das höre ich oft von meinen Patienten oder Familien, von Überlebenden verheerender Krankheiten oder Tragödien. Denken sie im Nachhinein über die lebensverändernden Ereignisse eines Tages nach, dann kommentieren sie unweigerlich, wie langweilig und unaufgeregt der Tag bis zu diesem Moment gewesen war. Diese friedvolle Flaute des Wassers am Tag des Ertrinkens. Dieser wolkenlos blaue Himmel am Tag des Flugzeugabsturzes. Hollywood und die Literatur haben uns darauf getrimmt, etwas Schreckliches zu ahnen, und das Fehlen jeglicher Warnsignale ist, als hätte man uns darum betrogen, den Ausgang abzuwenden. Als hätte man uns die Gelegenheit genommen, etwas daran zu ändern.
Es war ein strahlender Tag zu Beginn des Frühlings, bei dem das Versprechen des nahenden Sommers mitschwang. Im Schatten war es noch ziemlich kühl, aber an sonnenbeschienenen Plätzen war die Temperatur bereits angenehm. Ich hatte mir freigenommen und wollte vor dem Abendessen ein paar Dinge für den Strickkurs besorgen, für den ich mich angemeldet hatte. Der Vorstellung, der müßigen Tätigkeit des Strickens nachgehen zu können, haftete etwas Absurdes an, und vermutlich war genau das der Grund, weshalb ich überhaupt Lust dazu verspürte. Nach so vielen Jahren, in denen jeder Moment von Lesen, Lernen und von Patientenbetreuung bestimmt war, hatte der Gedanke, Zeit zum Stricken zu haben, etwas unglaublich Befreiendes. Darüber hinaus erfüllte es mich mit einer gewissen Nostalgie, selbst etwas für das Baby anzufertigen, was mein Kind in seinem weiteren Leben begleiten könnte.
Als Erstes wollte ich jedoch neue Schuhe für meine geschwollenen Füße kaufen. Ich war im siebten Monat schwanger, mein Körper aufgedunsen und schwerfällig. Schicke Schuhe trug ich überhaupt nicht mehr, doch sogar meine flachen braunen orthopädischen Treter schnitten mir inzwischen ins Fleisch, wenn ich sie einen halben Tag lang angehabt hatte. Ich betrat also das große Kaufhaus und suchte in der Schuhabteilung nach flachen Absätzen.
Dabei wurde mir leicht schwindlig. Mit einem Mal realisierte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich überhaupt hierhergekommen war. Verunsichert sah ich mich um, überlegte, ob mich vielleicht jemand hergefahren hatte. Aber nein, ich war allein, ich musste selbst gefahren sein. Eigenartig, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Waren das etwa die Auswirkungen des Schlafmangels in der letzten Zeit? Hinter mir lag ein sehr anstrengender Monat auf der Intensivstation, jede vierte Nacht hatte ich Bereitschaftsdienst gehabt, und sobald ich mich irgendwo hinsetzte, wo es halbwegs bequem war, konnte ich kaum noch die Augen offen halten. War ich etwa während des Fahrens eine Millisekunde eingedöst? Fast entschuldigend streichelte ich über meinen schwangeren Bauch. Angesichts des Babys sollte ich mehr auf meinen Körper achten, das wusste ich.
Schließlich wurde ich fündig, blieb vor einem Regal mit einer Reihe unästhetischer, praktischer Schuhe stehen und ging meine Auswahlmöglichkeiten durch. In zunehmend verärgertem Tonfall wiederholte eine Frau »Entschuldigung, entschuldigen Sie bitte«, während sie gleichzeitig versuchte, sich an mir vorbeizudrängen. Anscheinend hatte ich die ersten paar Aufforderungen überhört. Ich schüttelte den Schleier ab, in dem ich gefangen war, und bemerkte dann, dass ich den gesamten Gang blockierte, während ich viel länger als nötig auf die zwei Paar Schuhe in meiner Hand gestarrt hatte. Verlegen tat ich so, als könnte ich mich nicht entscheiden, und ging mit beiden zur Kasse.
Eigentlich wollte ich nach Hause fahren, aber dann hielt ich beim Supermarkt, weil ich meinte, mich zu erinnern, dass ich noch etwas zu besorgen hatte. Er wirkte größer als sonst, und irgendwie war es auch schwieriger als üblich, durch die Gänge zu navigieren. Schon nach wenigen Schritten war ich so außer Atem, als würde ich einen steilen Hügel mit dem Fahrrad hinauffahren. Mein Geist war träge, die langen Pausen zwischen flüchtigen Gedanken waren erfüllt von stumpfer Taubheit. Mir fiel nicht mehr ein, weshalb ich hergekommen war, und unerklärlicherweise verließ ich den Supermarkt mit nichts als einem kleinen Glas Vanillezucker. Zum Abendessen war ich mit meiner Freundin Dana verabredet, die ebenfalls Ärztin ist. Vielleicht konnte sie mir ja helfen herauszufinden, weshalb ich mich so eigenartig fühlte.
Als der Schmerz schließlich einsetzte, überrollte er mich wie eine Welle, die mir den Atem stocken ließ und so schnell abebbte, wie sie gekommen war. Mein erster Gedanke: Okay, da stimmt wirklich etwas nicht; ich bin nicht verrückt. Ich schaute Dana über den Tisch hinweg an und sagte: »Ich glaube nicht, dass ich etwas essen kann.« Mein Gesichtsausdruck sagte ihr mehr als die paar Worte, die ich herausgebracht hatte. Zaghaft schob ich den Stuhl nach hinten, als könnte jede Bewegung eine neue, unerwünschte Welle auslösen, dann verließ ich das Restaurant und ging beunruhigt auf dem Gehweg auf und ab.
Durch den Adrenalinschub, den die Schmerzattacke ausgelöst hatte, bekam ich wieder einen klaren Kopf. Ich wusste, dass ich diesen Moment sinnvoll nutzen musste, bevor eintrat, was auch immer eintreten würde. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, rief ich meinen Mann Randy an. »Ich fühle mich nicht gut … mein Magen … ich habe ganz eigenartige Schmerzen … Ich weiß auch nicht … Aber mach dir keine Sorgen, dem Baby geht es gut.«
Sowie ich den üblichen Singsang in meiner Stimme hörte, konnte ich nur den Kopf über mich schütteln. Ich war derart bemüht, ihn nicht unnötig zu beunruhigen, dass ich ihm die Dringlichkeit der Situation nicht begreiflich gemacht hatte. Also versuchte ich es erneut. »Ich glaube, du solltest mich ins Krankenhaus bringen.« Kurz überlegte ich, ob ich ihm erzählen sollte, wie komisch ich mich den ganzen Tag über gefühlt hatte; dieser Aussetzer im Schuhladen, die Kurzatmigkeit und meine Verwirrung im Supermarkt. Stattdessen fügte ich jedoch nur hinzu: »Es ist wohl besser, wenn ich nicht selbst fahre« und hoffte, das wäre ausreichend. Zumindest war das eine klare Ansage. Randy arbeitet als Anwalt in einer Kanzlei in der Stadt und erwiderte etwas wie, er würde sich auf den Weg machen, sobald er die berühmte »letzte E-Mail« geschrieben hätte, was mir wiederum bestätigte, dass es mir doch nicht gelungen war, ihn von der tatsächlichen Dringlichkeit meiner Notlage zu überzeugen.
Dana beobachtete mich durch das Restaurantfenster und begriff, was für eine unvollständige und belanglose Geschichte ich meinem Mann da gerade aufgetischt hatte. Sie kannte mich und meine Eigenheiten sehr gut. Und sie wusste, dass ich für gewöhnlich keine Panikmacherin bin, sondern davon ausgehe, dass keine großartigen Probleme auftauchen, und ich Randy im Moment nicht unnötig beunruhigen wollte. Mein Mann hingegen hatte noch nicht so tiefe Einblicke in meine Persönlichkeit, schließlich waren wir erst seit einem knappen Jahr verheiratet. Zum Glück schien Dana Handeln wichtiger zu sein als Beruhigen, denn sie rief ihn an, kaum dass ich aufgelegt hatte: »Ich weiß nicht, was sie dir gerade erzählt hat, aber du musst nach Hause fahren, und zwar sofort. Ich bringe sie zu euch, wir treffen uns dort.«
Er kam. Und bis heute beteuert er, nicht erst noch diese eine letzte E-Mail beantwortet zu haben, auch wenn ich da so meine Zweifel habe. Ich kann mir denken, dass er sich jetzt, wo er weiß, was an diesem Tag tatsächlich passierte, nicht vorstellen will, dass er nur einen Moment länger als unbedingt nötig an seinem Schreibtisch zugebracht hatte. So wie er die Geschichte erzählt, ist es sogar gut möglich, dass er zum Auto rannte.
Dana fuhr mich das kurze Stück nach Hause. Beim Eintreten sah ich das Natriumkarbonat auf dem Küchentresen stehen. Es erinnerte mich an mein schreckliches Sodbrennen vom Vormittag, das ich mit einem Glas Milch und reinem Soda auf natürlichem Weg hatte bekämpfen wollen. Um die Gesundheit des Babys nicht zu gefährden, versuchte ich, ganz auf Medikamente zu verzichten, sogar auf ein harmloses Antazidum. Ich fragte mich, ob der Schmerz wohl darauf hindeutete, dass sich die Säure durch meine Magenwand gefressen hatte und in die Blutgefäße des Abdomens gelangt war. Ärzte sind für Selbstdiagnosen anfällig, auch wenn die daraus resultierenden Schlussfolgerungen sie nur selten beruhigen. Die Feststellung, ein perforiertes Magengeschwür könnte den stechenden Schmerz verursachen, half mir letztlich nicht weiter, denn ich konnte problemlos fünfzehn andere mögliche Ursachen mit zunehmendem Schweregrad aufzählen. Den Grund auszuwählen, der mir im Moment am gelegensten kam, nützte mir nichts.
Wir gingen ins Wohnzimmer, wo Randy mich zehn Minuten später auf dem Boden kniend vorfand, ein Kissen fest gegen meinen Bauch gedrückt. Das war der neueste Versuch in einer Reihe merkwürdiger Verrenkungen, die dabei helfen sollten, den Schmerz zu lindern. Schließlich fand ich heraus, dass ich etwas Erleichterung fand, wenn ich mich mit der rechten Körperseite quer über die Lehne des Sofas beugte und mich mit der rechten Hand auf dem Boden abstützte. Da wusste ich noch nicht, dass mein Blut durch den Druck, den ich mit der Lehne des Sofas auf meine Seite ausübte, zwar langsamer aus der Leber herausströmte, dass mir aber weniger als zwei Stunden blieben, bevor meine Arterien, Venen und mein Herz durch diesen Verlust vollkommen ausgeblutet waren. Ich argumentierte schwach, dass wir vielleicht noch etwas warten könnten, bevor wir ins Krankenhaus fuhren, schließlich sei der Schmerz in dieser Position auszuhalten.
»Wenn ich mich so hinlege, dann ist es nicht ganz so schlimm«, verkündete ich, stolz darüber, endlich eine Position gefunden zu haben, die mich entlastete.
Unbeeindruckt sahen sie mich kopfschüttelnd an, während sie erörterten, ob wir ins Krankenhaus fahren oder aber einen Krankenwagen rufen sollten. Ein Krankenwagen schien die sicherere Option zu sein, dann hätten wir aber keinen Einfluss mehr darauf, in welche Klinik ich gebracht würde. Ich wollte jedoch unbedingt in die Innenstadt, in mein Krankenhaus. Nicht dass ich dachte, man würde mich besser behandeln, nur weil ich dort arbeitete. Es gab zu viele Ärzte, als dass wir uns alle untereinander kennen würden. Doch während der letzten drei Jahre auf der Intensivstation hatte ich tagtäglich erlebt, wie kompetent und zuverlässig die Patienten hier versorgt wurden. Ich wusste, dass hier Sachen vollbracht wurden, die anderswo nicht möglich waren. Ich hatte Vertrauen in uns.
Allerdings schien es mir eine weitreichende Entscheidung zu sein, in egal welchem Krankenhaus als Patientin vorstellig zu werden. Ich wollte daran festhalten, dass die Situation an sich kontrollierbar war, auch wenn mir inzwischen jede Form von Kontrolle absolut utopisch vorkam. Allerdings würde es durch das Eingeständnis zu einer unumstößlichen Realität. Ich wollte einfach als umgekehrtes U auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer liegen bleiben, bis der Schmerz vorbei war.
In den folgenden Jahren sollte ich mich endlos und völlig irrational über dieses Sofa beschweren. Mir gefalle der orangefarbene Braunton des Leders nicht, außerdem sei es zu klobig. Randy verteidigte sein Möbel – immerhin hatte er viel zu viel dafür bezahlt –, sagte, das Leder sei eine Sonderanfertigung, und er hätte sich genau diesen Braunton gewünscht. Er interpretierte meine Abneigung gegenüber dem Sofa als eine Kritik an seinen Singlejahren, die durch dieses überdimensionierte Lederungetüm symbolisiert wurden. Ich sah wohl, wie dumm es war, mich ständig missbilligend darüber zu äußern, solange ich niemals ehrlich darüber redete, weshalb es mich so sehr störte und was für Erinnerungen es bei mir auslöste. Aber das tat ich nicht, sondern versuchte stattdessen, das braune Ungetüm widerwillig zu akzeptieren, bis es mir einfach nicht mehr möglich war. Erst vor Kurzem habe ich es in einem Anfall, in dem ich meinen Unmut auf das Sofa übertrug, in die Garage verfrachtet und verkündet, ich wolle es nie wieder im Haus sehen. So sehr verfolgte mich die Erinnerung an diese Nacht. Als Randy es in der Garage vorfand, schüttelte er nur den Kopf und meinte »Du hast es hoffentlich nicht allein aus dem Haus geschafft, oder etwa doch?«, gefolgt von der Frage »Warum hast du mir nicht gesagt, wie sehr du es hasst?«
»Das habe ich dir doch gesagt«, erinnerte ich ihn. »Ich habe es schon immer gehasst.« Aber das stimmte so nicht ganz. Da war dieser eine Abend, als mich der Schmerz ausweidete und das Sofa mir die dringend ersehnte Erleichterung verschafft hatte.
Ich stöhnte, was für Dana und Randy einer Einladung gleichkam, ihren Plan in die Tat umzusetzen. »Das reicht. Du kannst hier nicht ewig so schief herumhängen, du gehst jetzt ins Krankenhaus«, verkündeten beide auf ihre entnervende Art. Vermutlich tat einer von ihnen das allein mit diesem bestimmten Blick kund. In dem kurzen Zeitraum, den sie benötigten, um mir beim Aufstehen zu helfen, veränderte sich der Schmerz. Mir wurde schlecht, ich übergab mich und konnte nicht mehr aufhören. Ich durchlebte das, was andere als »Sternchen sehen« beschreiben. Ich hatte allerdings eher das Gefühl, als wäre mir mit einem Mal das Sehvermögen abhandengekommen, als zeichneten sich nur noch pockennarbige helle Kreise vor meinen Augen ab. Zusammen mit dem heftigen Stechen, das in meiner rechten Seite einsetzte und sich wie ein Band über meinen Körper zog, wurde das Strahlen stärker oder zog sich zurück. Ich schloss die Augen, sah aber noch immer das Licht, als hätte es sich hinter meinen Lidern eingebrannt. Ich krümmte mich, würgte, konnte nicht aufrecht stehen bleiben. Stöhnend und ungläubig stützte ich die Hände auf den Knien auf. Was war das? Abwarten kam nicht mehr infrage. Dana stellte Tupperschüsseln in den Fußraum im Auto, da sie nicht davon ausging, dass in Kürze ein Ende des Erbrechens absehbar war. Höchst pragmatisch. Ich wurde auf den Rücksitz des Autos verfrachtet und sah unser Haus nie wieder.
Die Entscheidung, selbst zur Notaufnahme zu fahren, führte dazu, dass wir mit hundertsechzig Stundenkilometern zum Krankenhaus rasten. Wir beteten, rechtzeitig anzukommen. Ich war davon überzeugt, dass etwas in meinem Körper geplatzt war, konnte allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob meine Schmerzen, wie vermutet, auf ein perforiertes Magengeschwür hindeuteten oder auf etwas anderes. Mir fiel ein, wie ich im Studium gehört hatte, dass sich Verdauungsenzyme der Bauchspeicheldrüse, einmal freigesetzt, wie Batteriesäure durch Organe fressen und so den Körper von innen zerstören können. Für mich war das qualvolle, sich ausbreitende Brennen, als würden sich meine Organe in eine glibberige Masse verwandeln. Ich wusste, dass ich operiert werden musste. An der Tür zur Notaufnahme wurde ich in einen Rollstuhl verfrachtet, und Randy fragte, ob ich eine Tupperschüssel mitnehmen wolle.
Ein Mann vom Sicherheitsdienst sah mich, eine schwangere Frau, der offensichtlich übel war, und fragte, in welchem Monat ich sei. »Im siebten«, erwiderte ich erstaunt. Ich begriff nicht, inwiefern diese Information für den Sicherheitsdienst von Belang war. Gelassen wurden wir an die Entbindungsstation verwiesen und von der Notaufnahme wegdirigiert, die ich ursprünglich anvisiert hatte. Das sei hier so Standard, erklärte er. »Jede Frau, die den sechsten Schwangerschaftsmonat vollendet hat, wird auf die Entbindungsstation geschickt.« Widerspruch war sinnlos. In unserem Krankenhaus wurde das Einhalten von Richtlinien geschätzt. Sie sorgten maßgeblich dafür, dass die Sicherheit unserer Patienten gewährleistet war. Und um den stets gleichen Standard der ausgezeichneten Pflege zu gewährleisten, brauchte es ein einheitliches Verfahren. Allerdings wurden bei dieser Krankenhausrichtlinie meine jahrelange ärztliche Ausbildung, meine persönliche Einschätzung meines Abdomens sowie meine Ansicht, dass ich dringend von einem Chirurgen untersucht werden sollte, völlig ignoriert. In meinem Fall führte ein Sicherheitsmann des Krankenhauses die Triage durch und hatte innerhalb von fünf Sekunden festgelegt, wer ich war und was ich brauchte. Ich warf Randy einen Blick zu, der ihm zu verstehen gab: Nur dass du Bescheid weißt, diese Entscheidung könnte meinen Tod bedeuten.
Auf der Entbindungsstation musste ich kurz aufstehen, um mich aus- und das Patientenhemd anzuziehen. Dabei kam ich in den zweifelhaften Genuss, festzustellen, was sich schon alles verändert hatte. Mein Gesichtsfeld war eingeschränkt, ich hatte einen Tunnelblick, sah nur noch einen zentralen Punkt vor mir. Mein Verstand fühlte sich irgendwie berauscht an, als wäre er ohne mich zu einem wilden Saufgelage gegangen. Eine morbide Eigentümlichkeit erlaubte es mir vorübergehend, zumindest einen klaren Gedanken zu fassen: Ich erfuhr soeben einen Schockzustand am eigenen Leib. Diese dumpfe Trunkenheit wies auf eine ungenügende Blutzufuhr in meinem Gehirn hin. Solange ich mich in liegender Position befand, konnten die Gefäße den Fluss in meinem Körper entsprechend regulieren, Blut von anderen Körperregionen abzweigen und in mein Gehirn schicken. Doch im Stehen waren sie der Schwerkraft hilflos ausgeliefert. Das wenige Blut, das sich noch in meinen Gefäßwänden befand, sammelte sich in meinen Füßen und entzog dem Gehirn den notwendigen Zufluss.
Eine Hand hielt mir einen kleinen orangefarbenen Behälter mit Deckel vor die Nase. Ob ich ihnen wohl eine Urinprobe geben könnte? Ich stellte mir vor, welche Koordination vonnöten war, um dieser Bitte nachzukommen, und schüttelte den Kopf. Also wurde ich kurzerhand den Säuglingskrankenschwestern übergeben, in dem alleinigen Bestreben, den Zustand des Babys zu überprüfen.
»Dem Baby … geht’s gut«, stöhnte ich; vor Schmerzen brachte ich nur abgehackte Sätze hervor. »Aber mit mir … stimmt … was nicht. Rufen Sie … die Chirurgie … bitte.« Die Schwestern hingegen überprüften die Herztöne des Babys und versuchten, mir ein Herztonmessgerät um meinen empfindlichen, geschwollenen Bauch zu schnallen. Der zusätzliche Druck war unerträglich, weshalb ich alles unternahm, um mich aus diesem einschnürenden Gurt zu befreien. Das brachte mir jedes Mal, wenn mich jemand dabei ertappte, einen strengen, missbilligenden Blick ein. »Lassen Sie den Gurt dran! Was ist denn nur los mit Ihnen?« Eine der Krankenschwestern schnalzte ungläubig mit der Zunge. Mithilfe eines Blasenkatheters leitete man Harn aus meiner Blase, was mir den leisen Vorwurf eintrug, es hätte auch »einen leichteren Weg« gegeben. Dann legte man mir noch einen Zugang in eine Vene, die für ihre Widerspenstigkeit getadelt wurde.
Die beruhigenden Herztöne des Kindes, die zu diesem Zeitpunkt noch zu hören waren, riefen bei den Krankenschwestern, die ihrer Arbeit summend nachgingen, ein flüchtiges Lächeln hervor. Die an meinem Oberarm angelegte Manschette zurrte sich immer wieder zusammen, doch das Gerät konnte meinen Blutdruck kaum messen, so niedrig war er. Über den Venenzugang tröpfelte langsam eine Salzlösung in mich hinein, aber nicht ausreichend, um mein Blutvolumen rasch wieder aufzufüllen. Mit meiner freien Hand regulierte ich heimlich den Rollschalter, damit die Infusion, von der ich wusste, dass ich sie dringend benötigte, schneller in mich hineinfloss.
Erschrocken über meinen rapiden körperlichen Abbau, spulte ich meinen Tagesablauf vor meinem inneren Auge erneut ab, während ich auf die hässlichen Wandfliesen starrte und mich gleichzeitig damit zu beruhigen versuchte, wie gewöhnlich der Tag doch gewesen sei. Ich hatte Wolle besorgen wollen. War ins Kaufhaus gegangen und hatte zwei Paar Schuhe erstanden, beide eine Nummer größer wegen meiner geschwollenen Füße. Alle schwangeren Frauen quellen auf, das war nicht weiter von Belang. Dann hatte ich im Supermarkt Vanillezucker gekauft, und später war ich zum Abendessen gegangen und hatte mit dem Lachs geliebäugelt. Lachs enthält viel Omega-3-Fettsäuren, die anscheinend gut für die Entwicklung des Gehirns ungeborener Kinder sind. Da hatten die Schmerzen eingesetzt. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Keine Wolke am Himmel.
Mehrere Männer kamen zu mir, zuerst ein Assistenzarzt, dann der zuständige Gynäkologe.
»Sie ist Ärztin, hier bei uns«, informierte einer von ihnen die anderen. »Auf der Intensiv, glaube ich.«
Als wäre das mein Stichwort, kanalisierte ich mein Adrenalin und sprach sie als diese Hybride aus Ärztin und Patientin an, versuchte ihnen meine Geschichte, die ich selbst noch so wenig verstand, so kurz wie möglich und gespickt mit medizinischen Begriffen zu schildern. Ich mühte mich ab, ihnen die Dringlichkeit der Situation zu vermitteln, bekam vor lauter Schmerzen aber nur ein Stottern heraus. Jedes Zusammenkrampfen raubte mir meine zurechtgelegten Worte. Ich forschte in ihren Gesichtern nach einem Zeichen des Verständnisses, nahm darin aber nur einen mitleidigen Ausdruck wahr. Ich war eine Abstraktion – eine kranke Patientin, eine Mutter. Mein Schmerz wurde durch die verzerrte Linse meiner Schwangerschaft betrachtet. Die Besorgnis, die alle hier vereinte, galt einzig dem Baby.
Der behandelnde Arzt ordnete Morphine an, was mich aufhorchen ließ. O nein, sie geben mir Morphine. Wir verabreichen schwangeren Frauen so gut wie nie starke Betäubungsmittel, weil sie ein Risiko für das Baby darstellen. Wie war es dazu gekommen, dass man mir, die ich am Vormittag noch ein nicht verschreibungspflichtiges Antazidum verweigert hatte, jetzt auf einmal Opiate injizieren wollte? Ich versuchte, meine Angst über die Auswirkungen der Morphine auf das Baby als Indiz dafür zu interpretieren, dass sie zumindest meine Beschwerden ernst nahmen. Während sie mir das Opiat applizierten, überlegte ich, ob es überhaupt etwas gegen die schrecklichen Schmerzen ausrichten konnte. Es half tatsächlich nicht. Also wurde die Dosis erhöht.