Claudio M. Mancini
Il Bastardo
Ein Mafia-Thriller
Knaur e-books
Claudio Michele Mancini wurde kurz nach Kriegsende als Sohn einer deutschen Mutter und eines italienischen Vaters geboren und wuchs in der Provinz Verbania am Lago Maggiore auf. 1964 machte er auf einer Klosterschule sein Abitur, studierte in München Psychologie und arbeitete danach als Dozent und Unternehmensberater in Frankreich, Italien, Deutschland und den USA. 2006 erschien Infamità, sein erster Mafia-Roman. 2009 folgte Mala Vita, 2012 La Nera.
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Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2015 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Jutta Ressel
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Hayden Verry / Arcangel Images
ISBN 978-3-426-42628-9
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Ich danke Susan
für all ihre Unterstützung, ihre Liebe,
ihre Geduld und ihr Verständnis,
die sie mir während der schweren Zeit entgegenbrachte,
als dieser Roman entstand.
Cu è surdu, orbu e taci,
campa cent’anni ’mpaci.
»Wer taub, blind und stumm ist,
lebt hundert Jahre in Frieden.«
Gianna Corodino Journalistin und Mutter von Carla
Il Pulitore Nino Scarpetta
Dottore Alfonso Grillo Justizminister
Nicolo Sassi Generalstaatsanwalt
Edoardo Fosso zweiter Staatsanwalt
Massimo Della Ponte Colonello der DIA
Domenico Valverde Comandante der DIA
Commissario Sandro Contini Valverdes Assistent
Michele De Cassini Leiter des Drogendezernats
Dottore Salvatore Lo Presto Chef der Antimafiabehörde in Rom
Anselmo Strangieri Chef des Mobilen Einsatzkommandos
Dottore Gianfranco Posa Chef des Nucleo Operativo Ecologico
Antonio Neri Großindustrieller
Francesco De Masso Reeder und Müllentsorger
Calogero Montalbano (Spitzname Zoppo) Mafiapate
Silvio Montalbano Sohn des Mafiabosses
Giancarlo Sardeno (Don Sardeno) Mafiapate
Frederico Sardeno Sohn des Mafiabosses
Cesare Bianchi Pächter der Bar Albanesi
Dottore Carlo Di Stefano Neris Rechtsanwalt
Rodolfo Messoni Umweltminister
Don Peppe / Peppino Comerio Müllagent
Sergio und Tonino Messoni Söhne des Umweltministers
Pietro Fillone Pentito/Verräter/Handlanger von Comerio
Carmelo Bergolio Handlanger von Comerio
Sergente Sassuolo Carabiniere in Castelbuono
Sergente Pinotta Carabiniere in Castelbuono
Alessia Campobasso Chefredakteurin des Il Messaggero
Pater Eusebio Pater in Castelbuono
Die handelnden Personen sind frei erfunden, eventuelle Namensgleichheiten rein zufällig.
Der Tag in Villaggio San Michele, ein über tausend Meter hoch gelegenes Dorf nicht weit vom Kraterrand des Ätna entfernt, war soeben mit erfrischender Kühle angebrochen. Stürmischer Morgenwind hatte den Himmel aufgerissen und trieb gewaltige Wolkenfetzen über den Südhang des Mongibello, wie die Einheimischen den Berg liebevoll nannten. Die Sonne erwärmte mit ihren ersten Strahlen die Hochebene unterhalb des gefürchteten Vulkans Ätna und verwandelte den Rauhreif auf Gräsern und Moosen in silbrig glitzernde Kristalle. Ringsum türmten sich zwischen vereinzeltem Ginster, Sanddorn und Wacholder bizarre Schlacken längst erkalteter Lava auf.
Nur wenige Meter oberhalb des Dorfes, kurz vor dem gesperrten Kratergebiet, standen eine Handvoll versprengter Bauernhäuser in einer Umgebung, die einer menschenfeindlichen Mondlandschaft glich. Penetranter Schwefelgeruch drang aus jeder Ritze und jeder Erdspalte wie die Ausdünstung einer eitrigen Wunde und waberte über die Hochebene. Er nistete sich in die Wohnräume der Häuser ein, verbreitete sich aufdringlich in Stall und Scheune, so dass das Atmen an manchen Tagen schwerfiel.
Der gefürchtete Feuerberg war ein Segen für die Bauerndörfer an seinem Fuße. Unzählige Ausbrüche hatten den Vulkanboden in fruchtbares Ackerland verwandelt und so die Grundlage für eine reiche Pflanzenvielfalt geschaffen. Es reiften Kirschen und Weintrauben, Pfirsiche und Aprikosen in praller Üppigkeit.
Doch oben war alles anders. Anscheinend hatte sich der Bewohner des einsamen Gehöftes an den beißenden Gestank gewöhnt. Denn der Kerl, der wie ein Baum vor einem gewaltigen Berg zugeschnittener Holzstämme stand, die ein Lieferant am Vortag hinter seinem Haus von seinem Lastwagen abgeschüttet hatte, verarbeitete mit wuchtigen Axthieben Stamm für Stamm zu Kleinholz. Kraftvoll und ohne sich die kleinste Pause zu gönnen, spaltete er wie eine Maschine sein Brennholz für den Winter, das im Anschluss eingesammelt und an der Hauswand unter der Traufe gestapelt werden sollte. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen Bauern halten können oder auch für einen Schafhirten, der in den Bergen eine Farm betrieb, wenn das Gehöft nicht ausgerechnet an den gefährdeten Lavahängen des unberechenbaren Ätna gelegen hätte. In dieser Höhe gab es weder Felder zu bestellen, noch fanden Schafe genügend Futter.
Bekleidet war der Mann mit einem verschmutzten Trenchcoat, dessen Farbe sich nicht mehr eindeutig bestimmen ließ. Er reichte ihm bis zum Saum seiner Schaftstiefel, und in Ermangelung von Knöpfen flatterte der Mantel im Wind wie ein aufgeblähtes Segel. In seinem Gesicht zeigten sich scharfe Falten, die sich von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln eingegraben hatten. Der Mann wirkte, als hätte er bittere Erfahrungen gemacht. Die Art, wie er stand und wie er sich bewegte, erinnerte an eine Raubkatze, die unablässig Gefahr wittert. Auch mit seinem Blick schien er ständig auf der Hut zu sein, und schaute man ihm in die Augen, so waren Zynismus und Grausamkeit nicht zu übersehen.
Aus dem offenstehenden Fenster seiner geräumigen Küche erklang die Melodie einer bekannten sizilianischen Tarantella, die er leise mitsummte. Der Mann mit wahrhaft herkulischem Körperbau unterbrach seine Arbeit. Er ließ die scharfe Schneide der Axt in den Hackklotz sausen und wandte sich der windschiefen Brettertür des Hintereingangs zu. Er klopfte seine klobigen Stiefel ab, zog den Kopf unter dem Türrahmen ein und ging hinein.
Die Krempe seines leichten Sommerhutes ragte ihm weit in die Stirn und ließ den wild wuchernden Haarwuchs und seine bernsteinfarbenen Augen nur erahnen. Der hochgewachsene Einsiedler, ein für sizilianische Verhältnisse ungewöhnlich wuchtiger Kerl von athletischer Gestalt, bewegte sich trotz seiner über hundert Kilo mit geschmeidiger Leichtigkeit. Aus der Entfernung hätte man diesen Mann auf mindestens fünfundvierzig Jahre geschätzt, was seinem wettergegerbten Gesicht und seinen harten Gesichtszügen geschuldet war, doch er war erst fünfunddreißig.
Er nahm den Hut ab, legte ihn auf den ungehobelten Holztisch und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Dann warf er einen misstrauischen Blick auf sein Telefonino. Das Display leuchtete. Die Nummer war unterdrückt. Bevor er den Anruf entgegennehmen konnte, erstarb die Melodie; vermutlich würde es der unbekannte Anrufer erneut versuchen. Er wandte sich dem Kamin zu, griff nach einigen Holzscheiten, die an der Wand fein säuberlich aufgeschichtet waren, und warf sie in die Glut. Daraufhin ging er in die Hocke und rieb sich die Pranken – eine andere Bezeichnung hätten die Hände nicht verdient – über dem offenen Feuer.
Wie er richtig vermutet hatte, schrillte das Telefonino erneut. »Pronto«, meldete er sich.
»Du hast Post«, sagte der Anrufer, ohne seinen Namen zu nennen.
»Seit wann ruft der Briefträger bei mir an?«
»Du weißt genau, was ich meine«, erwiderte der Mann.
Die Augenbrauen des Einsiedlers zogen sich unwillig zusammen. »Wer hat dir diese Nummer gegeben?«, fragte er unwirsch.
»Ein guter Freund.«
»Ich habe keine Freunde«, erwiderte er mit harter Stimme. »Und schon gar keine guten.«
Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung kicherte belustigt. »Pulitore, du kannst richtig witzig sein.«
»Worum geht es?«, knurrte er, ohne auf die Bemerkung des ominösen Anrufers einzugehen.
»Um einen Reinigungsauftrag«, hörte er ihn sagen und nach einer bedeutungsvollen Pause hinzufügen: »Gleiche Konditionen wie beim letzten Mal.«
»Was soll das? Mir schreibt keiner vor, wie viel ich verlangen soll.«
»Aber du weißt, mein Boss zahlt pünktlich und zuverlässig.«
»Weiß ich das?«
»Muss ich mir Sorgen um dein Gedächtnis machen?« Wieder hörte Pulitore ein leises Kichern im Hintergrund.
»Reiß deine Klappe nicht so weit auf, sonst musst du dir Sorgen machen.«
Anscheinend war der Anrufer verunsichert, denn seine Stimme klang plötzlich ernst. »Dein Auftraggeber wünscht, dass sein Problem schnell und ohne Aufsehen aus der Welt geschafft wird.« Der Anrufer zögerte kurz, bevor er weitersprach. »Letztes Jahr im Sommer, die Sache in Bologna, vielleicht erinnerst du dich jetzt?«
Pulitores Antennen waren aufs höchste sensibilisiert. »Aha! Der Chemiebonze also.«
»Genau.«
»Bene, ich werde in meinem Briefkasten nachsehen.«
»Heute noch!«, sagte die Stimme im Befehlston. »Das Paket wird wie üblich mitgeliefert. Du wirst alles finden, was benötigt wird. Im Übrigen eilt die Sache.«
»Wer es eilig hat, der hat Angst«, erwiderte Pulitore mit stoischer Ruhe. »Hat er Angst?«
Wieder tönte auf der anderen Seite dieses merkwürdige Kichern. »Du weißt sehr gut, mit wem du es zu tun hast. Er will wissen, ob du den Auftrag annimmst. Ich rufe dich heute Abend um zehn Uhr wieder an. Dann erwartet er eine Antwort.«
»No! Ich melde mich bei ihm.« Mehr als dieser knappe Kommentar schien aus der Sicht des eigenbrötlerischen Sonderlings wohl nicht nötig zu sein.
»Weißt du überhaupt, wie du ihn erreichen kannst?«
»Ich finde jeden, den ich finden will«, fauchte er zurück und unterbrach das Telefonat, ohne eine Antwort abzuwarten. Diskussionen waren nicht sein Ding.
Mechanisch öffnete er das Gehäuse seines Smartphones, entnahm die Chipkarte und ersetzte sie durch eine neue, die er aus der Schublade seines Küchenschrankes holte. Die alte knickte er mit Daumen und Zeigefinger zusammen und warf sie in die lodernden Flammen.
Die riesige Küche, an deren niedriger Decke eine nackte Glühbirne baumelte, war früher ein zentraler Treffpunkt für Schäfer und Arbeiter gewesen und schien noch aus dem letzten Jahrhundert zu stammen. Hier hatte sich seitdem kaum etwas verändert. Der rechteckige Raum mit dem altmodischen Gasherd in der Ecke, dem schäbigen Küchenschrank und dem steinernen Waschbecken wirkte anspruchslos und wie aus einer anderen Zeit. Nur den massiven Holztisch hatte der kauzige Einzelgänger vor einiger Zeit ergänzt und derbe Holzbänke dazugestellt.
Der Geruch von toten Tieren und kaltem Blut hatte sich wie eine fettige Patina über die groben Fugen der gemauerten Wände und auf die uralten Wandfliesen an der Kochstelle gelegt.
Genau wie sein Vorgänger schlachtete er hier Stallhasen und Hühner, wärmte sich an kalten Wintertagen am Kamin oder setzte sich in den altertümlichen Ohrensessel. Den hatte er vor Jahren auf dem Trödel erstanden und ihn dann schräg vor den Kamin gestellt. Hier saß er gerne am Abend, wenn die Arbeit getan war, und blätterte in seinen Hundebüchern.
Drüben auf dem Herd köchelte in einem emaillierten Kochtopf gerade sein Lieblingsgericht: Lammhackfleisch und Zwiebeln mit gefüllten Paprikaschoten in einer würzigen Soße. Der pikante Geruch der Lamm-Peperonata erfüllte den Raum. Er hob den Deckel, verrührte mit einem Holzlöffel vorsichtig den Sud und schnupperte. Ein zufriedenes Lächeln machte sich breit. Ein Abendessen, wie er es liebte.
Er drehte die Herdflamme ab, ging hinüber zum Kamin und ließ sich in den schweren Sessel fallen. Der rostrote Kordbezug war über die Jahre zerschlissen und ließ auf der Sitzfläche speckige Stellen und tiefe Risse sehen. Pulitore streckte die Beine weit von sich und starrte in die lodernden Flammen der gemauerten Esse, deren graue Granitsteine über die Jahrzehnte durch Ruß und Hitze eine glänzend schwarze Färbung angenommen hatten.
An seinem kräftigen Unterkiefer und dem markanten Kinn konnte man Energie und unbeugsamen Durchsetzungswillen ablesen. Seine widerspenstigen tiefschwarzen Haare und die gelbgold schimmernden Bernsteinaugen hatten etwas Gefühlloses und Abweisendes, das den meisten Menschen bei einer Begegnung mit ihm Angst einflößte.
Niemand hatte ihn an diesem menschenfeindlichen Ort je besucht, und mit den Leuten der benachbarten Höfe pflegte er keine Kontakte. Voller Misstrauen mied er alles, was weniger als vier Beine hatte. Außer ihm und seinen Hunden lebte in dieser schwefelgeschwängerten Abgeschiedenheit nur noch eine vom Alter gebeugte Frau, die aus dem Dorf auf der anderen Seite des Tals stammte. Seit Geburt taubstumm und autistisch, führte sie ihm den kargen Haushalt.
Er kannte weder ihr Alter noch ihren genauen Namen. Im Grunde war die Greisin nicht mehr als ein lautloser Schatten, der seine Arbeit tat. Der Einfachheit halber hatte er sie Emma getauft. Sie kümmerte sich kaum um ihn oder seine Anwesenheit. Wenn er das Haus verließ, konnte er ihr seine vierbeinigen Zöglinge und Sorgenkinder bedenkenlos anvertrauen, selbst wenn er mehrere Tage oder manchmal sogar eine Woche lang unterwegs war. Er wusste, sie liebte die Hunde, und dementsprechend gut wurde die Meute von ihr versorgt.
Sowenig sich Pulitore Gedanken machte, ob während seiner Abwesenheit alles in Ordnung gehalten würde, so wenig dachte er auch über sein Auskommen nach. Er suchte nicht die Aufträge, die Aufträge suchten ihn. Sie wurden von Leuten erteilt, die über viel Geld und Macht verfügten, in großen Schwierigkeiten steckten und glaubten, keine andere Wahl zu haben, als seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Natürlich gab es in Palermo oder Neapel genügend Männer, die man anheuern konnte und die in einer dunklen Gasse ihre Arbeit schnell und preiswert erledigten. Er jedoch gehörte nicht zu diesen armen Hungerleidern, die jeden Job annahmen, egal wie blutig er war. Er galt als der Mann für die besonderen Herausforderungen, von ihm erwartete man absolute Zuverlässigkeit und eine fehlerlose Abwicklung – und die begann bereits bei der Auftragannahme.
Zu diesem Zweck hatte Pulitore vor Jahren im gottvergessenen Dorf Fornazzo an die Hauswand eines heruntergekommenen Bauernhofes einen Briefkasten gedübelt. Dort, in achthundert Metern Höhe, lebten knapp zweihundert Menschen, und es kümmerte niemanden, ob in dem verlassenen Gebäude ein Fenster eingeworfen oder Steine aus den Mauern herausgebrochen wurden. Wenn jemand Baumaterial benötigte, bediente er sich einfach an der Ruine, und jeder, der seinen Müll loswerden wollte, lud ihn auf diesem Grundstück ab. Der nächste Polizeiposten befand sich im mehr als zehn Kilometer entfernten Dorf, und man benötigte mindestens dreißig Minuten, um von dort bis zu diesem Gehöft zu gelangen. Nachts war der Posten sowieso nicht besetzt, und mit Routinekontrollen war nicht zu rechnen.
Umschläge in seinem Briefkasten bedeuteten immer ein drängendes Problem, dessen Beseitigung keinen Aufschub duldete. Pulitore machte sich über seine Arbeitseinsätze keinen Kopf, er sah sie ganz pragmatisch als lohnenden Broterwerb und hatte sich darüber eine ganz einfache Meinung gebildet: Eine Person wollte eine andere aus dem Weg schaffen, konnte oder wollte das Problem, aus welchen Gründen auch immer, aber nicht selbst erledigen; dann ging der Betroffene in die Bar Colosseo in der Via Bilotta, einem üblen Viertel in Messina, und fragte nach einem Briefkasten. Dort schickte man den »Ortsunkundigen« dann nach Fornazzo.
Dann ging alles seinen Gang. Schließlich war er der pulitore – der »Reiniger«, der die hinterlegte Anweisung je nach Risiko und Aufwand gegen ein mehr oder weniger hohes Honorar erledigte. Den Schmutz beseitigte er stets akkurat, und zwar so, dass der Auftraggeber mit dem Ergebnis zufrieden war. Und Pulitore konnte nicht behaupten, dass er selten Post bekam. Es gab viele böse Menschen, die mit anderen bösen Menschen im Streit lagen und ihre Schwierigkeiten auf radikale Weise zu lösen wünschten. In seinem Beruf war das Böse nicht nur allgegenwärtig, sondern auch abgründig, vieldeutig, mehrschichtig – und faszinierend. Seiner Einschätzung nach war das Böse untrennbar mit dem Drama des menschlichen Lebens einerseits und dem Wohlergehen seiner Hunde andererseits verbunden. So hatte alles seine Ordnung und war im Lot, insofern seine Auftraggeber pünktlich zahlten. Doch auch darüber lohnte es sich nicht nachzusinnen, denn in dem nahezu undenkbaren Fall einer schleppenden Zahlung würde er sie zu beschleunigen wissen. Hätte man ihn nach dem Geheimnis seines Erfolges gefragt, würde er kurz und bündig geantwortet haben: exakte Planung, perfekte Ausführung, keine Spuren.
Würziger Duft stieg aus dem Kochtopf und regte seinen Appetit an. Am liebsten hätte er schon jetzt einen Teller von der Lamm-Peperonata genommen. Doch das kam nicht in Frage. Sein Tagesablauf wurde von festen Regeln und Ritualen bestimmt, von denen er nur in Ausnahmefällen abwich. Er erhob sich, ging hinüber zur Vorratskammer, förderte ein frisches Ciabatta zutage, holte aus dem Kühlschrank Prosciutto, ein paar dünn geschnittene Scheiben Mortadella und gesalzene Butter. Dann machte er es sich am Tisch gemütlich. Sein Blick fiel auf die Küchenuhr, die über der Hintertür angebracht war; ihr großer Sekundenzeiger tickte unüberhörbar. Die Hunde würde er im Anschluss füttern, dachte er, halbierte mit einem scharfen Messer das frische Brot und kaute gleich darauf selbstzufrieden vor sich hin.
Vor neun Jahren hatte er das heruntergekommene Bauernhaus, dessen Wände an einigen Stellen eingefallen waren, einem kauzigen Schäfer abgekauft, der hier oben in den Bergen mehr gehaust als gewohnt hatte. Von der Strada Provinciale, die hinauf zum Ätna führte, war das Gebäude kaum zu entdecken. Es duckte sich in eine Senke, und mit seinem grauen Schieferdach hob es sich auch kaum vom Lavagestein ab. Sonne, Wind und aggressiver Staub hatten über die Jahre der Fassade ziemlich zugesetzt. An vielen Stellen bröckelte der Putz und gab den Blick auf die groben Bruchsteine frei.
Das in völliger Einsamkeit liegende Anwesen knapp unterhalb der Schneefelder hatte damals Pulitores Bedürfnissen entsprochen. Hier konnte er seine Vorstellungen verwirklichen und mit seinen Hunden ein völlig ungestörtes Dasein fristen.
Hunde – sie waren sein Leben. Kranke, ausgehungerte, verwahrloste oder alte Tiere, überall sammelte er sie zusammen, brachte sie hinauf in sein abgelegenes Refugium, kümmerte sich aufopferungsvoll um die bejammernswerten Kreaturen und pflegte sie gesund, selbst wenn sie ihn ein Vermögen kosteten. Die Hunde waren es wert. Sie waren die besseren Menschen, jedenfalls in seinen Augen. Keine Frau dieser Welt könnte es je mit einem Hund aufnehmen, der ihm aus lauter Liebe übers Gesicht leckte.
Zweimal im Jahr sammelte er die Welpen ein, um sie nach Taormina zu bringen. Er stellte sich an die Piazza und verkaufte sie. Ums Geld ging es ihm dabei aber nicht. Die Kleinen sollten ein schönes Zuhause und zuverlässige Besitzer bekommen. Dass seine kleinen Racker ein Magnet für Kinder und Frauen waren, wusste er nur zu gut. Dennoch sah er sich einen potenziellen Käufer sehr genau an, bevor er eines seiner Pflegekinder schließlich aus der Hand gab.
Nach einem langen Arbeitstag und fünf Kubikmetern Kleinholz war der Abend hereingebrochen. Eine heiße Dusche hatte seine Lebensgeister wieder geweckt. Nachdem er in der Küche eingeheizt und endlich seine Peperonata gegessen hatte, setzte er sich in seinen geliebten Ohrensessel vor dem offenen Feuer, rauchte und vertiefte sich wieder in seine Fachbücher für Hundezucht und Hundehaltung. Bei dieser Lektüre konnte er völlig abschalten und sich am besten entspannen.
Doch ein Blick auf die Uhr sagte ihm: Zeit aufzubrechen. Er erhob sich, griff nach seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, nahm den Hut vom Haken neben der Tür und verließ das Haus. Kalter Wind war heraufgezogen, er fröstelte.
Sein Grundstück, ein tristes Anwesen, erstreckte sich hinter dem Haus bis zu einer gut zweihundert Meter entfernten Talsenke und war mit einem hohen Drahtzaun umgeben. Dutzende Hunde aller Rassen und jeden Alters lagen träge vor ihren Hütten und dösten vor sich hin, als er das eingezäunte Areal betrat. Seine Miene nahm weiche Züge an, als sein Blick über das friedliche Bild schweifte. Aus seinen Augen sprachen Wärme und innige Zuneigung. Einige seiner Schützlinge sprangen auf und liefen schwanzwedelnd auf ihn zu, als sie ihn bemerkten.
»Ich muss euch jetzt alleine lassen. Aber ich bin bald wieder zurück«, redete er beruhigend auf sie ein und sah sich suchend um. »Diabolo, vieni!«, rief er in die Dunkelheit.
Ein schwarzgestromter Pitbull kam mit kraftvollen Sätzen auf ihn zu. Fröhlich kläffend sprang er an ihm hoch und streifte aufgeregt um seine Beine, als habe er ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Lächelnd tätschelte er den muskulösen Nacken des Vierbeiners. »Bei Fuß!«, befahl er und schloss hinter sich die Gehegetür. Im Gehen warf er noch einen kurzen Blick über die Schulter. Mehr als ein Dutzend Hunde drängten sich am Zaun und sahen ihm nach.
»Rein mit dir«, befahl er seinem Begleiter leise.
Mit einem Satz sprang Diabolo auf den Rücksitz des Fiat Punto. Pulitore startete den Motor und legte den Gang ein, während sein Hund es sich hinter ihm gemütlich machte. Zügig fuhr er über schmale Nebenstraßen mit unzähligen Kurven durch die bizarre sizilianische Gebirgswelt in Richtung Fornazzo.
Die Fahrt hätte bei so manchem Autofahrer Beklemmungen ausgelöst. Diese Bergregion hatte etwas Unwirkliches, sie mutete in der rabenschwarzen Nacht dämonisch und geheimnisvoll an. Haushohe, schwarzgraue Lavamauern zogen wie düstere Schatten an ihm vorbei. Geröllhalden wechselten sich mit skurrilen Gebilden aus erkaltetem Vulkangestein ab – seltsame Formationen, die furchterregenden Ungeheuern, Reptilien oder monströsen menschlichen Körpern glichen. Allmählich verließ er die baumlose Ödnis, tauchte in Kastanienwälder ein und erreichte nach weiteren Haarnadelkurven die ersten Zitronenplantagen.
Es war nicht mehr weit bis zum Bauernhof. Eine marode Straßenlaterne warf ihr trübes Licht auf den Asphalt. Nach hundert Metern erreichte er eine leichte Biegung, die in ein dicht bewachsenes Waldstück führte. In der Dunkelheit tauchte ein mit mehreren Revolverschüssen durchlöchertes Verkehrsschild auf und kündigte eine Kreuzung an. Pulitore bog langsam in den mit tiefen Schlaglöchern gespickten Schotterweg ein, hielt nach ein paar Minuten vor einem verfallenen Gehöft und stellte seinen Wagen so ab, dass der Lichtkegel seiner Scheinwerfer direkt auf die Hauswand fiel. Dort hing der völlig verrostete, ehemals grüne Briefkasten mit einem weißen Aufkleber. REINIGUNGEN ALLER ART stand darauf geschrieben. Der Blechkasten wurde nur noch von einer einzigen Schraube gehalten und machte den Eindruck, als würde er beim nächsten Windstoß von der Wand fallen.
Sein Auftraggeber hatte, wie angekündigt, das Paket mitgeliefert, in braunem Packpapier, mit Klebeband umwickelt. Es lag auf dem Boden unter dem Briefkasten.
Pulitore öffnete das Handschuhfach, holte ein Paar Handschuhe heraus und griff nach seiner Automatik. Er prüfte kurz die Waffe und lud sie durch. Dann stieg er aus dem Wagen. Schnell und geräuschlos wie ein Schatten verschwand er in einer Lücke im wild wuchernden Gebüsch. Bis auf den Wind, der durch die Blätter wisperte, war nichts zu hören. Mehrere Minuten wartete er ab, reglos.
»Vieni, Diabolo«, befahl er leise. »Cerca!« Freudig wedelnd sprang sein Gefährte vom Rücksitz ins Freie, schob seine Schnauze wie einen Staubsauger über die Grasnarbe und hob am Grenzstein des Hauses sein Bein. »Such, such weiter!« Aufgeregt lief Diabolo los, die Nase knapp über dem Boden, und verschwand hinterm Haus. Pulitore löste sich aus dem dichten Unterholz und lehnte sich an die Motorhaube seines Fiats. Die Hutkrempe tief in die Stirn gezogen, wartete er ab. Hechelnd und schwanzwedelnd kehrte Diabolo zu seinem Herrn zurück.
»Bravo«, lobte er ihn, als könne sein Hund jedes Wort verstehen. Er steckte seinen Revolver in die Tasche und tätschelte ihn. Jetzt konnte er sich wirklich darauf verlassen, dass niemand in der Nähe war. Er ging zum Haus, öffnete den Postkasten und entnahm ihm ein Kuvert. Im Licht des Scheinwerfers sah er sich die Anweisung und die zwei beigefügten Fotos an. Die Bilder zeigten zwei elegante, junge Männer, die am Straßenrand einer Strandpromenade stolz vor ihren Sportwagen posierten und lachten. Sie trugen protzige Uhren, verspiegelte Sonnenbrillen und vermittelten den Eindruck, als gehöre ihnen die Welt. Pulitores Augen zogen sich zusammen. Arrogante Scheißer, schoss es ihm durch den Kopf. Irgendwie kamen ihm die beiden Typen bekannt vor.
Er versuchte, sich zu erinnern – nichts. Aber eigentlich war es egal, ob er sie kannte oder nicht, ob er ihnen je über den Weg gelaufen war. Und er interessierte sich auch nicht für das Warum. Für ihn gab es nur drei wichtige Parameter: wo, wann und wie viel. Er drehte die Fotos um. Auf der Rückseite standen in Druckbuchstaben ihre Namen: TONINO und SERGIO. Pulitore faltete den beigefügten Zettel auseinander. Ein Computerausdruck. Kein Absender, kein Hinweis, von wem der Zettel stammen könnte.
Montag, 13.00 Uhr
Piazza Margherita, Bar Albanesi,
Castelbuono
Ihm blieben also noch vier Tage Zeit für die Vorbereitung. Seine bernsteinfarbenen Augen hefteten sich auf die beiden Männer, um sich ihre Gesichter einzuprägen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Zwei wichtige Arschlöcher am Montag. Geht in Ordnung«, murmelte er, »aber garantiert nicht zum üblichen Preis.« Er zerknüllte das Papier, holte ein Feuerzeug aus der Tasche, verbrannte Bilder und Nachricht und zertrat die Asche auf dem Erdboden.
»Diabolo, vieni qua!«, rief er, hob das Paket auf und trug es zum Wagen. Sein vierbeiniger Begleiter preschte durchs Gebüsch und legte sich vor seinem Herrn auf die Erde. Pulitore setzte sich ins Auto, ließ die Tür offen und riss das Paket auf. Hübsch, dachte er. Eine Uzi mit vier gefüllten Magazinen. Damit konnte man nicht viel verkehrt machen. Er prüfte die Schnellfeuerwaffe ausgiebig auf ihre Funktion, lud einige Male ohne Magazin durch und entspannte wieder. Offensichtlich ein älteres Modell aus Armeebeständen, aber erstklassig in Schuss. Sorgsam verstaute er die Waffe unter dem Fahrersitz und schloss für einen Moment die Augen. Er würde seinem Auftraggeber noch ein paar Minuten Zeit geben.
Nach einer halben Stunde schien ihm der Augenblick gekommen, seinen Auftraggeber anzurufen. »Hier spricht der Reinigungsservice. Sie wollen, dass ich für Sie tätig werde?«
»Certo! Hast du alles gefunden?«
»Perfetto«, raunte Pulitore.
»Wie viel?«, entgegnete die Stimme vom Vormittag.
»Es sind zwei«, erwiderte Pulitore knapp, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Hundertfünfzig pro Vorgang.«
»Tausend?«
»Was dachtest du denn?«
»Bleib dran!«
Pulitore grinste und blies genüsslich eine lange Rauchfahne in die Nacht. Es war immer das gleiche Spiel. An der Art und Weise, wie der Auftraggeber auf seine Forderung einging, konnte er die Wichtigkeit und Gefährlichkeit des Auftrages abschätzen. War seine Forderung zu hoch, sprang der Klient entweder gleich ab oder versuchte, wie so häufig, den Preis zu drücken. Letzteres war ein Indiz dafür, dass es sich um einen Allerweltsauftrag handelte. Ging der Klient ohne große Diskussion auf den Preis ein, war erhöhte Vorsicht geboten.
»Mein Chef meint, der Betrag sei beinahe doppelt so hoch wie das letzte Mal«, meldete sich die Telefonstimme zurück.
»Dann lassen wir es!« Pulitore grinste in sich hinein. Er wusste, was jetzt passieren würde. Im Hintergrund hörte er einen unterdrückten Fluch und einen verärgerten Wortwechsel.
»Tutto chiaro«, meldete sich nach einigen Sekunden der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung.
Pulitore hatte keine andere Antwort erwartet. »Die erste Hälfte als Anzahlung, die zweite Hälfte nach Erledigung.«
»Certo. Wohin soll ich das Geld bringen?«
»Du weißt, wo mein Briefkasten hängt.«
»Er verlässt sich darauf, dass nichts schiefläuft.«
Pulitore gab keine Antwort. Stattdessen trennte er das Gespräch, nahm die Chipkarte aus dem Telefon, warf sie zerknickt aus dem Fenster und startete seinen Wagen.
Die Via Santa Croce, eine schmale Seitenstraße in Castelbuono, lag im düsteren Schlagschatten der Häuser und spendete während der sommerlichen Gluthitze angenehme Kühle. Die meisten Gebäude in diesem Ortsteil stammten aus dem späten siebzehnten Jahrhundert. Viele von ihnen waren liebevoll restauriert, manche jedoch – einst hochherrschaftliche Häuser reicher Kaufleute – dem allmählichen Verfall anheimgegeben. Fäulnis und Schimmel hatten sich über Jahrzehnte ins Mauerwerk gefressen und blatternarbige Fassaden hinterlassen. In der Luft hing ein modriger Geruch.
Gianna trat hinaus auf die Terrasse hinter ihrem kleinen Haus und blickte zu den sanft ansteigenden Hängen des Monte Mufara hinüber, einer Landschaft, die von Industrie und Verkehr verschont geblieben war. Die pastellfarbenen Konturen der Berge ragten in das diesige Blau des Himmels. Es waren die Tage der stillen Blätter, wie die Leute in Castelbuono sagten, die Nächte der Sternschnuppen und der rosafarbenen Monde, der flatternden Nachtfalter und der schlafenden Eidechsen. Zu dieser Jahreszeit platzten die Feigen, die Pflaumen schwollen an, und die Mandeln wurden allmählich hart.
Gianna war in den frühen Morgenstunden vom Geklapper der Bambusstangen aus dem Schlaf geweckt worden. Jetzt stand sie selbstvergessen auf ihrer Terrasse, ließ ihren Blick über die weichen Linien der lieblichen Hügel schweifen und rauchte. In der Talsenke lagen vereinzelte Bauernhöfe und kleine Güter verstreut. Dutzende Erntehelfer streiften auf den umliegenden Äckern und Wiesen umher, schlugen die reifen Mandeln von den Bäumen, während sie sich mit ihrem rhythmischen Parlando, einem für diesen Landstrich typischen Sprechgesang, die Arbeit erleichterten.
Die Kleinstadt lag am Fuß des gewaltigen Madonie-Gebirges, kaum fünfzehn Kilometer von der Küste des Tyrrhenischen Meeres entfernt und nicht weit weg von Cefalù. Während im späten Frühling ringsum der Ginster leuchtete und die Luft von zirpenden Zikaden erfüllt wurde, vermischte sich jetzt im Sommer der betörende Duft des Jasmins mit dem herben Geruch der Eschen. Das wuchtige Kastell Cortile del Poggio, Stammsitz des damaligen Adelsgeschlechtes der Ventimiglia, thronte auf dem höchsten Punkt der im zwölften Jahrhundert gegründeten Stadt, abweisend und besitzergreifend zugleich.
Gianna ging zurück in die Küche, setzte sich an den Tisch und biss herzhaft in ein mit Marmelade gefülltes Brioche. Ein ziehender Schmerz in der Mundhöhle trieb ihr die Tränen in die Augen. Links hinten. Der Weisheitszahn. Schon in der Nacht hatte er sie kaum schlafen lassen. Jetzt pochte der Quälgeist in ihrem Kopf. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Viertel vor eins. Bis zum Termin beim Zahnarzt, der sie ausnahmsweise um vierzehn Uhr behandeln wollte, blieb ihr noch mehr als eine Stunde Zeit. Irgendetwas musste sie tun, um sich abzulenken. Seufzend räumte sie das Geschirr in die Spülmaschine, beseitigte die Reste ihres frugalen Frühstücks, das sie gemeinsam mit ihrer Tochter eingenommen hatte, und wischte mit einem feuchten Tuch über die Arbeitsplatte.
»Carla, vieni! Beeil dich, sonst kommst du zu spät!« Sie hielt einen Augenblick inne. »Carla!«, rief sie energischer, als sie nichts hörte. »Es ist gleich ein Uhr!«
»Torno subito!«, antwortete eine fröhliche Kinderstimme aus dem oberen Stockwerk, und gleich darauf hörte sie die Schritte ihrer Tochter. Wie ein Wirbelwind fegte ihr kleiner Liebling die Holzstufen in die Küche herunter, blieb mit leuchtenden Augen vor ihrer Mutter stehen und drehte sich auf Zehenspitzen zweimal um ihre Achse, als sei sie eine berühmte Primaballerina.
Carla war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen pechschwarzen Haare und kluge, haselnussfarbene Augen. Ihre widerspenstige Haarpracht hatte sie zu lustigen Zöpfchen geflochten, sie trug weiße Kniestrümpfe und ein kurzes, rot-weiß kariertes Sommerkleid aus demselben Stoff wie die Schleifen, die ihre Zöpfe zusammenhielten.
»Hübsch hast du dich gemacht«, bemerkte Gianna mit einem stolzen Lächeln, obwohl es ihr nicht sonderlich gutging. »Zieh deine Schuhe an! Sie stehen im Wohnzimmer unterm Tisch. Und dann ab mit dir!«
»Ja, doch.« Lustlos trottete das aufgeweckte Mädchen aus der Küche.
»Richte Pater Eusebio aus, dass ich mich verspäte«, rief sie ihrer Tochter nach.
»Ja.«
»Und pass auf die Autos auf, wenn du das Haus verlässt«, fügte sie mahnend hinzu.
»Jaja.«
Sie wird mir immer ähnlicher, dachte Gianna und lächelte. So hatte sie früher auch immer geantwortet, wenn ihr etwas lästig gewesen war. »Nach der Arbeit hole ich dich bei Concetta ab«, rief Gianna, während sie das restliche Geschirr in die Spülmaschine räumte. »Ich warte unten auf der Straße, nachdem ich geklingelt habe.«
Es hätte ein wundervoller Tag werden können, würden die Zahnschmerzen sie nicht so martern. Der Haushalt des Paters, den sie seit mehr als drei Jahren führte, musste heute ausnahmsweise warten.
»Ciao, ciao, vediamo dopo!«, hörte sie Carla aus dem Flur rufen, dann fiel die Haustür ins Schloss.
Gianna machte noch einmal ihren morgendlichen Rundgang durchs Haus, räumte ein paar Spielsachen ihrer Tochter weg, brachte den Müll hinaus und nahm die Post und die Zeitung aus dem Briefkasten. Unschlüssig setzte sie sich an den groben Küchentisch, der vor dem Fenster stand. Von hier aus hatte sie einen guten Blick auf die Straße und konnte alles beobachten, was vor dem Haus passierte. Ohne sonderliches Interesse überflog sie die Absender der Briefe. Die Stille im Haus stimmte sie nachdenklich. Ihr Blick streifte durch die Küche und blieb an dem gerahmten Schwarzweißfoto an der Wand hängen, das vor einigen Jahren bei einem Ausflug entstanden war. Eine glücklich lachende Carla mit ihrem übermütig dreinschauenden Vater. Leise Wehmut beschlich sie, Erinnerungen wurden lebendig – Erinnerungen, die ihr im heutigen Licht milder erschienen.
Vor knapp vier Jahren hatte sie sich von ihrem Ehemann Antonio scheiden lassen und war nach Sizilien zurückgekehrt. Unterschiedliche Ansichten, was Carlas Erziehung betraf, vor allem aber ihr unsteter Beruf als Journalistin, der häufig längere Reisen erforderlich machte, hatten sie mehr und mehr entzweit, bis sie an einem Punkt angelangt waren, wo eine Trennung unvermeidlich war. Seitdem ging so einiges schief. Kaum eine Woche später hatte man sie in der Redaktion vor die Tür gesetzt. Knall auf Fall. Als geschiedene Frau mit einem Kleinkind könne sie schwerlich ihrer Arbeit gerecht werden. Der süffisante Unterton ihres Vorgesetzten ließ keinen Zweifel zu, dass es sich um einen vorgeschobenen Grund handelte. Natürlich lagen die Dinge anders. Man hatte sich dem politischen Druck gebeugt und die Scheidung als willkommenen Anlass benutzt, um sie loszuwerden. Eine unbequeme Enthüllungsjournalistin, die heiße Eisen anpackte und so manchen wichtigen Persönlichkeiten im Lande Schwierigkeiten bereitete, musste wohl damit rechnen, selbst in Kalamitäten zu geraten.
Gianna, eine herbe Schönheit, hatte es stets verstanden, ihre Attraktivität geschickt in ihrem Beruf einzusetzen. Ihr Aussehen und ihre Wirkung auf Männer erleichterten ihr die Recherchen im Umfeld einflussreicher Alphatiere in Politik und Wirtschaft ungemein. Mit ihrer zierlichen, wohlgeformten Figur wirkte sie zerbrechlich, was offensichtlich den Machismo inspirierte, der in einflussreichen Positionen an der Tagesordnung war. Ihre vollen, geschwungenen Lippen, die dunklen, mandelförmigen Augen und der orientalische Einschlag in ihren lasziv wirkenden Gesichtszügen taten ein Übriges. Nun ja, Skandale waren ihr Geschäft, und viele waren in ihre Falle getappt. Oft genug hatten sich Konzernchefs oder Politiker in Interviews um Kopf und Kragen geredet und mehr offenbart, als ihrem Ruf und ihrer Reputation zuträglich war. Aber so waren sie eben, die Männer, und die profilneurotischen Alphatiere allemal. Sobald eine schöne und intelligente Frau ins Spiel kam, spreizten sie wie bei der Balz ihre Pfauenfedern.
Gerade das machthungrige Verhalten in elitären Kreisen hatte Gianna damals zu aufsehenerregenden Artikeln über korrupte Politiker und Wirtschaftsbosse verholfen und für erheblichen Wirbel gesorgt. Doch nach ihrem Rauswurf aus der Redaktion erlebte sie nur Niederlagen. Ihre Bewerbungen bei Zeitungsverlagen schlugen allesamt fehl, sah man einmal von einem Angebot eines renommierten Frauenmagazins ab. Doch Beauty- und Lifestyle-Trends waren das Letzte, was sie interessierte – und so lehnte sie ab. Es gab weiß Gott wichtigere Themen als lackierte Fußnägel und die aktuellsten Behandlungsmethoden gegen Cellulite. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihr Leben neu einzurichten, irgendwo auf dem Land, weit weg vom politischen Geschehen. Und so war sie in Castelbuono gelandet, nur wenige Minuten von ihrem früheren Elternhaus entfernt.
Es würden wieder bessere Zeiten kommen. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Immerhin, allen Widrigkeiten zum Trotz hatte sie die vergangenen Jahre besser gemeistert als anfangs befürchtet.
Aber es hatte auch Augenblicke gegeben, in denen sie schier verzweifelte. Natürlich war ihr klar, was es als alleinstehende Frau bedeutete, in Sizilien zu leben, das war schließlich ihre Heimat und absolut nicht zu vergleichen mit Mailand, Rom oder Verona. In der archaischen Männerwelt Siziliens galten Frauen nichts. Man war »die Tochter von«, »die Schwester von« oder »die Frau von«. Man war, wie die anderen einen haben wollten, nicht, wie man es sich selbst wünschte. Veraltete Ehrbegriffe und Verhaltensvorstellungen waren in den Köpfen der Menschen tief verwurzelt.
Viele Frauen hätten in ihrer Situation das Heil in einer neuerlichen Heirat gesucht. An Verehrern mangelte es ihr wahrlich nicht, doch sie hatte sich geschworen, ihr selbstbestimmtes Leben keinesfalls gegen den würdelosen Kompromiss einer Ehe mit einem selbstverliebten Gigolo einzutauschen. Überhaupt reagierte sie ausgesprochen zurückweisend, wenn sich Männer aus ihrem Umfeld an sie heranmachten. Manche, insbesondere die zurückgewiesenen, nannten sie den »einzigen Gletscher Siziliens«, obwohl ihre Augen von Leidenschaft, Feuer und Sehnsucht zeugten. Nun ja, das Thema Männer hatte sich vorerst erledigt. Und es gab ja auch noch ihre neunjährige Tochter, die sie abgöttisch liebte und für die sie verantwortlich war.
Zum Glück hatte Pater Eusebio jemanden gesucht, der ihm den Haushalt führte. Der Not gehorchend, nahm sie sein Angebot an. Alternativen gab es ohnehin keine. Auch wenn sie die Hausarbeit nicht zufriedenstellte, so war sie doch stolz, dass sie in der Lage war, für sich und ihre Tochter zu sorgen. Sie mochte Pater Eusebio und half ihm gerne, erledigte die Einkäufe für ihn, machte seinen Briefverkehr und verwöhnte ihn mit ihrer exzellenten Kochkunst. Solange sich keine bessere Perspektive bot, war dieser schmale Verdienst besser als nichts. Hin und wieder arbeitete sie auch als freie Mitarbeiterin für die regionale Zeitung La Sicilia, schrieb Kolumnen, kurze Artikel und kommunale Berichte – eine zusätzliche Einkommensquelle, für die sie dankbar war.
Carla hatte die Haustür hinter sich zugeworfen, sprang übermütig auf die Straße und wäre beinahe von einem vorbeifahrenden Motorroller erfasst worden. Erschreckt presste sie sich an die Hauswand und blickte sich um. Noch einmal gutgegangen, dachte sie – um gleich wieder übermütig auf einem Bein über die Straße zu hüpfen. Sie freute sich, mit ihrer besten Freundin Concetta den Nachmittag verbringen zu können.
Weit war es nicht bis zur Chiesa Matrice Vecchia an der Piazza Margherita. Der Weg war dem Mädchen vertraut, sie benötigte höchstens zehn Minuten zu Fuß, selbst wenn sie den einen oder anderen kleinen Umweg machte.
Carla tauchte in den engen Häuserspalt ein, dessen Gemäuer im Himmel schier zusammenzuwachsen schien, so dass sich kaum ein Sonnenstrahl auf den Bürgersteig verirrte. Sie erreichte einen Innenhof, in dem die Zeit eine jahrhundertelange Pause eingelegt hatte – in Carlas Augen ein geheimnisvoller Ort, wo Elfen und Zwerge wohnten. Der Hof war eine Oase, die jeden zum Verweilen einlud, der dieses vergessene Refugium betrat. Aber Carla hatte kein Auge für das verborgene Paradies. Sie verließ es auf der anderen Seite durch ein Steinportal und schlängelte sich an den vollbesetzten Tischen einer renommierten Osteria vorbei; sie wurde hauptsächlich von höheren Angestellten der Banca Mercantile Italiana sowie von Geschäftsleuten frequentiert.
Nach wenigen Schritten erreichte sie ein Torgewölbe aus gewaltigen Tuffsteinquadern, vor dem die Bronzebüste des großen Sohnes der Stadt auf einem Sockel stand: der Graf von Ventimiglia. Hier schwenkte Carla in die Vicolo Guarnieri ein, ein schmales Gässchen, in dem der Schuster einen Laden hatte, der diese Bezeichnung eigentlich nicht verdiente. Die Leute sagten von ihm, er sei ein merkwürdiger Kauz. Carla mochte ihn trotzdem, weil er immer so lustige Grimassen schnitt, wenn sie vorbeikam.
Castelbuonos pittoreskes Stadtbild lockte viele Tagestouristen an, die manchmal mit einem Fremdenführer in Scharen und durch die Gassen flanierten. In den Souvenirläden herrschte oft Gedränge, man bestaunte Sehenswürdigkeiten und bevölkerte Restaurants, Plätze und Cafés. In den verwinkelten Straßen pulsierte tagsüber das Leben, stapelten sich die Waren der Kaufleute bis vor die Ladentüren, trocknete unter schmalen Himmelsstreifen die Wäsche, während sich geschwätziges Weibervolk über die Köpfe der Passanten hinweg von Balkon zu Balkon das Tagesgeschehen zuschrie.
Doch jetzt, um ein Uhr mittags, lag alles Leben in kraftlosem Dämmerzustand. Nur das grelle Sirren einer Bandsäge drang aus einer Seitenstraße und vereinigte sich mit dem Stakkato eines hektischen Radiokommentators. Die mörderische Glut des Südens führte Regie.
Auch die Piazza Margherita, an deren Stirnseite die berühmte Kirche samt der sich anschließenden Kartause, der Matrice Vecchia, aufragte, wirkte wie ausgestorben; das Hauptportal des aus gebrannten Ziegeln erbauten Gotteshauses war geschlossen. Erst am späten Nachmittag würde sich die Piazzetta wieder mit Besuchern und Reisenden füllen, die alle die großartige Krypta, die mittelalterlichen Fresken und einen der berühmtesten Renaissance-Altäre bestaunen wollten. Carla beschleunigte ihre kleinen Schritte. Bestimmt wartete Pater Eusebio schon ungeduldig auf ihre Mama.
Drüben in der Bar Albanesi wummerte aus mannshohen Lautsprechern Technomusik. Gäste waren keine zu sehen. Die ausgebleichten Sonnenschirme, ehemals sattrot, waren durch Wind und Wetter zerschlissen und ausgefranst und hatten über die Jahre die Farbe von schlecht gereiften Aprikosen angenommen. Billige, vergilbte Plastikstühle vor der Tür verstärkten den trostlosen Anblick.
Die Gitterrollos der Geschäfte waren heruntergelassen, und wer konnte, hatte sich in den dämmrigen Schutz seiner Wohnung zurückgezogen, wo es kühl war. Nur zwei übermütige Jugendliche umrundeten mit ihren knatternden Mofas mehrmals die Fontana Santa Rocca, einen achteckigen Brunnen mit einem Wasserteller aus Bronze in der Mitte. Die jungen Männer lieferten sich ein Rennen und verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren, in der Häuserschlucht einer Seitengasse.
Auf der Piazza versuchte jemand vergeblich, ein lila Auto zu starten, und stieg nach einigen Fehlversuchen entnervt aus. Fluchend warf er die Wagentür zu und verschwand hinter einer Haustür. Auf der gegenüberliegenden Seite lehnte ein Mann im Schatten der Markise einer Metzgerei; er hatte grinsend die vergeblichen Bemühungen des Autobesitzers verfolgt. Der stille Beobachter hatte einen kantigen Schädel, sein kräftiger Unterkiefer erinnerte an einen Nussknacker. Kaugummikauend zückte er sein Telefonino und schoss einige Fotos von der Bar Albanesi, zog sich dann aber schnell wieder in den Schatten zurück, als wolle er nicht gesehen werden.
Über dem glühenden Asphalt der Piazza stieg flimmernd die Hitze auf. Alles Leben schien sich der sengenden Sonne Siziliens unterworfen zu haben. An diesem Ort verstand man die Sehnsucht der Menschen nach wollüstiger Trägheit, gegen die zur Mittagszeit niemand gefeit war. Nur aus dem Brunnen plätscherte ein Rinnsal in das graue Steinbecken.
Kreischende Reifen und aufheulende Motoren durchbrachen jäh die schläfrige Stille. Vor der Bar Albanesi stoppten ein roter Porsche und ein silbergrauer Maserati. Das Röhren der hochgezüchteten Sportwagen erstarb. Aus den protzigen Autos sprangen vier junge Männer. Lachend und lärmend steuerten sie auf die Spelunke zu. Sie gehörten ganz unübersehbar zur Gattung Aufschneider, so selbstgefällig und aufgeblasen, wie sie waren. Mit dem entsprechenden Habitus machten sie sich unter der schattenspendenden Markise der Cafébar breit.
Die modisch-salopp gekleideten Kerle trugen Designerhemden, verspiegelte Sonnenbrillen und teure Accessoires, die signalisieren sollten, dass Geld keine Rolle spielte. Obwohl sie mit ihrer Selbstinszenierung beschäftigt waren und dabei erregt diskutierten und ausgelassen lachten, beobachtete einer von ihnen alles, was um sie herum vorging. Ein verwahrloster Hund schleppte sich träge an dem Männerquartett vorbei, um gleich neben dem Eingang der Bar alle viere von sich zu strecken.
Der Besitzer der Bar stürzte heraus und versetzte ihm einen rohen Tritt. Die Männer lachten, als er aufjaulend davontrottete. Der Fahrer des Maserati, ein kaum dreißig Jahre alter, schlanker Typ mit verlebten Gesichtszügen, schneeweißem Seidensakko, maßgeschneiderten Hosen und dunkelbraunen Designerschuhen, rief eine Bestellung in die Cafébar und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er über die Piazza, als würde er jedem misstrauen, der in seine Nähe kam. Doch außer einem kleinen Mädchen, das gemächlich das Geviert überquerte und ganz mit sich selbst beschäftigt zu sein schien, war weit und breit niemand zu sehen.
Carla steuerte auf den Brunnen zu und hielt ihre Hände unter das plätschernde Wasser. Sie beugte sich weit über den Brunnenrand, formte ihre Hände zu einer Schale und trank einen Schluck. Vom Campanile Sant’Anna ertönte ein heller Glockenschlag. Ein Uhr. Nur noch einen Steinwurf bis zur Matrice Vecchia. Sie sollte nicht trödeln, hatte Mama ihr eingeschärft. Gerade als sie weitergehen wollte, schreckte sie ein heulendes Motorengeräusch auf.
Ein hellgrauer, völlig verbeulter Transporter mit abgedunkelten Seitenscheiben raste aus einer Seitenstraße, schlug einen großen Bogen und hielt mit atemberaubendem Tempo auf die Bar Albanesi zu. Carla blieb stehen und beobachtete mit klopfendem Herzen das schlingernde Auto, das mit kreischenden Reifen herankam. Der Fahrer vollführte eine Vollbremsung, und der Kastenwagen kam nur wenige Meter vor dem Lokal zum Stehen. Ein mattschwarzer Metallstab schob sich aus dem geöffneten Seitenfenster. Carla wunderte sich über die merkwürdige Szene, die sich da vor ihren Augen abspielte.