Iny Lorentz

Die Tatarin

Roman

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Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Iny Lorentz wurde in Köln geboren. Sie arbeitet heute als Programmiererin in einer Münchner Versicherung. Seit den frühen achtziger Jahren hat sie mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht. »Die Kastratin«, ihr erster Roman, war ein großer Erfolg, ebenso wie ihre anderen Bücher.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autorin: www.iny-lorentz.de

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

Copyright © 2005 by Knaur Taschenbuch.

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-40329-7

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Erster Teil

Die Geisel

   

1.

Die Felsgruppe stieg unvermittelt aus der endlos scheinenden Steppe empor, so als habe ein Riese sie zum Scherz dorthin geworfen. Kaum hatten die Tataren sie erblickt, spornten sie ihre erschöpften Pferde noch einmal an, um die Deckung verheißenden Steine rechtzeitig vor ihren Verfolgern zu erreichen.

Der alte Kosak, der direkt neben Sergej Wassiljewitsch Tarlow ritt, verzog sein bärtiges Gesicht zu einem breiten Lächeln. »Es läuft so, wie ich es dir heute Morgen prophezeit habe, Väterchen Hauptmann. Die Kerle gehen uns hier in die Falle!«

Sergej nickte, obwohl er immer noch an der Wirksamkeit des Manövers zweifelte. »Hoffen wir, dass Wanja und seine Leute schon dort sind, denn sonst verbarrikadieren die Aufständischen sich zwischen den Felsen, und wir haben das Nachsehen. In einer knappen Stunde geht die Sonne unter. Dann könnten sie uns im Schutz der Dunkelheit entwischen.«

»Das werden die Tataren gefälligst bleiben lassen. Schau, Väterchen, da ist das Zeichen!« Der Kosak wies auf eine Stelle in den Felsen, an der für einen Augenblick ein Arm sichtbar wurde, der einen Gegenstand schwenkte. Sergej konnte nicht genau erkennen, was es war, und vermutete, dass es sich um den Dreispitz seines Wachtmeisters handelte. Er zügelte seinen hässlichen, aber ausdauernden Braunen, dem er den Namen Moschka gegeben hatte, und befahl den Kosaken auszuschwärmen. »Passt auf, dass die Kerle nicht zwischen euch durchbrechen, wenn sie sich wie Ratten in die Ecke gedrängt fühlen!«

Die Kosaken lachten über seine Worte wie über einen guten Witz, nahmen ihre Flinten und Karabiner zur Hand und formierten sich zu einer langen Reihe, deren Enden langsam nach vorne stießen, um die Tataren bei den Felsen einzuschließen. Sie gingen so geschickt vor, dass Sergej ein weiteres Mal zufrieden nickte. Mit solchen Männern an der Seite würde er jeden Aufstand in Sibirien niederschlagen können. Sie verfolgten die letzten Rebellen, die ihre Waffen noch nicht vor den Soldaten des Zaren gestreckt hatten, und Sergej wollte dafür sorgen, dass die Kerle sich noch an diesem Tag ergeben mussten.

Während Sergej Tarlow, Hauptmann Seiner Majestät, des Zaren, das Manöver seiner Männer überwachte, blickte Möngür Khan, der Anführer der Tataren, über die Schulter zurück und stellte fest, dass ihre Verfolger zurückblieben und eine lange Reihe bildeten, mit der sie das Gelände anscheinend umschließen wollten. Er lächelte, denn die Felsgruppe war so weitläufig und zerklüftet, dass sie selbst von der doppelten Anzahl an Männern nicht wirkungsvoll überwacht werden konnte. Im Schutz der Nacht würden er und seine Leute die Waffenknechte des russischen Zaren wie lästige Fliegen abstreifen und unbehelligt in ihre Heimat zurückkehren. Er winkte seinen Leuten, ihm zu folgen, und lenkte sein Pferd zwischen zwei hohe Felsblöcke.

In dem Moment erscholl ein scharfes »Halt!«. Gleichzeitig schoben sich Dutzende von Gewehrläufen aus der Deckung und zeigten auf den Tatarenkhan und seine Männer.

Möngür riss sein Pferd so scharf zurück, dass Kitzaq, sein Schwager und Stellvertreter, gegen ihn prallte. Während der Khan noch darum kämpfte, nicht von seinem stolpernden Reittier abgeworfen zu werden, legte Kitzaq einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens und zog durch. Sofort richteten sich mehrere Läufe auf ihn.

»Lasst die Waffen fallen«, befahl jemand auf Russisch. Kitzaq übersetzte die Worte für jene Krieger, die die Sprache ihrer Feinde nicht verstanden.

Die Männer zischten leise Verwünschungen und einige schossen, da die Feinde vor ihnen in sicherer Deckung lagen, ihre Pfeile auf die Kosaken ab, die von außen einen Ring um sie zogen. Die meisten zielten auf den russischen Hauptmann, der sich mit dem Dreispitz auf dem Kopf und seinem grünen Uniformrock von seinen Soldaten abhob, die lange Kaftane mit aufgenähten Patronentaschen, weite Pluderhosen und Pelzmützen in verschiedensten Farben und Formen trugen. Noch mehr als die Kosaken verkörperte der Offizier den verlängerten Arm des verhassten russischen Zaren.

Einer der Kosaken deutete auf die vor ihnen einschlagenden Pfeile. »Ihr solltet Euch ein wenig zurückziehen, Väterchen Hauptmann, sonst treffen die Kerle Euch noch!«

Sergej schüttelte den Kopf. Er wollte diese Sache an dieser Stelle und an diesem Tag zum Abschluss bringen, um dieses gottverfluchte Sibirien endlich verlassen zu können. Im Westen des Zarenreichs drohte ein Krieg, der weitaus gefährlicher war als der Aufstand von ein paar tausend Wogulen, Ostjaken und Tataren. Sergej erinnerte sich nur mit Schaudern an die verheerende Niederlage vor sieben Jahren an der Narwa. Pjotr Alexejewitsch Romanow war es seitdem gelungen, den Schweden einen Teil Ingermanlands wieder abzunehmen, aber er hatte nur gegen kleine, verstreute Garnisonen vorgehen müssen. Das Hauptheer der Schweden befand sich in Polen und Sachsen und trieb dort die Truppen des gar nicht so starken August zu Paaren. Aber jedermann wusste, dass der König der Schweden nur darauf lauerte, nach Russland einzubrechen und seine Drohung wahr zu machen, den Zaren vom Thron zu stoßen und ihn als Mönch in ein Kloster zu sperren.

Sergej sehnte sich danach, wieder mit seinem Regiment zu reiten, anstatt sich mit Sibiriern herumschlagen zu müssen, die gehofft hatten, den Krieg im fernen Westen ausnützen zu können, um die russische Herrschaft abzuschütteln. Trotz der Bedrohung durch die Schweden an der Nordwestgrenze hatte der Zar rasch reagiert und Pawel Nikolajewitsch Gjorowzew, einen seiner besten Generäle, nach Osten geschickt, um die Aufständischen zur Räson zu bringen. Das war zum größten Teil auch gelungen, doch der General hatte das Ende der Operation nicht abgewartet, sondern führte wohl aufgrund schlechter Nachrichten den größten Teil seiner Truppen in Eilmärschen nach Westen und überließ die letzten Scharmützel drei zurückgelassenen Kompanien und den einheimischen Kosaken.

Ein dicht an seinem Kopf vorbeifliegender Pfeil machte Sergej klar, dass er auf der Stelle handeln musste, wenn ihm der Erfolg nicht wie Sand durch die Finger rinnen sollte. Er stellte sich im Sattel auf und feuerte seine Pistole ab, um die Aufmerksamkeit der Tataren auf sich zu lenken.

»Ihr sitzt in der Falle! Gebt auf, oder ihr werdet alle sterben.« Lähmende Stille antwortete ihm, und er fragte sich, ob die Aufständischen verrückt genug waren, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Wahrscheinlich aber waren sie der russischen Sprache nicht mächtig und konnten ihn daher nicht verstehen. In dem Moment, in dem er einen Kosaken zu sich rief, der für ihn übersetzen sollte, kam eine Antwort.

»Schwörst du, meinen Stamm zu schonen, wenn wir die Waffen niederlegen?« Die Frage war berechtigt, denn einige Kosakentrupps waren wie Wölfe über die wehrlosen Dörfer der Aufständischen hergefallen und hatten in ihrem Blutrausch alles niedergemetzelt, was ihnen vor die Säbel gekommen war.

Sergej war es bei all seinen bisherigen Aktionen gelungen, seine Leute im Zaum zu halten, und er wollte es auch diesmal nicht zu einem Massaker kommen lassen. »Wenn du dem Zaren Treue schwörst, den Jassak bezahlst und mir deinen ältesten Sohn als Geisel für dein weiteres Wohlverhalten auslieferst, wird deinen Leuten nichts geschehen!«

Sergejs Worte brachten Möngür Khan in arge Bedrängnis. Seine Frauen hatten ihm so viele Töchter geboren, dass er es aufgegeben hatte, sie zu zählen, aber bisher nur zwei Söhne. Bahadur, der Ältere, war vor zwei Jahren bei einer Stammesfehde ums Leben gekommen, und der Jüngere wurde gerade erst vier Jahre alt. Dieses Kind dem Feind zu übergeben, hieß, es dem Tod durch Krankheit oder mangelnde Pflege auszuliefern. Überlebte sein Sohn wider Erwarten, würde man einen Russen aus ihm machen, der Allah vergessen und vor einem goldstrotzenden Popen in die Knie sinken würde, um ihm wie ein Hund die Hand zu lecken.

Möngür wandte sich mit einer hilflosen Geste an seinen Stellvertreter. »Rate du mir, was ich tun soll!«

Kitzaq starrte zu den Kosaken hinüber, deren Läufe jeden Augenblick einen tödlichen Bleihagel speien konnten, und wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, ihr Leben und damit auch den Stamm zu retten. »Du musst auf ihre Forderung eingehen, Möngür. Allah ist gerecht, er wird Ughur beschützen oder dir einen weiteren Sohn schenken.«

»Allah hat uns auch in diesem Krieg nicht geholfen, wie sollte er es in Zukunft tun?«, antwortete Möngür hitzig und erschrak dann selbst über diese ketzerischen Worte. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass Kitzaq Recht hatte. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als den Kelch der Bitternis bis zur Neige zu leeren. Nach kurzem inneren Kampf senkte er resignierend den Kopf.

»Wir ergeben uns, Kosak!« Möngür erstickte beinahe an diesen vier Worten. Mit einem bedauernden Blick warf er seine Luntenflinte beiseite, die er von einem russischen Händler für ein Bündel Zobelfelle eingetauscht hatte, und schritt mit erhobenen Händen auf den russischen Offizier zu.

Sergej atmete auf, als die Tataren ihrem Anführer folgten. Es waren noch etwa achtzig Krieger, doch sie hatten ihm und seinen Leuten mehr Probleme bereitet als alle anderen Aufständischen zusammen. Er hatte diese Gruppe mit der vierfachen Zahl an Kosaken tagelang durch die Steppe gehetzt und sie auch nur deshalb in die Falle locken können, weil einige seiner Leute die Gegend besser kannten als die Tataren.

Mit einem leichten Triumphgefühl musterte er die vor Erschöpfung grauen Gesichter der Rebellen. Obwohl die meisten verwundet waren, trugen sie eine verbissene Wut zur Schau, letztlich durch eine List besiegt worden zu sein. Sergej fühlte sich ebenso ausgelaugt und müde wie seine Gefangenen, doch er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Militärisch straff im Sattel sitzend wies er die Kosaken an, die Tataren zu fesseln, ihnen aber vorher die Gelegenheit zu geben, ihre Wunden zu versorgen. Dann stieg er vom Pferd und nahm den Bericht seines Wachtmeisters entgegen, eines mittelgroßen, untersetzten Mannes mit struppigem Blondhaar und einem breiten, wie aus einem Holzblock gehackten Gesicht, der beinahe doppelt so alt war wie er selbst.

»Ihr hättet diese verdammten Tataren keinen Augenblick früher hierher treiben dürfen, Väterchen Hauptmann. Wir haben die Kerle schon am Horizont gesehen, als wir die Felsgruppe erreichten. Hätten sie mehr auf das geachtet, was vor ihnen lag, und weniger auf Euch, hätten sie gewiss Verdacht geschöpft«, erklärte Iwan Dobrowitsch, den alle nur Wanja nannten. Er wirkte erleichtert, weil der Plan seines Hauptmanns aufgegangen war und er einen guten Teil zum Gelingen hatte beitragen können.

Sergej klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Du und deine Leute, ihr habt eure Sache gut gemacht! Wir haben die Kerle erwischt, ohne dass es uns einen Blutstropfen gekostet hat. General Gjorowzew wird mit uns zufrieden sein.«

Wanja machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn er es je erfährt! Immerhin befindet er sich bereits auf dem Rückmarsch und wird an anderes zu denken haben als an ein paar aufmüpfige sibirische Steppenräuber. Aber Väterchen Mendartschuk, der Kommandant hier, wird gewiss nicht mit Wodka für uns sparen.« Der Wachtmeister leckte sich voller Vorfreude die Lippen und erinnerte sich daran, dass noch eine halbe Flasche Schnaps in seiner Satteltasche steckte.

»Ein Schlückchen hätte ich noch übrig, Sergej Wassiljewitsch. Wollt Ihr ihn mit mir teilen?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern lief auf die Felsen zu, hinter denen er und seine Leute ihre Pferde versteckt hatten.

Sergej dachte weniger an Wodka als an die Verhandlungen mit dem gefangenen Khan, den zwei Kosaken gerade zu ihm brachten, und versuchte, eine möglichst strenge Miene aufzusetzen. »Es war ein großer Fehler von dir, die Waffen gegen die Herrschaft des Allererlauchtigsten Zaren zu erheben. Ihr habt mit Toten und vielen Verletzten dafür bezahlt!«

Möngür betrachtete den jungen Offizier mit zusammengekniffenen Lidern. Der Russe war fast einen Kopf größer als er, wirkte aber trotz seiner breiten, von der knapp sitzenden Uniform betonten Schultern schlank und behände. Beinahe träumerisch blickten seine hellblauen Augen aus einem knabenhaft hübschen, für sein Empfinden viel zu weich geformten Gesicht auf ihn herab. Der Kerl ist nicht mehr als ein Milchbube, dachte der Khan wütend, und so einem bin ich auf den Leim gekrochen! Einem Russenknaben war es gelungen, ihn, den erfahrenen Kämpfer und Sieger vieler Stammesfehden, wie einen Anfänger in die Falle zu locken. Er konnte schon hören, wie die Häuptlinge der umliegenden Stämme über ihn spotteten, und hätte den Kerl am liebsten gepackt und ihm das Genick gebrochen. Doch ihm war klar, dass sein Stamm für jeden falschen Schritt, den er jetzt tat, würde büßen müssen, denn die Hunde des russischen Zaren kannten keine Gnade.

Alles in ihm bäumte sich dagegen auf, sich vor diesem Russen beugen zu müssen, aber er hatte keine andere Wahl, als den Kopf zu senken und eine demütige Miene aufzusetzen. »Du hast uns besiegt, großer Offizier, und nun bitte ich dich, Gnade walten zu lassen. Unsere Weiber und Kinder hungern in der Steppe, und unsere Feinde streichen um unser Ordu wie Wölfe um eine Herde Schafe. Lass uns ziehen, und wir werden deinen Namen auf ewig preisen!«

»So einfach geht das nicht! Ihr habt euch gegen den Zaren erhoben und müsst dafür bestraft werden.« Sergej musterte den Khan eingehender, denn er wunderte sich über dessen ungewöhnlich flüssiges Russisch. Die Sibirier, die er bisher kennen gelernt hatte, sprachen, wenn sie versuchten, sich in seiner Muttersprache auszudrücken, ein kaum verständliches Kauderwelsch. Dieser Tatar aber redete so, als habe er jahrelang in Moskau gelebt, obwohl das Gebiet, in dem sein Stamm lebte, nicht zum Russischen Reich gehörte. Letzteres war ein Zustand, den Sergej nun ändern wollte.

»Du hast meine Bedingungen gehört, Tatar. Du wirst Seiner Majestät, dem Zaren, Treue schwören und ihm deinen ältesten Sohn als Geisel für dein zukünftiges Wohlverhalten ausliefern!«

Möngür knurrte wie ein in die Enge getriebener Wolf. »Mein Stamm wird den Zaren als Herrn anerkennen und ihm den Jassak zahlen, aber meinen Sohn gebe ich nicht her.«

»Dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, als euch hier über den Haufen zu schießen!« Sergej streckte die rechte Hand aus. Sofort hoben seine Kosaken ihre Flinten und zielten auf die Gefangenen. Als sie die Hähne spannten, sank der Tatar in die Knie und reckte Sergej die Arme entgegen.

»Habe Mitleid, Herr! Wir wollen gewiss brave Untertanen eures Zaren sein, doch lass mir meinen Sohn. Du kannst Schafe haben und Pferde, so viele ich besitze, und dazu noch mehrere Tragtierlasten kostbarer Pelze! Ich habe sogar Gold, nämlich Münzen aus deinem Russland und aus Persien, und Goldstaub, wie er im Ob gewaschen wird. Alles ist dein, wenn du nur gnädig bist.« Möngür verachtete sich in diesem Augenblick, doch es ging um seinen einzigen Sohn, und für ihn war er bereit, jeden Preis zu zahlen.

»Wenn du Weiber haben willst, kannst du dir ein paar von meinen Töchtern nehmen. Komm mit mir, und such dir die Schönsten unter ihnen aus!« Für einen Augenblick hoffte der Khan, der Offizier würde auf dieses Angebot eingehen. Billiger konnte er nicht davonkommen, denn Töchter besaß er mehr als Pferde, und jedes Jahr kamen ein paar neue dazu.

Sergej empfand wider Erwarten Bedauern mit dem Khan, der sichtlich um seinen Sohn bangte. Doch die Befehle, die General Gjorowzew bei seinem Abmarsch hinterlassen hatte, waren unmissverständlich. »Es tut mir Leid, Tatar! Entweder lieferst du uns deinen Sohn aus, oder ihr bleibt unsere Gefangenen.«

Einige Tataren in der Nähe atmeten auf, denn das hörte sich schon besser an als die Drohung, sofort über den Haufen geschossen zu werden. Ein paar von ihnen warfen Kitzaq auffordernde Blicke zu, die der Schwager des Khans nicht ignorieren konnte.

»Du hast vorhin selber gesagt, dass unsere Weiber und Kinder derzeit schutzlos sind. Willst du für ein kleines Kind unseren ganzen Stamm ins Unglück stürzen?«

Möngür hörte das zustimmende Murmeln seiner Leute und begriff, dass sein eigenes Schicksal auf Messers Schneide stand. Wenn er seinen Sohn über das Wohl des Stammes stellte, würden die Krieger ihm die Treue versagen und Kitzaq zu ihrem neuen Anführer wählen, und da sein Schwager noch keine eigenen Söhne besaß, würde er seinen Neffen den Russen ausliefern. So oder so würde Ughur als Geisel verschleppt werden, also musste er jetzt nachgeben, wenn er Khan bleiben wollte. Er bedachte seinen Schwager mit einem mörderischen Blick und stieß die Worte aus, für die er wenige Augenblicke zuvor noch seine Zunge verschluckt hätte.

»Es sei, Russe, du erhältst meinen Sohn!«

»Gut! Du wirst jetzt einen deiner Leute bestimmen, der ihn zu mir bringt. Vier Kosaken werden den Mann unter der Führung meines Wachtmeisters begleiten. Sollte meinen Leuten das Geringste zustoßen, werdet ihr alle erschossen!«

Der Khan fuhr erschrocken auf. »Und was geschieht mit uns, während deine Männer zu unserem Ordu reiten?«

»Wir bringen euch nach Karasuk«, beschied Sergej ihm kühl. »Dort werdet ihr den Treueid auf den Zaren ablegen. Jetzt nenne mir deinen Boten!«

Der Offizier ist trotz seiner Jugend ein gerissener Bursche, dachte Möngür und musterte Sergej mit widerwilliger Anerkennung. Dann drehte er sich zu seinem Schwager um. »Reite du zum Ordu. Dir wird Zeyna am ehesten gehorchen.«

In seiner Stimme schwang Angst mit, seine Lieblingsfrau könnte sich weigern, ihren Sohn herauszugeben, aber auch heimliche Schadenfreude. Wenn Kitzaq seine Schwester dazu zwang, Ughur den Russen auszuliefern, würde Zeyna ihm dies nie verzeihen und sein Ansehen im Stamm so ruinieren, dass keine Gefahr mehr bestand, der Stamm würde ihn zum nächsten Khan wählen.

Kitzaq schüttelte es, als er den Befehl vernahm, denn er kannte seine Schwester und hätte diesen Auftrag nur allzu gerne einem anderen überlassen. Aber er war neben Möngür der Einzige, der Zeyna zum Gehorsam zwingen konnte.

Die Dämmerung warf von Osten her ihr graues Tuch über das Land, und es war zu spät, an diesem Tag noch weiterzureiten. Daher befahl Sergej seinen Männern, ein Lager aufzuschlagen und die Tataren gut zu bewachen. Nach einer ereignislosen Nacht und einem kargen Frühstück brachen zwei Gruppen auf, der Haupttrupp mit den Gefangenen Richtung Karasuk und Wachtmeister Wanja mit seinen vier Kosaken und dem Schwager des Khans nach Osten, zum Ordu der Tataren.

2.

Möngürs Dorf lag auf einer Art Hochplateau über dem hier flach abfallenden Ufer des kleinen Flusses Burla, der etliche Werst weiter in den noch recht jungen Ob mündete. Die kleinen Felder rings um die Siedlung verrieten, dass dieser Stamm nicht mehr aus reinen Weidenomaden bestand, sondern ein festes Sommerlager bezog. Darauf wies auch die mannshohe Palisade hin, die das Dorf umgab. Sie bestand aus einzeln stehenden Pfosten, die mit geflochtenen Zweigen verbunden waren, und schloss neben etlichen flachen, runden Filzjurten eine hölzerne Hütte nach russischem Vorbild ein, den Palast des Khans. Außerhalb des Schutzzauns gab es weitere Jurten verschiedener Größe. Deren Schmuck und die Tracht der Frauen, die zwischen ihnen hin- und herliefen, wiesen darauf hin, dass sie zu verschiedenen Stammesabteilungen gehörten, die sich nur wegen des Kriegszugs der Hauptgruppe angeschlossen hatten.

Wanja schätzte die Zahl der in diesem Ordu lebenden Menschen auf knapp über fünfhundert. Es waren zunächst nur Frauen, Kinder und ältere Männer zu sehen, aber als die Annäherung der kleinen Gruppe entdeckt wurde, kamen auch einige jüngere, ausnahmslos verwundete Krieger aus den Jurten, denen im Gegensatz zu Möngürs Haupttrupp die Flucht vor den Russen gelungen war.

Während Wanja auf den ihm am nächsten gelegenen Eingang des Ordu zuritt, lockerte er unwillkürlich seinen Kragen und atmete tief durch. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Situation seinen Kosaken ebenfalls nicht geheuer war. Eine Hand um die Zügel gekrallt, die andere um den Karabiner, näherten sie sich dem Zeltdorf, als wäre es ein schlafendes Ungeheuer, das jeden Augenblick erwachen und sich auf sie stürzen konnte.

Die Tataren schienen noch nichts von der Gefangennahme ihres Khans zu wissen, denn sie verhielten sich recht friedlich, und nur ihre hasserfüllten Blicke verrieten, dass sie die Kosaken nicht als Gäste, sondern als Feinde ansahen.

Wanja zügelte sein Pferd und sah Kitzaq unter hochgezogenen Augenbrauen an. »Gib bloß Acht, dass deine Leute keinen Unsinn machen!«

Möngürs Schwager nickte kurz und stellte sich im Sattel auf, damit seine Stammesfreunde ihn sehen konnten. »Ich bringe Nachricht von Möngür!«

»Was ist mit unserem Khan?«, rief einer der älteren Krieger misstrauisch.

»Wir sind in eine Falle der Russen geraten und gefangen genommen worden«, brüllte Kitzaq über das Dorf, so dass seine Stimme in jeder Jurte gehört werden konnte. Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen der Männer, und einige der jungen Krieger, die vom Schlachtfeld geflohen und ins Ordu zurückgekehrt waren, wurden mit so vorwurfsvollen Blicken bedacht, als gäbe man ihnen die Schuld an dem Unglück.

Kitzaq streckte fordernd die Hand aus. »Lasst uns jetzt ein und bringt meinen Begleitern etwas zu essen und Kumys. Ich muss mit Zeyna sprechen.«

Die Männer machten ihm widerwillig Platz, doch bevor er weiterreiten konnte, schüttelte Wanja den Kopf. »Wir fünf bleiben außerhalb des Dorfes, und euren Kumys könnt ihr ebenfalls für euch behalten. Uns reichen Fleisch und Wasser.«

Die Kosaken protestierten leise, denn sie hätten nichts gegen einen Schlauch vergorener Stutenmilch einzuwenden gehabt. Kumys war zwar kein guter russischer Wodka, aber wenn man genug davon trank, wurde einem auch davon der Kopf angenehm leicht. Wanja hatte jedoch gute Gründe, ihnen das berauschende Getränk zu verbieten. Im betrunkenen Zustand hätten die Kosaken sich ungeachtet der Krieger im Ordu an den tatarischen Frauen vergriffen, und er hatte keine Lust, wegen ein paar besoffener, geiler Kerle ins Gras zu beißen.

»Die paar Tage werdet ihr wohl noch ohne Schnaps aushalten können, ihr Narren!«, herrschte er die Kosaken an. »Wenn wir erst in Karasuk sind, könnt ihr so viel Wodka saufen und Huren stoßen, wie ihr wollt.«

Einer der Männer lachte böse auf »Dazu muss uns aber der ausstehende Sold ausgezahlt werden.«

»Ich werde mit Sergej Wassiljewitsch darüber reden«, versprach Wanja verärgert.

Der Kosak hob begütigend die Hand. »Wir haben es doch nicht böse gemeint, Väterchen. Außerdem ist dieses Tatarengesöff wirklich nicht mit unserem russischen Wässerchen zu vergleichen.« Der Mann hatte die Verteidiger wohl ebenfalls gezählt und befunden, dass ein paar Becher saurer Kumys und ein paar weiche, aber widerstrebende Frauenschenkel das Loch nicht wert waren, das einem ein Tatarensäbel in den Leib schneiden konnte.

Wanja sah, dass Kitzaq stehen geblieben war und mit seinen Stammesgenossen redete, und fuhr ihn zornig an. »Beeil dich gefälligst und hole Möngürs Sohn! Wir wollen hier nicht Wurzeln schlagen.«

Der Tatar wies auf die sinkende Sonne, die kaum eine Handbreit über dem Horizont stand. »Wir sollten hier übernachten! Oder willst du einen oder zwei Werst von hier in der Steppe lagern?«

Wanja ärgerte sich über Kitzaqs Spott und zog die Schultern hoch. Das schien der Tatar als Zustimmung zu werten, denn er rief ein greisenhaftes Weib herbei und befahl ihr, die Russen zu versorgen. Die Alte wies Wanja und seinen Leute eine Jurte außerhalb der Palisade an und brachte ihnen Wasser und etwas Ziegenbraten. Dann zog sie sich mit einer gemurmelten Verwünschung zurück.

Kitzaq war froh, die Ereignisse zuerst seinen Stammesfreunden berichten zu können, auch wenn seine Nachrichten niederschmetternd waren, denn auf diese Weise konnte er das Gespräch mit seiner Schwester noch etwas hinausschieben. Als er ihnen erklärte, dass er Ughur zu den Russen bringen müsse, hätten die Blicke, die ihn streiften, auch einem Schwerverletzten gelten können, an dessen Überleben niemand mehr glaubte, und ihre Mienen machten Kitzaq klar, dass er von den Männern keine Unterstützung zu erwarten hatte. Daher holte er tief Luft und wappnete sich innerlich für die Auseinandersetzung mit der Khanum.

Zeyna, die Lieblingsfrau Möngür Khans, empfing ihren Bruder in der Holzhütte, in der ihr Mann seine Schätze aufbewahrte. Die Einrichtung des Gebäudes hatte keine Ähnlichkeit mit der eines russischen Hauses, sondern glich der einer Jurte. In der Mitte befand sich eine mit großen Steinen gesäumte Feuerstelle, an den Wänden standen leicht zu transportierende Kästen, die mit Teppichen bedeckt waren und auch als Sitzgelegenheiten dienten, und über ihnen hingen verschiedene Waffen, zumeist Beutestücke, die der Khan in vielen Stammesfehden errungen hatte. Auf einem Wandteppich im Hintergrund, der die Bedeutung des Prunkstücks noch unterstreichen sollte, hing ein Ehrensäbel, den einer der mächtigeren Emire – Möngür behauptete, es wäre der von Karaganda – dem Khan als Geschenk hatte überreichen lassen. Nur der etwa mannslange Tisch in einer Ecke passte nicht in diese nomadische Welt. Möngür hatte ihn von dem Knecht eines russischen Händlers anfertigen lassen, um einigen besonderen Besitztümern einen herausragenden Platz zu verschaffen. Nun trug die polierte Holzplatte Trinkgefäße aus verschiedenfarbigen Gläsern, Messingplatten, die so blank geputzt waren, dass sie wie Gold glänzten, ein paar kupferne Teller und einen geschmückten Koran, der, wie eine verblasste Aufschrift behauptete, aus Mekka stammen sollte.

Mit dieser Sammlung wollte Möngür zeigen, was für ein bedeutender Mann er war, und für Zeyna bot die Häuptlingshütte nun einen Ort, an dem sie dem Unglück, das sie und den Stamm getroffen hatte, trotzen und neuen Mut schöpfen konnte. Die Khanum war eine kleine, stämmige Frau um die dreißig, die mit ihrem runden Gesicht, den vollen Lippen, der kurzen Nase und den großen, wie Jett glänzenden Augen als Schönheit galt. Dies unterstrich sie noch mit ihrer Hörnerfrisur, die nur angesehene Ehefrauen tragen durften.

Kitzaq erkannte sofort, dass die Sorge um Möngür und ihre Neugier seine Schwester innerlich fast verbrannten. Dennoch überfiel sie ihn nicht mit Fragen, sondern klatschte in die Hände und befahl einer herbeihuschenden Frau, Kumys für ihren Bruder zu bringen. Geduldig wartete sie, bis er den ersten Becher leer getrunken hatte. Dann scheuchte sie ihre Sklavin hinaus und forderte Kitzaq auf, ihr alles zu erzählen, was sich zugetragen hatte. Die schlechteste Nachricht behielt er zunächst für sich und schilderte den missglückten Kriegszug und die Gefangennahme des Khans.

Zeyna nahm die Nachrichten zunächst völlig gefasst auf, als sei sie überzeugt, dass sich noch alles zum Guten wenden werde. Als Kitzaq ihr jedoch stockend erklärte, dass ihr Sohn den Russen als Geisel ausgeliefert werden müsse, zischte sie ihn wütend an. »Nicht Ughur!«

Kitzaq presste seine Fäuste gegen die Brust. »Sei vernünftig, Schwester! Oder willst du, dass die Russen deinen Mann und all die anderen Gefangenen erschießen?«

»Die Russen sind verdammte Hunde, die Allah strafen wird!« Zeyna funkelte ihren Bruder herausfordernd an. »Schlagt den Kerlen, die mit dir gekommen sind, die Köpfe ab, und brecht dann auf, um Möngür und unsere Krieger zu befreien!«

Kitzaq musste sich ein spöttisches Auflachen verkneifen. »Wie stellst du dir das vor? Möngür wurde mit all unseren Leuten nach Karasuk gebracht, in eine Festung, die von mehr als tausend Soldaten des Russenzaren verteidigt wird. Jeder Versuch, die Stadt anzugreifen, würde in einer Katastrophe für uns enden!«

»Ich gebe Ughur nicht her!«, antwortete seine Schwester angriffslustig.

Sie würde sich weder von ihm noch von dem Mullah des Stammes etwas befehlen lassen, das war Kitzaq klar. Also musste er versuchen, ihr den Ernst der Lage klar zu machen, in die Möngür den Stamm manövriert hatte. Während er nach Argumenten rang, um seine Schwester zur Vernunft zu bringen, wanderte Zeyna mit geballten Fäusten durch den Raum. Dabei fiel ihr Blick durch das offene Fenster auf einen Reiter, der sich dem rückwärtigen Eingang des Ordu näherte. Die Khanum bedachte die Kleidung, die die Person trug, mit einem verächtlichen Blick und schürzte die Lippen. »Die Tochter der Russin will sich schon wieder interessant machen!«

Sie wandte sich ab und wollte wohl noch etwas sagen, zuckte dann aber zusammen, trat dichter ans Fenster und blieb stocksteif stehen, bis das junge Mädchen ihr Pferd zügelte und abstieg. Dann klatschte sie mit der Faust in die offene Hand und rief ihre Sklavin herbei.

»Bischla, bringe Schirin auf der Stelle zu mir, sorge aber dafür, dass keiner dieser von Allah verfluchten Russen sie zu sehen bekommt.«

Die Dienerin nickte und verschwand, Kitzaq aber musterte seine Schwester misstrauisch. »Was hast du vor, Zeyna?«

»Ich werde den Russen die Geisel verschaffen, die sie verdienen.«

Kitzaq fuhr auf. »Doch nicht Schirin! Bist du wahnsinnig geworden?«

Zeyna warf lachend den Kopf in den Nacken. »Ganz und gar nicht! Wie du weißt, ist gegen diese ungläubigen Hunde jede List erlaubt. Hauptsache, Möngür und unsere Leute kommen frei.«

»Aber was ist, wenn die Russen Schirins wahres Geschlecht entdecken?«

»Sie wird sich wohl kaum am ersten Tag nackt vor ihnen ausziehen!«, spottete seine Schwester. »Was später mit ihr geschieht, braucht uns nicht zu berühren.«

»Es wird uns aber berühren, wenn die Russen ihren Zorn über diese Täuschung an unserem Stamm auslassen.« Kitzaq hätte seine Schwester am liebsten gepackt und so lange geschüttelt, bis diese ihren verrückten Plan aufgab.

»Bei den Russen gibt es eine Redensart: Der Himmel ist hoch und der Zar weit. Daher bin ich sicher, dass nichts geschehen wird. Und selbst wenn, ist Möngür wieder bei uns, und er wird wissen, was zu tun ist.« Zeyna streifte ihren Bruder mit einem Blick, der ihm zeigte, dass sie ihn für einen Feigling und Versager hielt. Kitzaq knirschte mit den Zähnen und wollte eben sagen, was er von ihr hielt, als die Tür der Hütte geöffnet wurde und Schirin eintrat.

Das Mädchen trug kurze, spitz zulaufende Stiefel, weite Hosen und einen bis zu den Waden reichenden Kaftan, der ihre Figur verbarg. Mit dem festen, aber wohlgeformten Mund, der leicht gebogenen Nase und den hellen, graugrünen Augen, in denen goldene Punkte wie kleine Sterne blitzten, hätte sie durchaus als hübscher, wenn auch in Tatarenaugen etwas fremdartig wirkender Jüngling gelten können, wären da nicht die bis zu den Hüften fallenden Zöpfe gewesen, deren Farbe an Herbstblätter erinnerte. Auf der von einem Handschuh geschützten Rechten trug Schirin einen Falken und in der Linken mehrere von ihr gebeizte Rebhühner. Sie wirkte ein wenig befremdet, denn die Lieblingsfrau ihres Vaters pflegte sonst keine Kenntnis von ihr zu nehmen.

Zeyna musterte das Mädchen, das sie um mehr als Haupteslänge überragte, mit jenem Blick, mit dem der Mullah das Schaf zu prüfen pflegte, das zum Opferfest geschlachtet werden soll. Dann packte sie den Kaftan über der Brust des Mädchens und zog ihn stramm. »Sie ist genau die Richtige für unseren Plan! Dort, wo ein Weib weich und füllig sein sollte, ist sie so flach wie die Steppe, und ihre Größe wird die Russen zusätzlich täuschen.«

Kitzaq stieß ein Brummen aus, das genauso gut Zustimmung wie Ablehnung bedeuten konnte; Zeyna interessiert sich jedoch nicht für seine Meinung, sondern blickte an dem Mädchen hoch. »Dein Vater, der Khan, ist von den russischen Hunden besiegt und gefangen genommen worden, und sie wollen ihn nur dann freilassen, wenn er ihnen seinen Sohn als Geisel übergibt. Ughur ist jedoch zu klein für eine Reise nach Westen, und andere Söhne gibt es nicht. Daher hat Möngür bestimmt, dass du als Jüngling verkleidet mit den Russen gehen wirst.«

Kitzaq spürte eine widerwillige Bewunderung für seine Schwester. Da Zeyna es so hinstellte, als stamme ihr Plan von Möngür selbst, konnte Schirin sich diesem Befehl nicht verweigern. Es war gewiss kein schlechter Gedanke, sie den Russen als Geisel unterzuschieben, den sie war größer als die meisten Männer des Stammes und so schlank, dass man sie in der richtigen Kleidung leicht für einen Jüngling halten konnte.

Während Kitzaq sich mit dem Plan seiner Schwester anzufreunden begann, versuchte Schirin, ihre wirbelnden Gedanken zu ordnen. Bisher hatte ihr Vater sich so gut wie nie für sie interessiert, aber das war ein Schicksal, das sie mit den meisten ihrer Schwestern teilte. Während die schwatzhaften Dinger sich mit ihrem Leben zufrieden gaben, hatte sie sich oft gewünscht, ein Knabe zu sein, um wenigstens einen Teil der Zuneigung zu erfahren, die Möngür Ughur und früher auch Bahadur hatte zukommen lassen. Natürlich hatte sie Angst davor, in die Gewalt der russischen Barbaren zu geraten, von denen sie Dinge gehört hatte, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, aber es erfüllte sie auch mit Stolz, ihrem Vater und dem Stamm einen wichtigen Dienst erweisen zu dürfen. Vielleicht würde man, wenn sie wieder nach Hause zurückkehrte, vergessen haben, dass sie die Tochter einer verhassten Russin war, und sie mehr achten als bisher.

Für einen Augenblick glitten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter, die sie im Alter von zwölf Jahren verloren hatte. Möngür hatte die nicht mehr ganz junge Frau gekauft, um von ihr Russisch zu lernen, damit die Händler ihn nicht mehr so leicht übervorteilen konnten. Irgendwann hatte er auch sie in seine Jurte geholt und dabei eine weitere Tochter gezeugt. Obwohl ihre Mutter sich bis zuletzt vor den Tataren geekelt hatte, war sie sehr liebevoll zu ihr gewesen und hatte alles getan, um eine kleine Russin aus ihr zu machen. Sie hatte ihr heimlich den russischen Namen Tatjana gegeben, ihr Lesen und Schreiben beigebracht und ihr von den wundersamen heiligen Männern und Frauen erzählt, zu denen die Menschen ihrer Heimat beteten.

Die Geschichten von den vielen Heiligen hatte Schirin nicht so ganz verstanden, denn schließlich gab es nur Allah, der die Welt geschaffen hatte, und allein die Gebete, die ihm galten, konnten etwas bewirken, und so hatte sie sich seit dem Tod der Mutter ganz von dem Aberglauben abgewandt, den die Stammesältesten als Gräuel bezeichneten. Nun grauste es ihr bei dem Gedanken, dass man sie in der Gefangenschaft zwingen würde, zu den drei christlichen Göttern und deren nicht mehr zu zählenden Schar von angeblich wundertätigen Gefolgsleuten zu beten, denn dann würde sie vor Allahs Antlitz verflucht sein.

Zeyna ärgerte sich über Schirins Schweigen und schüttelte sie heftig. »Hast du mich verstanden? Du wirst den Russen als Möngürs ältester Sohn ausgeliefert, um deinen Vater zu retten. Um Allahs Willen darfst du dich aber niemals als Mädchen zu erkennen geben, denn dann würden die Kosaken wie wilde Tiere über dich herfallen, dich vergewaltigen und dir anschließend die Kehle durchschneiden.«

Die Khanum hörte sich so an, als würde sie Schirin genau dieses Schicksal vergönnen, aber ihre Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Schirin wurde klar, dass sie, solange die Russen sie festhielten, jeden Tag und jede Stunde in höchster Gefahr schweben würde. Das machte ihr Angst, und sie hätte Zeyna am liebsten gebeten, jemand anderen an ihrer Stelle zu schicken, einen jungen Mann, der sich als Möngürs Sohn ausgab. Aber die Augen der Khanum verrieten ihr, dass ihre Bitte vergebens sein würde. Krieger waren wertvoll, und ihr Vater hatte entschieden, dass sie für den Stamm am entbehrlichsten war. Der Gedanke tat ihr weh, dennoch nahm sie sich vor, alles zu tun, um Möngür Khan nicht zu enttäuschen.

»Ich bin bereit, den Russen zu trotzen!«

Schirins Opferbereitschaft ist ebenso groß wie ihr Mut, fuhr es Kitzaq durch den Kopf, und er schämte sich ein wenig des falschen Spiels, das seine Schwester mit dem Mädchen trieb. Doch wenn es half, seinen Schwager und die gefangenen Krieger den Russen zu entreißen, mochte das Opfer sich lohnen.

Er trat auf das Mädchen zu und strich ihr über das Haar. »Vergiss nie, du tust es für unseren Stamm. Bleibe standhaft, und vertraue auf Allah!«

Seine Schwester gab ihm einen Wink. »Geh jetzt, Kitzaq, und schicke mir die anderen Weiber. Wir müssen Schirin auf ihre Aufgabe vorbereiten, und da gibt es noch viel zu tun. Sage den russischen Hunden, die dich begleitet haben, dass der Sohn des Khans ihnen morgen bei Sonnenaufgang übergeben wird.«

Bevor Kitzaq die Hütte verließ, drehte er sich noch einmal um. »Welchen Namen soll ich ihnen nennen, wenn sie mich fragen?«

Zeyna dachte an Bahadur, der der Sohn einer anderen Frau gewesen war und dessen Tod ihren Sohn zum Erstgeborenen und sie selbst zur Khanum gemacht hatte. Nun würde sie ihn zu ihrem Nutzen wieder auferstehen lassen, dachte sie und lächelte sehr zufrieden. »Sage ihnen, es handele sich um Möngürs ältesten Sohn Bahadur.«

3.

Wanja und seine Kosaken hatten die Nacht über in der ihnen zugewiesenen Jurte verbracht und abwechselnd Wache gehalten, denn sie trauten den Tataren nicht. Abgesehen von den Hunden, die von Zeit zu Zeit durch eine Witterung oder ein Geräusch erregt anschlugen, war jedoch alles ruhig geblieben. Bei Anbruch der Dämmerung brachte ihnen die alte Frau, die sie schon am Abend zuvor bewirtet hatte, zum Frühstück einen Eintopf mit fettem Hammelfleisch und mehrere Fladenbrote. Die Kost stieß Wanja ab, aber seine Begleiter griffen wacker zu.

Der Wachtmeister spie einen besonders zähen Fleischbrocken gegen die Jurtenwand und sah seine Leute kopfschüttelnd an. In seinen Augen waren diese Kosaken keine richtigen Russen, sondern halbe Asiaten, aber vielleicht gerade deswegen die Männer, mit denen Väterchen Zar die barbarischen Provinzen im Osten unter Kontrolle halten konnte.

Nachdem die alte Frau die Näpfe und Schüsseln wieder abgeholt hatte, brachten die Tataren den Sohn des Khans. Wanja quollen fast die Augen aus dem Kopf, als er den schmucken Jüngling vor sich sah, der mit seinen hellen Augen, den dunkelblonden Haaren und der ovalen Gesichtsform mehr einem Europäer als einem Tataren glich. Seine Mutter musste eine jener Frauen gewesen sein, die die Tataren bei Überfällen auf russische Siedlungen als Beute mitzunehmen pflegten, aber seiner Erscheinung nach war er ganz offensichtlich der erklärte Liebling des Khans, denn er glich mehr einem Fürsten als einem der Steppenräuber seines Stamms. Wanja ahnte nicht, dass er einer List Zeynas zum Opfer fiel, die Schirin so prachtvoll ausgestattet hatte, um jedermann zu blenden. Zusammen mit Möngürs anderen Frauen und deren Töchtern hatte die Khanum bis in den frühen Morgen hinein genäht und gestickt und dabei die Truhen des Khans geplündert.

Schirin trug weiche, blaue Ziegenlederstiefel und eine weite Hose aus roter Seide. Ihr Hemd war ebenfalls aus Seide, aber von einem Farbton, der an die Farbe der Sonne kurz vor ihrem Untergang erinnerte. Darüber hatte man ihr einen blauen Kaftan aus Damast angezogen, und gegen die Morgenkühle schützte sie ein fester, mit Zobelfellen besetzter Mantel, dessen Leder beinahe wie matter chinesischer Lack wirkte und den Regen abperlen ließ wie von einer zweiten Haut. Auf ihrem Kopf saß eine keck ins Genick geschobene Mütze aus Zobelfell, und in ihrem mit Topasen und Tigeraugen verzierten Gürtel stak rechts ein gerader Dolch mit silbernem Knauf, während links Möngürs geliebter Ehrensäbel hing.

Einer der Kosaken stieß Wanja grinsend an. »Wenn du diesen prächtigen Hahn vor den Zaren bringst, hält er ihn für einen großen Fürsten und belohnt dich königlich.«

Wanja nickte beeindruckt und salutierte unwillkürlich, als er auf Schirin zutrat. »Wachtmeister Iwan Dobrowitsch, Euer Gnaden. Ich bin der Anführer Eurer Eskorte.« Das Nicken des jungen Mannes verriet Wanja, dass Bahadur seine Sprache verstand. Das erleichterte ihm seine Aufgabe, denn er verließ sich nur ungern auf die oft phantasievollen Übersetzungen der Kosaken.

Für Schirin war Wanja der erste männliche Russe, den sie zu Gesicht bekam, denn die Händler, die den Stamm aufsuchten, waren mischblütig oder asiatischer Herkunft. Er war noch ein Stück größer als sie und mindestens dreimal so breit und hatte ein grobes, kantiges Gesicht mit einer Knollennase und kleinen, fast farblosen Augen. Am meisten wunderte sie sich über seine Kleidung, die sich von jener der ihn begleitenden Kosaken stark unterschied. Anstelle eines Kaftans trug er einen eng anliegenden, grünen Rock mit zwei Knopfreihen, von denen die eine anscheinend nur zur Zierde angebracht worden war, und hautenge, graue Hosen, deren Beinlinge in unbequem aussehenden, kniehohen Stiefeln steckten. Auf dem Kopf balancierte er ein seltsames Gebilde, das an ein Dreieck gemahnte und so aussah, als könne der nächste Windstoß es fortblasen. Bewaffnet war er mit einem langen Säbel, der in einer einfachen Lederscheide steckte, und einer Pistole, für die ihm jeder Krieger ihres Stammes drei Bündel Zobelfelle bezahlt hätte – ohne Pulver und Blei, die man ebenfalls noch benötigte.

Während Schirin Wanja musterte, führte einer der Tataren das für sie bestimmte Pferd heran. Es handelte sich nicht um einen der kleinen, wenn auch ausdauernden Steppengäule, sondern um einen großrahmigen, langgliedrigen Hengst mit einem edel geformten Kopf und einem Fell, das in der Morgensonne wie Gold schimmerte. Solche Pferde wurden von den Bergstämmen des Kaukasus gezüchtet und liefen mit dem Wind um die Wette. Nur die reichsten Herren konnten sich so ein Tier leisten. Wanjas Achtung vor dem Sohn des Khans stieg noch mehr, und er verneigte sich vor ihm.

»Wenn es Euch genehm ist, würde ich gerne aufbrechen, Euer Gnaden!«

Da der hochmütige Bursche ihn auch diesmal keiner Antwort würdigte, wandte er sich verärgert an Kitzaq, der sie nach Karasuk begleiten würde. »Wir müssen weiter!«

Bevor Kitzaq Schirin auffordern konnte, in den Sattel zu steigen, saß sie bereits auf dem Pferd. Der Hengst stampfte nervös, und obwohl sie wie die meisten Frauen des Stammes eine recht gute Reiterin war, bereitete es ihr Mühe, ihn unter Kontrolle zu halten. Noch während sie mit Goldfell kämpfte, brachten die Tataren ein weiteres Pferd mit einem gut gefüllten Packsattel heran, der die Ersatzkleidung und all jene Dinge enthielt, mit denen Zeyna die Täuschung perfekt abrunden wollte.

Wanja stieg nun ebenfalls auf seinen Braunen und winkte Bahadur an seine Seite. Da die Kosaken ihrem Wachtmeister folgten, ohne sich um das Packpferd zu kümmern, blieb Kitzaq nichts anderes übrig, als die Zügel des Tieres selbst in die Hand zu nehmen. Diese Aufgabe wurde normalerweise den jüngsten Kriegern übertragen, und er wollte Schirin schon zurechtweisen. Doch als er sich ihr zuwandte und sah, wie sie hoch aufgerichtet und mit abweisend stolzer Miene im Sattel saß, war es ihm, als hätte ein Dschinn sie tatsächlich in einen Jüngling verwandelt.

Kitzaq versuchte, die abergläubische Furcht abzuschütteln, die ihn gepackt hatte, indem er sich daran erinnerte, wie oft das Mädchen schon als Kind versucht hatte, es gleichaltrigen und sogar einigen älteren Knaben gleichzutun. Damals hatte der ganze Stamm über die verrückte Tochter der Russin gespottet, doch ihm war nun nicht mehr zum Lachen zumute. Zum Glück war Schirin eine passable Schützin mit Pfeil und Bogen, und da einige der Jungen ihr erlaubt hatten, mit ihnen zu üben, vermochte sie den Säbel so gut zu führen, dass sie sich nicht sofort durch Ungeschicklichkeit verraten würde. Zeyna hat das Richtige getan, dachte er beeindruckt. Schirin gab eine prächtige Geisel ab, und ihr Weggang war kein Verlust für den Stamm, denn sie war eine Unruhestifterin gewesen, die immer wieder versucht hatte, gegen die Regeln anzukämpfen, die Frauen naturgemäß einschränkten.

Schirin war nicht so wohl zumute wie Kitzaq. Als das Ordu hinter ihnen zurückblieb, musste sie an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Da sie einen Mann darstellen sollte, ließ sie ihr Gesicht zu einer Maske erstarren und richtete den Blick nach vorne, um beim Anblick des Dorfes nicht doch die Beherrschung zu verlieren. Im Gegensatz zu ihr drehten die Russen sich immer wieder um, als befürchteten sie einen Hinterhalt, doch Stunde um Stunde verging, ohne dass etwas geschah. Allmählich löste sich die Anspannung, und die Kosaken begannen, über die dummen Tataren zu spotten, die sie jederzeit wie blökende Hammel zu Paaren treiben konnten. Schließlich packte einen von ihnen der Übermut, und er zog Schirins Hengst seine Reitpeitsche über die Kruppe.

Das Tier wieherte erschrocken auf, sprang mit allen vieren in die Luft und schleuderte seine Reiterin beinahe aus dem Sattel. Schirin konnte sich nur mit Mühe auf ihrem Pferd halten und benötigte alle Kraft, um es zu bändigen. Zu allem Überfluss überschüttete der Kosak sie mit Hohn und Spott. Ohne nachzudenken griff sie zum Säbelknauf, um den unverschämten Burschen zu bestrafen.

Zu ihrem Glück fuhr Wanja dazwischen und drohte dem Soldaten mit der Faust. »Verdammter Hund! Wenn der Geisel etwas zustößt, wird Sergej Wassiljewitsch dir die Eingeweide aus dem Leib peitschen lassen.« Die Drohung verfing, denn das Grinsen des Kosaken wich nackter Angst, und er zügelte sein Pferd, um sich erst ganz am Schluss wieder in die Gruppe einzureihen.