Iny Lorentz

Die Ketzerbraut

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman »Die Kastratin« die Leser auf Anhieb begeisterte. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Bei Knaur bisher erschienen: »Die Goldhändlerin«, »Die Wanderhure«, »Die Kastellanin«, »Das Vermächtnis der Wanderhure«, »Die Pilgerin«, »Die Tatarin«, »Die Löwin« sowie »Die Feuerbraut«, »Die Tochter der Wanderhure«, »Die Rose von Asturien« und »Dezembersturm«.

Impressum

© 2010 der eBook-Ausgabe
Knaur eBook

© 2010 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Portrait of a Lady (oil on canvas), Lely,
Sir Peter (1618-80) / Private Collection / © Philip Mould Ltd, London /
The Bridgeman Art Library © Philip Mould Ltd, London

Karte: Computerkartographie Carrle

ISBN 978-3-426-40422-5

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

Erster Teil

Brautfahrt in den Tod

1.

Veva hörte ihren Bruder lachen und schob den Vorhang der Reisesänfte beiseite, um den Grund seiner Heiterkeit zu erfahren. In diesem Augenblick ritt Bartholomäus, den alle nur Bartl nannten, um ihn von seinem Vater zu unterscheiden, in flottem Trab an ihr vorbei. Von den Hufen seines Wallachs stob Schlamm auf, und ehe Veva sich versah, hing ihr ein Batzen Dreck im Gesicht.

»Kannst du nicht aufpassen!«, schalt sie empört.

Ihr Bruder lachte schallend und setzte sich ohne ein Wort der Entschuldigung an die Spitze des kleinen Reisezugs, den er kurz verlassen hatte, um mit einer Hirtin zu schäkern.

Während sich Veva mit ihrem Unterkleid das Gesicht reinigte, bedachte sie Bartl mit ein paar bissigen Worten. Zwar war ihr Bruder nur eine Stunde jünger als sie, doch manchmal schien es ihr, als läge ein ganzes Jahrzehnt zwischen ihnen. Nichts nahm er ernst, kein Scherz war ihm zu deftig. Auch trieb er sich trotz der dreiundzwanzig Jahre, die sie beide zählten, lieber mit seinen Freunden in Schenken herum, anstatt den Vater in seinen Geschäften zu unterstützen.

Natürlich liebte Veva ihn dennoch über alles und hatte ihm stets geholfen, die Folgen seiner Streiche zu mildern. So hatte sie anstelle ihres Bruders dem Vater die Bücher geführt und die Briefe nach dessen Diktat geschrieben, wenn seine von der Gicht geplagten Finger nicht mehr in der Lage waren, die Feder zu halten. In Zukunft aber würde Bartl endlich Verantwortung übernehmen und dem Vater zur Hand gehen müssen.

Nicht zum ersten Mal auf dieser Reise fragte sie sich, ob ihr Vater sich nur deswegen so rasch entschlossen hatte, sie zu verheiraten, damit Bartl sich endlich seiner Pflichten entsann. Vielleicht war ihre Ehe auch schon länger geplant gewesen und nur wegen des Todes ihrer Mutter verschoben worden. Alt genug zum Heiraten war sie ja. Die meisten ihrer Freundinnen hatten schon ein oder zwei Kinder geboren, und sie selbst wäre durchaus bereit gewesen, einem Mann in dessen Haus zu folgen. Aber es wäre ihr wichtig gewesen, sich ein paar Monate oder zumindest einige Wochen auf die Hochzeit vorbereiten zu können. So aber war sie von den Plänen ihres Vaters schier überrollt worden.

Sie wusste nicht genau, wie weit Innsbruck von ihrer Heimatstadt München entfernt lag, aber je länger die Reise dauerte, umso stärker wurde das Gefühl, in die Verbannung geschickt zu werden. Dabei hatte sie sich ein Zuhause gewünscht, von dem aus sie ihre Familie jederzeit hätte besuchen können. Auch gefiel ihr nicht, dass sie Friedrich Antscheller, ihren Bräutigam, nur ein Mal als Gast in ihrem Vaterhaus gesehen hatte. Und an jenem Tag hatte sie nicht einmal geahnt, dass sie diesen Mann demnächst heiraten sollte. Doch selbst wenn ihr Vater es ihr mitgeteilt hätte, wäre es ihr in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen, sich ein Bild von seinem Charakter zu machen. Nun würde sie den Rest ihres Lebens mit jemandem zusammenleben müssen, der ihr völlig fremd war.

»Jetzt fang nicht an zu weinen! Schließlich bist du eine erwachsene Frau und kein Mädchen von zwölf Jahren, das den Schürzenzipfel der Mutter nicht loslassen will. Außerdem ist Friedrich Antscheller ein gutaussehender, strebsamer junger Mann«, schalt Veva sich und blickte wieder nach vorne zu ihrem Zwillingsbruder, der ein munteres Liedchen trällerte.

Obwohl ein kühler Wind von den Bergen herabpfiff, trug Bartl nur sein neues rotes Wams und enge Hosen, die sich wie eine zweite Haut um die Schenkel schmiegten. Nicht zuletzt dieser Kleidung wegen hatte der Vater ihn beim Aufbruch einen Fant geheißen, der unbedingt die Edelleute nachäffen müsse.

Auf Vevas Stirn erschienen winzige Falten, als sie an den letzten Streit zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder dachte. Die Auseinandersetzung kurz vor dem Antritt der Reise war kein gutes Omen für die Zukunft, in der die beiden ohne sie würden auskommen müssen.

Veva schüttelte sich und versuchte, die trübsinnigen Gedanken wegzuschieben. Schließlich wollte sie den Tag genießen, so gut es auf so einer Fahrt möglich war. Es war zwar nicht warm, aber sonnig, und es sah auch nicht so aus, als würde es wieder so stark regnen wie in der gesamten letzten Woche.

Eben ritt Bartl unter einem Baum hindurch, hieb aus Spaß mit seiner Reitgerte gegen das Geäst und trennte mehrere Buchenblätter von den Zweigen. Während die meisten zu Boden segelten, blieb ein Blatt an seiner Mütze haften wie eine Feder. Jetzt musste Veva doch lächeln. »Wird es dir nicht doch ein wenig kalt, Bruderherz? Dein Wams ist dünn, und bei deinen Hosen hat man arg mit der Wolle gespart«, spöttelte sie.

Bartl sah sich zu ihr um und lachte so, dass sie die ebenmäßigen weißen Zähne sehen konnte. Er war ein schmucker Bursche, das musste sie zugeben. Etliche jüngere Mädchen aus ihrer Bekanntschaft schwärmten für ihn und hatten ihr bereits verraten, wie sehr sie sich freuen würden, ihre Schwägerin zu werden. Bei dem Gedanken erinnerte sie sich wieder an Friedrich Antscheller, und sie fragte sich, ob er ebenfalls Schwestern oder Brüder hatte. Es ärgerte sie, dass der Vater ihr kaum etwas über die Familie ihres Zukünftigen erzählt hatte. Für ihn war nur wichtig gewesen, dass Friedrich der Sohn eines langjährigen Geschäftsfreunds und Handelspartners war.

Unterdessen begann Bartl sich an der Spitze des Zuges zu langweilen. Er lenkte seinen Wallach etwas zur Seite und wartete, bis die Maultiere, die Vevas Sänfte trugen, zu ihm aufgeschlossen hatten. Ihm entging, dass die Knechte, die die Tiere gemütlich bergan führten, sich ebenso über sein Ungestüm amüsierten wie die sechs bewaffneten Männer, welche den Reisezug beschützen sollten.

Lachend blickte Bartl auf Veva hinab. »Gefällt dir die Reise?«

»Sie ist mir ehrlich gesagt viel zu lang, und es macht mich traurig, so weit weg von zu Hause leben zu müssen«, antwortete sie beklommen.

»Bis Innsbruck sind es schon ein paar Tagesreisen«, gab Bartl zu. »Aber ich werde dich besuchen, so oft ich kann, und dein Zukünftiger wird sicher nichts dagegen haben, wenn du ein- oder zweimal im Jahr nach München kommst. Er scheint mir ein verständiger Mann zu sein.«

… und ein langweiliger Tropf, setzte Bartl in Gedanken hinzu. Das war in einer Ehe mit seiner Schwester jedoch kein Fehler. Nicht, dass er Veva langweilig genannt hätte. Aber sie hatte ihre eigenen Ansichten, was das Betragen eines Mannes betraf, und da passte Friedrich Antscheller besser zu ihr als zum Beispiel sein Freund Ernst Rickinger, der gleich ihm lieber den eigenen Vater arbeiten ließ und selbst das Leben genoss.

Auch Bartl hätte es vorgezogen, die Schwester in der Nähe zu wissen. Doch der Vater hatte bestimmt, dass sie nach Innsbruck verheiratet wurde, und seinem Wort mussten sie sich fügen.

»Es ist ein schöner Ritt«, sagte er, um das erschlaffende Gespräch wieder zu beleben.

»Wir sind jetzt schon vier Tage von zu Hause weg und werden noch ein paar Tage unterwegs sein, bis wir Innsbruck erreichen. Wenn du mich fragst, finde ich das Reisen äußerst unbequem. Die Sänfte ist so eng, dass ich mich nicht recken oder ausstrecken kann. Außerdem wird mir von diesem ständigen Schwanken schlecht.« Veva hatte bisher noch nie eine Pferdesänfte benutzt, denn weiter als bis Andechs war sie nicht gekommen. Die Wallfahrt zum dortigen Kloster dauerte nur einen Tag und ließ sich leicht zu Fuß bewältigen, während ihr die Reise nach Innsbruck immer unheimlicher wurde.

Veva bedachte die Berge, die sich um sie herum auftürmten, mit einem scheelen Blick. Auf sie wirkte das Gebirge wie ein himmelhoher, unüberwindlicher Wall aus Felsen und Eis. Aber es musste Stellen geben, an denen man diese natürlichen Mauern passieren konnte. Ihr grauste es jedoch bei dem Gedanken, sich den steil aufragenden Gipfeln nähern zu müssen.

»Wir würden Innsbruck weitaus schneller erreichen, wenn du nicht mit der Sänfte reisen, sondern reiten würdest!«, erklärte Bartl ihr.

Diesen Einwurf empfand Veva als ungerecht. Ihr Bruder wusste doch selbst, dass sie nicht reiten konnte. Das taten nur Damen von Stand, und auch die setzten sich lediglich bei kleineren Ausritten und natürlich auf der Jagd in den Sattel. Aber eine Dame, die auf sich hielt, benutzte einen Reisewagen oder eben eine Sänfte ähnlich jener, in der sie selbst reiste.

Bevor ihr eine passende Antwort einfiel, hörte sie den Anführer ihrer bewaffneten Eskorte rufen. »Junger Herr! Da kommt ein Mann auf uns zu und winkt, wir sollen stehen bleiben.«

Bartl warf seiner Schwester noch einen spöttischen Blick zu und lenkte sein Pferd wieder an die Spitze des Zuges, der gerade eine Stelle passierte, an der ein schmaler Pfad vom Hauptweg abzweigte. Aus der Richtung, in die sie reiten wollten, eilte ihnen ein Mann entgegen und fuchtelte mit den Armen. Der Fremde trug einen erdbraunen Kittel mit Schulterkragen und Gugel, lange Wollhosen, lederne Gamaschen und feste Schuhe. An seiner Seite hing ein langer Hirschfänger, und als er näher kam, sah man, dass noch ein Dolch in seinem Gürtel steckte.

Neugierig beugte Veva sich aus ihrer Sänfte und musterte den Fremden. Der Mann machte keinen guten Eindruck auf sie, und sie hätte ihren Bruder am liebsten gebeten weiterzureiten. Doch Bartl zügelte sein Pferd und befahl auch den Knechten anzuhalten.

»Was gibt es, guter Mann?«, fragte er.

Der Fremde blieb vor ihm stehen und sah mit schräg gelegtem Kopf zu ihm auf. »Hier kommt Ihr nicht durch, denn weiter oben wird die Straße durch einen Erdrutsch blockiert. Aber ich kenne einen anderen Weg, auf dem Ihr diese Stelle umgehen könnt. Wenn Ihr mir folgen wollt …« Er machte eine einladende Handbewegung in Richtung des abzweigenden Pfades.

»Danke, guter Mann! Das ist rechter Rat zur rechten Zeit.« Bartl beugte sich vom Pferd, um dem Fremden auf die Schulter zu klopfen, und lenkte sein Pferd auf den schmäleren Weg.

Der Anführer der Eskorte versuchte, ihn aufzuhalten. »Sollten wir nicht besser nachschauen, ob das, was der Kerl da behauptet, auch stimmt?«

»Willst du mich der Lüge zeihen?«, fuhr der Fremde auf und griff zu seinem Hirschfänger.

»Natürlich nicht«, erklärte Bartl. »Aber wenn wir jetzt weiterreiten und dann umkehren müssen, erreichen wir die nächste Herberge nicht mehr, und ich will meiner Schwester nicht zumuten, die Nacht mitten in der Wildnis zu verbringen.«

»Auf diesem Weg gibt es ein Stück weiter oben eine ordentliche Herberge, in der sogar Herrschaften einkehren«, versicherte der Fremde. »Wenn Ihr mich für meinen Rat belohnen wollt, könnt Ihr mir dort die Unterkunft, ein Stück Braten und einen oder zwei Becher Wein bezahlen.«

»Das tu ich gerne«, versprach Bartl.

Damit war die Entscheidung getroffen. Die sechs Bewaffneten und die vier Knechte, die zu dem Reisezug gehörten, bogen ohne weiteren Widerspruch in den ihnen gewiesenen Pfad ein. Veva jedoch wurde das Gefühl nicht los, der Fremde mache sich über Bartl lustig. Sie fasste sich ein Herz und bat ihren Bruder, lieber die breitere Straße zu nehmen.

Doch Bartl lachte sie aus und nannte sie ein dummes kleines Mädchen.

2.

Nach kurzer Zeit wurde der Weg so schmal, dass die beiden Karren, die mit Vevas persönlichem Besitz beladen waren, nur noch mit Mühe vorwärtskamen. Die Maultiere gerieten auf dem Anstieg in Schweiß und begannen vor Erschöpfung zu zittern. Daher gab Bartl den Knechten den Befehl, die Wagen an den steilsten Stellen zu schieben.

Als die Felsblöcke noch enger zusammenrückten, maß Bartl ihren selbsternannten Führer mit einem zornigen Blick. »Sagtest du nicht, dieser Weg wäre gut zu befahren? Er ist kaum mehr als ein Ziegenpfad!«

»Weiter vorne wird es besser«, erklärte der Mann. »Das hier ist noch die bayrische Seite. Bald erreichen wir Klosterland, und dort achten die Mönche besser auf ihre Straßen als die Amtsleute des Herzogs.«

»Wollen wir’s hoffen«, brummte Bartl, drehte sich um und warf einen Blick auf die Sänfte seiner Schwester.

Gerne hätte er ihr diesen beschwerlichen Weg erspart. Es war ohnehin nicht leicht für sie, die Heimat zu verlassen, um in Innsbruck einen ihr fast unbekannten Mann zu heiraten. Er selbst hielt Friedrich Antscheller für einen argen Tropf und gewiss nicht für den Bräutigam, den er seiner Schwester gewünscht hätte. Ihm war es ein Rätsel, warum sein Vater sie so weit weg verheiraten wollte. In München hätte es durchaus ansehnliche Bewerber gegeben. Mit Rudolf Ligsalz und Anton Impler waren sogar Angehörige ratsfähiger Sippen an Veva interessiert gewesen. Auch seinen Freund Benedikt Haselegner hätte er lieber zum Schwager gehabt als den Innsbrucker Kaufmannssohn.

Doch sein Vater hatte sowohl eine Verbindung zu den Ligsalzens als auch zu den Implers abgelehnt, was vermutlich daran lag, dass sein Vater in der Gemein mit den Vätern der Brautwerber mehrfach hart aneinandergeraten war. Als der Name Haselegner gefallen war, hatte er sogar einen Wutanfall bekommen, ohne zu verraten, warum er Bartls Freund Benedikt so verabscheute.

Während er über die Beweggründe seines Vaters rätselte, wurde Bartl bewusst, wie wenig er über dessen Leben und die Geschäfte wusste. Er konnte weder sagen, welche Freunde oder Feinde Bartholomäus Leibert hatte, noch, mit wem er Handel trieb. Bisher hatte er das Leben genossen und seinen Spaß gehabt. Anstatt sich Gedanken über die Handelsbeziehungen seines Vaters zu machen, war er lieber mit Ernst Rickinger und anderen Freunden durch die Schankwirtschaften gezogen und hatte auch schon mal die Nachtwächter geärgert. Der Vater hatte ihm vor seiner Abreise jedoch deutlich erklärt, dass dies nun anders werden müsse.

Bartl seufzte bei der Vorstellung, nicht mehr mit ins Wirtshaus gehen zu können, wenn ihm danach war, sondern stundenlang im väterlichen Kontor hocken und trockene Zahlen in staubige Rechnungsbücher eintragen zu müssen. Diese Aufgabe hatte Veva ihm bisher abgenommen. Doch nun, da der Vater seine Schwester nicht nur aus dem Haus, sondern auch aus der Stadt geschickt hatte, musste er in den sauren Apfel beißen und den Schreibknecht spielen. Seine Laune, die angesichts des elenden Weges bereits arg gelitten hatte, sank noch tiefer.

»He, Kerl! Wenn der Pfad nicht bald besser wird, kehren wir um. Vorher erhältst du aber noch eine kräftige Tracht Prügel, die dich lehren wird, das Maul nicht so voll zu nehmen!«, drohte er ihrem Führer an.

Dieser drehte sich grinsend zu ihm um. »Dann wird die Jungfer aber zu Fuß laufen müssen, denn hier könnt ihr weder die Tragtiere mit der Sänfte noch die Karren wenden.«

Nun sah Bartl rot. Er lenkte sein Pferd neben den Burschen, packte ihn mit der linken Hand beim Kragen und holte mit der Rechten aus, um ihn zu ohrfeigen. »Dafür bezahlst du mir!«

Da er sich weit aus dem Sattel beugte, zog der Fremde ihn mit einem raschen Griff vom Pferd. Bartl stürzte zu Boden, richtete sich aber sogleich auf und versuchte, den Gegner von den Beinen zu reißen.

Doch der Fremde war schneller. Noch bevor Bartl die Gefahr kommen sah, hatte der Mann seinen Hirschfänger gezogen und stach zu.

Der Tod kam so überraschend, dass Bartl nur noch einen kurzen Schmerz verspürte. Dann erlosch er wie eine Kerze im Wind.

Veva begriff erst, was geschehen war, als der Mörder seinen Hirschfänger mit einem heftigen Ruck aus dem Körper ihres Bruders zog und die Klinge in der Sonne rot aufleuchtete. Entgeistert schrie sie auf, während die Männer ihrer Eskorte fluchend die Schwerter zogen, um den Mörder in Stücke zu hauen.

Da tauchten aus dem Dunkel des Bergwalds Männer mit geschwärzten Gesichtern in weiten Lodenmänteln und Hüten auf. Sie richteten ihre Speere und Schwerter auf die überraschten Waffenknechte. »Na, was ist? Wollt ihr diesem Lümmel in die Hölle folgen?«, fragte der Anführer, der sich eine hölzerne Geisterlarve mit Augenschlitzen vors Gesicht gebunden hatte.

Um den kleinen Reisezug herum standen nun mehr als zwanzig Kerle. Die sechs Waffenknechte sahen zuerst einander an, dann warfen sie einen Blick auf die Sänfte, in der Veva so kreidebleich saß, als sei auch aus ihr alles Leben geschwunden.

Der Anführer ließ sein Schwert fallen, als wäre der Knauf glühend heiß geworden, und seine Kameraden taten es ihm gleich. Dabei drehten sie Veva, für deren Schutz sie hätten sorgen sollen, den Rücken zu. Für sie zählte nur noch, das eigene Leben zu retten.

»Runter von den Pferden!«, befahl der Räuberhauptmann.

Inzwischen waren die Waffenknechte von den Räubern eingekeilt worden und gehorchten, ohne zu zögern.

»Bei der Heiligen Jungfrau, seid gnädig!«, versuchte einer von ihnen die Räuber milde zu stimmen.

Diese lachten jedoch nur, während ihr Hauptmann auf den Sprecher zutrat. »Wenn es dich so sehr nach der Heiligen Jungfrau gelüstet, werde ich dich zu ihr schicken!«

Noch während er sprach, riss er seinen Dolch aus der Scheide und rammte ihn dem Flehenden in die Brust. Der Mann stieß einen keuchenden Laut aus, dann sank er mit einem überraschten Ausdruck in den Augen zu Boden. Gleichzeitig stachen die übrigen Räuber auf die überraschten Waffenknechte ein.

Als die sechs am Boden lagen, versetzte der Räuberhauptmann einem der Toten einen Fußtritt und zeigte auf vier seiner Leute. »Ihr bringt die Leichen weg und werft sie in eine abgelegene Schlucht, ihr anderen kümmert euch um die Knechte.«

Bei diesen Worten kam Leben in die Männer, die sich an ihren Maultieren festgehalten und die Räuber fassungslos angestarrt hatten. Während zwei von ihnen zu fliehen versuchten und nach ein paar Schritten niedergemacht wurden, sanken die beiden anderen auf die Knie und streckten dem Hauptmann die Arme entgegen. »Lasst uns am Leben! Bitte! Wir sind auch bereit, in Eure Bande einzutreten und Euch zu dienen, Herr!«

Der Angesprochene blickte seine Spießgesellen scheinbar empört an. »Habt ihr das gehört? Der Kerl nennt unsere wackere Gemeinschaft eine Bande, als wären wir lumpige Straßenräuber! Lassen wir uns das gefallen?«

»Nein!«, antworteten gleich mehrere. Dann packten sie die Knechte, schleppten sie zu zwei Bäumen und banden sie dort fest.

Den beiden stand die Hoffnung ins Gesicht geschrieben, dass die Räuber sie dort lebend zurücklassen würden. Dann, so hofften sie, würden sie sich selbst befreien können. Doch die Banditen rissen ihnen die Kleidung vom Leib, bis sie nackt an den Bäumen hingen, und brachten ihnen tiefe Schnittwunden bei, bis ihr Blut die Körper rot färbte und zur Erde rann.

Der Hauptmann stand mit vor der Brust verschränkten Armen daneben und schien es zu genießen, dass die Knechte vor Schmerzen schrien und um Gnade flehten. »Wir werden euch den Wölfen und Bären überlassen, die der Blutgeruch anlocken wird. Auf Hilfe durch Wanderer braucht ihr nicht zu hoffen. Dieser Steig führt immer weiter ins Gebirge hinein und endet in einer abgelegenen Schlucht. Da es dort kein Gras und auch kein wertvolles Gestein gibt, verschlägt es weder Hirten noch Bergleute in diese Gegend. Das, was Wölfe und Bären von euch übrig lassen, wird hier verfaulen und nach der nächsten Schneeschmelze talwärts geschwemmt werden.«

Einer der Gefangenen begann zu kreischen. »Nein, das dürft ihr nicht tun! Bringt uns um, aber lasst uns die Hoffnung, in geweihter Erde begraben zu werden.«

Der Räuberhauptmann würdigte ihn keiner Antwort mehr, sondern winkte seinen Spießgesellen, die Pferde der Überfallenen mit den Waffen und der persönlichen Habe der Toten zu beladen, und reservierte das Ross, das Vevas Bruder als Reittier gedient hatte, für sich selbst.

3.

Noch immer starrte Veva entgeistert auf den am Boden liegenden Körper ihres Bruders. Bartl, der mit ihr zusammen den Leib der Mutter verlassen hatte, war ein Teil von ihr gewesen. Nun lebte er nicht mehr, und sie fühlte sich, als sei ein Stück aus ihr herausgerissen und abgeschlachtet worden. Halb wahnsinnig vor Kummer und Schmerz hatte sie kaum wahrgenommen, was mit ihren bewaffneten Begleitern und den Knechten geschah. Erst als der Räuberhauptmann in die Sänfte hineingriff und sie am Kinn fasste, klärte sich ihr Blick, und sie wurde sich ihrer eigenen Situation bewusst.

»Na, was haben wir denn da? Du wirst mir so manche Stunde in unserem Versteck versüßen – und meinen Männern ebenfalls!«

Brüllendes Gelächter antwortete dem Mann mit der hölzernen Maske, den Veva in ihrer Panik zunächst für einen Dämon aus den Schlünden der Hölle hielt. Erst als der Kerl sie aus der Sänfte zerrte, wurde ihr klar, dass er keinen Bocksfuß hatte. Aus dieser Erkenntnis schöpfte sie ein wenig Kraft. Zwar schienen die Räuber sie bereits mit ihren Blicken bis auf die Haut auszuziehen, doch ihre Wut und ihr Hass schwemmten die Angst hinweg.

Mit einem Ruck löste sie sich aus dem Griff des Hauptmanns und spie vor ihm aus. »Für den Mord an meinen Bruder wirst du bezahlen, du Hund!«

»Ich würde eher sagen, ich wurde dafür bezahlt!«, spottete der Mann, während er nach ihr griff. Mit dem Dolch, an dem noch das Blut des ermordeten Waffenknechts klebte, schnitt er ihr das Kleid und das Hemd vom Halsansatz abwärts auf, bis ihre Brüste freilagen.

Veva holte tief Luft und empfahl ihre Seele ebenso wie die ihres Zwillingsbruders der Muttergottes, denn sie erwartete, dass die Räuber noch an Ort und Stelle über sie herfallen würden. Seltsamerweise empfand sie weder Furcht noch Schrecken. Es war, als gehöre ihr Körper einer anderen Frau, während sie selbst bereits mit Bartl gestorben war.

Einer der Räuber keuchte gierig auf und fragte: »Was ist, Herr? Legen wir sie gleich hier aufs Kreuz?«

Sein Anführer ließ Veva los und schüttelte den Kopf. »Du kümmerst dich mit drei Männern darum, dass die Sänfte in einer Schlucht verschwindet. Wir anderen kehren in unser Versteck zurück. Die Pferde und die Maultiere nehmen wir mit und verkaufen sie später in Tirol.«

»Was ist mit den Karren?«

»Das Zeug darauf ladet ihr auf die Gäule, und die Wagen schmeißt ebenfalls in die Schlucht.«

»Und was nicht noch alles?«, bellte der Räuber seinen Hauptmann an. »Wir sollen die ganze Arbeit machen, während ihr anderen euch mit diesem Weibsstück vergnügt? Aber da mache ich nicht mit.«

»Was machst du nicht?« Die Hand des Hauptmanns fiel schwer auf den Griff seines Schwertes. »Entweder du gehorchst, oder …« Er ließ die Drohung unausgesprochen, doch alle begriffen, dass es ihm ernst war.

Der Streithahn zog den Kopf ein und hob beschwichtigend die Hände. »Jetzt legt nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage, Herr. Aber bei so einem Anblick sticht jeden Mann der Hafer.«

Der Hauptmann drehte sich um und betrachtete Veva genauer. So unrecht hatte der Mann nicht. Vor ihm stand eine hübsche junge Frau, nicht zu groß, aber auch nicht zu klein, mit schlanker Taille und wohlgeformten Hüften. Der nicht allzu große, aber feste Busen zeigte noch die blassen Spitzen einer Jungfrau. Zudem hatte sie eine hohe, glatte Stirn, eine schmale Nase und einen sanft geschwungenen Mund, der zum Küssen einlud. Brünettes, zu einem dicken Zopf geflochtenes und im Nacken zu einer Schnecke gedrehtes Haar rundete ihre Erscheinung ab. Das Gesicht aber war so bleich wie ein Leintuch, und die haselnussbraunen Augen starrten blicklos in die Ferne, als hätte sie mit ihrem Leben abgeschlossen.

Das Lachen des Hauptmanns drang hohl unter der hölzernen Maske hervor. »Das Weib lässt einem wirklich den Schaft schwellen. Doch ihr werdet die Pfoten von ihr lassen – vorerst zumindest. Sie ist viel Geld wert – und auf die schöne Summe, die wir für sie bekommen, wollen wir doch nicht verzichten!«

Bei dem Wort »Geld« leuchteten die Augen der meisten seiner Leute auf. Einige aber maßen Veva immer noch mit gierigen Blicken, und nicht jeder schien mit den Worten des Hauptmanns einverstanden zu sein.

»Bis jetzt wurde noch jedes Weibsstück, das wir gefangen haben, auf den Rücken gelegt. Anders wird es auch hier nicht laufen«, murrte der Räuber, der dem Anführer schon einmal widersprochen hatte.

Er suchte ein paar Kameraden aus, von denen er annahm, dass sie seinen Einflüsterungen zugänglich waren, und lud mit ihnen zusammen die beiden Karren ab. Dann warfen sie die Toten auf die Wagen und schoben sie ein Stück zurück, bis sie eine Stelle erreicht hatten, die sich für ihre Zwecke eignete. Dort ließen sie die Karren samt Ladung über die Kante einer Schlucht rollen und sahen zu, wie sie in der Tiefe verschwanden.

Am Ort des Überfalls beluden die anderen Räuber die Pferde und die Maultiere mit Vevas Brautausstattung. Die Hälfte der Pferde blieb ohne Last, und so stritten sie sich darum, wer aufsteigen durfte und wer zu Fuß gehen musste.

Veva, die scheinbar unbeachtet am Wegrand stand, überlegte derweil fieberhaft, in welche Richtung sie fliehen sollte. Doch als sie versuchte, sich unauffällig bergan zu bewegen, um sich in dem Felsgewirr am Fuß eines höheren Berges zu verstecken, trat ihr einer der Räuber in den Weg und machte eine Bewegung, als wolle er nach ihrem nackten Busen greifen.

Sie ließ die Schultern sinken und sagte sich, dass sie mit ihren dünnen Schuhen und von ihren Röcken behindert ohnehin nicht weit kommen würde. Für einen Augenblick glomm in ihr der Gedanke auf, wenigstens so weit zu rennen, bis sie die Schlucht erreichte. Dort würde sie einen schnellen Tod finden. Aber dann vernahm sie die Stimmen und das Gelächter der restlichen Räuber, das von jener Stelle heraufklang, und ihr wurde klar, dass die Kerle sie abfangen und ihr auf der Stelle Gewalt antun würden.

Daher ließ sie es ohne Gegenwehr geschehen, dass der Räuberhauptmann, der als Erster in den Sattel gestiegen war, sie um die Taille fasste und vor sich auf die Kruppe des Wallachs setzte. Er umschlang sie mit einem Arm und packte mit der freien Hand den Zügel.

»Auf geht’s, Männer! In der Höhle wartet ein guter Schluck Wein auf uns, mit dem wir unseren Erfolg begießen können«, rief er seinen Kumpanen zu und ritt an.

Veva bog sich unter seinem harten Griff und würgte, weil ihr Magen bei dem Geruch rebellierte, den der Mann ausströmte. Es war der Gestank des Todes. Gleichzeitig packte sie ein heiliger Zorn auf den Kerl, der Menschen mit der gleichen Selbstverständlichkeit tötete, wie die Köchin zu Hause ein Huhn schlachtete, und sich offensichtlich dabei amüsierte.

Mit einem Mal wurde sie ganz ruhig und ließ den Arm vorsichtig nach hinten wandern, um an den Dolch des Mordbuben zu gelangen. Doch kaum hatten ihre Finger den Horngriff der Waffe erreicht, presste sich die hölzerne Maske des Mannes gegen ihre Wange, und sie hörte den Räuber dicht neben ihrem Ohr lachen. »Lass es lieber sein, denn sonst müsste ich dich hart bestrafen! Du solltest auch gar nicht daran denken, einen meiner Leute mit dem Ding piksen zu wollen. Die mögen das nämlich gar nicht, und dann könnte ich dich nicht mehr vor ihnen schützen. Es sind rauhe Kerle, für die ein Weib nur einen Zweck hat, nämlich die Beine breit zu machen. Das willst du doch sicher nicht.«

Der Mann klang spöttisch, aber auch auf seltsame Art fürsorglich. Letzteres jedoch hatte nichts mit Mitleid zu tun – das begriff Veva sofort –, sondern war reine Berechnung. Der Kerl hatte ihren Reisezug nicht zufällig in die Irre führen lassen und ihm aufgelauert. Hatte er nicht gesagt, dass jemand Geld für sie bezahlen würde? Wer mochte das sein?

Sosehr Veva ihr Gehirn auch zermarterte, sie vermochte sich niemanden vorzustellen, dem am Tod ihres Bruders gelegen war und daran, sie in die Hände zu bekommen. Wahrscheinlich wollte der Räuberhauptmann von ihrem Vater oder ihrem Bräutigam Lösegeld für sie erpressen. Aber wenn es so war, hatten die Kerle einen großen Fehler gemacht, denn für Bartl hätte ihr Vater seine Truhen viel weiter geöffnet.

4.

Die Banditen schleppten Veva tiefer und tiefer in die Berge. Zumeist ging es durch Wald, dessen Bäume sich mit ihren Wurzeln in einen steilen, felsigen Untergrund krallten. Gelegentlich ragten hohe Felswände zur Linken oder zur Rechten auf, und mehrfach rückten die Felsen so nahe an den schmalen Pfad, dass Veva glaubte, ihr Weg müsse an dieser Stelle zu Ende sein. Doch immer wieder fanden sich Durchgänge, die häufig aus dem Bett eines zu dieser Jahreszeit spärlich fließenden Baches bestanden, in dem die Gruppe so selbstverständlich weiterzog, als würden die Räuber jede Felsstufe kennen.

Schließlich weitete sich die Schlucht, und sie erreichten ein kleines Tal, das ganz von Bergen umschlossen war. Nun ging es tatsächlich nicht mehr weiter, und es schien auch keine anderen Lebewesen in dem Kessel zu geben außer einigen Vögeln, die sich vom Wind auf- und abtragen ließen. Veva sah ihnen sehnsüchtig nach und wünschte sich ebenfalls Federn und Flügel, um den Räubern durch die Lüfte entfliehen zu können. Aber für sie gab es kein so leichtes Entkommen. Daher flehte sie die Himmelsjungfrau an, ihr einen Engel zur Hilfe zu schicken, der sie auf seinen Schwingen aus dieser Felsenhölle trug.

Als der Anführer der Bande Bartls Wallach vor einer Steilwand anhielt, in der hoch über dem Talgrund der Eingang einer Höhle zu sehen war, begriff Veva, dass ihr auch kein Engel mehr helfen konnte. Der Räuberhauptmann schwang sich aus dem Sattel, hob seine Gefangene vom Pferd und packte sie an den Handgelenken. »Die werden wir schön binden, damit du nicht auf dumme Gedanken kommst.«

»Elender Mörder«, zischte Veva ihn an.

Der Mann stieß sie zweien seiner Spießgesellen in die Arme. »Fesselt ihr die Arme und sperrt sie in die hinterste Kammer. Passt aber auf, dass keiner ihr zu nahe tritt. Das Weib ist für einen guten Freund bestimmt, und der will sie unbeschädigt haben!«

Die Kerle schleppten Veva eine schmale, natürliche Felsentreppe zum Höhleneingang hoch und schleiften sie durch eine labyrinthartige Höhle. Kurz darauf fand sie sich in einer dunklen Felsenkammer wieder, die kaum mehr als drei Schritte breit und fünf lang war. Eine Unschlittlampe spendete trübes, flackerndes Licht, stank aber so, dass Veva sich von Übelkeit überwältigt in eine Ecke kauerte und so lange würgte, bis nur noch reine Galle aus dem Magen kam. Grinsend sahen die Räuber ihr zu und spotteten über ihren Zustand. Schließlich bogen sie ihr die Arme auf den Rücken und schlangen ihr einen Strick um die Handgelenke.

»So, das wird reichen«, meinte einer und versetzte ihr noch einen kräftigen Klaps auf das Hinterteil.

Der Schlag war so hart, dass Veva stürzte und mit der Brust in ihrem eigenen Erbrochenen landete. Mit Mühe kämpfte sie sich auf die Knie, starrte auf ihre beschmierten Brüste und brach in Tränen aus.

Die beiden Männer, die ihr mit höhnischen Bemerkungen zugesehen hatten, verließen nun das Felsloch. Aber es dauerte geraume Zeit, bis Veva begriff, dass sie allein war. Sie hob den Kopf, starrte auf die Tür, die aus dicken, ungeschälten Brettern zusammengenagelt war, und vernahm die Stimmen der Räuber, die in den Höhlen widerhallten. Die Kerle schienen zu feiern, als hätten sie eine Heldentat vollbracht und keine ahnungslosen Reisenden abgeschlachtet. Immer noch bebend vor Zorn stieß Veva Verwünschungen aus, die der Hebamme Kreszenz zufolge recht wirksam sein sollten. Bisher hatte Veva solche Worte noch nie in den Mund genommen, doch ihr Hass auf die Mörder ihres Bruders war so groß, dass ihr selbst diese Hexenflüche als viel zu harmlos erschienen.

Obwohl sie abwechselnd die Mächte der Hölle und die Heilige Jungfrau samt allen ihr bekannten Heiligen anflehte, Bartls Tod zu rächen, verhallten ihre Worte wirkungslos. Die Stimmen der Räuber klangen immer ausgelassener. Offensichtlich brüsteten sie sich mit den Taten, die sie bereits begangen hatten. Dabei spotteten sie besonders über die Münchner Kaufleute, denen sie schon etliche wertvolle Wagenladungen geraubt hatten, aber auch über die Bürger von Tölz, Miesbach und anderen Orten des Vorgebirges, die sich, wie sie lachend behaupteten, schon bei dem Gedanken an die Gefahren, die in den Bergen lauerten, in die Hose machten.

Veva fragte sich, ob die Kerle sie mit ihren losen Reden ängstigen wollten oder ob sie nach ihren Raubzügen immer so ausgelassen feierten. Erneut sah sie ihren toten Bruder vor sich liegen, und der nächste Weinkrampf schüttelte ihren Körper.

»Bartl!«, schrie sie auf. »Warum warst du so vertrauensselig? Warum musstest du die Straße verlassen und diesem Schurken folgen?«

Erst als sie die eigene Stimme vernahm, wurde ihr bewusst, dass sie ihren toten Zwillingsbruder anklagte, an ihrem Unglück schuld zu sein. Sofort bat sie ihn in Gedanken um Verzeihung. Bartl hatte sie stets beschützt, und diesmal hatte er ihr eine Übernachtung unter freiem Himmel ersparen wollen. Nur ihretwegen war er diesem verräterischen Kerl auf den Leim gegangen. Dann sagte sie sich, dass Bartls sonniges Gemüt ihn auch ohne ihre Anwesenheit verführt hätte, dem Räuber zu glauben. Diese Erkenntnis verhinderte, dass sie sich vor Schuldgefühl zerfleischte. Sie durfte sich nicht ihrem Elend hingeben, sondern musste sich Gedanken machen, wie sie diesen Unholden entkommen konnte. Von den Möglichkeiten, die sie daraufhin erwog, war jedoch keine ausführbar.

Nach einiger Zeit erlosch die Unschlittlampe mit einem letzten Aufflackern, das von üblen Dünsten begleitet wurde. Inzwischen hatte Veva sich jedoch an den Gestank gewöhnt, so dass ihr Magen nicht erneut protestierte. Aber sie fand sich in einer ägyptischen Finsternis wieder, in der ihr Kopf ihr alle jemals über Räuber vernommenen Greuel als Schreckensbilder vorgaukelte.

5.

Veva wusste nicht, ob Stunden oder gar Tage vergangen waren, als die Tür wieder geöffnet und eine Lampe in die Kammer gehalten wurde. Höllischer Durst peinigte sie, und sie fühlte sich zum Sterben elend. Nun erkannte sie den Mann, der ihre Gruppe in die Irre geführt und ihren Bruder erdolcht hatte, und stieß einen zischenden Laut aus.

Der Kerl grinste sie frech an. »Wenn du könntest, würdest du mir mit den Zähnen die Kehle zerfetzen wie ein tollwütiger Hund, was? Aber da bleibt dir der Schnabel sauberer als du selbst. Du siehst aus wie ein Ferkel, das sich im eigenen Dreck gewälzt hat. Für ein paar gute Worte und einen Kuss bin ich jedoch bereit, dich zu waschen.«

»Verrecken sollst du und deine Kumpane mit dir!«, brach es aus Veva heraus.

»Keine Sorge, wir kriegen dich schon klein! Sobald dir jeder von uns zwischen die Beine gestiegen ist und das mit dir gemacht hat«, der Mann bewegte anzüglich das Becken vor und zurück, »wirst du anders reden. Das letzte Weibsstück hat leider nicht lange durchgehalten. Ein paar von uns sind halt recht rauh, und es macht ihnen Spaß, so eine wie dich schreien zu hören, während sie in ihr herumfuhrwerken.«

Die junge Frau wich mit einem Ausdruck des Entsetzens vor dem Mann zurück. »Ihr seid keine Menschen, sondern Teufel, die der Hölle entstiegen sind!«

»Dann reize uns nicht, sonst fährt deine Seele schneller hinab, als du ›Vater unser‹ sagen kannst!« Der Kerl sah sie drohend an, drehte sich aber um und verließ die Kammer.

Nach kurzer Zeit erschien er wieder mit einem Eimer Wasser, einem Lappen und einem Stoffknäuel unter dem Arm. Ein anderer Räuber brachte eine neue Unschlittkerze für die Laterne und zündete sie an.

»Ich binde dir jetzt die Arme los, damit du dich waschen kannst. Danach ziehst du das andere Gewand an. Mit dem offenen Oberteil bist du eine zu große Verlockung für mich und meine Freunde.« Mit diesen Worten packte Bartls Mörder Veva, zog sie auf die Füße, so dass sie mit dem Rücken zu ihm zu stehen kam, und nestelte den Knoten auf. Dann versetzte er ihr einen Stoß, der sie gegen die hintere Wand trieb, und trat aus der Kammer. Sein Kumpan zog sich ebenfalls zurück, und Veva hörte, wie außen der Riegel vorgelegt wurde.

Erleichtert, dass sie die Hände gebrauchen und sich waschen konnte, packte Veva den Lappen, tauchte ihn in das Wasser und begann sich mit heftigen Bewegungen den Oberkörper abzureiben. Dann versuchte sie, ihr Kleid zu reinigen, doch der Stoff riss noch weiter ein, und sie hatte keine Möglichkeit, das Mieder vorne zu schließen. Zudem stank der Stoff erbärmlich. Dennoch zögerte sie, das Kleid abzulegen und das andere anzuziehen, denn sie fürchtete, die Räuber würden vor der Tür warten, bis sie fast nackt in der Kammer stand, um dann über sie herzufallen.

Sie trat auf Zehenspitzen zur Tür und lauschte, ob sie jemanden atmen hörte oder das Rascheln von Kleidung vernahm. Doch die Räuber schienen sich in entfernteren Teilen der Höhle aufzuhalten. Mutiger geworden schlüpfte sie aus ihrem alten Kleid und zog das andere über. Zuerst achtete sie nicht darauf, was sie trug, sondern war froh, dass ihr Busen wieder verhüllt war. Dann aber fühlte sie kühlen, knisternden Stoff unter den Fingern und sah an sich herab. Das Gewand war aus brauner, gemusterter Seide gefertigt worden, hatte rosafarbene Ärmel und wurde vorne auf der Brust mit einer seidenen Schnur zusammengehalten. So etwas trug gewöhnlich nur eine Dame von Stand.

Verwundert fragte sie sich, warum die Räuber ihr solch ein wertvolles Gewand überlassen hatten, und schauderte. Welches Schicksal musste die Besitzerin dieses Kleids erlitten haben? Der Gedanke, das Gewand einer Ermordeten zu tragen, brannte sich wie Säure in sie hinein, und sie hätte sich das Ding am liebsten vom Leib gerissen. Doch ein Blick auf die stinkenden, zerfetzten Lumpen, die einmal ihr Kleid gewesen waren, hielt sie davon ab.

Da die Unschlittlampe diesmal länger brannte und ihre Augen nicht mehr halb blind vor Tränen waren, entdeckte sie auf der anderen Seite des Raums ein einfaches Lager aus Zweigen und einer Decke. Sie setzte sich darauf, schlang die Arme um die Knie und wartete auf das, was nun kommen würde. Hoffnung, lebend davonzukommen, hatte sie keine mehr, und sie glaubte auch nicht, dass die Räuber davon absehen würden, sie zu missbrauchen. Sie rettete sich wieder ins Gebet und flehte die Heilige Jungfrau an, sich ihrer Seele anzunehmen und sie nach dem Tod ins Himmelreich zu geleiten. Auch betete sie das Totengebet für ihren Bruder und die anderen armen Kerle, die mit ihm umgekommen waren.

6.

Zur gleichen Zeit, in der Veva in ihrem Gefängnis gegen ihre Verzweiflung ankämpfte, herrschte auf dem Schrannenplatz in München fröhliches Treiben. Gerade war das Turnier zu Ende gegangen, in dem etliche Ritter ihre Kräfte auf der Stechbahn gemessen hatten, und nun strömten die Leute auf die freie Fläche, um zu tanzen. Dabei machte so mancher junge Mann den Mädchen schöne Augen und anzügliche Komplimente. Währenddessen saß Herzog Wilhelm IV. zusammen mit seinen Edlen auf der für ihn errichteten Bühne vor dem Rathaus, ließ sich Wein und Braten reichen und sah den feiernden Menschen amüsiert zu.

Ein Mann in einem dunklen Talar trat mit Leichenbittermiene auf den jungen Herzog zu, dessen Locken unter einem dreifarbigen, mit Federn besetzten Barett bis auf den Pelzkragen seines kurzen Samtrocks fielen. »Findet Ihr nicht auch, dass die Leute zu ausgelassen sind, Euer Gnaden?«

»Warum sollen die Menschen sich nicht auch einmal freuen? Das Leben ist schließlich hart genug«, antwortete der Herzog mit einer Gegenfrage, die dem Kirchenmann die Röte ins Gesicht trieb.

»Dieses Treiben leistet der Völlerei und der Unmoral Vorschub, Euer Gnaden. In ein paar Monaten werden etliche Weiber mit dicken Bäuchen herumlaufen. Die meisten sind nicht einmal verheiratet, und wenn sie es sind, wird der Vater nicht der eigene Ehemann sein.«

Der Sprecher behielt einen jungen Mann im Auge, der seit dem Augenblick, in dem er auf ihn aufmerksam geworden war, bereits mit der dritten Frau schäkerte. Es war eine Weberfrau, die zwar fleißig in die Kirche ging, dort aber vieles zu beichten hatte, von dem ihr Ehemann nichts wissen durfte.

Herzog Wilhelm wusste wohl, dass auch der eine oder andere seiner Höflinge schon intime Bekanntschaft mit der Weberin geschlossen hatte. Das berührte ihn jedoch weniger als das Verhalten einiger Herren in geistlichem Gewand. Die Kleriker drohten dem Volk Höllenstrafen für unkeusches Verhalten an, befassten sich im stillen Kämmerlein aber inniger mit ihren weiblichen Schäfchen, als es einem Priester oder Mönch zukam. Aus diesem Grund schüttelte er unwirsch den Kopf. »Ihr solltet besser auf Eure Brüder in Christo achten, ehrwürdiger Vater, als dem einfachen Volk das Lachen zu missgönnen. Mir sind Dinge zu Ohren gekommen, die viele Eurer Mitbrüder nicht in bestem Licht erscheinen lassen.«

Die Zurechtweisung des Herzogs tropfte an Doktor Portikus ab wie Wasser von gewachstem Filz. »Unter meinen Brüdern mag es Sünder geben, doch sie werden von Gott die Kraft erhalten, in Zukunft allen Versuchungen zu widerstehen. Seht lieber hin, wie schlimm es der junge Rickinger treibt! Der Bursche ist eine Schande für die Stadt. Man hätte ihn längst an den Pranger stellen und mit Ruten streichen müssen.«

Jetzt suchte auch der Herzog den Kaufherrnsohn Ernst Rickinger in der Menge. Der junge Mann hatte inzwischen die Weberfrau verlassen und tanzte mit einer hübschen Magd, die ihm mit eindeutigen Gesten zu verstehen gab, dass er sich nicht weiter auf die Suche begeben müsse. Nun runzelte Herzog Wilhelm doch die Stirn. Wenn den jungen Rickinger der Hafer stach, sollte er zu den gefälligen Mägden am Sendlinger Tor gehen, nicht aber ein junges Ding verführen, das als Dienstmagd einem ehrlichen Haushalt angehörte.

Dennoch war er nicht bereit, Doktor Portikus recht zu geben. Es gab mindestens ein Dutzend junger Männer in der Stadt, die es ähnlich schlimm oder noch schlimmer trieben als der junge Rickinger, und einige davon gehörten zu seinem engeren Gefolge. Außerdem wusste er sehr wohl, weshalb der Theologe bei jeder Gelegenheit speziell diesen Münchner Bürger unzüchtiger Umtriebe beschuldigte.

Ernst Rickinger hatte im letzten Jahr erfahren, dass Pater Remigius, ein mit Portikus befreundeter Geistlicher, heimlich die Ehefrau eines Schäfflers aufgesucht hatte. Daraufhin war er mit anderen Burschen in das Liebesnest der beiden eingedrungen und hatte das Paar nackt durch die Straßen getrieben.

Da der Herzog Remigius’ Unmoral zutiefst verabscheute, hatte er verhindert, dass der junge Rickinger und dessen Freunde bestraft wurden. Seitdem versuchte Portikus immer wieder, Wilhelm zur Rücknahme dieser Entscheidung zu bewegen. Aber solange etliche Mönche und Weltgeistliche in der Stadt unter Weiberröcke krochen, trafen seine Worte beim Herzog auf taube Ohren.

Aus diesem Grund machte Wilhelm IV. eine wegwerfende Geste. »Lassen wir Rickinger tanzen, Portikus! Trinkt lieber einen Becher Wein mit mir.«

Der Theologe verbeugte sich mit verbissener Miene und nahm den Becher entgegen, den ein Page ihm reichte. Aber sein Blick verfolgte Ernst Rickinger, und er überlegte, wie es ihm gelingen könnte, diesen dem Herzog als derart sündhaft zu präsentieren, dass Wilhelm nichts anderes übrigblieb, als den unverschämten Kerl bestrafen und aus der Stadt verbannen zu lassen.

7.

Ernst ahnte nichts von den neuesten Bemühungen des Doktor Portikus, ihn an den Schandpfahl zu bringen. Vergnügt schäkerte er mit der jungen Magd, tanzte ein paar Runden und zog sie schließlich zu einem der Stände, an denen Wein ausgeschenkt wurde. »Jetzt können wir einen kühlen Schluck brauchen, Rosi!«

»Das kannst du … äh, ich meine, das könnt Ihr laut sagen, Herr Rickinger«, antwortete die Magd mit aufleuchtenden Augen. Wein war kein Getränk, das sie jeden Tag bekam. Außerdem war es etwas Besonderes, von einem Bürger wie Ernst Rickinger dazu eingeladen zu werden.

Der junge Mann winkte lachend ab. »Sag ruhig du und Ernst zu mir. Der Herr Rickinger ist mein Vater.«

»Dem wird es gewiss nicht recht sein, wenn ich Euch anrede wie meinesgleichen«, wandte die Magd ein.